Biblische Urgeschichte - Teil 10/10 - Auf den Spuren der Patriarchen - Das Leben Josefs - Teil 2/2

Roger Liebi

Audioabschrift – Bibelstudientage Herznach 1999

1. Mose 42, 1 - 1. Mose 50, 26

 

Wir kommen zum letzten Teil. Also wir sind zum Abschluss der Zeit des Überflusses gekommen. Nun kommt die Zeit der Not. Die Brüder Josephs suchen Zuflucht in Ägypten. Und Joseph sieht nach so langen Jahren seine Brüder wieder. Er erkennt sie, sie erkennen ihn nicht. Er spricht mit ihnen nicht mehr hebräisch, er spricht ägyptisch und unterhält sich nur mittels eines Dolmetschers mit ihnen. Das war ein unvorstellbarer Moment, nach all den Jahren seine Brüder, diese gestandenen Männer, wiederzusehen. Und sie verbeugen sich vor ihm, selbstverständlich, vor dem Mann Nr. 2 in Ägypten. Joseph gibt sich nicht sofort  zu erkennen. Joseph möchte zuerst prüfen, ob in der Zwischenzeit etwas mit ihnen geschehen sei. Und so erkundigt er sich eigenartigerweise, dieser hohe ägyptische Beamte, nach dem Wohlergehen ihres Vaters in Kanaan. Und er fragt nach: Habt ihr noch einen weiteren Bruder? Wie kommt er auf die Idee nach einem weiteren Sohn zu fragen? Das sind ja schon viele Kinder, oder? Sie sagen dann: Ja, wir haben noch einen Bruder. Und Joseph will, dass sie diesen auch mitbringen. Und sie werden ganz unruhig und sagen: Nein, das können wir unserem Vater unmöglich antun, dass er vielleicht auch noch diesen Sohn verliert. Er hat schon einen Sohn verloren. Das können wir ihm nicht antun. Und da merkt Joseph, dass sie nicht mehr so wie früher sind. Sie können es akzeptieren, dass es einen jüngeren Bruder gibt, an dem der Vater speziell hängt. Da ist etwas geschehen mit ihnen.

Joseph besteht darauf, dass sie diesen jüngsten Sohn auch mitbringen und lässt sie gehen. Das bringt sie in gewaltige Not und Jakob kann das nicht akzeptieren. Er will nicht, dass ihm auch noch Benjamin genommen wird. Und wir müssen ja bedenken, dass Benjamin der zweite und letzte Sohn von Rahel ist. Also jetzt hätte Benjamin die Stelle des Erstgeborenen über die Lieblingsfrau Rahel bekommen können. Das könnt ihr mir unmöglich antun, sagte er. Seine Söhne aber sagten ihm: Der Mann hat aber gesagt, wir müssen Benjamin mitbringen. Ruben setzt sich ein und sagt: Ich bin bereit dir meine Söhne zu geben, wenn wir ihn dir nicht wiederbringen. Ruben ist also bereit, auch seinen Erstgeborenen herzugeben. Wir sehen auch, wie sich Juda gegenüber Joseph ganz besonders für Benjamin einsetzt. Er will sich sogar als Sklave zum Austausch anbieten für seinen Bruder Benjamin.

Und interessant ist, dass, in der ganzen weiteren Geschichte des Volkes Israel, Benjamin und Juda aufs engste verbunden gewesen sind. Denn später, als das zwölf-Stämme-Reich gespalten wurde in zehn Stämme im Norden und zwei im Süden, da blieb Juda und Benjamin zusammen. Und schon bei der Landverteilung unter Josua waren das die benachbarten Stämme. Ganz eindrücklich ist auch die Verbindung von Juda und Benjamin in Jerusalem. Die Stammesgrenze zwischen Juda und Benjamin verläuft nämlich gemäß dem Buch Josua den Berg Zion hinauf bis zur Bergspitze. Das ist übrigens der Fels in der Omar-Moschee. Dort geht nach dem Buch Josua die Grenze hindurch. Und später, als der Tempel gebaut worden war, da befand sich der Altar noch im Gebiet Benjamin, während das eigentliche Tempelhaus zum Stammesgebiet von Juda gehörte. Das nur nebenbei um die tiefe Verbundenheit zwischen Juda und Benjamin aufzuzeigen, die auch geblieben ist.

