Das Gute behaltet aus den Anfängen Korntals Rolf Scheffbuch Herausgeber: Ludwig-Hofacker-Vereinigung, und Evangelische Brüdergemeinde Korntal, Saalstr. 6, 70825 Korntal Januar 2001 Rolf Scheffbuch zum 70. Geburtstag Die evangelikale Bewegung hat Prälat Rolf Scheffbuch viel zu danken. Die Ludwig-Hofacker-Vereinigung und die Evangelische Brüdergemeinde Korntal tun dies mit der Herausgabe dieses Buches. Sein langjähriges Wirken in unserer Landeskirche, als Dekan von Schorndorf und Prälat in Ulm, als Synodaler in der EKD und in Württemberg oder weltweit in führender Position in der Lausanner Bewegung und nicht zuletzt als Vorsitzender der Ludwig-Hofacker-Vereinigung hat dem nimmermüden „Vielarbeiter Gottes“ nichts von seinem Schwung genommen. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst hat er sich nicht in ein gemächliches Feierabendstübchen im „Heiligen Korntal“ zurückgezogen. Neben seiner sonstigen Predigt- und Vortragstätigkeit außerhalb Korntals hat Rolf Scheffbuch für die Korntaler Brüdergemeinde eine höchst spannende und tiefgründige Vortragsreihe über die Anfänge Korntals erarbeitet. Die vorliegenden Lebensbilder sind keine Biographien im klassischen Sinn. Die vorgestellten Personen aus der Gründerzeit stellt der Autor in eine bewegte Umbruchzeit Europas hinein. So wird deutlich, wie Gott sein Reich inmitten und mit politischen Strukturen zum Ziel bringt. Das vorliegende Werk ist ein durch und durch ehrliches Buch. In behutsamer Weise werden auch die Schwächen der damaligen Pioniere genannt. Dadurch werden diese Mütter und Väter des Glaubens nicht abgehoben und glorifiziert dargestellt, sondern als ganz normale Christen, die, wie wir alle, Vergebung nötig haben. Dem Buch ist ein Leserkreis weit über Korntal hinaus zu wünschen, weil es nicht nur ein Gemälde der damaligen Zeit nachzeichnet, sondern auch zum persönlichen Glauben ermutigt. Pfarrer Volker Teich Vorsitzender der Ludwig-Hofacker-Vereinigung Pfarrer Michael Wanner Brüdergemeinde Korntal 1. „Heiligs Korntal“ - und der Rest der Welt - Göttliches und viel Menschliches aus den Anfangszeiten Korntals 7 2. Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771 - 1846) - Gründer von Korntal und von Wilhelmsdorf 10 3. Johannes Kullen (1787 - 1842) - Lehrer, lnstitutsvorsteher und beinahe Pfarrer 20 4. Christine Barner, geb. Kullen (1795 - 1837) - die erste württembergische Rettungshausmutter 30 5. Johann Adam Straub (1756 - 1857) - Schuhmacher, Stundenbruder, Brüdergemeinderat 38 6. Johann Friedrich Maier (1802 - 1880) - Lehrer, Chorleiter, Landeskatechet 49 7. Johann Jakob Friederich (1759 - 1827) - der erste Korntaler Pfarrer 57 8. Dr. Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806 - 1873) - Missionsinspektor in Basel, Ephorus in Tübingen 69 Generalsuperintendent in Berlin 9. Rosina Widmann, geb. Binder (1827 - 1908) - die erste Korntalerin im Missionsdienst 79 10. Samuel Kullen (1827 -1865) - Korntaler Missionar in drei Kontinenten 87 Korntaler Urgestein Rolf Scheffbuch, Prälat i. R. Archiv der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal 70825 Korntal, Kullenstr. 1 Korntal, August 2000 1. „Heiligs Korntal“ - und der Rest der Welt Göttliches und viel Menschliches aus den Anfangszeiten Korntals Am 22. August 1819 war es so weit: Eine eigene „religiös-politische Gemeinde“ Korntal konnte gegründet werden. Das „Privileg“ dazu erteilte der württembergische König Wilhelm I. (1781 - 1864). Jesus Christus, der König aller Könige, machte jedoch Korntal zu seinem Werkzeug. Bis heute sind seit 1819 viele Impulse von Korntal ausgegangen. Vor allem gingen sie hinein in das württembergische Land, aber auch in die Weite der Welt. König Wilhelm I. wollte mit der Sondergenehmigung für Korntal einen Damm aufrichten. Er sollte die bedrohliche Abwanderung aus dem schwäbischen Land stoppen. Aber „alle Herrschaft ... hier im irdischen Getümmel, ist zu Jesu Dienst bereit“. Für Jesus war die Vorstellung eines Auffangbeckens zu wenig. Korntal wurde zu einem belebenden Bewässernngsreservoir. Bald nach den ersten Kolonistenhäusern wurde der „Große Saal“ als Gottesdienstraum eingeweiht (7. November 1819). Dabei predigte Pfarrer Johann Jakob Friederich (1759 - 1827) über das Bibel wort: „Sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne“ (2. Mose 25,8). Karikierend machte der Volksmund daraus das bis heute zu hörende Spottwort vom „heiligen Korntal". Jesus nahm das Programm des „Heiligtums“ ernst. Er will gerne dort wohnen, wo man ihn willkommen heißt; wo-er nicht