Eine Sternstunde im Leben des Thomas

Johannes 20, 24-29

 

Predigt Andreas Symank

Freie Evangelische Gemeinde Zürich Helvetiaplatz

Zürich, Ostern 1997

 

Es gibt in den Auferstehungsberichten so etwas wie einen Schwarzen Peter, einen, der nicht mitspielt. Die anderen Jünger freuen sich: Jesus ist auferstanden! Einer streikt: Das glaub ich nicht! Das glaub ich einfach nicht! - Sie wissen, wen ich meine: Es ist Thomas, der "ungläu-bige" Thomas, wie man ihn nennt, Thomas, der Zweifler. Trägt er diesen Beinamen zu Recht? Ist er wirklich so ein blindes Huhn, ein schwarzes Schaf unter lauter Lämmern? Um das schlüs-sig beantworten zu können, müssen wir uns den Bericht im Johannesevangelium genauer anse-hen: Kap. 20,24-29. Es war die Sternstunde im Leben des Thomas.

 

Jesus und Thomas: Vom Unglauben zur Anbetung


24 Thomas, auch Didymus genannt, einer der Zwölf, war nicht dabeigewesen, als Jesus zu den Jüngern gekommen war. 25 Die anderen erzählten ihm: "Wir haben den Herrn gesehen!" Thomas erwiderte: "Erst muß ich seine von den Nägeln durchbohrten Hände sehen; ich muß meinen Finger auf die durchbohrten Stellen und meine Hand in seine durchbohrte Seite le­gen. Vorher glaube ich es nicht."


26 Acht Tage später waren die Jünger wieder beisammen; diesmal war auch Thomas dabei. Mit einem Mal kam Jesus, obwohl die Türen verschlossen waren, zu ihnen herein. Er trat in ihre Mitte und grüßte sie mit den Worten: "Friede sei mit euch!" 27 Dann wandte er sich Thomas zu. "Leg deinen Finger auf diese Stelle hier und sieh dir meine Hände an!" forderte er ihn auf. "Reich deine Hand her und leg sie in meine Seite! Und sei nicht mehr  ungläubig, sondern glaube!" 28 Thomas sagte zu ihm: "Mein Herr und mein Gott!" 29 Jesus erwiderte: "Jetzt, wo du mich gesehen hast, glaubst du. Glücklich zu nennen sind die, die nicht sehen
und trotzdem glauben."

Vielleicht haben Sie das Gefühl: Der Thomas stellt sich aber auch wirklich an! Warum glaubt er den anderen Jüngern nicht einfach? Selbstverständlich ist Jesus auferstanden! Kreuz und Auferstehung gehören doch zusammen! Jesus, der Sündlose, der Gottessohn, konnte unmög­lich tot bleiben. So steht es an jeder Ecke des Neuen Testaments. Wo soll da ein Problem sein? Nun, für uns ist die Sache glasklar. Für Thomas war sie höchstens so klar wie dicke Tinte. Er hatte kein Neues Testament, wo er das mit der Auferstehung nachlesen konnte. Das letzte, was er von Jesus gesehen hatte, war, daß die Soldaten ihn im Garten Getsemane festnahmen und abführten; er selbst ist damals mit den anderen Jüngern entsetzt davongerannt, in irgendeinen Schlupfwinkel. Irgend jemand wird ihm dann das schreckliche Ende mitgeteilt haben: daß man Jesus in einem Schauprozeß zum Tod verurteilte. Daß man ihn auspeitschte. Daß man ihn wie einen Verbrecher an ein Kreuz nagelte. Und daß er dort qualvoll starb. Daß man ihn anschlie­ßend vom Kreuz nahm, daß man ihn einbalsamierte und in ein Grab legte. Das alles hat Tho­mas mitgekriegt. Eine fürchterliche Verzweiflung muß ihn gepackt haben, eine abgrundtiefe Resignation: Jetzt ist alles aus! Jesus ist tot. Tot ist tot. Alle Hoffnungen sind tot. Alle Freude ist gestorben. Was soll mir das Leben jetzt noch? Mein Lehrer und Meister ist nicht mehr; der Mann, der so tiefsinnig und überzeugend von Gott erzählen konnte, ist verstummt; der bewun­derte Herr über Naturgewalten und Krankheiten, ja sogar über den Tod, ist selbst ein Opfer des Todes geworden.

Und jetzt plötzlich wird behauptet, Jesus sei auferstanden? Wo gibt's denn so was? Da könnt ihr lange reden! Womöglich seid ihr einer Halluzination erlegen! Jesus soll leben? Zu schön, um wahr zu sein! Nein, ich verlaß mich auf niemand mehr, nur noch auf mich selbst. Wenn das, was ihr mir da sagt, stimmen soll, muß ich mich selber überzeugen können, mit meinen eigenen Augen und Händen. Seine Nägelmale will ich sehen, damit ich weiß, daß er wirklich am Kreuz hing. Die Wunde in seiner Seite will ich sehen, damit ich sicher bin, daß es nicht irgendein Ge­kreuzigter vor mir steht, sondern dieser eine, dem die Soldaten die Lanze in den Unterleib ge­stoßen haben. Berühren und betasten will ich das alles, damit ich mir nachher nicht vorwerfen lassen muß, ich sei das Opfer einer Sinnestäuschung geworden. Hundertprozentig sicher will ich sein, so sicher, daß nachträglich keine Zweifel mehr aufkommen können.

Wir spüren an der Reaktion des Thomas etwas von der tiefen Enttäuschung, in die ihn Jesu Tod gestürzt hat, und von dem Schock, in dem er immer noch steckt und der sich nicht mit ei­nem Federstrich beseitigen läßt. Und so war es nicht nur ihm ergangen, so war zunächst auch den anderen Jüngern zumute gewesen. Aller Lebensmut ausgelöscht, nur noch Trauer, Scham und Angst.

Ich meine, wir spüren aber auch etwas von einer geradezu verzweifelten Hoffnung, die anderen Jünger mögen doch recht haben. Jesus lebt? Wenn's nur so wäre! Aber bevor ich ihn nicht sel­ber sehe, glaub ich euch nicht. Gerade die radikale Weigerung, ihnen Glauben zu schenken, ist ein Ausdruck dafür, wie sehr sich Thomas danach sehnt, daß es so ist. (Wir kennen alle solche ungläubigen Reaktionen gerade auf gute Nachricht: Unmöglich! Das gibt's doch nicht! Das glaub ich einfach nicht! - Man möchte nicht zu rasch glauben, damit man nicht noch einmal enttäuscht wird und dann tiefer abstürzt als vorher. Erst möchte man total sicher sein, jeden Irrtum ausschließen.)