Joseph sieht also, dass in seinen Brüdern effektiv etwas vorgegangen ist. Er sieht einen Gesinnungswandel. Darum prüft er zuerst ihr Verhalten gegenüber dem Liebling Benjamin. Und all die Gewissensnot und die Schwierigkeiten, die die Brüder dort erlebt haben, bringen sie zu folgender Aussage. Das wollen wir jetzt miteinander nachlesen in 1. Mose 42, 20: «Euren jüngsten Bruder aber bringt zu mir, damit eure Worte sich als wahr erweisen, und dann sollt ihr nicht sterben! Und sie handelten danach. Sie sagten aber zueinander: Wahrlich, wir sind schuldig wegen unseres Bruders! Denn wir sahen die Drangsal seiner Seele, als er uns [um Erbarmen] anflehte; wir aber hörten nicht auf ihn. Darum ist diese Drangsal über uns gekommen!»

Die Brüder denken: Der Ägypter versteht ja kein Hebräisch. Und sie sprechen so miteinander und Joseph hört alles, er versteht alles, aber er bleibt hart. Nicht weil er ein harter Mensch war, der jetzt gewissermaßen einmal die Rache auskosten wollte, sondern er wollte, dass es keine billige Versöhnung gab. Und deshalb hatte er Zeit, er wollte, dass es zu einer wirklichen Heilung kommen sollte. Und so wird es auch sein, wenn Israel in der Zukunft nach der Entrückung der Gemeinde in die sieben Jahre der Not hineinkommen wird. Nach dem prophetischen Wort sind es ja genau sieben Jahre nach Daniel 9. In dieser Not werden viele aus Israel sich die Frage stellen: Warum kommt eine solche Katastrophe über uns? Und sie denken zurück im Sinne von Vers 21: «Wahrlich, wir sind schuldig wegen unseres Bruders! Denn wir sahen die Drangsal seiner Seele, als er uns [um Erbarmen] anflehte; wir aber hörten nicht auf ihn. Darum ist diese Drangsal über uns gekommen!» Sie verstehen, es ist Gottes züchtigende Hand, um sie zur Umkehr und zur Einsicht zu führen. Und so wird in der Zukunft der Überrest Israels entstehen.

Ich lese eine Stelle zum Überrest, man kann ja mal selber suchen alle Stellen des Alten Testaments mit einer Konkordanz, aber eine Schlüsselstelle ist Jesaja 10, 20: «Und es wird geschehen: An jenem Tag wird der Überrest Israels und das, was vom Haus Jakobs entkommen ist, sich nicht mehr auf den stützen, der ihn schlägt, sondern er wird sich in Wahrheit auf den HERRN verlassen, auf den Heiligen Israels. Ein Überrest wird sich bekehren, der Überrest Jakobs zu dem starken Gott. Denn wenn dein Volk, o Israel, wäre wie der Sand am Meer, so wird doch nur ein Überrest von ihm sich bekehren; denn Vertilgung ist beschlossen, die einherflutet in Gerechtigkeit. Denn ein Vertilgen, und zwar ein festbeschlossenes, wird der Herrscher, der HERR der Heerscharen, inmitten der ganzen Erde ausführen.» Das erinnert uns sogar an die Sprache Josephs bei der Traumdeutung, wo er sagt, dass die Sache von Seiten des Herrn fest beschlossen ist. Und hier wird diese Gerichtszeit auch als festbeschlossen beschrieben inmitten der ganzen Erde. Aber ein Überrest wird in dieser Zeit umkehren. Der Ausdruck hier «ein Überrest wird umkehren», heißt auf Hebräisch «schear jaschuv». Ein Sohn von Jesaja bekam diesen Namen, als Gedenkname im Blick auf die zukünftige Umkehr des Überrestes aus Israel.