abgeblockt wird. Gerade bei Menschen mit Fehlern und Macken will er zurechtbringend und heilend gegenwärtig sein. Das wurde in Korntal von den schweren Anfangsjahren an erfahren. Eine „ideale Gemeinde“ gibt es nun einmal nicht! „Bei der Errichtung einer besonderen Gemeinde werden sich die Brüder wundern über die Ungezogenheit, die normalerweise unter Brüdern herrscht; das wird sich erweisen bei einem engeren Verband, wie er angestrebt wird". So hatte das Hülbener „Pietisten-Haupt“ Jakob Friedrich Kullen (1758- 1818) vor der Gründung der Brüdergemeinde Korntal gewarnt. Gottlieb Wilhelm Hoffmann, der Gründer von Korntal, wusste, warum er am Ostermorgen mit Hilfe eines Sprachrohrs über die versammelte Gemeinde laut rief: „Jesus Christus lebt!“ Von Jesus Christus allein erwartete er Lebenskräfte, nicht von einem Idealkonzept „Gemeinde“, auch nicht von „organisierter“ Bruderschaft. Denn, so sagte es der spätere Korntaler Brüdergemeindepfarrer Sixt Karl Kapff (1805- 1879): „Wenn die geistlichen Voraussetzungen fehlen, dann helfen äußere Formen nichts! Schließlich kann man selbst dann noch .Brüderles1 tun, wenn das eigentliche Leben aus Gott fehlt!“ So sind die folgenden Lebensbilder von Frauen und Männern aus den Anfangszeiten der Brüdergemeinde Korntal Ermutigung und Warnung zugleich: Ermutigung dazu, noch viel mehr als bisher vom lebendigen Jesus zu erwarten. Warnung jedoch davor, in heutiger Zeit sich von stark formalen Gemeindebau-Strukturen neues Leben zu versprechen. Warnung aber auch davor, die Ev. Brüdergemeinde Korntal als „liebenswertes Unikat von vorgestern“ zu verharmlosen. Die Christenheit braucht heute und erst recht morgen solche Gemeinden, die Jesus als seine Spezialwerkzeuge für das ganze Land gebrauchen kann. Auch kirchenleitende Organe sollten nicht so auf eine einzige Gemeindestruktur fixiert sein, dass sie verhindern, was Jesus heute für hilfreich finden könnte. Ja für notwendig! Denn „Gemeinde“ in neutesta-mentlichem Verständnis ist eben noch einmal etwas anderes als ein primär flächendeckender kirchlicher Zuständigkeitsbereich. Die Brüdergemeinde Korntal wusste von allem Anfang an: Das Wirken des Herrn Jesus kann man nicht in Erbpacht nehmen! 1819 sagte Michael Hahn bei der Gemeindegründung: „In fünfzig Jahren muss Korntal neu gegründet werden!“ In unseren Tagen konstatierte ein Tübinger Theologieprofessor in der Stuttgarter Stiftskirche: „Wir brauchen heute zehn neue Korntals!“ Das geschah während eines Kongresses, der zum Thema hatte „Das Haus der lebendigen Steine“. Von welcher Art das Baumaterial sein kann, welches der Bauherr Jesus Christus dafür gebrauchen will, das könnte auch an den Lebensbildern aus der Anfangszeit des „heiligen Korntals“ deutlich werden. 2. Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771 - 1846) Gründer von Korntal und von Wilhelmsdorf Hoffmanns Weg nach Korntal So sehr viel wissen wir von Hoffmann gar nicht; denn er selbst hielt von Memoiren nichts. Er konnte sagen: „Die volle Wahrheit kann und darf man nicht sagen. Das Schlimmste von dem, was im Herzen eines sündigen Menschen ist, brauchen andere nicht zu wissen. Und das Beste, was Jesus seinen Leuten gibt, ist unaussprechlich.“ Aber Bilder von Hoffmann sind uns erhalten. Besonders aus seiner Korntaler Zeit. Sie zeigen einen gedrungen gewachsenen Mann. Aus dem Gesicht sprechen geballte Energie, Willenskraft, Selbstbeherrschung, aber auch Humor. Kurz: Ein zum Leiten geborener, dynamischer, aber auch fröhlicher Mensch. „Gott Lob und Dank, Sie lachen ja!“, so sagte ein Besucher Korntals, als er Hoffmann begegnete; denn er hatte einen verklemmten Finsterling erwartet. Lächeln konnte Hoffmann auch über Theologen, wenn sie stundenlang Probleme wälzten. Ihm war es wichtiger, Lösungen zu finden. Wegen dieser seltenen Gabe, lösungsorientiert zu denken, war der hochqualifizierte Jurist Hoffmann im Land bekannt. Schon in jungen Jahren wurde er mit verantwortungsvollen Gaben betraut: Kaiserlicher Notar, Landrat („Amtsbürgermeister“ der Gemeinden im Amt Leonberg), städtischer Polizeikommissär, schließlich Mitglied des Landtages („Ständeversammlung“). Während seiner Ausbildungszeit hatte Gott in das Leben von Hoffmann eingegriffen. Von da an ließ ihn die Gewissheit nicht mehr los: „Es gibt also einen Gott; er kümmert sich um mich!