Und wir sehen daran noch etwas: "ungläubig" im eigentlichen, im absoluten Sinn ist Thomas ganz bestimmt nicht. Ungläubig würde bedeuten: Von Jesus will ich nichts mehr wissen. Er hat mich zu sehr enttäuscht. Ungläubig würde heißen: Ich will mit den anderen Jüngern nichts mehr zu tun haben. Für mich ist dieses Kapitel abgeschlossen; nichts wie weg aus Jerusalem, weg nach Galiläa. Aber Thomas hat Kontakt mit ihnen. Er trifft sich mit ihnen. Ganz sicher hoffen die anderen, daß Jesus sich ihnen wieder zeigt. Und tief in seinem Innersten hofft auch Thomas, daß Jesus zu ihnen kommt. Wäre es ihm ernst mit seiner heftigen Ablehnung, dann würde er gar nicht erst mit ihnen warten. Wäre er wirklich ungläubig, dann bliebe er zu Hause. So aber liegt in seiner hartnäckigen Weigerung, ihnen zu glauben, der unausgesprochene Wunsch: Wenn es doch wahr wäre! Wenn Jesus doch wirklich wieder lebendig geworden wä­re! Was würde ich darum geben, wenn ihr recht hättet!

Thomas ist nicht ungläubig, er ist skeptisch. Eigentlich ist das ein positiver Charakterzug. Der Skeptiker schluckt nicht gleich jede Kröte, die man ihm serviert. Ehrlich gesagt, man stößt gar nicht so selten auf Christen, denen würde man eine gesunde Portion Skepsis wünschen. Sie nicken ständig mit dem Kopf. Sie geben sich zufrieden mit 5-Rappen-Antworten auf Millionen-Schweizer-Franken-Fragen. Sie lassen sich den größten Unsinn vorsetzen, verdrehte Lehren, künstliche Systeme, die man über die Bibel stülpt und auf die kein nüchtern denkender Mensch käme - aber weil es von irgendeiner Kanzel gesagt wird oder in einem Buch aus einem from­men Verlag steht, muß es ja stimmen. Weil es unter christlicher Flagge segelt, kann die Rich­tung nicht verkehrt sein. In christlichen Kreisen passieren - leider - manchmal die unglaublich­sten Dinge (sogar in den Chefetagen): ungehobeltes Benehmen, Unaufrichtigkeiten, finanzielle Zwielichtigkeiten, moralische Entgleisungen - und alles läßt man sich gefallen, alles deckt man mit dem Mantel der Liebe Jesu zu. Und sollte je ein Zweifel aufkommen, dann unterdrückt man den ganz rasch; man will schließlich kein ungläubiger Thomas sein. Nun, vielleicht wäre es gar nicht schlecht, gelegentlich in die Rolle des Thomas zu schlüpfen, nicht gerade in die des un­gläubigen Thomas, aber in die des skeptischen Thomas.

Und noch etwas können wir von Thomas lernen: Er ist absolut ehrlich. Er täuscht keinen Glau­ben vor, wo keiner ist. Er tut nicht so, als verstehe er, wenn er in Wirklichkeit zweifelt. Er plappert nicht einfach ein Credo mit, ohne seinen Inhalt zu begreifen. Thomas braucht Einsicht und Gewißheit. Ich glaube, wenn Jesus irgendwas nicht leiden mochte, dann war es Heuchelei. Neulich las ich eine hübsche Definition: Ein Heuchler hat einen langen Bart, aber unter seinem Bart ist er glattrasiert. Nun, ich weiß nicht, ob Thomas einen Bart trug oder glattrasiert war, aber eins weiß ich: Er war nicht beides zugleich. Ein Heuchler war Thomas nicht. Und deshalb liebte ihn Jesus und half ihm zurecht. Aus solchen aufrichtigen Zweifeln, wie wir sie bei Tho­mas sehen, spricht manchmal eine größere Glaubensbereitschaft als aus dem gedankenlosen Mitmachen und Nachahmen frommer Bräuche. Und oft findet man ja erst durch ein  ernsthaftes Infragestellen zu einer echten Klärung und zu einer tiefen Überzeugung, die einem dann nichts und niemand mehr nehmen kann. Siehe Thomas!

Und dann steht mit einem Mal tatsächlich wieder Jesus im Kreis seiner Jünger. Er tritt ein, ob­wohl die Türen verschlossen sind. Er grüßt sie: "Friede sei mit euch!" Und dann wendet er sich an Thomas persönlich. Eigentlich ist er dieses zweite Mal ja nur seinetwegen gekommen. Die bloße Tatsache, daß sich alles genauso abspielt wie vor einer Woche, hat mit Thomas zu tun. Es ist, als wollte Jesus ihm sagen: Sieh mal, deine Kollegen haben sich nicht getäuscht, sie ha­ben sich da nicht etwas eingebildet. Es war alles genauso, wie du es jetzt selbst erlebst.

In dieser kleinen nachösterlichen Begebenheit wird etwas deutlich, was wir immer wieder in den Evangelienberichten entdecken: Jesus hat nicht nur die große Masse und die großen Ziele vor Augen, er kümmert sich um einzelne Menschen. Er sieht die ganze Welt, aber er übersieht deswegen nicht die einzelne Person. Er liebt alle, und er liebt jeden. (Ich glaube, Jesus ist es nie passiert, daß er vor lauter Wald keine Bäume mehr sah.) Jesus läßt niemand links liegen, nur um seine weltumspannenden Ziele nicht zu gefährden. Er geht nicht über Leichen. Er hat jeden ganz persönlich lieb - so lieb, daß er gar nicht anders kann, als sich dem zuzuwenden, der ihn gerade nötig hat. Und das ist in unserer Geschichte Thomas.