Wir haben viele Psalmen, viele Gebete, die gerade die Gefühle ausdrücken von diesem Überrest, der durch die größte Not hindurchgeht. Man liest die Psalmen auf ganz neue Art, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welcher schrecklichen Situation heraus sie geschrieben sind, was sie einmal bedeuten werden. Und dann kann man sie auch wieder besser auf sich selber übertragen und sehen, dass sie durch eine viel schlimmere Zeit hindurchgehen werden, als ich es gerade tue. Und sie schreien auch auf diese Art zu Gott.

Joseph sieht Gottes Werk in ihren Herzen. Und als das alles so deutlich geworden ist, wie sie bereit sind, sich voll einzusetzen für den Liebling, da merkt er schließlich beim zweiten Besuch, jetzt ist der Zeitpunkt, an dem ich mich offenbaren kann. Da lesen wir etwas aus Kapitel 45. Ich lese schon ab Kapitel 44, 32: «Denn dein Knecht hat sich bei meinem Vater für den Knaben verbürgt und versprochen: Wenn ich ihn dir nicht wiederbringe, so will ich vor meinem Vater die Schuld tragen mein ganzes Leben lang! Darum will nun dein Knecht als Sklave meines Herrn hier bleiben anstatt des Knaben; der Knabe aber soll mit seinen Brüdern hinaufziehen. Denn wie könnte ich zu meinem Vater hinaufziehen, ohne dass der Knabe bei mir wäre? Ich möchte das Leid nicht sehen, das meinen Vater träfe! Da konnte sich Joseph nicht länger bezwingen vor allen, die um ihn herstanden, und er rief: Lasst jedermann von mir hinausgehen! Und es stand kein Mensch bei ihm, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab. Und er weinte laut, so dass die Ägypter und das Haus des Pharao es hörten. Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: Ich bin Joseph! Lebt mein Vater noch? Aber seine Brüder konnten ihm nicht antworten, so bestürzt waren sie vor ihm.

Da sprach Joseph zu seinen Brüdern: Tretet doch her zu mir! Als sie nun näher kamen, sprach er zu ihnen: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt! Und nun bekümmert euch nicht und macht euch keine Vorwürfe darüber, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Lebensrettung hat mich Gott vor euch her gesandt! Denn dies ist das zweite Jahr, dass die Hungersnot im Land herrscht, und es werden noch fünf Jahre ohne Pflügen und Ernten sein. Aber Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch einen Überrest zu sichern auf Erden, und um euch am Leben zu erhalten zu einer großen Errettung. Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott: Er hat mich dem Pharao zum Vater gesetzt und zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über das ganze Land Ägypten.

Zieht nun schnell zu meinem Vater hinauf und sagt ihm: So spricht dein Sohn Joseph: Gott hat mich zum Herrn über ganz Ägypten gesetzt; komm zu mir herab, zögere nicht! Und du sollst im Land Gosen wohnen und nahe bei mir sein, du und deine Kinder und deine Kindeskinder, deine Schafe und deine Rinder und alles, was dir gehört! Ich will dich dort mit Nahrung versorgen - denn es sind noch fünf Jahre Hungersnot -, damit du nicht verarmst, du und dein Haus und alles, was dir gehört! Und siehe, eure Augen sehen es und die Augen meines Bruders Benjamin, dass mein Mund es ist, der zu euch redet. Darum verkündet meinem Vater all meine Herrlichkeit in Ägypten und alles, was ihr gesehen habt, und bringt meinen Vater schnell hierher! Und er fiel seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte, und Benjamin weinte auch an seinem Hals. Und er küsste alle seine Brüder und umarmte sie unter Tränen, und danach redeten seine Brüder mit ihm.»

