Konrad Eißler

Ausgerechnet Hirten

Dezember 2002

 

 

Ausgerechnet Hirten. Wenn sie

wenigstens einen Namen gehabt

hätten wie anständige Bürger,

aber ausgerechnet namenlose

Beduinen von der letzten Weide.

Menschlich gesehen gehörten sie in

die unterste Schublade. Wenn sie

wenigstens ein Gesetz gekannt

hätten wie anständige Juden, aber ausrechnet gesetzlose

Tierhüter vom letzten Feld. Geistlich gesehen gehörten sie zu

den übelsten Heiden.

 

Wenn sie wenigstens ein Zeugenrecht gehabt hätten wie

anständige Zeitgenossen, aber ausgerechnet rechtlose

Fellachen vom letzten Stoppelacker. Juristisch gesehen

gehörten sie zu den „rechtsunfähigen Personen“.

 

Aber ausgerechnet mit diesen namenlosen, gesetzlosen und

rechtlosen Hirten rechnet Gott. Schon immer hat dieser

Berufsstand eine wichtige Rolle in seiner Rechnung gespielt.

Abel, Jakob, Mose, David, Amos, lauter Aktivposten auf der

Haben-Seite einer göttlichen Bilanz.

 

Auch heute rechnet er mit solchen, die keinen großen Namen

haben und deshalb in unseren Namenslisten gar nicht

auftauchen. Auch heute rechnet er mit solchen, die keine

große Bedeutung haben und deshalb in unseren Kalkula-

tionen als Nullen verrechnet werden. Auch heute rechnet er

mit solchen, die keinen großen Wert besitzen und deshalb in

unseren Überlegungen überhaupt keine Rolle spielen.

 

Seit Weihnachten wird anders gerechnet: Benachteiligte

werden Bevorzugte. Randfiguren werden Hauptfiguren.

Verlierer werden Gewinner . Die Letzten werden die Ersten

sein, lautet der neue Rechensatz. Namenlose, Gesetzlose,

Rechtlose, aber eben nicht Gottlose, erhalten die Geburts-

anzeige. Ihnen wird die große Freude übermittelt, die allem

Volk widerfahren wird. Ausgerechnet Hirten bekommen es

mit dem Wort zu tun: „Euch ist heute der Heiland geboren,

welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“