Wie sehr Jesus Thomas lieb hat und wie sehr er ihm helfen möchte, sehen wir auch an dem, was er zu ihm sagt: "Leg deinen Finger auf dieses Stelle hier und sieh dir meine Hände an! Reich deine Hand her und leg sie in meine Seite!" (V. 27). Jemand hat diese Aufforderung ei­nen der liebevollsten Sätze der ganzen Bibel genannt. Nicht, man könnte sich ja vorstellen, daß Jesus herrisch auftritt, daß er sich unnahbar gibt, überlegen: Mich berühren willst du? Eine Unverschämtheit! Sei froh, daß ich mich von dir sehen lasse! Das muß dir genügen, um zu glauben. - Ich vermute, eine solche Reaktion hätte in Thomas etwas zerbrochen; die vertrau­ensvolle Beziehung zu Jesus, die in alle den Jahren mit ihm aufgebaut worden war, wäre mit einem Schlag zerstört gewesen. Nein, Jesus kanzelt ihn nicht ab, er stellt ihn nicht bloß. Er ver-steht nur zu gut, wie schwierig es ist, etwas zu begreifen, was noch nie vorher geschah, und weiß, wie wichtig es ist, jeden Zweifel auszuräumen. Jesus, der auferstandene, erhöhte Gottes­sohn, macht sich noch einmal zu einem Mensch unter Menschen: Komm, du darfst mich berüh­ren!

Übrigens: Woher wußte Jesus denn, daß Thomas seine Wundmale berühren wollte? Hat Tho­mas seine Forderung ihm gegenüber wiederholt? Haben die anderen Jünger sie verraten? Sicher nicht. Jesus wußte es, weil er dabeigewesen war, als Thomas die Forderung stellte - unsichtbar zugegen. Thomas muß es heiß und kalt geworden sein: Da diskutiere ich mit den anderen und weigere ich mich kategorisch, an Jesu Auferstehung zu glauben, und er steht daneben und hört sich Wort für Wort von meinem dummen Geschwätz an! So nah war mit Jesus gerade in dem Augenblick, als ich abstritt, daß es ihn überhaupt noch gibt! Ich dachte, Jesus sei definitiv in der Versenkung verschwunden, in endloser Ferne - und in Wirklichkeit war er mir näher als mein eigenes Hemd! Daß Jesus alles mitgekriegt hat, das allein hätte genügt, um Thomas von Jesu Lebendigkeit und Göttlichkeit zu überzeugen. Die Jünger sagten einmal: "Du kennst un­sere Fragen, bevor wir sie dir stellen. Darum glauben wir, daß du von Gott gekommen bist" (Joh. 16,30). Genauso ist es Thomas hier ergangen.

Hier wird also so ganz nebenbei deutlich, daß Jesus Gott ist. Er weiß alles. Er ist überall. Als der Auferstandene unterliegt er keinen Einschränkungen mehr. Er hörte zu, als Thomas so ent­rüstet ablehnte, seine Auferstehung für wahr zu halten, und hat sich überlegt, wie er es am be­sten anstellen könnte, um Thomas für sich zu gewinnen. Er hört auch zu, wenn wir Zweifel äu­ßern oder Ärger; er sieht, wann wir am Ende sind mit unserem Latein. Und er wendet sich dann nicht empört von uns ab, sondern versucht jedesmal alles, um uns seine Liebe zu zeigen und unser Vertrauen zurückzugewinnen. Er war bei Thomas genau in den Tagen, als dieser sich total im Stich gelassen vorkam, und er ist bei uns, auch wenn wir uns völlig allein vor­kommen.

Und wie reagiert Thomas? Er hat grünes Licht bekommen, er kann sich seinen Wunsch erfüllen und Jesus berühren. Macht er jetzt den Test, die Probe aufs Exempel? Nichts da! Das wäre mit einem Mal völlig deplaziert. Vorher steckte dahinter der aufrichtige Wunsch, sicher zu gehen; jetzt wäre es ein Ausdruck von Mißtrauen, von Distanzierung, eine Dreistigkeit sondergleichen - als wäre Jesus ein Gegenstand, den man auf seine Qualität prüfen müßte. Nein, anfassen ist mit einem Schlag nicht mehr nötig. Thomas weiß auch so, wer vor ihm steht: "Mein Herr und mein Gott!"

Hier haben wir den Höhepunkt der Begebenheit. Der ungläubige Thomas macht dem gläubigen Thomas Platz. Der Zweifler weicht dem Bekenner. "Mein Herr und mein Gott!" Man spürt ge­radezu die Erleichterung: Er ist es! Jesus lebt wirklich. Alle Angst ist verschwunden. Jetzt zieht auch bei ihm die große Freude ein. Nein, Thomas war wirklich kein Berufskritiker. Es gibt ja solche Leute: notorische Nörgler und Besserwisser, fest entschlossen, nicht zu glauben, komme, was wolle. Daß ein Toter wieder lebendig wird, gibt es einfach nicht; da kann mir ei­ner noch so viel beweisen. Basta. Jesus hatte es damals und hat es heute ständig mit solchen Typen zu tun. In Joh. 12,37 heißt es: "Trotz all der Wunder, durch die Jesus unter ihnen seine Macht bewiesen hatte, glaubten sie nicht an ihn." Und als er - Joh. 11 - den Lazarus wieder le­bendig macht und aus dem Grab steigen läßt, der doch schon 4 Tage tot war - was tun da die führenden Männer des Volkes? Kapitulieren sie angesichts dieses wirklich unglaublichen Wun­ders? Sind sie endlich bereit zu glauben? Fehlanzeige! Sie beschließen, Jesus umzubringen. Aber Thomas wollte glauben, er wollte widerlegt werden. Seine Glaubenszweifel waren nur die Kehrseite einer tiefen Glaubenssehnsucht. Und als Jesus ihm die entsprechenden Beweise lie­ferte, da glaubte er.