“ Weil jedoch alles in seinem Leben Hand und Fuß haben sollte, ließ Hoffmann es nicht bei einem allgemeinen Gottesglauben bewenden. Vielmehr grub er sich ein in die Gedankenwelt von Luther und von anderen geistlichen Lehrern. Vor allem hielt er so viele Kontakte mit ernsthaften Christen, wie er nur konnte. Dabei wollte er sich bewusst nicht einer einzigen Frömmigkeitsrichtung ausschließlich verschreiben. Er wollte „von allen pietistischen Heuböden sein Futter holen“. Als der württembergische König einmal Korntal besuchte, fragte er Hoffmann, wie er zu einem bestimmten Stuttgarter Pfarrer stehe. „Ausgezeichnet“, antwortete der Vorsteher des „Pietistennestes“ Korntal. „Aber das ist doch gar kein Pietist!“, wandte fragend der Monarch ein. Hoffmann erwiderte lachend: „Eigentlich bin ich auch keiner! Man heißt mich nur so!“ Sein Christsein wollte er bewusst im weltlichen Bereich bewähren. Nicht mit einem einzigen Blick schielte er danach, irgendwie in kirchlichen Aufgaben hauptamtlich tätig zu werden. Die Reichs-Gottes-Arbeiten waren für ihn erholsame, belebende Freizeitaufgaben: In Leonberg hielt er sich zur pietistischen „Stunde“ und wurde dort einer der „redenden Brüder“; er gab ein damals vielbenutztes Liederbuch heraus; er hielt stark besuchte Kinderstunden. In einem geräumigen Fachwerkhaus am Leonberger Marktplatz lebte Hoffmann mit seiner Familie. Seine erste Frau war nach nur kurzer Ehe kinderlos verstorben. Aus Hoffmanns zweiter Ehe entstammten drei Töchter und der Sohn Wilhelm; nachdem 1810 die Ehefrau Christiane, geb. Löffler verstorben war, schloss Hoffmann Ende 1810 die dritte Ehe mit Beate Gottliebin Baumann. Aus dieser Ehe blieben neben einer Tochter der Sohn Christoph am Leben, der spätere Anführerder „Templer“. Im glei- chen Haus lebte die einflussreiche Pietistenfamilie Josenhans. Dies Haus wurde zu einer geistlichen Anlaufstelle, zu einer biblischen Brunnenstube für viele Christen aus dem weiten Umkreis. Geistig und geistlich war für die Familien Josenhans und Hoff-mann der Horizont nicht verstellt durch die Giebel der anderen Häuser am Marktplatz. Vielmehr war der Horizont weit aufgerissen durch eine vitale Erwartung des wiederkommenden Jesus Christus und seines kommenden Gottesreiches. Zu manchen Zeiten war auch Gottlieb Wilhelm Hoffmann angesteckt von dem Virus der Auswanderungssucht: „Dem Herrn entgegen“ in den Osten! Der nüchterne Glaubensbruder und Freund Johann Friedrich Josenhans (1769 -1850) jedoch erinnerte Hoffmann an das Jesus-Wort: „Das Evangelium vom Reich muss verkündigt werden allen Völkern; dann wird das Ende kommen!“ Durch Josenhans ließ sich auch Hoffmann hineinreißen in eine dynamische Missions-Mitverantwortung. Das Haus am Marktplatz von Leonberg wurde zum württembergischen Verteilerkasten für Nachrichten, die aus Basel, aus London, aus Sierra Leone und aus Indien kamen, und auch zur Drehscheibe für württembergische Missionszöglinge und Missionsopfer, die für Basel bestimmt waren. Etliche Jahre später waren es zwei Söhne der Leonberger „Pieti-sten-Kaserne“, welche die immer einflussreicher werdende Basler Mission prägten: nämlich die Missionsinspektoren Dr. Wilhelm Hoffmann (1806 - 1873) und Joseph Josenhans (1812 - 1884). Hoffmanns realistischer Blick wurde zunehmend auf die Tatsache gelenkt: „Gemeinde Jesu Christi“ ist doch nicht einfach die religiöse Unterabteilung eines bürgerlichen Gemeinwesens! Wie auf dem Missionsfeld gehören zur „Christengemeinde“ die auf den Namen des Christus Jesus Getauften, die bewusst und entschieden mit Jesus leben wollen. So kristallisierte sich bei Hoff- mann immer mehr das Ziel einer Gemeinde heraus, die geprägt sein sollte von persönlichem Christsein der Mitglieder, von der Verwirklichung des Priestertums aller Glaubenden und von einer seelsorgerlich bestimmten familiären Gemeinschaft. Eine solche „apostolische Gemeinde“ sollte unabhängig sein vom königlichen Konsistorium. Sie sollte aber doch die reformatorischen Bekenntnisse der württembergischen Landeskirche bejahen. Weltmission, Diakonie und pädagogische Modelle sollten Lebensäußerungen einer solchen Gemeinde sein. Für eine solche Gemeinde wollte Hoffmann Initiator sein. Mehr nicht! Das Amt eines der Gemeinde vorstehenden „Bischofs“ trug er dem aus landeskirchlichen Dienst entlassenen Dekan Karl Friedrich Hartmann (1743 - 1815) an. Der lehnte jedoch vehement ab. Mit einer „Separation“ wollte er nichts zu tun haben. Da zeigte sich dem hellwachen Hoffmann eine Chance, seine Idee zu verwirklichen. König Wilhelm I. war zusammen mit seiner Regierung aufs Höchste besorgt über die Zunahme der Abwanderung bester Familien aus dem Land. Geradezu verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, dem Ausbluten des