Gottfried Daniel Krummacher - Der Weg zur Heiligkeit

Erste Predigt

"Jaget nach der Heiligung, ohne welche wird niemand den Herrn sehen." Diese wichtigen Worte stehen Hebr. 12,14. Das Ziel, zu welchem die christliche Religion uns führen will, ist in den Worten ausgedrückt: "Den Herrn zu sehen," d. i. ihn zu erkennen und eine vollkommene Gemeinschaft mit ihm zu haben. Dies ist die ewige Seligkeit. Sie wird niemand zu Teil ohne Heiligung. Die Heiligung ist zwiefacher Art. Die eine und hauptsächliche oder erste geschieht durchs Blut, und zwar durch das Blut Jesu Christi. Sie ist diejenige, die er selbst in den Worten ausdrückt: "Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie geheiligt seien in der Wahrheit." Sie heißt auch sonst die Versöhnung und die Rechtfertigung zum Leben. Wer diese nicht hat, wird den Herrn nicht sehen, sei er auch, wer er wolle. Wir nennen sie die erste, denn sie muß vorab stattfinden. Auf diese Weise durchs Blut oder durch ein Opfer muß man von allen seinen Sünden gereinigt sein. Jaget ihr also nach! Jaget ihr so nach, daß ihr euch mit nichts Geringerem begnügt, als mit einem so völligen Genuß derselben, wie der Hebräerbrief ihn andeutet: Daß ihr los seid von dem bösen Gewissen, weil ihr einmal vollendet seid, daß ihr kein Gewissen mehr habt von den Sünden, sondern Frieden habt mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum. Daraus fließet nun her und ist unzertrennlich damit verknüpft die andere Heiligung, die durch Wasser und Feuer, den heiligen Geist, bewirkt wird. Sie besteht in der Gleichförmigkeit unserer Gesinnung mit Gott, ohne welche es unmöglich ist, den Herrn zu sehen, denn ohne dieses würden wir seine Feinde sein und keine Gemeinschaft mit ihm haben können nach seinem Willen.

Jaget auch dieser Heiligung nach in gehöriger Ordnung und Weise, wovon wir jetzt zu reden gedenken. Jaget dem einen Christo nach, worin beides, so wie außer ihm nichts ist.
Römer 6,12 und 14.

So lasset nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in ihren Lüsten. Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade.

Diese wichtigen Worte belehren uns über das rechte Verhalten gegen die Sünde. Wir betrachten denn

1.      Was sagt das Gesetz? Und

2.      Was sagt das Evangelium?

Was sagt das Gesetz vom rechten Verhalten wider die Sünde? "Laßt sie nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in ihren Lüsten." Dies hat eine doppelte Beziehung, nämlich eine gesetzliche und eine evangelische.

 I. Was sagt das Gesetz?

In gesetzlicher Beziehung ruft und schreit und donnert das ganze Gesetz und jedes einzelne Gebot: Sündigt nicht! und ruft's in Übereinstimmung mit dem Gewissen, welches sich genötigt sieht, zu bekennen, das Gesetz sei gut und jedes einzelne Gebot sei heilig, recht und gut, wenn auch unserer Natur nicht angenehm. Das Gesetz ist wider alle und jede Sünde, von der gröbsten und größten an bis zur allergeringsten, und untersagt die eine mit dem nämlichen Ernst wie die andere. Selbst die unwillkürliche Neigung zu etwas Ungöttlichem wird aufs nachdrücklichste verboten. Keine Entschuldigung wird angenommen. Es heißt kurzweg und in jeglichem Betracht: Sündiget nicht!

Die meisten Menschen achten das freilich nicht, und die Welt ist voll frecher Sünder, voll Flucher, Trunkenbolde, Hurer, Spieler. Sie sündigen mit frecher Stirn und tun, als ob kein Gesetz, ja, als ob kein Gott im Himmel wäre, der ihnen etwas zu befehlen hätte, und der sie strafen könnte und wollte. Es gibt aber auch ehrbare Menschen, die sich mit einigem Fleiß angelegen sein lassen, wenigstens etwas von dem zu halten, was Gott und die gesunde Vernunft gebieten. Sie tun sich selbst gar leicht ein Genüge und meinen, Gott könne und solle auch damit zufrieden sein. Ja, es gibt Leute, die einen mehr als gemeinen Fleiß darauf wenden, Laster zu meiden und manche Tugend zu üben, aber es sind Heuchler. Es geht ihnen nicht von Herzen, sondern es ist Gemachtes und Äußeres, ohne Lust und Liebe, aus einer Art von Zwang, aber doch mit großer Selbstzufriedenheit und Einbildung, daß sie sich wohl besser dünken als viele andere. Diese Art war dem Herrn Jesu so lästig. Sie dünket sich rein in ihren Augen und ist doch von ihrem Kot nicht gewaschen.

Seelen aber, die Gott zum Heil führt, werden auf eine sehr nachdrückliche Weise daran gemahnt: "Lasset die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe!" Sie kommen unter das Gesetz, oder es kommt zu ihnen, wie Paulus sagt: "Da kam das Gesetz." Aber wie kommt es? Es kommt als einer, der auf eine höchst nachdrückliche Weise wegen einer Schuld mahnt und an die Notwendigkeit der Bezahlung erinnert. Das Gesetz macht es wie jener Gläubiger, von dem Jesus in dem Gleichnisse sagt: "Er würgte seinen Schuldner und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist." Es kommt und läßt sich gar nicht abweisen. Mag der Mensch sich Mühe geben, der schweren Gedanken an seine begangenen Sünden und an seine verdiente Strafe sich zu entschlagen und die Sorge wegen seiner Seligkeit von sich zu werfen, wie er ja bisher ohne diese Sorge gelebt hat, so kann er das glücklicherweise nicht, sondern es dringt ihm je länger je mehr ans Herz. Es kommt als einer, der durchaus bezahlt sein will, die Mittel mögen nun vorhanden sein oder nicht. Das ist die Sache des Gesetzes nicht, sondern die des Menschen. Da siehe du zu, heißt es. Es handelt sich nicht darum: Was kannst du, sondern was sollst du? Tue nichts was du kannst, sondern was du sollst. Du sollst, du sollst! Das Gesetz kommt in gerechter und heiliger, aber dem Sünder furchtbarer Strenge. Es fordert einen ganzen Gehorsam nicht in einigen, sondern durchaus in allen Stücken, so daß seine Gedanken nicht übersehen werden; es fordert einen vollkommenen Gehorsam, der in allen Stücken so beschaffen sei, wie er sein soll, so daß ich Gott über alles und den Nächsten wie mich selbst liebe. Es fordert denselben auf der Stelle, ohne Aufschub; es läßt sich in keinen Vergleich ein, in keinen Nachlaß, daß es sich begnügen sollte, wenn als vorerst einiges und so nach und nach immer mehr geschehe. Ja, das Gesetz geht immer weiter und weiter in seinen Forderungen, wird immer genauer und umfassender. Es bleibt aber nicht bloß bei Forderungen, geradezu sündliche Handlungen fortan nicht mehr zu begehen, sündliche Redensarten fortan nicht mehr zu führen, sondern den Grund des Herzens selbst zu ändern, damit erst der gute Baum gesetzt und so dafür gesorgt werde, daß die gute Frucht von selbst wachse. Jetzt bekommt der Mensch eine ihn betrübende, aber nötige Einsicht, daß er selbst nicht tauge, daß seine Natur Sünde, daß das Gesetz geistlich, er aber fleischlich sei, daß er in Sünden empfangen und geboren sei, und sie sein Wesen so durchdrungen habe, wie das Feuer ein glühendes Eisen. Das ist die Sünde, von welcher Luther sagt, die man nicht tut, sondern die das Böse tut; sie sündigt nicht eine Stunde oder eine Zeitlang, sondern so lange die Person ist, so lange ist die Sünde auch. Demnach kommt das Gesetz mit den erschrecklichsten Drohungen und kündigt nichts Geringeres an als die entsetzlichen Übel, den Zorn Gottes, den Fluch, die ewige Verdammnis. Die Seele wird dadurch innerlich angegriffen und gerät in Jammer und Not. Aber dies alles dämpft und tötet die Sünde so wenig, daß vielmehr allerlei Lust dadurch erregt, und das Feuer innerlich recht aufgeschürt wird.