Hier haben wir im übrigen auch den Höhepunkt des ganzen Johannesevangeliums. Kein ande­rer Jünger hat so ein eindeutiges Bekenntnis zu Jesus ausgesprochen, ein Bekenntnis seiner Göttlichkeit. Ganz zu Beginn seines Evangeliums hat Johannes uns Jesus als Gott vorgestellt: "Am Anfang war das Wort, das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott." Jetzt. in Kap. 20, am Ende des Evangeliums, schließt sich der Kreis. Zum erstenmal spricht ein Jünger es unmiß­verständlich aus: Jesus, du bist Gott, Gott in Person. "Meister" hatten die Jünger Jesus ge­nannt, als sie ihn näher kennenlernten, "Messias", "Sohn Gottes". Aber ihn unmittelbar und vorbehaltlos mit Gott gleichzusetzen, das wagt erst Thomas; ausgerechnet er wagt es als er­ster. Ist das nicht toll? Aus dem finstern Tal sozusagen in einem rasanten Durchmarsch bis auf den Gipfel. Thomas, der Gipfelstürmer. Da hat er so lange nichts begreifen wollen, und Knall auf Fall hat er den größten Durchblick. Der hartnäckigste Zweifler legt das tiefste Bekenntnis ab. Da war er später dran als alle anderen, und plötzlich steht er an der Spitze des Jüngerkrei­ses. Eine Woche länger ist er in den Startlöchern hocken geblieben - und jetzt überquert er vor allen anderen die Ziellinie! Von Null auf Hundertachtzig! Der Letzte wird zum Ersten. Tho­mas, der Nachzügler, ist mit einem Mal Thomas, der Anführer. Und Jesus anerkennt das, er akzeptiert seinen Glauben. "Jetzt, wo du mich gesehen hast, glaubst du", sagt er.

Aber braucht man denn überhaupt noch zu glauben, wenn man alles gesehen hat? O ja. Das Sehen ersetzt den Glauben nicht. Glauben ist eben mehr als Fürwahrhalten. Glauben heißt nicht nur, die Fakten nicht abstreiten. Glauben heißt: aus den Fakten die Konsequenzen ziehen, und zwar für sich ganz persönlich. Und genau das tut Thomas. Er sagt nicht einfach: "Herr und Gott", er sagt: "Mein Herr und mein Gott". Das ist nicht nur ein Glaubensbekenntnis, das ist ein Lebensprogramm: Von jetzt an untersteht dir mein Leben, von jetzt an gehöre ich dir mit Haut und Haar. So sehr hat Thomas gehofft, Jesus wäre doch wieder lebendig, und jetzt, wo er Jesus unmittelbar vor sich stehen hat, gibt es für ihn kein Halten mehr - jetzt sollen alle Jahre, die Gott ihm noch auf dieser Erde schenkt, ganz im Dienst dieses guten, liebevollen Herrn ste­hen. Ich meine, eine bessere Konsequenz aus den Auferstehungsberichten kann man gar nicht ziehen. Thomas, das Negativbeispiel, wird zum positiven Vorbild für uns alle. - Als der Portu­giese Vasco da Gama um 1500 den Seeweg nach Indien entdeckte, war er höchst erstaunt, dort christliche Gemeinden vorzufinden, Gemeinden mit einer uralten Tradition. Sie nannten sich die Thomaschristen, und nach ihrer Überlieferung war unser Apostel Thomas als Missio­nar bis nach Indien gekommen und war dort als Märtyrer gestorben.

Nachdem nun alles geklärt ist, alle Zweifel ausgeräumt sind, Thomas wieder voll in den Jün­gerkreis integriert ist, fügt Jesus noch einen Satz an, und dieser Satz setzt dieser Begebenheit die Krone auf und ist der bekannteste Vers der ganzen Geschichte: "Jetzt, wo du mich gesehen hast, glaubst du. Glücklich zu nennen sind die, die nicht sehen und trotzdem glauben" (V. 29).

"Nicht sehen und trotzdem glauben." Ein berühmtes Wort, ein geflügeltes Wort. Und wie das so geht mit geflügelten Worten - manchmal fliegt man mit ihnen auf und davon. Und ohne es recht zu wollen oder zu merken, landet man in einer völlig fremden Gegend; das Wort ist aus dem Zusammenhang gerissen und sagt plötzlich Dinge, die es gar nicht sagen wollte. "Glück-lich, wer nicht sieht und trotzdem glaubt!" Aha, folgern manche: Dann ist der Glaube also um so besser, je weniger er sieht. Mathematisch gesprochen: Glaube und Sehen verhalten sich umgekehrt proportional. Oder ein bißchen einfacher formuliert: Es ist wie bei einer Wippe: Schwere Beweise - leichter Glaube; geringe Beweise - gewichtiger Glaube. Wer viele Beweise hat, muß wenig glauben. Wer wenig Beweise hat, muß viel glauben. Wer alle Beweise vor sich hat, braucht überhaupt nicht zu glauben. Und wenn jenand nicht den geringsten Beweis hat und trotzdem glaubt, ist er der Glaubensheld schlechthin. Wenn alle Fakten dagegen sprechen, wenn etwas absurd und unmöglich ist und man es trotzdem glaubt - das ist echter Glaube. Wer Beweise fordert, macht sich verdächtig - er will sehen statt glauben. Er verrät den wahren Glauben, er ist Judas Nr. 2. Es gibt nicht wenige Christen, die so denken. Aber interessanter­weise sind genau das auch die Überlegungen vieler moderner Theologen - jener Theologen, die rundweg abstreiten, daß Jesus leibhaftig auferstanden ist. Interessanterweise haben gerade sie einen Narren gefressen an diesem Wort Jesu: "Nicht sehen und trotzdem glauben."

Bei Thomas hatte es geheißen: erst sehen, dann glauben. Die Grundlage waren sichtbare Be­weise gewesen, darauf baute sein Glaube auf. Die Alternative, die Jesus vorstellt, lautet: Nicht sehen und trotzdem glauben. Auf was baut jetzt der Glaube auf? Was bedeutet: nicht sehen? Die moderne Theologie sagt: "nicht sehen" ist gleichbedeutend mit "nichts" - schlicht und ein­fach nichts; eine leere Menge. Der Glaube baut auf gar nichts auf, er schafft sich eine eigene Welt. Das erste sind nicht historische Fakten; das erste ist der Glaube. Je nachdem klingt das unheimlich fromm. Zum Beispiel so: "Die Grundlage der neutestamentlichen Gemeinde ist der Glaube an die Auferstehung Jesu." Klingt gut, nicht wahr? Ein frommes Wort am anderen. Aber wenn man genauer hinhört, merkt man: Das ist so falsch wie fromm. Die Grundlage der Gemeinde ist nicht der Glaube an die Auferstehung; die Grundlage ist die Auferstehung selbst! Nach jener verkehrten Behauptung schafft der Glaube die Auferstehung - erst der Glaube, dann die Auferstehung. Es war aber umgekehrt: Erst die Auferstehung, dann der Glaube. Für jene Art von Theologie ist die Auferstehung nicht wirklich geschehen; sie ist ein sogenanntes Inter­pretament: Mit ihrer Hilfe wird das Kreuz interpretiert. Das Kreuz, so wird gesagt, ist zwar geschichtlich gesprochen das Ende von Jesu Leben. Aber weil Gott sich zu Jesus gestellt hat, sind die Botschaft und das Werk Jesu nicht verloren, sondern behalten ihre Bedeutung für alle Zeiten. Jesus lebt, indem seine Botschaft weiterwirkt. Und um diese Gewißheit auszudrücken, haben die Apostel von Auferstehung gesprochen. Nun, wenn das der Sinn von Jesu Auferste­hung ist, dann sind sämtliche bedeutenden Männer und Frauen der Weltgeschichte auferstan­den. Wenn Auferstehung nicht mehr ist als ein Weiterwirken der Ideen und Vorbilder, dann ist auch Johann Sebastian Bach auferstanden - in seiner Musik, und Rembrandt - in seiner Malerei, und Shakespeare - in seinen Dramen, und Napoleon - in seiner Politik. Es ist mehr als offen­sichtlich, daß die Apostel etwas grundlegend anderes ausdrücken wollten, als sie von Jesu Auf­erstehung berichteten.