württembergischen Staates zu wehren. Hoffmann wies darauf hin, dass einer der Hauptgründe für die Auswanderung in der religiösen Gängelung durch eine liberal gewordene Staatskirche zu suchen sei. Helfen könne eine Auffangstation in Form einer vom Konsistorium unabhängigen religiösen Gemeinde. Hoffmann gab keine Ruhe, als die ersten Eingaben unbearbeitet und darum auch unbeantwortet auf die Seite gelegt worden waren. Mit insgesamt 17 Eingaben „bombardierte“ Hoffmann den König und seine Ratgeber. Ihm ging es um eine Sondergenehmigung. Als schließlich im Oktober 1818 eine solche in Aussicht gestellt wurde, kaufte Hoffmann am 12. Januar 1819 das Rittergut Korntal. Zunächst waren es 68 Familien, die nach Korntal zogen. Zum Vorsteher war Michael Hahn (1758- 1819) bestimmt; aber er verstarb, bevor er dies Amt antreten konnte. Statt ihm wurde Israel Kaufmann von Plieningen Vorsteher. Aber auch er starb bald darauf im Februar 1820. Der danach gewählte Böblinger Kaufmann Metzger konnte wegen familiärer Probleme nicht nach Korntal umziehen. Da endlich war Gottlieb Wilhelm Hoffmann bereit, seine verantwortungsvollen und einflussreichen Ämter in Leonberg aufzugeben (samt der damit verbundenen Besoldung), um das Korntaler Vorsteheramt in überaus kritischer Zeit zu übernehmen. Er führte es unentgeltlich während seiner ganzen Dienstzeit. Mit den Seinen lebte er von einigen Vermögensverwaltungen auswärtiger adliger Familien. Neben dem Vorsteheramt war Hoffmanns Aufgabe die Geschäftsführung des „Gemeindegasthauses“ im „Schlösschen“, in dem die, wenn auch beengte, Wohnung eingerichtet war; er besorgte die Post und die „Gemeindehandlung“. Die eigentliche Aufgabe jedoch sah Hoffmann darin, die zusammengewürfelte Gemeinde zu einer Jesusgemeinde mit Ausstrahlung (missionarisch, diakonisch, pädagogisch) zu machen. Zielstrebiges Schaffen und gespanntes Erwarten „Wir warten, beten und bereiten uns, wie wenn der Herr morgen käme; aber wir bauen, pflanzen und wirken auf Erden, wie wenn es noch tausend Jahre so fortginge.“ Das war Hoffmanns Motto. Johann Albrecht Bengel (1687-1752) hatte das Jahr 1836 als Zeitpunkt des Wiederkommens Jesu berechnet. Hoffmann rech- nete so mit der Richtigkeit dieser Ankündigung, dass sein Tilgungsplan für die immense Korntaler Schuldenlast mit dem Jahr 1836 zum Ziel gekommen sein sollte. In Geldsachen wollte er treu und verlässlich sein. Hoffmann war eben alles andere als ein Enthusiast (Nicht Hoffmann, sondern ein jugendlicher Begleiter Hoffmanns hatte einst jauchzend seinen Hut in die Höhe geworfen mit dem Ruf: „Brüder, wir erleben es noch, dass das Lamm kommt!“). Für ihn selbst und für die Korntaler sollte gelten: „Der Herr soll uns an der Arbeit finden, wenn er wiederkommt!“ Besonders für heranwachsende junge Menschen sollte etwas getan werden. Sie sollten „zu brauchbaren Bürgern dieser und jener Welt erzogen werden“. 1819 wurde das Knabeninstitut (Höhere Schule mit Heim) in Korntal etabliert. Dazu war der aus Hülben stammende Lehrer Johannes Kullen (1787 - 1842) mit einigen seiner Metzinger Privatschüler nach Korntal geholt worden; erbaute ab 1821 ein dem Knabeninstitut entsprechendes Töchterinstitut auf, dem 1836 mit der „Mittelanstalt“ eine Art Frauenarbeitsschule folgte. Das war der Beginn der „Schulstadt“ Korntal mit ihren weit über Korntal hinaus bekannten Internaten. 1822/23 entstand aufgrund der persönlichen Initiative Hoffmanns das Kinderheim für „arme, verlassene, verwaiste“ und auch für „verwahrloste“ Kinder. Hausvater dieses Heimes wurde 1825 Andreas Barner. Aufgrund seiner in der Modellanstalt Beuggen gemachten Erfahrungen gliederte er dem Rettungshaus „Großes Kinderheim“ (heute: „Hoffmann-Haus“) eine Heimschule an. Ab 1828 wurden die noch nicht schulpflichtigen Kinder in einem besonderen Kleinkinderheim (heute: „Flattich-Haus“) untergebracht. In allen pädagogischen Einrichtungen sollte für die Verantwortlichen der Leitsatz des Beuggener „Rettungshaus-Vaters“ Christian Heinrich Zeller (1779 - 1860) gelten: „Wahrhafterziehen kann nur jemand, dem es die Kinder abspüren, dass er sich täglich selbst von Jesus erziehen lässt." Den ersten Anfang für die heute breit ausgebaute Korntaler Diakonie bildete das von Hoffmann konzipierte und 1831 bezugsfertige „Witwenhaus“ mit Kleinwohnungen für alleinstehende Frauen. (In dem ebenfalls durch Hoffmann gegründeten Wilhelmsdorf in Oberschwaben entstanden ab 1830 drei Kinderheime, eine Taubstummenanstalt sowie eine „Besserungsanstalt für entlassene weibliche Strafgefangene“.) 