Wie verhalten sie die Seelen denn nun gewöhnlich unter diesen Umständen? Der Mensch besorgt das Ärgste, denn es werden ihm nicht nur seine Sünden aufgedeckt und vorgehalten, sondern auch das Gute, worauf er sich verließ, als unzulänglich unter die Augen gestellt. Das muß ganz etwas Anderes sein, was vor Gott gelten soll, als das unflätige Kleid der eigenen Gerechtigkeit, das nicht einmal sein Gewissen stillen kann. Von Jesu kann er noch keinen Gebrauch machen und ihn nicht fassen. Mag er auch Sünder selig machen, doch wohl solche Sünder nicht, wie er sich fühlt und erkennt. Er fordert doch auch so viel, wovon er nichts leisten kann. Er fällt also auf Selbstbessern. Was geschehen ist, das soll ferner nicht von ihm geschehen, er hofft, durch feste Entschließungen ein ganz anderer Mensch wie bisher zu werden, er will sich durch anhaltendes Beten in seinem Vorsatz zu stärken suchen, das fleißige Lesen im Worte Gottes soll nicht mehr von ihm versäumt werden, kurz, er selbst will das Gute in sich hervorbringen, und wer soll es seiner Meinung nach anders tun, wer wird es tun? Er hofft, es werde ihm dazu seinen Beistand nicht versagen, aber er findet, daß er nie was Besseres schafft. Gott selbst, der in Gnaden über ihm wacht, läßt es ihm nicht gelingen, daß er sich eine eigene Gerechtigkeit aufrichte, und wenn er denkt, es gelinge ihm auf der einen Seite, so mißglückt es ihm desto ärger auf der andern. Gelang es einige Tage, so mißlingt es die andern wieder desto mehr. Wird ein Ausbruch verhütet, worüber er sich sehr freut, so tritt ein anderer an dessen Stelle. Er muß ausrufen: "Ach, ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!" Ist für solch einen noch wohl Rettung vorhanden, oder ist alles verloren? Es werden auch Versuche gemacht, sich auf Jesum, sein Verdienst und Leiden zu verlassen. Aber das erscheint wie ein falsches, sehr gefährliches Ruhekissen für die Faulheit, die sich an der Pflicht vorbei zu machen sucht. Es heißt: Fort, an eure Arbeit! Und man geht wieder rege fort an seinen Frohndienst. Das ist ein rechter Angststand. Forderung auf Forderung und kein Vermögen, irgend eine davon zu erfüllen; die Sünde nicht herrschen lassen zu sollen, und sie herrscht; das Gute will etwas in der Seele, und tut es nicht; es ist etwas in der Seele, das will das Böse nicht tun und tut es doch, sie wird wie zerrissen. So kämpft und ringt das Eine mit dem Andern, das Alte mit dem Neuen, und man weiß selbst nicht, was daraus werden will, welches von beiden die Oberhand behalten wird. Hat der Mensch einen Augenblick guten Mut, so dünket ihn die andere Zeit, es sei alles verloren. Dies kommt freilich bei dem einen klarer zum Vorschein als beim andern, dauert bei diesem eine längere Zeit als bei jenem, tritt bei den meisten gleich im Anfange ihrer Bekehrung ein, bei andern, nachdem sie schon manche Gnadenblicke empfangen und manche fröhliche Glaubensgriffe getan haben. Auf jeden Fall ist ein jeder so lange unter den Vormündern und Pflegern bis auf die bestimmte Zeit vom Vater, und indessen zwischen einem Kinde und Knechte kein Unterschied. Dies muß ausgehalten werden, an Desertieren ist nicht zu denken. Ebensowenig kann und darf sich die Seele eigenmächtig ins Evangelium drängen und dasselbe an sich reißen. Es ist eine innerliche Wunde, die auch innerlich muß geheilt werden. Gewiß ist's aber, daß durch all dies Drängen und Treiben in der Heilung nichts gewonnen wird, denn es ist uns kein Gebot gegeben, das uns könnte lebendig machen, sonst käme die Gerechtigkeit wirklich aus dem Gesetze und nicht aus der Gnade.

 II. Was sagt das Evangelium?

"Lasset die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe." Dies muß aber auch in evangelischer Beziehung aufgefaßt werden. Dann ist es teils eine Verheißung, teils die Beschreibung einer Gesinnung, wie sich bei wahren Christen befindet.

Es ist eine Verheißung: "Ich will euch reinigen von allen euren Sünden, und von allen euren Götzen will ich euch reinigen." Christus hat sich selbst geheiligt für diejenigen, welche ihm sein Vater gegeben hat, auf daß auch sie geheiliget seien in der Wahrheit. "Ich bin der Herr, der euch heiligt." Die Heiligung fließt aus der Rechtfertigung her wie der Bach aus der Quelle. Wer gerecht gesprochen ist, wird auch ganz gewiß geheiligt. Die Rechtfertigung, wodurch der Sünder auf einmal als gerecht und vollkommen in Christo dargestellt wird, geht der Ordnung nach vor, die Heiligung folgt unfehlbar nach. Sie ist der Genuß der in der Rechtfertigung gerichtlich zuerkannten Güter, wozu auch der Glaube gehört und, alles in eins zusammen zu fassen, der heilige Geist, der den Glauben, die Liebe und alles Gute wirkt. Sie ist eben so wenig des Menschen eigenes, sondern des Herrn alleiniges Werk, wie auch die Rechtfertigung; beide Güter werden auch auf gleich Weise empfangen von denen, die nicht mit Werken umgehen, sondern glauben. Nur geschieht die Heiligung nach und nach und in diesem Leben nie vollkommen. Es ist und bleibt Stückwerk, und sie wird erst im Tode ganz vollendet. Selbst der Friede, den diejenigen genießen, die da gerecht worden sind, ist ein Stück der Heiligung und kann bestritten werden, daß auch gerechter Jeremias wohl zu der Klage kann gebracht werden: "Meine Seele ist aus dem Frieden gerissen." Das natürliche Verderben und namentlich der Unglaube kann sich nicht nur heftig regen, sondern es können sogar Fehler und Fälle vorkommen. Auch gehört das Kreuz in diesen Weg, wie sonderlich das Gebet.