So ergreifend diese Geschichte. Und bemerken wir wieder die Parallele zu Sacharja 12 und 13, die Wehklage des Überrestes in Israel. Das führt uns nun zur vierten Periode hin, 1. Mose 46-50. Nach der reuigen Buße der Brüder Josephs kam Gottes voller Segen über die ganze Sippe Israels. Sie kommen alle herab nach Ägyptenland und zwar nach Gosen. Gosen ist ein relativ kleiner Fleck im Nildelta. Das ist ein fruchtbares Gebiet. Man muss ja bedenken, dieses Land des Todes besteht zu ca. 96 Prozent aus Wüste. Aber Gosen ist ein ganz grünes Gebiet. Ausgerechnet den besten Flecken bekommt die Familie Jakobs. Also der volle Segen kommt über diese Familie, genau so, wie Gott in der Zukunft den vollen Segen über den Überrest Israels bringen wird nach der großen Trübsal. Und es ist so schön: Joseph tröstet seine Brüder. Und so wird der Messias Israel über all die Not, die sei erlitten haben, trösten. So beginnt ja auch das Jesajatrostbuch, Kapitel 40: nachamu, nachamu ammi jomar Eloheichäm, - tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Das ist der messianische Aufruf zum Trost Israels nach all der erlittenen Not in der Vergangenheit.

Jesaja 40, 1-2: «Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems und ruft ihr zu, dass ihr Frondienst vollendet, dass ihre Schuld abgetragen ist; denn sie hat von der Hand des HERRN Zweifaches empfangen für alle ihre Sünden.“ Und es heißt dann in Vers 5: „Und die Herrlichkeit des HERRN wird sich offenbaren, und alles Fleisch miteinander wird sie sehen; denn der Mund des HERRN hat es geredet.» Das erinnert uns an Joseph, der sagt: Erzählet meinem Vater all meine Herrlichkeit in Ägypten.

Und was so eindrücklich ist, da kommt dieser alte Jakob, dieser verschlagene Fersenhalter, der so viel Schreckliches durchgemacht hat in seinem Leben. Aber Gott hat ihn nicht fallen lassen. Durch all diese Umstände und Umwege die er gegangen ist, wie er sehen musste, wie es ist, wenn man selber betrogen wird, führt Gott ihn zum Ziel. Und da kommt dieser Hirte aus Kanaan nach Ägypten vor den Pharao – und was tut er? Er geht hin und segnet den Pharao. Ich lese 47, 7: «Und Joseph brachte seinen Vater Jakob herein und stellte ihn dem Pharao vor; und Jakob segnete den Pharao.» Das ist gewaltig. Und wir merken das vielleicht nicht unbedingt, denn wir sind zu wenig gewöhnt an das Prinzip von Hebräer 7, 7. Dort wird erklärt: Melchisedek hat ja damals Abraham gesegnet und es ist immer der Größere, der den Geringeren segnet. Nicht umgekehrt. Das Gleiche sehen wir übrigens ganz eindrücklich in Lukas 2, als Maria und Joseph das Kind zum Freikauf in den Tempel bringen, da gehen sie in das Tor für die Erstgeborenen und da kommt der Priester Simeon. Und da heißt es in Lukas 2, 34 Simeon segnete sie, das heißt die Eltern, nicht das Kind. Er weiß, das Kind ist größer als er, darum segnet er es nicht.