1826 begann Hoffmann mit der Tochtergemeinde Wilhelmsdorf in Oberschwaben. König Wilhelm I. wollte eine „weitere Ausbreitung von Gemeinden nach der Art Korntals“ nicht gestatten. Eine Ausnahme sollte nur möglich sein, „wenn die Gemeinde Korntal mit der Anlegung einer neuen Kolonie zugleich einen gemeinnützigen nationalwirtschaftlichen Zweck (etwa die Urbarmachung einer sumpfigen Fläche) verbindet“. Hoffmann stellte sich dieser Aufgabe. Er wollte ja durchaus etwas für gemeinnützige Zwecke tun! Aber die angenommene Herausforderung war dann doch fast zu belastend. Sie überstieg die materiellen, körperlichen und auch seelischen Kräfte der Verantwortlichen und der Kolonisten. Hoffmann opferte sein Privatvermögen hinein in diese Aufgabe. Trotzdem blieb Wilhelmsdorf ein „Fass ohne Boden“. Gemäß Jesu eigener Auskunft sollte seinem Wiederkommen die Verkündigung des Evangeliums unter allen Völkern vorangehen. Korntal wurde zu einem Stützpunkt der Weltmission. So wollte Korntal daran mitwirken, dass das Kommen Jesu beschleu- nigt würde. Besonders der Basler Mission und der mit ihr eng verbundenen Londoner Church-Missionary-Society sowie der durch Bischof Gobat geleiteten missionarischen Jerusalem-Arbeit gehörte die Korntaler Anteilnahme (Die oft legendär verklärte Korntaler „Jerusalem-Kutsche“ war als „Monatsstunden“-Omnibus gedacht. Mit dem Ertrag sollte die missionarische Jerusalemarbeit von Bischof Gobat unterstützt werden). Die Gräber der im Korntaler „Begräbnisgarten“ bestatteten Pioniermissionare machen bis heute deutlich: Korntal wurde gerade durch Hoff-mann zu einem besonderen Heimatstützpunkt der Weltmission gemacht. Hoffmann war stolz darauf, dass sein Sohn Dr. Wilhelm Hoff-mann (1806 - 1873) als Missionsinspektor das immer weiter in die Welt ausgreifende Werk der Basler Mission leitete. Jedoch hätte er den Sohn gerne nach Korntal zurückgeholt, als 1843 in Korntal ein neuer Pfarrer gebraucht wurde. Aber die Basler Mission konnte damals auf Dr. Hoffmann nicht verzichten. Stattdessen wurde vom Basler Missionshaus Pfarrer Staudt nach Korntal freigegeben, ein besonderer Förderer der Weltmission. (Damals hat Hoffmann die Weichen dafür gestellt, dass Korntal bis heute -auch mit der Akademie für missionarische Studien und mit dem Missionswerk „Licht im Osten“ - einen besonderen Schwerpunkt in der Mitverantwortung für die Weltmission hat.) Ein „geistlicher Geniestreich“ Hoffmanns war es, als er 1845 den aus württembergischen Kirchendienst entlassenen Erweckungsprediger Eduard Wüst nach Neuhoffnung und anderen Kolonistendörfern am Schwarzen Meer entsandte. Die nach Osten Ausgewanderten hatten eben die unmittelbarste Heimatverbindung mit Hoffmann in Korntal; ihn hatten sie gebeten, einen Seelsorger zu entsenden, der das etwas eingeschlummerte Gemeindeleben wieder zu erwecken in der Lage sein würde. Wüsts Verkündigung und Seelsorge war angelehnt an das Vorbild von Ludwig Hofacker. In kurzem, fast nur zehnjährigen Wirken war es Wüst gegeben, nicht nur eine geistliche Erweckung in den Siedlerdörfern um Berdjansk auszulösen, sondern auch geistlich neu erweckte Mennonitengemeinden nach dem Korntaler „Modell“ als Mennoniten-“Brüdergemeinden“ ordnen zu können. Vor der russischen Revolution gab es ungefähr 10 000 Mitglieder solcher erweckten Mennoniten-Brüdergemeinden. Heute haben die Men-noniten-Brüder in Kanada, in den USA, vor allem aber auch in Brasilien und in Paraguay lebendige und opferwillige Gemeinden. In ihnen lebt ein wesentliches Teil „Korntaler Erbes“ weiter. Auch bei der Auswahl der leitenden Mitarbeiter der einzelnen Arbeitszweige der Brüdergemeinde Korntal bewies Hoffmann meist Geschick. Mit Fingerspitzengefühl sorgte er dafür, dass die einzelnen Zweige des schwäbischen Pietismus gleichmäßig repräsentiert waren. Den Leitern der verschiedenen Arbeitszweige ließ er, so weit als nur möglich, freie Hand, band sie jedoch zugleich auch über die Mitarbeit im Brüdergemeinderat in die Mitverantwortung für das Ganze ein. Natürlich gab es dann und wann auch Fehlbesetzungen. So war es nicht unbedingt ein Glücksfall, dass der nervlich angeschlagene Pfarrer Mag. Samuel David Christian Baumann (1793 - 1843), ein Verwandter der dritten Ehefrau Hoffmanns (später sogar Schwiegersohn Hoffmanns), als Lehrer an das „Knabeninstitut“ berufen worden war. Er war überaus streng und oft auch heftig gegen die Schüler. Er wurde dann 1827 nach dem Tod von Pfarrer Friederich als Pfarrverweser eingesetzt, konnte aber auch in dieser Aufgabe nicht befriedigen. (Umso dankbarer muss erwähnt werden, dass Nachkommen von Pfarrer Christian Bau- mann einen segensreichen und opferbereiten Christendienst in Südrussland getan haben.) Gleich in der Anfangszeit der Brüdergemeinde Korntal war Hoffmann gezielt geschmäht worden. Das geschah auch durch einen ganzen Hagel von verleumderischen Flugschriften. Die schlimmste unter ihnen hatte den Titel „Die unlängst verordne-ten Hoffmannschen Tropfen chemisch untersucht und als unecht erfunden“. Hoffmann antwortete darauf nicht, obwohl er eine gewandte Feder zu führen verstand. Vielmehr sagte er unter Freunden: „Gott sei Dank, dass das alles nicht wahr ist. Sorgen wir dafür, dass es nie wahr wird!