"Lasset die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in ihren Lüsten." Das ist die Gesinnung, die durch die Wiedergeburt in allen wahren Christen gewirkt und in ihnen erhalten, bewahrt und gestärkt wird. Sie wollen die Sünde in keiner Beziehung bei sich herrschen lassen, sie können sie auch nicht herrschen lassen. Es ist ihrem Grundsinne, den sie in der Wiedergeburt empfangen haben, zuwider. Wollen das Gute haben sie, denn Gott hat es in ihnen gewirkt. Mag ihnen auch noch das Vollbringen fehlen, sie begehren es doch von Herzen. Regen sich in ihnen verkehrte Dinge, sie verabscheuen dieselben. "Wer aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde und kann nicht sündigen." Die Aufrichtigkeit und Lauterkeit, die in wahren Christen ist, ringt und kämpft gegen alles Sündliche an, sie leidet kein Einverständnis mit der Sünde, sondern arbeitet dagegen an, bis jede Fessel zerrissen, jedes Netz durchbrochen ist, möchte es auch eine Zeit lang nach jenem Spruch gehen, wo die Gemeine sagt: "Herr, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du. Aber des Herzens Lust stehet doch allein zu deinem Namen und deinem Gedächtnis." So ist es und kann nicht anders sein.

Das nun ist kein tötender Buchstabe des Gesetzes, das da fordert, dräuet, drängt und zwingt. Nein, das ist dasjenige Gesetz, von welchem Gott verheißt: "Ich will es in ihr Herz schreiben und in ihren Sinn geben. Ich will meine Furcht in ihr Herz geben, daß sie mich fürchten sollen." Es ist das Gesetz in dem Gemüte, nach welchem der Christ Gott dienet, und das da widerstreitet dem Gesetz in den Gliedern. Es ist der Geist, welchen wider das Fleisch gelüstet, und das rechtschaffene Wesen, das in Christo Jesu ist; der Same aus Gott, der in ihm bleibet, die erste Frucht der Rechtfertigung. Eine große, heilige und herrliche Veränderung geht mit dem Menschen vor, der ein wahrer Christ, der bekehrt, der wiedergeboren wird. Aus einem Blinden wird er sehend, aus einem Toten wird er lebendig, aus einem Kinde des Teufels und Feinde Gottes wird er ein Kind und Freund Gottes und ein entschiedener Feind des Teufels und aller seiner Werke. Er selbst wird dies kräftiglich gewahr. Was vormals seine Freude, bringt ihm jetzt Herzeleid, und wovon er früher nichts hören noch wissen, womit er nichts zu schaffen haben mochte, das ist ihm jetzt die größte Herzensangelegenheit, das Eine, was not ist. Freilich irrt er sich in der Freude seines Herzens, wenn er meint, das Alte sei rein vergangen, und alles neu geworden, er sei nun in sich selbst ein anderer Mensch an Herz, Mut und Sinnen und allen Kräften; die vorigen bösen Neigungen seien nun auf einmal und für immer abgetan und gestorben. Wer wollte nicht einem jeden diese Freude gönnen, wenngleich ein Irrtum mit unterläuft, der aber gewöhnlich nicht einmal lange dauert, wo es sich anders gestaltet! Kaum hatte Jacob den Segen von seinem Vater empfangen, so zeigte sich auch der Haß seines Bruders wider ihn in einer solchen Bitterkeit, daß er sein Heil in der Flucht suchen und ein sehr mühseliges Leben führen mußte, dessen Mühseligkeiten sich erst mit demselben endigten. So ist's: "Das Fleisch gelüstet wider den Geist," die verderbte Natur an sich wird dadurch nicht besser, und das Gesetz in den Gliedern wird nicht aufgehoben, vielmehr die sündliche Art je länger je mehr erkannt. Je mehr nun der Geist erstarket, desto schwächer wird das Fleisch, je mehr die Gnade im Herzen wächst, desto weniger kann die Sünde herrschen in den Gliedern, desto weniger Gehorsam findet sie in ihren Lüsten. Zieht sie sich aber zurück, so äußert sich auch, in dem Maße dies geschieht, der angeborne Unglaube samt dem übrigen Verderben.

Ach, wie so gar nichts in sich selbst sind doch alle Menschen, auch alle Christen! Ohne ihn können sie ja gar nichts tun, ja denken, was taugt. Welch ein abhängiges Leben sollen sie führen! Ist das nun euer Ernst, die Sünden nicht herrschen zu lassen in eurem sterblichen Leibe, sehet, so geben die folgenden Worte den Weg dazu an: "Die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade!" Amen.

Zweite Predigt

Gott hat seinem alten Volke einige Gebote gegeben, deren natürlicher Grund und Absicht nicht wohl eingesehen werden mag, denen wir also einen geheimen, geistlichen und höhern Sinn unterlegen möchten.

Die Gebote, welche ich meine, sind diese: "Ihr sollt nicht Wolle und Leinen zugleich tragen und durcheinander weben, ihr sollt nicht mit einem Ochsen und Esel zugleich pflügen, auch nicht zweierlei Samen auf den nämlichen Acker säen, oder andere Gewächse in euren Weinberg pflanzen." Ich kann nicht sagen, ob es überhaupt oder im Morgenlande der Gesundheit oder der Reinlichkeit nachteilig ist, Kleider von einem Gewebe aus Wolle und Leinen zu tragen, und so auch im übrigen, wie z.B. Korn und Weizen durcheinander zu säen; Gott aber befahl's, und so mußte es geschehen.

Nehmen wir's auch in einem geistlichen Sinne, so daß es noch verpflichtend ist und seine Anwendung findet, so deuten wir's zuvörderst aufs Leben. In einigen Stücken Gott zu Gefallen leben wollen und in andern sich nach eignem Gefallen richten, das geht nicht. "Wer fromm ist, sei immerhin fromm". In die Kirche, zuweilen zum Abendmahl gehen, in der heiligen Schrift lesen, sein Gebet pünktlich sprechen, ist gut und löblich, aber in andern Stücken nach seinem eignen Willen leben, ist eitel. Wenn man das Eine tut, soll man das Andre nicht lassen. Wir deuten es ferner auf die Lehre. Auf das eine Stück derselben viel, auf das andere wenig oder nichts halten, eine Wahrheit annehmen, die andere abweisen, das geht nicht, denn alle Wahrheiten stehen in unzertrennlicher Verknüpfung, deren Band wir so wenig lösen dürfen, als das des Orion. Endlich deuten wir's auf die Praxis. Gesetz und Evangelium müssen nicht durcheinander gemischt werden. Das Gesetz muß nicht durch Beimischung des Evangeliums, und dieses nicht durch jenes entkräftet und der Weinberg nicht mit andern Gewächsen bepflanzt werden, wie doch so häufig geschieht, so daß mancher Christentum ein Gemenge ist.

Der Herr leite uns in alle Wahrheit und schaffe, daß wir nicht Menschen wie Bäume, sondern alles recht sehen!

Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade.Römer 6,14

Die Frage ist jetzt die: Wie gelangen wir armen, schwachen Sünder dahin, daß die Sünde nicht mehr über uns regiere, daß wir frei von derselben werden?