Und hier haben wir jetzt Jakob, den Gott zum Ziel führt und er kann die Nr. 1 der alten Welt segnen. Er weiß ganz genau: Ich bin zwar nur ein Hirte, aber ich bin der Träger der messianischen Hoffnung. Er ist größer als der Pharao, er segnet ihn. So wird auch in der Zukunft das Volk Israel zum Segen werden für alle Völker. Gott führt Jakob zum Höhepunkt und da wollen wir noch besonders schauen auf 1. Mose 47, 31: «Und Israel betete an am Kopfende des Bettes.» Er wird zum Anbeter. Aber wir müssen dazu die Parallelstelle in Hebräer 11 anschauen, dann machen wir noch eine Lektion über Widersprüche in der Bibel. Unter den Glaubenshelden wird genau diese Szene erwähnt, Hebräer 11, 21. Ich lese ab Vers 20: «Durch Glauben segnete Isaak den Jakob und den Esau im Hinblick auf zukünftige Dinge. Durch Glauben segnete Jakob, als er im Sterben lag, jeden der Söhne Josephs und betete an, auf seinen Stab gestützt. Durch Glauben gedachte Joseph bei seinem Ende an den Auszug der Söhne Israels und traf Anordnungen wegen seiner Gebeine.»

Der Höhepunkt Jakobs ist die Anbetung über der Spitze seines Stabes. Der Verschlagene endet als Anbeter Gottes. Aber in 1. Mose haben wir gelesen, dass er zu den Häuptern des Bettes betete. Was stimmt denn jetzt? Das Problem liegt darin, dass im Hebräischen Stab und Bett gleich geschrieben werden. Es sind also genau die gleichen Konsonanten, nur die Vokale unterscheiden sich. Diese werden aber nicht geschrieben. Bett heißt «mitah» und Stab «mateh». Den ursprünglichen Text kann man also als Kopf des Bettes oder Kopf des Stabes übersetzen. Die Rabbiner im Mittelalter haben ja den hebräischen Text mit Strichen und Punkten versehen, so dass sie damit die Vokale angedeutet haben, um zu zeigen, wie man die Wörter aussprechen soll. Sie haben hier die Vokale für mitah, Bett, eingesetzt. Aber der Hebräerbrief sagt uns, dass die andere Lesart die richtige ist, dass es Stab heißen sollte. Das hat also nichts damit zu tun, dass die Bibelüberlieferung ungenau wäre, sondern es ist nur eine Frage der Aussprache des Textes. Diese Fälle sind an sich selten, denn der Kontext klärt normalerweise die Lesart.

Ein anderes berühmtes Beispiel ist Mose, der vom Berg herabkommt und sein Gesicht strahlt. Je nachdem man die Vokale einsetzt heißt es dann, sein Gesicht war gehörnt. Und da weiß man auch warum Michelangelo so hässliche Hörner gemalt hat bei Mose. Ich habe einmal eine Mosedarstellung in der Kathedrale von Lausanne gesehen, die ist aus Holz und dort wurden dann später die Hörner abgesägt. Es ist so, in der Vulgata, der lateinischen Übersetzung, hat man das anders gelesen und da heißt es dann tatsächlich: Das Gesicht Mose war gehörnt. Aber in 2. Korinther 3, 7 wird klar gesagt, dass das Gesicht Mose strahlend war und deswegen zog er eine Decke über seinen Kopf. Also das ist auch so ein Parallelfall. Sie sind relativ selten, kann aber schon einmal vorkommen.

Jakob wird zum Ziel geführt durch Gott, durch all die Not hindurch. Dann ist noch ein wichtiger Punkt: Jakob segnete die zwei Söhne Josephs und adoptierte sie gewissermaßen als seine eigenen Kinder. Das ist eine ganz eigenartige Handlung. Warum hat er das getan? Weil Joseph das doppelte Erbe bekommen sollte. Dazu eine Stelle aus 5. Mose 21. Das ist ein Text aus dem Familienrecht. Vers 15: «Wenn jemand zwei Frauen hat, eine, die er liebt, und eine, die er verschmäht, und sie ihm Söhne gebären, beide, die Geliebte und die Verschmähte, und wenn der Erstgeborene von der Verschmähten ist, und die Zeit kommt, dass er seinen Söhnen seinen Besitz als Erbe austeilt, so kann er nicht dem Sohn der Geliebten vor dem erstgeborenen Sohn der Verschmähten das Erstgeburtsrecht verleihen; sondern er soll den Erstgeborenen, nämlich den Sohn der Verschmähten, anerkennen, indem er ihm von allem, was vorhanden ist, zwei Teile gibt; denn dieser ist der Erstling seiner Kraft, und das Recht der Erstgeburt gehört ihm.» Jetzt haben wir genau den Fall später im Gesetz geregelt. Ruben war der Erstgeborene, der Sohn der Verschmähten, Lea und Joseph der Sohn der Geliebten, Rahel. Er kann es nicht einfach so ändern. Aber weil Ruben diese Schandtat begangen hatte, konnte Jakob das Erstgeburtsrecht verschieben. Die anderen Kinder kamen nicht in Frage, denn es waren Kinder von Nebenfrauen und diese hatten kein Erbrecht.