“ Hoffmann starb am 29. Januar 1846 in Korntal, bis zuletzt in größter Sorge um die Zukunft der Tochterkolonie Wilhelmsdorf. Wenige Tage vor seinem Tod sagte er einem Freund: „Es ist seltsam, dass der Heiland weder den frommen Simeon noch die ehrwürdige Hanna mit sich in den Himmel nahm, sondern den vom Galgen kommenden Verbrecher. Das ist mein Trost; darauf sterbe auch ich.“ 3. Johannes Kullen (1787 - 1842) Lehrer, Institutsvorsteher und beinahe Pfarrer Am 8. September 1842 wurde der Korntaler Institutsvorsteher Johannes Kullen auf dem Korntaler „Begräbnisgarten“ beerdigt. Am Abend dieses Tages traf aus Stuttgart ein königlicher Erlass ein: Johannes Kullen war als Pfarrer von Wilhelmsdorf bestätigt worden. Beinahe war er Seelsorger der verarmten und verstörten Kolonisten in der Tochterkolonie Korntals geworden. Er war bereit gewesen, sich auch dieser Herausforderung zu stellen. Johannes Kullen hatte in seiner Natur Willensstärke. Er konnte sich, wenn es sein musste, sogar mit Gottlieb Wilhelm Hoffmann anlegen; denn er war nicht bereit, alles hinzunehmen, was Vorsteher Hoffmann als richtig ansah und anstrebte. Kullen konnte sagen: „Ein ehrlicher Krieg ist manchmal besser als ein fauler Friede!“ Hoffmann wusste, worauf er sich einließ, als Kullen 1819 zusammen mit einigen der „höheren“ Schüler seiner privaten Metzinger Knabenanstalt nach Korntal berufen wurde; dort sollte er eine „höhere Knabenanstalt“ aufbauen. Denn Kullen war in den pietistischen Kreisen des Landes dafür bekannt, dass er straffere, verbandsmäßig organisierte und auf Gemeindezucht bedachte Zusammenfassung der einzelnen örtlichen „Stunden“ drang. Kullen war so etwas wie ein pietistischer Stratege und Vordenker. Es spricht für Hoffmann, dass er zu einer Arbeitsgemeinschaft mit solch einem gewiss nicht „leichten“ Partner bereit war. Am 20. Oktober 1787 war Johannes Kullen als Zweitältester Sohn der Hülbener Schulmeistersleute geboren worden. Das Schulhaus in dem armen Albdorf Hülben war schon damals zu einem Mittelpunkt der Gemeinschaftsleute der Region geworden. Johannes wäre gerne auf das Theologiestudium zugegangen. Sein Vater jedoch sah mit Sorge die liberale Abwärts-Entwicklung der damaligen Kirche. Deshalb gab er den begabten Johannes in die Lehre bei einem benachbarten Schulmeister, einem Hobby-Lateiner und Liebhaber der Mathematik. Beide Spezialgebiete faszinierten auch den jungen Johannes. 1805 kam der 18-jährige als Schulmeistergehilfe nach Lauf-fen/Neckar zu einem strengen Chef. Die Schulmeisterin sagte den Nachbarinnen: „Mein Provisor ist ein guter Mensch. Er ist's zufrieden, ob man ihm etwas zu essen gibt oder nicht. Er betet mir alle Biegelein (Winkel) im Haus aus. Wenn er doch bloß meinen Mann besser machen könnte!“ Am Karfreitag 1806 geschah es, dass Kullen durch eine Predigt von Dekan Karl Friedrich Hartmann in Lauffen die Gnade Jesu zum ersten Mal richtig erfasste; denn zuvor konnte er sehr gesetzlich sein. Von einem schweren Krankheitssturm erholte er sich in der Hülbener Heimat. Im Herbst 1809 wurde er Provisor an der Knabenschule in Metzingen. Damals begannen die Jahre der Gärung: Er entwickelte den „verbesserten Gemeinschaftsplan“; sogar manche Gemeinschaftsleute taten die Vorschläge als „Päpsteleien“ ab. Kullen fragte sich, ob man denn in einer „heruntergekommenen“ Kirche noch Mitglied bleiben solle, noch das Abendmahl nehmen könne, noch Schuldienst tun dürfe. Er sympathisierte mit dem aus dem württembergischen Kirchendienst entlassenen Pfarrer Friederich in Winzerhausen. Er nahm Kontakte auf mit Dr. Jung-Stilling und durch ihn mit der stark visionär geprägten Frau von Kruedener, aber auch mit Michael Hahn, dem Gründerder Hahn1 -sehen Gemeinschaften in Württemberg. Zu einem erstaunlichen Nüchternwerden half Kullen die fünfmonatige Militärdienstzeit im Sommer 1815- Napoleon I. hatte noch