Auf diese Frage gibt der Apostel eine merkwürdige Antwort. "Die Sünde," sagt er, "wird nicht herrschen über euch, denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade." Die Sache ist die, daß die Sünde nicht herrsche. Das Mittel dazu liegt unter der Gnade", und dieses merkwürdige Mittel ist der eigentliche Gegenstand unserer Betrachtung.

Welches ist denn die Bedingung, unter welcher die Sünde nicht herrschen wird? Liegt dieselbe in irgend einem Verhalten des Menschen? Nein, sondern in seinem Stande. Dieser Stand ist zwiefach. ER steht entweder unter dem Gesetz oder unter der Gnade. Es wäre also zu untersuchen: Was heißt, unter dem Gesetz stehen? und was, nicht unter demselben, sondern unter der Gnade stehen oder sein?

Wer unter dem Gesetz ist, der steht unter dessen Botmäßigkeit; er ist dessen Schuldner; er ist verpflichtet, dasselbe zu halten; das Gesetz hat rechtmäßige Forderungen an ihn, die er leisten soll, und er kündigt ihm die härtesten Strafen an, wenn dies ganz oder teilweise unterbleibt. Nun sagt der Apostel: Wenn jemand sich in diesem Stande, sich in diesem Verhältnisse zu dem Gesetz befinde, so sei die unausbleibliche Folge davon diese, daß die Sünde über ihn herrsche. Sie ist einmal da, sie ist in uns. Das Gesetz setzt sich wohl derselben in sofern entgegen, daß es sie aufs allernachdrücklichste verbietet, daß es die schwerste Strafe auf die Begehung der Sünde setzt, daß es die Gottseligkeit aufs nachdrücklichste befiehlt und aufs dringendste dazu ermuntert, und die schönste Belohnung verspricht.

Aber das Gesetz bietet keine Hülfe gegen die Sünde an, wenn es gleich sagt: Laß das, und tue jenes. Ja, es wird zufällig ein Reiz zur Sünde, ein Beförderungsmittel derselben. Paulus sagt, es habe allerlei Lust in ihm erregt, nennt es sogar die Kraft der Sünde, sagt, ehe das Gesetz gekommen, sei die Sünde tot gewesen, nun aber lebendig geworden, habe ihn gefangen genommen unter die Sünde, sei überaus sündig geworden. Schon die Heiden bemerkten, daß die menschliche Natur die seltsame, dem Gesetz widerwärtige Eigenschaft habe, daß die Neigung, es zu übertreten, durchs Verbot nur geschärft und desto größer würde, je schärfer das Verbot wäre. "Ist denn das Gesetz Sünde, oder mir zur Sünde geworden? Das sei ferne! Aber ich erkannte die Sünde nicht, wie sie Sünde ist, ohne das Gesetz. Ich wußte nichts von der Lust, wofern nicht das Gesetz gesagt hätte: Laß dich nicht gelüsten! Die Sünde ward lebendig durchs Gesetz und nahm mich gefangen. Ach, ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?"

Das Gebot oder Gesetz behandelt auch den Menschen nicht nach seiner jetzigen, elenden Beschaffenheit, nach seinem wirklichen Zustande, sondern nach demjenigen Zustande, worin Gott ihn erschaffen hat, ausgerüstet mit allen demjenigen Kräften, welche dazu erforderlich und hinreichend waren, den in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes zu tun. Es bekümmert sich nicht darum, ob er es jetzt tun. kann oder nicht, sondern es fordert nur mit allem Nachdruck, und enthält durchaus auch keine tröstliche Silbe für den Sünder, mag er ein grober und großer Sünder, oder auch nur ein solcher sein, der nur an einem gefehlt hätte, denn wer an einem gefehlt hat, hätte eben so gut auch an einem andern, ja, an dem ganzen Gesetz sündigen können. Auch sind es nicht bloß Handlungen, wonach jemand vor dem strengen Richterstuhl des Gesetzes beurteilt wird, sondern es ist sein ganzes inneres Bestehen und seine Anlage, wonach er gerichtet wird, mag sich dieselbe auch bei verschiedenen verschieden gestalten. eigentlich bedarf's wohl gar keiner Frage, wer denn unter dem Gesetz sei; dem natürlichen Verhältnisse nach ist ja jeder Mensch unter demselben. Jeder Mensch hat die Verpflichtung, dem Gesetz zu gehorchen. Er selbst kann sich von dieser Verpflichtung nicht entbinden, d. h. sich erlauben, anders gesinnt zu sein, zu denken und zu handeln, als es dem Gesetz gemäß ist; und wenn er's versuchte, würde ihm der Versuch sehr übel bekommen, denn auf jeder Übertretung haftet die erschrecklichste Drohung. Ja, Gott selbst wird und kann die Verpflichtung nicht aufheben, das hieße, seinem Wesen zuwider handeln, aufhören, der zu sein, der er ist. Wie wäre es möglich, daß Gott zugebe, daß wir ihn nicht mehr über alles liebten, daß er den Ungehorsam in seinem Schutz nähme?

Ist nun jemand unter dem Gesetz, was ist die Frucht davon? Dieses, daß die Sünde über ihn herrscht. Die Erfahrung belehrt die erweckte Seele auch darüber zur Genüge. Gewöhnlich will sie gleich anfangs oder auch noch hernach, nachdem sie schon getröstet worden und den Herrn Jesum hat annahmen können, ihre Heiligung bei sich selbst suchen; gewöhnlich will sie durch ernstliche Bestrebung und allerlei Mühe, die sie anwendet, selbst die Sünde töten, selbst das Gute schaffen, wiewohl sie den Herrn um seinen Beistand anruft. Aber sie wird auf tausendfältige Weise gewahr, daß dies ein unfruchtbarer, wenn gleich mühsamer Weg ist. Sie machst die angedeutete Erfahrung, daß das Gesetz die Sünde wohl lebendig macht, aber nicht tötet, und daß wir, wenn dies geschehen soll, bei einem andern Manne sein müssen.

Aber welch' ein merkwürdiges spricht unser Text aus! Welch einen merkwürdigen Weg gibt er an, daß die Sünde nicht mehr über uns herrsche, wie stark sie sonst auch sei; einen Weg, den kein Auge je gesehen und kein Ohr gehört, und in keines Menschen Herz gekommen ist, den uns aber Gott geoffenbart hat durch sein Wort und seinen Geist; einen Weg, welcher unserer natürlichen Art, zu denken und zu sein und zu wirken, ganz und gar zuwider ist, der also ungemein viel Widerspruch findet, worauf Paulus auch die Geschichte Ismaels und Isaaks, so wie der Hagar und Sarah anwendet, einen Weg, der so vielen Kindern Gottes nicht einleuchtet, und nicht völlig in ihr Bewußtsein getreten ist, wie dies bei den Jüngern vor der Auferstehung Christi der Fall war, von welchem sie auch leichtlich abweichen, wenn ihre Sinne verrücket werden von der Einfalt des Evangeliums, und sie auf die gesetzliche Einbildung geraten, sie wollten es durch eigne Wirksamkeit besser treffen, wozu so viel Anlaß und Versuchung ist; einen Weg, den niemand vollkommen inne hat, so daß auch in dieser Beziehung das Fleisch wider den Geist gelüstet. Ein mehr und weniger findet hier wohl Statt, aber es ist doch nur klug wie die Kinder. Ja, einen Weg endlich, welcher die Gottseligkeit zu hindern und die Gottlosigkeit zu befördern scheint, also unmöglich ein richtiger Weg, unmöglich ein heiliger Weg sein kann, auf den man sich, wenn man es auch könnte, ohne Gefahr nicht begeben kann, sondern ihn eher fliehen und hassen muß. Dennoch ist es der einzig richtige Weg, zur Heiligung zu gelangen. Diejenigen, die ihn kennen und verstehen, achten sich mit Recht und mit Dank höchst glücklich, ihn einigermaßen zu verstehen. Er ist ihnen über die Maßen köstlich und wert. Der Weg aber ist Christus.