Außerdem sehen wir im Gesetz, dass der Erstgeborene zwei Teile bekam. Jakob nimmt die beiden Söhne Josephs, Ephraim und Manasse, und adoptiert sie gewissermaßen als seine Söhne und segnet sie. Dadurch wird Joseph zu zwei Stämmen gerechnet. Und die Nachkommen daraus, die aus dem Stamm Manasse und die aus dem Stamm Ephraim, die bekamen nach dem Buch Josua später je ein Stammeserbteil. Und so hatte Joseph das Erstgeburtsrecht bekommen, die zwei Teile.

Aber es ist auch noch eigenartig, dass Jakob beim Segen die Hände gekreuzt hat, so dass der zweite zum Erstgeborenen wurde. Joseph wollte das nicht. Aber Jakob, obwohl er blind war, hatte hier den besseren Durchblick. Und so sollte es sein, dass später Ephraim der Führungsstamm der zehn Stämme im Norden wurde. Deshalb wird auch später das Zehnstämme-Reich Ephraim genannt, eben wegen des Erstgeburtsrechts, das ihm gegeben wurde. Dass es trotzdem immer noch zwölf Stämme sind, wird so geregelt, indem zum Beispiel in der Aufzählung der Stamm Levi, der als Priesterstamm kein Erbteil hatte im Land, nicht mitgezählt wurde. Also es gibt verschiedene Zählmethoden, so dass man immer auf zwölf kommt, obwohl im Prinzip mit dreizehn Stämmen zu rechnen ist.

Dann kommt das gewaltige Kapitel 49. Der Segen Jakobs dort zeigt prophetisch die ganze Geschichte Israels bis in die Endzeit. Das wäre ein Thema für sich. Also alles, was er den zwölf Söhnen sagte, der Reihe nach, das ist Segen und Erfahrung, die Israel von Anfang bis in die Zukunft durchmacht. Wir haben schon gesehen, in Verbindung mit Ruben, da wird diesem das Erstgeburtsrecht abgesprochen. Dann kommt in Vers 5 Simeon und Levi: «Simeon und Levi sind Brüder, Waffen der Gewalt sind ihre Schwerter! Meine Seele komme nicht in ihren geheimen Rat, und meine Ehre vereine sich nicht mit ihrer Versammlung! Denn sie haben Männer gemordet in ihrem Zorn und Stiere verstümmelt in ihrer Willkür. Verflucht sei ihr Zorn, weil er so heftig, und ihr Grimm, weil er so hart ist! Ich will sie verteilen unter Jakob und zerstreuen unter Israel.» 1. Mose 34 haben diese beiden Söhne ein gewaltiges Unrecht den Hethitern angetan.