einmal die Herrschaft an sich gerissen. Die württembergi-sche Landwehr war aufgeboten, um zusammen mit den alliierten Heeren Napoleon endgültig zu besiegen. Johannes Kullen wurde als Kompanieschreiber und Quartiermeister seiner Reservisteneinheit eingesetzt, die kaum in Kämpfe verwickelt wurde. Für Kullen wurde die kurze Soldatenzeit eine Lehrzeit. An den sturen Unteroffizieren ging ihm auf, wie abschreckend Drohen und Poltern sein kann. Auf seinen Oberst jedoch dichtete der Regimentsschreiber Kullen: „Durch der Obern holde Worte, auch durch Zucht am rechten Orte, die mit Weisheit angebracht, werden selbst Soldaten glücklich; denn es wird doch alles schicklich durch der wahren Liebe Macht!“ Nach diesen Erfahrungen wollte Kullen kein harter Polterer in kirchlichen Fragen mehr sein. Eindruck hatte es Kullen auch gemacht, als ein Soldat Hunger und lange Märsche mit dem Satz quittierte: „Dafür bin ich Soldat!“ Er nahm sich vor, nicht gegen alles Unliebsame zu rebellieren, sondern auch Widriges zu ertragen im Wissen: „Dafür bin ich Christ!“ Am hilfreichsten waren für Kullen jedoch unverhoffte Begegnungen: Dies gleich während seiner Ausbildungszeit auf der Soli-tude bei Stuttgart mit Gottlieb Wilhelm Hoffmann und dann während der Belagerung von Hueningen bei Basel mit Christian Friedrich Spittler (1782 - 1867), dem Gründer der Basler Missi- on und von mehr als 50 anderen christlichen Werken. Spittler führte den bärtigen Soldaten Kullen in die Gemeinschaftskreise von Basel und Umgebung ein, mit denen Kullen lebenslang verbunden blieb. Auf dem Heimmarsch seiner Einheit konnte Kullen auch noch die Herrnhuter Kolonie Königsfeld besuchen, deren Ordnung ihn beeindruckte. Nach seiner Entlassung im Oktober 1815 schrieb Kullen - er hatte eine Stelle an der Metzinger Mädchenschule gefunden - an schwäbische Mitchristen einen Aufruf gegen den „Schwindel der Auswanderungssucht“; auch wenn morgen der Antichrist käme, so gelte es doch, noch heute nach der Ordnung den Acker zu bestellen. Kullen wollte sich auch nicht mehr von der krankgewordenen Kirche trennen. Offensichtlich wollte Gott auch eine durch manche Beben erschütterte Kirche noch dadurch erhalten, dass er an sie die Gemeinschaften wie Seitenkapellen hinbaue; sie sollten die baufällig gewordene Kirche vor allem Zusammenbruch bewahren. Zwar müssten die wahrhaft an Christus Glaubenden damit rechnen, dass sie immer mehr zu einer Minderheit in der Kirche werden würden. Aber mancher Pfarrer müsse fast gegen seinen Willen anders predigen, solange Glaubende unter seiner Kanzel säßen, die für ihn beteten. Im Hungerjahr 1817 fing Kullen in Metzingen eine kleine Pri-vat-Lateinschule an. Er war geliebt und verehrt von seinen Schülern. Aber eine Lebensaufgabe war dies nicht. Denn ein Einkommen war damit nicht verbunden. Im Jahr 1819 reizte es darum Kullen, einen Ruf Spittlers aus Basel anzunehmen. Der hätte Kullen gerne nach Galizien zur Evangeliumsverkündigung unter Juden entsandt. Aber der Kreis pietistischer „Häupter“ in Stuttgart riet Kullen ab: „Deine Gesundheit ist geschwächt. Auch ist deine Stärke nicht das Missionieren und Evangelisieren, sondern vielmehr das Vertiefen im Glauben.“ Aber Kullens Anfrage kam dem Beraterkreis gerade recht; denn sie waren am Überlegen gewesen, wie es mit der eben gegründeten Brüdergemeinde Korntal weitergehen könne. Sie sahen es als Wink des Himmels an, das genau zu diesem Zeitpunkt Kullen gerade in ihre Zusammenkunft hereingeschneit gekommen war. Kurz entschlossen beriefen sie ihn nach Korntal, um dort eine höhere Knabenanstalt zu errichten. Kullen sagte zu, obwohl sein inzwischen verstorbener Vater in seiner großen Menschenkenntnis die Gründung von Korntal besorgt verfolgt hatte. Denn, so sagte er, „auch redliche Mitchristen haben sich oft viel zu wenig durch Jesus dazu bereitmachen lassen, solch ein Zusammenleben nach geschwisterlichen Ordnungen erträglich zu gestalten!“ Dreiundzwanzig Jahre Wirken in Korntal Korntaler Besucher sahen meist nur das Sonntagsgesicht der neuen Gemeinde. Sie waren beeindruckt von den gut besuchten Gottesdiensten, von den sommerlichen Gemeinschaftsstunden unter den Apfelbäumen im Institutsgarten, von den Jahresfesten. Einer der Teilnehmer sagte damals: „Wir kommen nach Korntal wie die Kaufleute auf die Frankfurter Messe: Da kauft man ganze Ballen Tuch ein, die man nachher wieder ellen-weise verkaufen kann!