Was will denn der merkwürdige und bedenkliche Ausdruck: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz", sagen? Wenn wir dies etwas aus einander zu setzen wagen, so mag jeder wohl zusehen, wie er hört, wie Christus sagt. Es ist gar nicht zu leugnen, daß dieses Lehrstück mißverstanden und mißbraucht werden und sorglose und verruchte Leute bilden kann. Wo es aber diese trübselige Wirkung hat, ist es ein redender Beweis, daß ein solcher gar keinen richtigen Verstand am Worte hat. Wir handeln aber von einer heilig machenden und heiligen Lehre, und handeln nur für solche davon, die die Sünde nicht wollen herrschen lassen. Diejenigen aber, welche die Sünde wollen herrschen lassen und dazu das Evangelium mißbrauchen, bringen ein schweres Gericht über sich. Sie sind vom Teufel, denn sie tun. Sünde, wie die Schrift durch den Mund des liebenden Johannes sagt, um so mit einem Worte die ganze Sache abzumachen. Das Evangelium eigenmächtig und also ohne den heiligen Geist aufgegriffen, bringt nur Verderben. Nur der heilige Geist allein kann das Evangelium klar machen; und wenn er das tut, so erfreuet es nicht nur, sondern macht zugleich laufend in den Geboten des Herrn. Denn die Liebe Gottes wird ausgegossen in die Herzen. Ohne den heiligen Geist lügen wir auch dann, wenn wir wahre Worte sagen, denn wirkliche Wahrheit hat unausbleiblich einen heiligenden Einfluß aufs Gemüt, und verständen wir sie vollkommen, so würden wir auch vollkommen heilig und selig sein. Wer aber aus der Wahrheit ist, der höret Christi Stimme.

Was heißt das denn nun, nicht unter dem Gesetz sein? Der Apostel sagt: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz." Kann das nur irgend in einem gesunden Verstande von jemand gesagt werden? Es gibt ein Gesetz, und hier ist nicht vom Landesgesetz die Rede, sondern vom Gesetz Gottes, des einigen und allerhöchsten Gesetzgebers. nicht unter dem Gesetz sein, heißt offenbar, nicht unter dessen Botmäßigkeit stehen. Wer nicht unter dem Gesetz ist, dem hat dasselbe offenbar nichts zu gebieten, nichts zu verbieten, nichts zu drohen und nichts zu verheißen; und wenn es dies alles dennoch tut, hat er sich nicht daran zu kehren. Gesetzt aber, das Gesetz faßte jemand, der nicht unter demselben steht, plagte, drückte, ängstigte ihn, forderte von ihm und schlüge ihn, wie Pharao die Kinder Israel tat, so kann es doch so nicht bleiben; das Gesetz täte etwas Unziemliches, das ihm nicht gebührt, es schelte ein Weib für eine Ehebrecherin, die nach dem Tode ihres ersten Mannes einen andern geheiratet hätte.

Man möchte aber sagen, solch' ein Stand gäbe es gar nicht; es gäbe kein Menschen, von denen man sagen dürfte: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz," wie doch der Apostel wirklich tut. Man möchte sagen, eine Behauptung wie diese: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz," sei schändlicher Art, sei gottloser und die Ruchlosigkeit fördernder Natur. Aber welche Beschuldigung läge darin gegen den heiligen Apostel! Oder wir müßten dann gestehen wollen, wir begriffen gar die eigentliche Meinung des Apostels nicht, und dürften uns nicht unterstehen, sie zu deuten, sondern müßten es auf sich beruhen lassen; oder derjenige, von dem es wirklich gilt, was der Apostel sagt: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz," ist das nur mit einer gewissen merkwürdigen Beschränkung. Er ist nicht überhaupt ohne Gesetz, und ist das nur insofern, als er unter einem andern Gesetz ist, und zwar unter dem Gesetz des Geistes, das da lebendig macht, in dem Gesetz Christi, wie der Apostel sagt: "Ich bin nicht ohne Gesetz, sondern ich bin in dem Gesetz Christi." Dies ist aber ein ganz anderes Gesetz, wovon es ja heißet, es mache lebendig, was der Apostel von einem andern Gesetz verneint, und nicht nur sagt, es sei kein Gesetz gegeben, das lebendig machen könnte, sondern sogar, es sei ein tötender Buchstabe.

Wer ist denn nicht unter dem Gesetz? Der Apostel sagt: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz." Er spricht, wenigstens was die Christen zu Rom angeht, allgemein: Ihr, wie er oben gesagt hat: "Haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid." Es ist wahr, diese römischen Christen waren wahre Christen, sie waren wiedergeboren, sie hatten den wahren Glauben überkommen, sie waren Knechte der Sünden gewesen, aber von Herzen waren sie gehorsam und Knechte der Gerechtigkeit geworden. Allein wir dürfen doch die Worte Pauli nicht auf die Römer beschränken, da sie offenbar auch andere, ja, alle wahren Christen angehen. Paulus predigt das Evangelium, und ein wesentlicher Teil dieser frohen Botschaft besteht eben in der Befreiung vom Gesetz, daß man sagen darf: Ihr stehet nicht unter dessen Botmäßigkeit. Wo nun das Evangelium von der Gnade Gottes verkündigt wird, da wird auch allen denen, die es hören, nicht nur die Erlaubnis, sondern das Recht erteilt, es als wahr und gültig anzunehmen, und ihren Vorteil dabei zu suchen, und namentlich dafür zu halten, daß sie nicht unter dem Gesetz sind. Wie mag aber solches zugehen? Also, daß einer für uns unter das Gesetz getan worden ist und dasselbe vollkommen für uns erfüllet hat. Was hätte also das Gesetz noch zu fordern, das nicht durch diesen Einen, den Sohn Gottes, Jesum Christum, erfüllet worden wäre auf überschwengliche Weise? Zugleich ist er ein Fluch für uns geworden. Laß also das Gesetz fordern, es gehet mich nicht an; laß es fluchen, es geht mich nicht an; denn in beiden Beziehungen ist ihm überschwengliche Genüge geschehen durch den Bürgen, den Gott selbst mir geschenkt hat, der sich selbst zum Opfer und zur Gabe für mich dahin gegeben hat. Also bin ich nicht mehr unter dem Gesetz, weil er darunter war. Sollte es mich noch anfallen, beschweren, ängstigen wollen, so tut es etwas, das ihm nicht zusteht, und ich schreie mit Hiskia: "Ich werde unterdrückt. Sei du mein Bürge." Glückselig denn diejenigen, denen dies Evangelium gepredigt wird! "Wie lieblich sind die Füße der Boten, die Heil verkündigen, Gutes predigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!" Was für Glückseligkeit, ausrufen zu dürfen: "Ihr seid nicht unter dem Gesetz!" Dann würde die Sünde ihre Herrschaft über euch behalte, nun aber heißt es: Laß los, laß los! Zu den Gefangenen heißt es: Kommt hervor; und zu den Gebundenen: Geht heraus! In dieses gesegnete Reich nun geht man ein durch den Glauben, und wer Gottes Zeugnis annimmt, der versiegelt es, daß Gott wahrhaftig ist, durch den Glauben geht man ein zur Ruhe. Und um so vielmehr zu ermuntern, jegliche Last von sich zu werfen und zu singen: "Die Sünde darf nicht mehr mich durchs Gesetz verdammen, denn alle Zornesflammen hat Jesus ausgelöscht, sagt der Apostel lieber "Ihr," als "wir" sind nicht mehr unter dem Gesetz, damit niemand auf die Beschaffenheit der Person sehe und ihrerseits eine gewisse Würdigkeit mit in Anschlag bringe, die er bei sich nicht findet, und darum sich die Freude rauben läßt, zu rühmen: Ich bin nicht unter dem Gesetz. Jedoch ohne den heiligen Geist ist das unmöglich; er muß uns Christum verklären. Er tut das in einer gewissen Ordnung. Der Mensch wird aus seinem Sicherheitsschlaf geweckt, er kommt in Jammer und Not seiner Sünden halber, er wird vielleicht reichlich getröstet, er wird mit herrlichen Einsichten gesegnet, er befindet sich in der Nähe Kanaans, er will gern heimfahren. Aber nun kommt er wohl unter das Gesetz, wo er weder rück- noch vorwärts mehr weiß. Es geht ihm nach der Weise Pauli: "Ich aber starb;" jedoch so, daß es dann weiter heißt: "Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben." "Ich lebe aber, doch nicht ich, Christus lebet in mir." Wohlan aber, werdet nur in euren eigenen Augen recht zu Sündern; dann wird Jesus auch erweisen, daß es je gewißlich wahr ist, daß er ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen. Amen.