Hier bringt Jakob nun einen Fluch über die beiden. Und das bedeutet nach Vers 7, dass sie verteilt werden in Jakob und zerstreut werden in Israel. Beides hat sich erfüllt. Der Stamm Levi hat später kein Erbteil bekommen, aber Städte zum wohnen ganz verstreut unter den Stämmen Israels. Und Simeon selbst wurde zerstreut innerhalb des Südreiches. Später wurde aber der Fluch gegen Levi in einen Segen umgewandelt. Nach dem Auszug aus Ägypten war die Sache mit dem goldenen Kalb. Während alle anderen Stämme sich verschuldet hatten, hatte sich der Stamm Levi durch Standhaftigkeit ausgezeichnet. Sie haben dem Götzendienst Widerstand geleistet und deshalb wurde zu diesem Zeitpunkt Levi zum Priesterstamm. Natürlich wurden sie zerstreut in ganz Israel, aber nun in Verbindung mit ihrem Priestertum. Und so hat Gott den Fluch in Segen umgewandelt.

Simeon kam nicht in Frage für das Erstgeburtsrecht. Der nächste Anwärter wäre Levi gewesen und der hat zum Teil auch Erstgeburtsrecht bekommen. Denn das Erstgeburtsrecht umfasste doppelten Segen und doppeltes Erbteil. Das hat Joseph bekommen. Das Erstgeburtsrecht bedeutete aber auch Priesterdienst in der Familie und das bekam Levi.

Nach Levi kam aber noch Juda. Und Juda bekam den dritten Segen des Erstgeborenen. Denn der dritte Segen des Erstgeborenen war, dass er über die Brüder herrschen sollte. Das kennen wir schon von Jakob und Esau. Und diese Herrschaft bekam der Stamm Juda, denn aus dem Stamm Juda sollte die Königslinie kommen. So wurde also Juda als nächstem Anwärter auch noch etwas abgegeben von dem Erstgeburtsrecht. Und darum ist es nun interessant: In Verbindung mit Juda wird auch das Kommen des Königs Messias erwähnt. 1. Mose 49, 10: «Es wird das Zepter nicht von Juda weichen, noch der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der Schilo kommt, und ihm werden die Völker gehorsam sein. Er wird sein Füllen an den Weinstock binden und das Junge seiner Eselin an die Edelrebe; er wird sein Kleid im Wein waschen und seinen Mantel in Traubenblut; seine Augen sind dunkler als Wein und seine Zähne weißer als Milch.»

Der Stamm Juda sollte also ein nationaler Staat sein bis der Messias kommt. Und im Jahr 70 nach Christus ging der Judenstaat unter. Das jüdische Volk wurde zerstreut in alle Welt, eine tragische Zeit der Staatenlosigkeit und der ewigen Verfolgung kam. Aber nach dieser Stelle sollte Schilo, der Friedensbringer, noch vorher kommen. Und tatsächlich: Jesus Christus ist vor dem Jahr 70 gekommen, vor dem Untergang des Judenstaates. Und ihm werden die Völker gehorchen! Speziell die Heiden sollen sich dann dem Messias anschließen. Der Judenstaat ging unter und das Evangelium ging in die Heidenwelt in alle fünf Kontinente.

Noch etwas Interessantes. Im Jahr 6 haben die Römer den Juden das Recht auf Verhängung der Todesstrafe abgenommen. Das kennen wir, denn die jüdischen Führer sagen zu Pilatus, als er ihnen sagt, richtet ihr ihn, dass sie dies nicht können, da sie die Todesstrafe nicht ausüben dürften. Darum haben sie ihn den Römern übergeben. Aber der Talmud sagt, als die Römer ihnen die Hoheit über die Todesstrafe weggenommen hatten, da gab es eine Wehklage in Israel und man hat getrauert und gesagt: Wehe uns, das Zepter ist von Juda gewichen und Schilo ist nicht gekommen. Dabei war er in der Zwischenzeit ein kleiner Junge, der geboren worden war in Bethlehem. Schilo war schon da. Aber das steht im Talmud, wehe uns, das darf nicht sein. Darum musste der Messias ein Jude sein, aus dem Herrscherstamm Juda kommen. Auch wieder ein Erstgeburtssegen für Juda. Dieser Juda, der sich am Ende so für Benjamin eingesetzt hatte. So sehen wir die geistlichen Zusammenhänge.