In der letzten Nummer des Kirchenboten vom Kanton Zürich (6/97) schreibt ein Pfarrer zum Thema "Leeres Grab": "Die müßige Frage, ob jenes Grab nun leer oder voll gewesen sei - diese Frage müssen die Gegner von Jesus erfunden haben, um die Jünger von der Hauptsache abzu­bringen, sie zu verwirren und mit ihrem Osterglauben ins Absurde zu treiben. Nur die Gegner sind daran interessiert, mit dieser Frage nach dem biologischen Ballast das Wirken von Jesus auszublenden. Sie wollen so verhindern, daß Jesus Christus unter uns ist." Ist das nicht gerade­zu unheimlich raffiniert? Wer das Grab für leer erklärt, der verwirrt den Glauben!? Echter Glaube braucht keine solchen Beweise? Wie war es denn in Wirklichkeit? Wenn der Stein nicht weggerollt gewesen wäre und die Frauen das Grab nicht leer vorgefunden hätten; wenn Petrus und Johannes, als sie ins Grab hineinschauten, dort noch den eingewickelten Leichnam Jesu hätten liegen sehen, dann wäre nie und nimmer einer von ihnen auf den Gedanken gekommen, Jesus könnte auferstanden sein. Das leere Grab war maßgeblich beteiligt an ihrem Auferste­hungsglauben!

"Nicht sehen und trotzdem glauben." Um zu verstehen, was damit wirklich gesagt sein soll, müssen wir nochmals in jene ursprüngliche Situation zurück. An wen dachte Jesus wohl, als er dieses geflügelte Wort zum ersten Mal aussprach? Dachte er an die anderen Jünger und hielt sie Thomas als leuchtendes Beispiel vor Augen? Waren sie die Glücklichen, die nicht gesehen hatten und trotzdem glaubten? Von wegen! Sie saßen alle im gleichen Boot. Kein einziger von ihnen hatte geglaubt, bevor er gesehen hatte. Wenn das, was Jesus hier sagt, ein Vorwurf ist, dann trifft dieser Vorwurf alle seine Jünger, nicht nur Thomas. In Markus 16,14 heißt es: "Jesus erschien den Elf, währen sie bei Tisch waren. Er hielt ihnen ihren Unglauben und ihre Uneinsichtigkeit vor und wies sie zurecht, weil sie denen nicht hatten glauben wollen, die ihn nach seiner Auferstehung gesehen hatten." Sogar bei Johannes war es so, dem ersten, der glaubte. Auch er mußte erst einmal das leere Grab sehen. Auch bei ihm heißt es - achten Sie auf die Reihenfolge -: "Er sah und glaubte" (Joh. 20,8). Okay, Thomas brauchte eine Woche länger als der Rest der Welt. Aber das lag weniger an seinem besonders hartnäckigen Unglau­ben, sondern schlicht und einfach daran, daß er Jesus eine Woche später zu Gesicht bekam als die anderen.

"Nicht sehen und trotzdem glauben": Auf die Zwölf traf das nicht zu. Sie glaubten erst, als sie sahen. Auf wen trifft es dann zu? Auf alle, die später an Jesus glauben werden! Es ist, als wür­den die Gedanken Jesu, während er mit Thomas spricht, plötzlich in die Zukunft wandern. Den Johannes hat er von seiner Auferstehung überzeugt, indem er ihn das leere Grab sehen ließ. Maria sprach er an, und da war alle Trauer weggeblasen. Bei Thomas hat er die Zweifel ausge­räumt, indem er sich ihm persönlich zeigte. Aber dann? Jesus weiß, daß er demnächst in den Himmel gehen wird, zu seinem Vater, und sich zu ihm auf dessen Thron setzen wird. Dann wird es definitiv vorbei sein mit den Erscheinungen. Dann heißt es wirklich nicht mehr: erst sehen - dann glauben. Wer jetzt noch zum Glauben an ihn kommen soll, muß das auf die Be­richte dieser Augenzeugen hin tun. Jesus sieht also so etwas wie einen Generationenwechsel vor sich: Die erste Generation von Gläubigen waren die, die ihn persönlich erlebt hatten, auch und gerade als Auferstandenen. Die nächste Generation von Gläubigen würden die sein, die sich auf das Zeugnis der ersten Generation verlassen mußte. Sie würden nicht sehen - und sollten trotzdem glauben. Aber sie glaubten nicht etwas Erdachtes, eine tolle Idee, nicht etwas Absurdes, irgendeine Phantasterei. Sie glaubten das, was ihnen die erste Generation als glaub­würdig berichtete. Am Anfang alles Glaubens stehen also dieselben Fakten, dieselben großen Taten Gottes. Nur tritt jetzt an die Stelle des Sehens das Hören, das Hören auf den Bericht de­rer, die gesehen haben. Dieser Bericht erfolgte zunächt mündlich, aber dann wurde er auch schriftlich festgehalten - und so entstanden die Evangelien. Sie sind das Zeugnis derer, die Je­sus persönlich erlebt hatten. Und das ist unser Glück: Weil die Apostel der mündlichen Kom­munikation die schriftliche hinzufügten und uns die schriftlichen Aufzeichnungen ihrer Augen­zeugenberichte hinterließen. hat jetzt auch die dritte und vierte Generation Informationen aus erster Hand. Und die fünfzigste. Und die hundertste. Wir hier in der Schweiz haben zuverläs­sige Berichte von jenen, die den auferstandenen Jesus mit eigenen Augen gesehen und höchst­persönlich mit ihm gesprochen haben. Für uns heißt es nicht mehr: Wir sehen und glauben, sondern: Wir hören und glauben bzw. Wir lesen und glauben. Aber das, was wir hören, ist das­selbe, was jene Menschen sahen - die großen Taten Gottes.