Dritte Predigt

"Herr, du bist die Hoffnung Israels, du bist die Quelle des lebendigen Wassers! Heile du mich, Herr, so werde ich heil, hilf du mir, so ist mir geholfen! denn du bist mein Ruhm!" So bekennet und betet im Namen der Kirche Jeremias, Kap. 17,13. Der Prophet nennt Gott die Hoffnung Israels, d. i. denjenigen, auf welchen Israel in allen seinen Anliegen, Bedürfnissen und Bedrängnissen seine Hoffnung setzt, und von ihm Hülfe und Errettung erwartet. Freilich möchte man dagegen einwenden, es mangle ja dem Israel, diesem Armen-Sünder-Haufen, der da bekennen muß: "Wir sind allesamt wie die Unreinen, und unser Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid", oder, wenn wir einen Einzelnen aus ihnen hören wollen: "Siehe, ich bin aus sündlichen Samen gezeuget, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen;" es mangle ihm an allem Fug und Recht, den Herrn zu seiner Hoffnung zu machen, ihn anzuschreien: "Heile du mich, Herr, so werde ich heil, hilf du mir, so ist mir geholfen," so ist das freilich wahr. Statt der Hülfe hat es eher Strafe zu erwarten, Zorn und Ungnade, und bekennt das auch: "Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte, denn vor die ist kein Lebendiger gerecht." Das erkennt Israel mit Mißfallen an sich selbst. Aber so ganz ohne Fug und Recht ist doch die Gemeine keineswegs. Freilich ist das kein ihr selbst anklebendes Recht, denn was soll ich dir tun, o du Menschenhüter! "Ich habe gesündigt", sie liegt nicht auf eignes Recht vor Gott. Aber wir elende Sünder haben doch ein wohl erworbenes, ein wohl begründetes, ein vollkommenes und überherrliches Recht, auf Gott zu hoffen und uns alles, ja des allerhöchsten Guts zu versehen, mit aller Zuversicht zu versehen. Möchten dagegen auch die bedeutsamsten Einwendungen geschehen, hergenommen von der heiligen Majestät Gottes, vor der Himmel und Erde fliehen, hergenommen aus unserm eignen Leben und Herzen, das von Sünde wimmelt, hergenommen aus unserm eignen Gewissen, das uns verklagt, aus dem Gesetz Gottes, das wir übertreten haben, auch noch sogar immerdar zu allem Bösen geneigt sind, wo nun der Satan noch mächtig zugreift und den schwachen Glauben ans Zappeln bringt: Dennoch haben wir das köstliche Recht, auf Gott zu hoffen und zu sprechen; "Hilf du mir, so ist mir geholfen!" Dieses Recht hat uns der Sohn Gottes erworben, da er für uns Sünder geworden ist, da er sich mit seiner Gerechtigkeit ins Mittel geworfen, da er uns versöhnet und die Handschrift unserer Sünden ganz getilgt und aus dem Mittel getan hat. In Christo ist Gott unser Freund, unser Freund ist er geworden. Das steht fester als Himmel und Erde, die werden vergehen, aber das Wort des Herrn bleibet ewiglich.

Dies ist nun das Terrain, der Boden, auf welchem Christen stehen, auf dem sie fechten und streiten sollen gegen allen Vorschub an, welcher von irgend einer Seite geschieht, bis auf den Tod. Ach, dieser Fechtplatz werde uns recht familiär und bekannt, wo wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind!

Sondern ihr seid unter der Gnade.Römer 6,14.

Das ist nun der merkwürdige Gegensatz gegen das Sein unter dem Gesetz, der Weg, daß die Sünde ihrer Herrschaft beraubt wird, der einzige, der zuverlässige Weg. Laßt uns denn auch darüber nachdenken, wo wir sehen, was unter der Gnade verstehen, woraus sich dann von selbst ergeben wird, was das Sein unter derselben mit sich bringt.

Wir nehmen hier das Wort Gnade in seinem weitläufigeren Sinne als den Inbegriff aller Heilsgüter, aller Segnungen, aller Wohltaten für arme Sünder, durch Jesum Christum, unsern Herrn. Sie heißt deshalb auch das Königreich Gottes, das Himmelreich oder das Königreich der Himmel. Die Gnade ist aber nirgend als in Christo Jesu, sie ist durch ihn geworden, er ist davon voll. Es ist die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, sie geht also von ihm aus, und ihm gebühret davon und dafür allein alle Ehre. Darum heißt und ist er in diesem wundervollen und herrlichen Reiche der König, in dessen Hand und Macht alles steht. Wir beten nach seinem Befehl, daß dieses Reich kommen möge, und es ist gekommen und wird kommen. Es sind die Geheimnisse dieses Reichs, die das Evangeliums verkündigt, die durch den heiligen Geist aufgeschlossen werden. Dieses unaussprechlich herrliche Reich nun schließt alle Übel aus, und alles Gute faßt es in sich. Sobald jemand in dasselbe eintritt, wird er augenblicklich aller Übel enthoben, aller Güter teilhaftig; Gutes und Barmherzigkeit folgen ihm, wenngleich auch nicht im völligen Genuß, doch dem Recht und Besitz nach.