Schließlich stirbt Joseph mit 110 Jahren. Wir lesen 1. Mose 50, 24: «Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: Ich sterbe; aber Gott wird euch gewiß heimsuchen und euch aus diesem Land hinaufführen in das Land, das er Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen hat. Und Joseph nahm einen Eid von den Söhnen Israels und sprach: Gewisslich wird Gott euch heimsuchen, und ihr sollt dann meine Gebeine von hier hinaufbringen! Und Joseph starb, 110 Jahre alt; und man balsamierte ihn ein und legte ihn in einen Sarg in Ägypten.» Joseph sagte, es wird die Zeit kommen, da werdet ihr aus Ägypten hinausziehen. Woher wusste er das? Weil Gott das schon längst seinem Vorfahren Abraham vorausgesagt hatte, in 1. Mose 15 schon. War alles schon geregelt.

Ich lese 1. Mose 15, 13: «Da sprach Er zu Abram: Du sollst mit Gewißheit wissen, dass dein Same ein Fremdling sein wird in einem Land, das ihm nicht gehört; und man wird sie dort zu Knechten machen und demütigen 400 Jahre lang. Aber auch das Volk, dem sie dienen müssen, will ich richten; und danach sollen sie mit großer Habe ausziehen. Und du sollst in Frieden zu deinen Vätern eingehen und in gutem Alter begraben werden. Sie aber sollen in der vierten Generation wieder hierherkommen; denn das Maß der Sünden der Amoriter ist noch nicht voll.» Joseph wusste längst um die Unterdrückung in einem fremden Land und dann dem Auszug mit großer Habe. Joseph wusste das und er glaubte. Und so sagte er ihnen und ließ sie schwören, dass sie seine Gebeine von Ägypten nach Kanaan überführen werden, wenn der Exodus stattfinden würde. Und darum haben wir in Hebräer 11 gelesen, dass Joseph glaubend Befehl gab wegen seiner Gebeine.

Und so kam es dann auch in 2. Mose 13, 18: «Darum führte Gott das Volk einen Umweg durch die Wüste am Schilfmeer. Und die Kinder Israels zogen gerüstet aus dem Land Ägypten. Und Mose nahm die Gebeine Josephs mit sich; denn der hatte einen Eid von den Kindern Israels genommen und gesagt: Gott wird sich gewiß euer annehmen; dann führt meine Gebeine mit euch von hier herauf!» Und dann in Josua 24, 32; «Und die Gebeine Josephs, welche die Kinder Israels aus Ägypten heraufgebracht hatten, begruben sie in Sichem in dem Stück Land, das Jakob von den Kindern Hemors, des Vaters Sichems, um 100 Kesita gekauft hatte, und es wurde den Kindern Josephs zum Erbteil.» Joseph wurde also begraben im Land Kanaan. Trotz all der Herrlichkeit in Ägypten war sein Herz in Kanaan geblieben. Er glaubte also an den Exodus und er glaubte auch an die Auferstehung. Er wollte auferstehen im verheißenen Land.

Aber wo im verheißenen Land? In Sichem. Er glaubte an die Landverheißung. Sichem ist heute Nablus, eine der größten Palästinenserstädte im Westjordanland. Ausgerechnet dort in Nablus war Josephs Herz, denn er wusste, dieses Land gehört Israel. Wir merken also wie diese Josephsgeschichte eine Explosionskraft und Bedeutung hat bis in unsere Zeit hinein. Denn da geht es um die Frage: Wem gehört Nablus? Joseph glaubte an die Verheißung des Exodus und er glaubte auch, dass Sichem Israel gehören sollte. Ein Glaubensmann, der uns wirklich zu Herzen geht. Und das einerseits wegen seiner persönlichen Treue und andererseits wegen dieser überwältigenden Hinweise auf unseren Erlöser, den Messias Jesus, diese vielen Parallelen.