Dieses Wort Jesu ist also gleichzeitig so etwas wie ein Auftrag an Thomas und alle anderen: Ihr habt gesehen und geglaubt; jetzt sollt ihr Menschen zum Glauben führen, ohne daß sie se­hen. Prägt euch sorgfältig ein, was ich tue, merkt euch gut, was ich sage. Und lebt so, daß ihr glaubwürdige Zeugen seid! [Vergleiche Joh. 17,20: "Ich bete nicht nur für sie, sondern auch für die Menschen, die auf ihr Wort hin an mich glauben werden."]

Und die Jünger nahmen den Auftrag an und berichteten überall, was sie mit Jesus erlebt hatten und was Jesus sie über Gott gelehrt hatte. Und zu ihrer größten Freude glaubten ihnen viele! Viele vertrauten sich tatsächlich Jesus an, obwohl sie ihn nicht gesehen hatten! In seinem ersten Brief schreibt Petrus: "Ihr liebt Jesus, obwohl ihr ihn nie gesehen habt. Ihr vertraut ihm, ob­wohl ihr ihn jetzt nicht sehen könnt" (1.Petr. 1,8). Haben Sie es gemerkt? Petrus sagt "ihr", nicht "wir". Er selbst hatte Jesus ja gesehen, tausendfach vor seinem Sterben und dutzendfach danach. Daß er unter diesen Umständen an Jesus glaubt, ist ihm selbstverständlich. Ganz und gar nicht selbstverständlich ist es ihm, daß andere Menschen sich Jesus anvertrauen, Menschen, die ihn nie erlebt hatten. Es muß für Petrus und die anderen Apostel jedesmal neu wieder ein Wunder gewesen sein, daß jemand glaubte, ohne zu sehen. Aber was brachte diese Menschen dazu, sich Jesus anzuvertrauen? Was es eine Blitzidee, eine plötzliche Eingebung? Nein, sie hörten sich die Berichte der Augenzeugen an. In seinem zweiten Brief schreibt Petrus: "Wir haben uns nicht auf geschickt erfundene Märchen gestützt, als wir euch das Kommen unseres Herrn Jesus Christus in Macht und Herrlichkeit bekanntmachten. Wir haben mit eigenen Augen seine göttliche Hoheit gesehen ..." (2.Petr. 1,16). Und Johannes schreibt in seinem ersten Brief: "Was von Anfang an war, was wir gehört und mit eigenen Augen gesehen haben, was wir ge­schaut und mit unseren Händen betastet haben, das verkünden wir" (1.Joh 1,1). Und unmittel­bar nach der Thomas-Geschichte heißt es: "Jesus tat in der Gegenwart seiner Jünger noch viele andere Wunder, durch die er seine Macht bewies, die aber nicht in diesem Buch aufgezeichnet sind. Was hier berichtet ist, wurde aufgeschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben an ihn in seinem Namen das Leben habt" (Joh. 20,30f). Immer wieder berufen sich die Apostel darauf, daß sie Augenzeugen waren. Sie sagen ganz bewußt: Wir haben gesehen und daraufhin geglaubt, und jetzt bitten wir euch, un­serem Bericht zuzuhören und ebenfalls zu glauben. Ob sehen oder nicht-sehen - die Grundlage ist immer dieselbe: das, was Gott durch Jesus Christus getan hat, als dieser auf der Erde war.

Wenn der Glaube ohne Beweise der richtige Glaube wäre, dann hätte sich Jesus nach seiner Auferstehung kein einziges Mal zeigen dürfen. Aber Jesus tat genau das Gegenteil: Er zeigte sich so oft wie möglich. Er lieferte seinen Jüngern viele unumstößliche Beweise dafür, daß er wieder lebendig geworden war (genauso steht es in Apg. 1,3: "Jesus hatte den Aposteln nach seinem Tod während vierzig Tagen immer wieder auf eindeutige Weise gezeigt, daß er wieder lebendig geworden war"). Er legte allergrößten Wert darauf, jeden vernünftigen Zweifel auszu­räumen. Er ließ einige Frauen sowie Petrus und Johannes feststellen, daß das Grab leer war. Er schickte einige Engel zum leeren Grab, die den Frauen bestätigen sollten, daß er nicht mehr tot war. Er sprach selbst mit Maria aus Magdala. Er sprach mit zwei Jüngern, die in ein Dorf nahe bei Jerusalem unterwegs waren. Er zeigte sich Petrus, er zeigte sich Jakobus, er zeigte sich mehrfach allen seinen Jüngern, er zeigte sich bei einer Gelegenheit sogar mehr als 500 Christen auf einmal. Er unterhielt sich mit ihnen, er ließ sich berühren, er aß vor ihren Augen. Offen­sichtlich wollte Jesus keinen blinden Glauben, er wollte einen sehenden Glauben. Er wollte eine solide Grundlage für den Glauben schaffen. Die Auferstehung war nicht ein Wunschtraum, eine Einbildung, eine Hoffnung. Sie war eine Tatsache. Am Anfang des Glaubens stehen historische Fakten, Taten Gottes, die von vielen Menschen miterlebt wurden. Und aufgrund dieser Fakten entsteht der Glaube.