Laßt uns aber einige der Übel erwägen, welche aus diesem Reiche verbannt, und einige Güter, welche in demselben einheimisch sind. Verbannt aus diesem Gnadengebiet sind alle übel, wie sie Namen haben, oder, wenn sie noch da sind, so müssen sie zum Guten mitwirken. In diesem herrlichen Gnadengebiet und Königreich der Himmel ist z. B. die Sünde nicht mehr, sondern gehört zu dem alten, was vergangen ist. Wie herrlich sind die Beschreibungen, welche das Evangelium davon macht, wenn wir auf das Allgemeine sehen! Was für Ausdrücke sind das, wenn z. B. gesagt wird, die Missetat sei versöhnt und zugesiegelt, sie sei in die Tiefe des Meeres geworfen, wie eine Wolke vergangen und gleich einem Nebel verschwunden, sie sei auf einen Tag hinweggetan, könne gesucht, aber nicht gefunden werden. Dies sind Redensarten des alten Testaments. Das neue Testament ist nicht weniger vortrefflich hierüber. Die Sünde ist aufgehoben, heißt es in vielsagender Weise; Christus hat unsere Sünde geopfert an seinem Leibe auf dem Holz, er hat uns versöhnet, hat uns abgewaschen mit seinem Blute von unsern Sünden, unser alter Mensch ist samt ihm gekreuzigt, getötet und begraben, um noch stets gekreuzigt zu werden, zu sterben und begraben zu werden oder zu sein und so gehalten zu werden. In diesem Gnadengebiet und Königreich der Himmel kann ferner und insbesondere die Sünde nicht mehr verdammen. Ist sie abgetan und aufgehoben, wie sollte sie dann noch eine solche erschreckliche Gewalt ausüben können und dürfen? Für diejenigen, die in Christo Jesu sind, und die nicht nach dem Fleische leben, gibt es keine Verdammung mehr. Dies erschreckliche Ungeheuer, die Sünde, geht freilich mit wütendem Ungestüm aufs Verdammen los; aber es ist seines Stachels beraubt, nämlich des Gesetzes und des Fluchs desselben. O, herrliches Reich! In demselben zeigt sich ein Gott, nicht wie auf Sinai auf einem Richterstuhl, der alles in Todesangst und Schrecken setzte, sondern auf einem Gnadenthron, und bei demselben ein Lamm, das geschlachtet ist, einer, der für alle gestorben ist, wo wir dann dafür halten, daß sie alle gestorben sind, der uns vor demselben vertritt, wo man also ohne die geringste eigne Würdigkeit fragt: "Wer will verdammen, wer beschuldigen? und antwortet: "Christus ist hier!" In diesem herrlichen Reiche kann auch die Sünde nicht mehr herrschen, sie mag sich anstellen, wie sie will. Gott selbst hat die Sünde im Fleisch verdammt und sie vom Throne gestoßen, den sie sonst ewiglich inne behalten hätte. Sollten wir deswegen verzagen, weil unsre Sünde über unser Haupt gewachsen und groß geworden ist bis an den Himmel, weil alle unsre eigenen Vorsätze scheitern, und ein Gefecht, wie mit dem Leviathan ist, welcher der bebenden Lanze spottet, Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz achtet, verzagen, weil in uns keine Kraft ist? O nein, die Sünde wird nicht herrschen können über euch, denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Und es ist eine allmächtige Gnade, die dem ruft, das nicht ist, daß es sei. Wie Gott das Licht hieß aus der Finsternis hervorleuchten, so gibt er einen hellen Schein in die Herzen, wo sonst nichts als Finsternis war. Darum Mut! Gott sei Dank, der uns Sieg gibt, möchten auch gewaltige Niederlagen vorhergehen! Sie kann, sie soll, sie wird nicht herrschen über die, welche unter der Gnade sind. In diesem herrlichen Gnadengebiet ist kein Tod mehr, wenn gleich freilich die Todesgestalt noch bleibet. Mit der Sünde ist auch der Tod aufgehoben; und wo das Eine nicht ist, da kann auch das Andere nicht sein. Es sei fern von uns, daß wir von den Gläubigen sagen sollten, sie stürben; da der Herr Jesus sagt, wer an ihn glaube, der werde leben, ob er gleich stürbe, ja, er werde nimmer sterben. Das Wort Christi stellt sich hier der natürlichen Erscheinung gegenüber, und seine Gläubigen wissen, wem sie am meisten trauen sollen. Ja, das, was noch vom Tode übrig ist, gereicht nur zum größten Vorteil. Es ist der letzte, aber auch vollkommen wirksame Stoß, der dem alten Menschen, der dem Leibe des Todes versetzt wird, und woran er vollkommen und für immer stirbt. Es ist ein Einreißen der Wand und des Gitters, die den Freund uns noch verbargen, und das gänzliche Zerreißen des Vorhanges vor der Herrlichkeit. Kurz, einem Gläubigen kann nichts Erwünschteres widerfahren, als wenn ihm das widerfährt, was man sterben nennt. "Sondern unter der Gnade." Unter derselben ist kein Zorn, wovon außer derselben alles in einem verzehrenden Feuer brennt. Uns aber hat Gott nicht gesetzt zum Zorn, sondern die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesum Christum. Hier offenbart sich Gott auf eine andere Weise als im Gesetz. Das Gesetz stellt ihn nur in seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit dar, als ein verzehrendes Feuer, dem sich kein Sünder nahen kann. Aber Gott war und ist auch in Christo, die Welt mit sich selbst dadurch versöhnend, daß er ihnen ihre Sünden nicht zurechnet. Da ist er die Liebe und nichts als Liebe in einem solchen Maße, daß es allen Verstand übersteigt, daß der Sohn Gottes selbst darüber erstaunt, daß sie keinem Zweifel und keiner Bedenklichkeit Raum läßt, sondern dem unbegrenztesten Vertrauen Bahn macht. Er offenbart sich hier als gnädig und barmherzig, als ein Gott von vollkommener Seligkeit, als ein Gott, der Missetat, Übertretung und Sünde vergibt, der Gottlose gerecht spricht. Er zeigt sich hier als Vater, als unsern, des Herrn Christi und unsern Vater. So will er von uns angesehen und gehalten sein auch unter Umständen, wo uns Leib und Seele zu verschmachten drohten, ja, wo er sich, wie Hiob redet, in einen Grausamen gegen uns verwandelt zu haben schien. Durch die Sendung seines Sohnes, durch dessen Dahingabe in den Tod hat er seine Liebe ein für allemal so bewährt und über alle Zweifel erhoben, daß seine Allmacht sogar nichts tun kann, wodurch er dies widerlegen könnte. O Seligkeit, zu glauben und zu erkennen die Liebe, die Gott zu uns hat! Wie ungeschickt sind wir dazu, wie zum Mißtrauen geneigt! Hier gibt es einen herrlichen Glaubenskampf, um Freudigkeit zu behalten, selbst auf den Tag des Gerichts. Denn bei mir, spricht der Herr, ist kein Zorn; und so offenbart er sich in dem Gnadengebiet. Herrliches Land! Da ist gut sein, da laßt uns Hütten bauen!

"Sondern unter der Gnade" seid ihr und also keinem Verderben ausgesetzt. Alles bezweckt nur Segnen und Wohltun, wie dem Jakob und seinem Samen verheißen ist: "Ich will dir Wohltun." Freilich gestaltet sich bisher das Reich der Gnade hier auf Erden wie eine Rose unter den Dornen; durch viele und mancherlei Trübsale müssen wir ins Reich Gottes gehen. Christus kündigt jedem, der sein Jünger sein will, an, er müsse sein Kreuz auf sich nehmen und zwar täglich, so daß wohl Leichteres und Schwereres abwechseln. Er selbst hat uns ein Vorbild gelassen, daß wir nachfolgen sollen seinen Fußtapfen. Von diesen Trübsalswegen zu reden, tut jetzt nicht not. Sie stehen aber den Christen so gewiß bevor, daß sich Gott eben durch Züchtigungen gegen sie als gegen Kinder erweiset. Aber sie sind von großem Nutzen, wenn sich derselbe auch nicht alsbald zeigt; sie werden deswegen einer Saat verglichen, die ihre Zeit zum Aufgehen haben muß. Indessen, wie dem auch sei, eigentliche Übel, d. i. solche Übel, die auch nichts als üble Folgen haben, treffen diejenigen nicht, die unter der Gnade sind; vielmehr muß ihnen alles zur Seligkeit mitwirken. Und so groß der Vorteil ist, der in diesen Worten zugesichert wird, so wenig Sicherung gegen irgend eine Unannehmlichkeit bieten sie dar. Wem alles zum Besten dienen muß, dem kann auch alles widerfahren. "Wir werden geachtet wie die Schlachtschafe, als dem Tode übergeben, ein Schauspiel der Welt, den Engeln und den Menschen." Ob das aber auch, was diese Welt angeht, bis ans Ende derselben so fortdauern werde, kann man nicht behaupten. Wir gehen einer herrlicheren Zeit der völligen Entwicklung des Seins unter der Gnade entgegen, einer völligen Offenbarung der Kinder Gottes, wie sie bisher noch nie Statt gefunden hat, und in dem Maße, als sie diesseits der Ewigkeit Statt finden kann. Darauf hoffen wir, darnach sehnen wir uns, darum beten wir. "Wir sehnen uns nach der Kindschaft und warten auf unsers Leibes Erlösung." "Wir sind wohl Kinder, aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden."

So haben wir denn einige Übel betrachtet, die in dem Gnadengebiet nicht Statt finden; laßt uns nun noch einige Güter erwähnen, die hier regieren. Der Güter sind aber nicht nur einige, sondern alle zusammen. Keines fehlt. Mit Recht sagt deswegen David: "Mir wird nichts mangeln."

Seid ihr unter der Gnade, so besitzet ihr die vortrefflichste Gerechtsame, die eben sie gewährt. Eine dieser Gerechtsame von vorzüglicher Art bestehet darin, daß das Fordern an euch ist. "Heische von mir, so will ich dir die Heiden zum Erbe geben, und der Welt Ende zum Eigentum", heißt es Psalm 2. Zwar ist hier Christus gemeint; aber Christus ist kein Einzelner sondern ein Collectivum, wie er selbst sagt: "Ich und die Kinder, die du mir gegeben hast." "Wäre dieses Weizenkorn nicht in die Erde gefallen und erstorben, so wäre es allein geblieben, nun aber bringt es viel Frucht." Christus wird vollständig durch seine Gemeinde: Er das Haupt, sie die Glieder. Die Verheißungen, die ihm gegeben sind, gehen auch seine Glieder an, also auch diese: "Fordre, so will ich dir geben der Welt Ende zum Eigentum." Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Alles ist euer. O, wie reich und selig wird die Seele, die das einzusehen, zu verstehen, darnach wirksam zu sein, bekommt! Bisher umringt und geplagt von der Menge der Forderungen, die an sie geschahen, und deren keine einzige sie zu erfüllen vermochte, wie sauer sie sich es auch werden ließ, sieht sie sich jetzt in das Gnadenreich versetzt, wo sie nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade ist, wo das Fordern an ihr ist, wo sie umsonst kauft, und ihr unentgeltlich zugeteilt wird, was zum Leben und göttlichen Wandel dient.

"Sondern unter der Gnade." In ihrem herrlichen Gebiete ist Gerechtigkeit, welche Paulus als das erste Gut derselben nennt, nicht eine Gerechtigkeit, die selbst erworben werden müßte, sondern die schon erworben ist, nicht Flickwerk, sondern höchst vollkommen, nicht vor Menschen, sondern vor Gott. Er thront hier auf dem Gnadenstuhl, von wo Gnade und Vergebung der Sünden ausgeht, wo der höchste Richter Gottlose gerecht spricht, wo er sich als ein solcher offenbart und als ein solcher erkannt sein will. Dies ist der Grund des Ganzen. Der Gerechtigkeit Furcht ist Friede mit Gott und unserm Herrn Jesu Christo, durch welchen wir nun die Versöhnung empfangen haben. Hier wird eine bewunderungswürdige Kraft mitgeteilt, durch welche Dinge ausgerichtet werden, die sonst unmöglich wären, indem sie in den Schwachen mächtig ist. So rühmen wir uns am liebsten unserer Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bei uns wohne; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark. Ja, damit wir alles in eins zusammen fassen: Christus selbst wird hier gegeben, daß er in uns wohne und in uns wandle, daß er selbst sei unsere Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. wie unmöglich kann da die Sünde herrschen! O, welch' ein herrlicher Stand ist denn doch der Stand, nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade zu sein! Keine Zunge kann dessen Vortrefflichkeit aussprechen, kein Verstand denselben erreichen, keine zeitliche Erfahrung ihn erschöpfen. Ja gewiß, kein Auge hat gesehen, kein Ohr hat gehört, und in keines Menschen Herz ist gekommen, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.

Eurer nicht wenige befinden sich in diesem glückseligen Stande; einige in dem fröhlichen, standhaften, versiegelten Bewußtsein; ihr Herz ist fest geworden durch Gnade; einige in überschwenglicher Empfindung; sie schmecken und sehen, daß der Herr freundlich ist, darum glauben sie auch; einige in greller Abwechslung, daß sie, mit dem 107. Psalm zu reden, bald gen Himmel fahren, bald in die Tiefe fahren; etliche mehr im Hunger und Durst, als im Genuß, oder wohl in der Dürre nach dem Genuß, oder in Anfechtung mancher Art. O, selige Seelen, die ihr unter der Gnade seid!

Sollte das nicht aller brünstigstes Verlangen sein, unter diesen köstlichen Schirm zu gelangen? Und doch ist' s nur bei den wenigsten. Wie kläglich! O, es werde doch euer rechter, ganzer Ernst, daß ihr in der Weise dahin gelangt, daß die Sünde nicht herrschen könne über euch, sondern daß die Gnade in euch herrsche zum Leben! O, wie werdet ihr dann so selig sein! Hosianna dann! Mach selig! Amen.

Die Inhalte dieses Ebooks sind der Glaubensstimme (http:www.glaubensstimme.de) entnommen.


 

Index

Erste Predigt


 

 I. Was sagt das Gesetz?


 

 II. Was sagt das Evangelium?


 

Zweite Predigt


 

Dritte Predigt