Deswegen mußten die Apostel Augenzeugen des Auferstandenen sein; das war eine der unab­dingbaren Voraussetzungen. Wenn Thomas den auferstandenen Jesus nicht gesehen hätte, hätte er kein Apostel sein können! Als die Apostel für den Verräter Judas einen Ersatz suchen, sagen sie: "Es muß jemand sein, die ganze Zeit über mit uns zusammengewesen ist, als Jesus, der Herr, unter uns lebte und wirkte, und zwar seit Jesus von Johannes getauft wurde, bis zu dem Tag, an dem er aus unserer Mitte in den Himmel aufgenommen wurde. Er muß mit uns zusammen bezeugen können, daß Jesus auferstanden ist" (Apg. 1,21f). Und entsprechend ha­ben die Apostel dann auch gepredigt. Sie sagten nicht einfach: "Jesus ist auferstanden; das glauben wir", sondern: "Jesus ist auferstanden; dafür sind wir Zeugen." (zum Beispiel Apg. 3,15; 5,32; 10,41). [Das gilt übrigens auch für Paulus. 1.Kor 9,1: "Bin ich etwas kein Apostel? Habe ich nicht Jesus gesehen, unseren Herrn?" 1.Kor. 15,8: "Als letztem von allen hat er sich auch mir gezeigt." Paulus bezieht sich hier auf die Erscheinung Jesu vor Damaskus. Er ordnet dieses Ereignis nicht als Vision ein, sondern setzt es den Erscheinungen des auferstandenen Jesus an die anderen Apostel gleich - eine letzte, gleichsam nachträgliche Erscheinung.]

Das Nicht-Sehen ist also nicht ein totales Nichts. Das Sehen wird nicht ersatzlos gestrichen, sondern wird ersetzt durch das Hören auf die, die gesehen haben, und durch das Lesen ihrer Berichte. Vielleicht hilft, um die Unterschiede klarzumachen, ein Vergleich: Ein Mensch ohne Gott ist wie ein Bergsteiger, der sich in einer Wand verstiegen hat. Er hängt fest und traut sich nicht mehr vor und zurück. Aber lange kann er sich nicht mehr halten; die Arme werden lahm, die Beine beginnen zu zittern. Da sieht er dicht unter sich jemand auf einem Felsabsatz stehen: "Spring", ruft er, "ich fang dich auf!" Der Bergsteiger vertraut dem Fremden und springt (und landet sicher): Das heißt sehen und glauben. (Sie merken: Zum Glauben gehört das Vertrauen. Der Bergsteiger muß darauf vertrauen, daß der andere gewillt ist, ihn aufzufangen, und daß er über die nötigen Kräfte verfügt.) Vielleicht kommt, wie er so in der Wand hängt, zu allem Un­glück auch noch dichter Nebel auf. Der Bergsteiger sieht die Hand nicht mehr vor den Augen. Aber plötzlich hört er unter sich eine Stimme: "Spring, ich fang dich auf!" Und er vertraut der Stimme und springt (und landet sicher): Das heißt nicht sehen und trotzdem glauben. Vielleicht sieht der Bergsteiger keinen Menschen und keinen Felsvorsprung und hört keine Stimme, aber er springt trotzdem - in der wahnwitzigen Hoffnung, da müsse doch irgend etwas sein, was ihn rettet. Das heißt glauben ohne Grundlage. Die beiden ersten Arten von Glaube retten uns; das letzte ist ein tödlicher Glaube.

Es wäre natürlich schon toll, wenn wir immer erst sehen und dann glauben könnten. Wenn bei Glaubenszweifeln plötzlich mal Jesus im Zimmer stehen und mit uns reden würde. Daß das so nicht mehr funktuoniert, hat mit einer Eigenart der christlichen Religion zu tun, die sie von al­len anderen Religionen unterscheidet. Die christliche Religion ist eine historische Religion. In ihrem Mittelpunkt stehen nicht Ideen, sondern Taten. Ideen lassen sich wieder und wieder den­ken und aussprechen (oder im Lauf der Zeit auch durch andere Ideen ersetzen); Taten sind einmalig. Ideen können an vielen Orten gleichzeitig und zu den verschiedensten Zeiten gedacht werden. Taten geschehen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Gott hat nicht nur fromme Worte über Liebe und Vergebung gemacht; er hat gehandelt. Er hat seinen Sohn in diese Welt geschickt, zur Zeit des Römischen Reiches auf ein bestimmtes Fleckchen Erde zu einem bestimmten unscheinbaren Volk. Und da hat Jesus gelebt und gewirkt, da hat er gelehrt und seine Wunder vollbracht, da hat er gelitten und ist gestorben. Das ist das Großar­tige, Einzigartige an der christlichen Religion. Unser Gott philosophiert nicht nur über Liebe und Güte, sondern macht Nägel mit Köpfen. Laßt Taten sprechen! Gott hat wirklich in unsere Welt eingegriffen. Aber in diesen riesigen Vorteil ist eben auch etwas eingebaut, was man als Nachteil empfinden kann: Geschichtliche Ereignisse haben ihre Zeit und Stunde, und danach sind sie vorbei. Die Geburt Jesu fand in Betlehem statt und nirgends sonst. Das Kreuz Jesu stand etwa im Jahr 30 auf einem Hügel vor den Toren Jerusalems und wird nicht immer wieder woanders aufgerichtet. Jesus stieg einmal aus dem Grab; er läßt sich nicht ein zweites Mal be­erdigen, nur um den Sieg über den Tod nochmals zu demonstrieren. Gottes große Heilstaten sind wirklich einmalig - im doppelten Sinn.

"Wär Jesus tausendmal in Betlehem geboren und nicht in dir - du wärest doch verloren", heißt es in einem frommen Lied. Stimmt; ohne persönliche Wiedergeburt hätte ich nichts von all dem Guten, was Gott uns durch Jesus schenken will. Aber dürfte man auch das Umgekehrte daraus folgern: Hauptsache, ich bin wiedergeboren - dann ist es egal, ob Jesus überhaupt je auf die Welt kam? Hauptsache, ich bekomme seine Vergebung - dann ist es egal, ob er je auf Golgata an ein Kreuz geschlagen wurde? Hauptsache, ich erfahre die Kraft seiner Auferstehung - dann ist es mir egal, ob das Grab leer war oder nicht!?? Niemals. Denn ohne Betlehem, ohne Gol­gata, ohne leeres Grab gäbe es keine Wiedergeburt, keine Vergebung und kein neues Leben.

"Nicht sehen und trotzdem glauben": Das traf nicht auf Thomas zu und nicht auf die Zwölf. Je­sus spricht hier von denen, die nach seiner Himmelfahrt an ihn glauben werden. Aber letztend­lich ist dieses große Wort Jesu doch auch an Thomas ganz persönlich gerichtet. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Jesus einen leisen Tadel ausspricht, einen (allerdings ganz zurückhaltend formulierten) Vorwurf an die Adresse des Thomas (und wohl auch an die der anderen Jünger): Mußte ich euch wirklich erst so viele Beweise liefern, ehe ihr glaubtet? Ihr hattet doch so viele Jahre lang Gelegenheit, mich kennenzulernen. Ihr habt erfahren, daß ich Macht über alles habe, sogar über den Tod. Ihr habt gemerkt, daß ich vertrauenswürdig bin, daß man sich auf mein Wort verlassen kann. Viele Male habe ich euch angekündigt, daß ich von den führenden Männern unseres Volkes getötet würde - und genauso ist es gekommen. Warum hat euch das Kreuz dann so entsetzt? Und genauso viele Male habe ich euch angekün­digt, daß ich nach drei Tagen wieder lebendig werden und auferstehen würde. Warum schien euch das dann so unmöglich? Warum habt ihr nicht vielmehr darauf gewartet? Und du, Tho­mas: Du hast doch mitbekommen, daß die Frauen das Grab leer fanden; daß ein Engel ihnen sagte, sie sollten Jesus nicht bei den Toten suchen, er sei auferstanden; daß ich mit Maria ge­sprochen habe; daß ich Petrus begegnet bin; daß ich allen anderen meiner Jünger hier bereits erschienen bin. Hätte das nicht genügt? Hätte es da nicht längst bei dir klicken müssen? Fällt es dir so schwer, mir zu vertrauen? Mußt du wirklich jedesmal erst ein neues Wunder sehen, ehe du mir Glauben schenkst?

Nicht sehen und trotzdem glauben; Gott lieben, auch wenn wir nichts von seiner Nähe und Kraft spüren; ihm vertrauen, auch wenn er einmal nicht so eingreift, wie wir es gern hätten - das gehört zum Leben als Christ. "Wir leben im Glauben und nicht im Schauen", sagt Paulus (2.Kor. 5,7). Oder, etwas verständlicher formuliert: "Unser gegenwärtiges Leben wird vom Glauben bestimmt und nicht vom Schauen." An Gott glauben, wenn man sicher ist, daß er im­mer sofort zu unseren Gunsten eingreift, ist keine Kunst. Ihn lieben, wenn er immer gleich alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumt, ist geradezu billig. Aber ihn lieben und ihm die Treue halten, auch wenn uns das etwas kostet und auch wenn er sich für eine Zeitlang verborgen hält - das erst macht unsere Beziehung zu ihm tief und echt. Ein Mann liebt seine Frau - sagt er wenigstens. Kein Wunder, sie ist ja strahlend schön und kerngesund und liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Aber wird er ihr auch noch die Treue halten, wenn sie krank und entstellt ist und nichts mehr leisten kann? Erst dann hat seine Liebe die Feuerprobe bestanden.

Diese Feuerprobe bestanden haben zum Beispiel die drei Freunde Daniels. Der babylonische König Nebukadnezar wollte sie zwingen, ein von ihm errichtetes goldenes Götzenstandbild anzubeten, und weil sie sich weigerten, drohte er, sie in einen glühenden Ofen werfen zu lassen. Die Reaktion der drei Freunde ist großartig: "Wir haben es nicht nötig, dir etwas darauf zu antworten. Unser Got, dem wir gehorchen, kann uns zwar aus dem glühenden Ofen und aus deiner Gewalt retten, aber auch wenn er das nicht tut: Deinen Gott werden wir niemals vereh­ren, und das goldene Standbild, das du errichtet hast, werden wir niemals anbeten" (Dan. 3,16-18). Sie vertrauen Gott, egal ob er sie rettet oder nicht. Sie bestehen nicht darauf, seine Hilfe zu erleben. Sie wissen, daß Gott eingreifen kann, aber sie fordern sein Eingreifen nicht. Sie sind bereit, zu glauben, ohne zu sehen. Und vielleicht macht es Gott gerade deshalb besonders Freude, ein Wunder zu tun und sie zu retten. Sie haben die Feuerprobe bestanden - im doppel­ten Sinn.

Thomas, hättest du nicht auch glauben können, ohne Jesus gesehen zu haben? Er hätte sich dir doch sowieso gezeigt; du sollst ja ein Zeuge seiner Auferstehung sein. Lerne, ihm zu vertrauen, lerne zu glauben, ohne zu sehen! Du hast es dir zur Gewohnheit gemacht, bei allem zunächst die negative Seite zu sehen, alles zunächst anzuzweifeln, selbst wenn es aus der Ecke Gottes kommt, immer erst einen Beweis zu fordern, ehe du etwas für bare Münze nimmst. Jetzt dreh einmal dieses Verhaltensmuster um und gib ihm einen Vertrauensvorschuß! Beginne diesen le­benslangen Lernprozeß, Gott zu vertrauen; vertraue ihm auch einmal blind. Du vertraust ja nicht Hinz und Kunz, du vertraust dem, der dir und unzähligen anderen schon so viel Gutes getan hat; du vertraust dem, der für dich gestorben und für dich auferstanden ist. "Glücklich, wer nicht sieht und trotzdem glaubt."

Gebet

Herr Jesus Christus, wir danken dir dafür, daß du auferstanden bist, wirklich und leibhaftig auferstanden. Seit Deiner Auferstehung gibt es wirkliches Leben, Leben, das nicht mehr be­grenzt ist durch den Tod. Bis zu deiner Auferstehung war der Tod die stärkste Macht, der sich am Ende alle unterwerfen mußten, auch die Mächtigen dieser Erde. Aber du hast die Macht des Todes gebrochen. Du hast zum erstenmal diese unüberschreitbare Grenze überschritten. Der Tod hat verloren, das Leben hat gewonnen. Und damit ist auch alles überwunden, was zum Tod führt und was Vorstufen des Todes sind: Leid, Schmerz, Müdigkeit, Mutlosigkeit. Das alles gibt es zwar noch, aber es hat für uns seinen Schrecken verloren. Seit deiner Aufer­stehung gibt es neue Perspektiven. Jetzt können wir dieses irdische Leben gelassen angehen, können es sinnvoll führen. Bei dir ist das neue Leben schon umfassend da; bei uns hält es nach und nach Einzug. Wir wollen dir vertrauen - für uns persönlich, für unsere Familien, für unsere Gemeinden. Danke, daß du, der Auferstandene, bei uns bist. Amen.