“ Hinter den Kulissen jedoch gab es manche Not: Räumliches Beengtsein, finanzielle Dauerebbe, Mitarbeitermangel, zwischenmenschliche Reibereien. Auch Kullen erlitt dies alles. Über der Kelter des früheren Gutshofes waren Schul- und Internatsräume samt Wohnungen für den Vorsteher Kullen und seine beiden Schwestern, sowie für den als „Inspektor“ eingeplanten Pfarrer Friederich eingerichtet worden. Zwischen 1819 und 1821 war jedoch die Zahl der Internatsschüler sprunghaft von 13 auf 40 gestiegen. Zu der räumlichen Enge kamen die materiellen Engpässe. Das Kostgeld war ohnehin niedrig angesetzt; trotzdem musste ein Teil der Zöglinge zu sehr ermäßigten Beiträgen aufgenommen werden. Wenn man Kullen Choräle durchs Haus singen hörte, wusste man im kleinen Korntal: „Er hat wieder einmal kein Geld mehr!“ Auch im Blick auf seuchenartige Erkrankungen unter den Schülern bekannte Kullen einmal: „Unser Haus ist ein Leidenshaus für alle, die darin mitarbeiten!“ Kullen selbst verzichtete auf einen wesentlichen Teil des ihm zustehenden Gehaltes und konnte trotzdem den Mitarbeitern nicht volle Entlohnung gewähren. Es war kein Wunder, dass es schwierig wurde, geeignete Mitarbeiter zu finden, die nicht bald wieder absprangen. Am Anfang waren Kullen die Sorgen im Heimbereich dadurch abgenommen, dass seine beiden Schwestern sich dafür verantwortlich wussten und auch ihm den Hausstand führten. Aber die ältere Schwester starb früh und die Schwester Christine heiratete den nach Korntal gerufenen Rettungshausvater Barner. Kullen fand in der schweizerischen Krankenschwester und Offizierstochter Therese Hurter die „ideale Frau“; auf sie hatte ihn die Schwester Christine aufmerksam gemacht. Sie war bereit, mit ihrem Mann die Tür des Knabeninstitutes weit offen zu halten, auch für Gäste und Besucher. Aber schon die Heimholung der jungen Ehefrau war überschattet von einem schweren Unfall: ein siebenjähriger Zögling geriet unter die Räder der Festkutsche. Das Bitterste war jedoch für Kullen, dass er nach nur fünf Ehejahren die geliebte Frau und damit auch die tüchtige Hausmutter verlor; sie starb von drei kleinen Kindern und von der stetig wachsenden Schar der „Internatskinder“ weg. Auch die zweite Gattin, die aus der Krim gekommene Kolonisten-Pfarrwitwe Wilhelmine Dietrich, geb. Reuß, starb nach kurzem Ehestand mit Kulten. Genau in jener schweren Zeit brach zweimal hintereinander im Knabeninstitut Feuer aus. Am schmerzlichsten war für Kulten, wenn es zu Reibungen mit engsten Mitarbeitern kam. Davon wurde nach außen hin kein Aufsehen gemacht. Aber offensichtlich war doch, dass Kulten und der „Knabeninstituts-Inspektor“ Pfarrer Friederich in ihrem Wesen total verschieden waren und auch im Blick auf Erziehungsmethoden unterschiedlich dachten. Deshalb wurde diese Arbeitsgemeinschaft gelöst. Noch weniger glücklich war es, als 1826 für die altsprachlichen Fächer der mit Hoffmann verwandtschaftlich verbundene Pfarrer Christian Baumann berufen wurde. Er war nervlich angeschlagen, krankhaft misstrauisch und überaus heftig gegen die Schüler. Kulten war für einen fröhlichen Geist im Internat und in der Schute; „denn auch die Vögel unter dem Himmel sind fröhlich, solange sie wachsen“. Frömmelnde Erziehung fürchtete er noch mehr als Vernachlässigung im Geistlichen. Seit seiner eigenen, damals etwas fanatisch frommen Jugendzeit hatte sich ihm die Warnung seines Vaters eingegraben: „Wie mancher Tor wird da gefällt, wo er Bekehrungsnetze stellt!“ Darum hieß es 1830 in Kul-lens Jahresbericht: „Im Religiösen wollen wir weise Gärtner sein und das Meiste den Wirkungen Gottes überlassen. Lieber bleibt ein Kind ohne Bildung, als dass man es verbildet.“ Kullen war in Korntal „der“ Repräsentant des vor allem auf Bengel zurückgehenden Pietismus (heute im Unterschied etwa zu den Hahn'schen und neupietistischen Gemeinschaften „Altpietismus“ genannt). Gerade als Sprecher des Altpietismus war er für Echtheit und Nüchternheit. Er schrieb anderen „Stundenhaltern“: „Geht doch weg von Euren Lieblingsstellen. Der Heilige Geist hat in der Bibel für uns viel mehr bereit! Wenn du erkennst, dass Jesus das A und das 0 ist, dann entdecke doch auch die Weite seines Königreiches!“ - Kullen hatte auch Sorge, es werde in den Gemeinschaftsstunden zu viel von der Sünde und von dem „Grundverderben der menschlichen Natur“ geredet. Man dürfe doch Jesus bitten: „Herr, mache mir die Sünde zum Ekel und lass mich doch ganz dein sein!“ Als in einer Korntaler „Stunde“ der Schuhmacher Adam Straub feurig und ernst, ja gesetzlich vom Christenstand gesprochen hatte, kam die Reihe an Kullen. Er griff all das auf, was Straub gesagt hatte, fügte aber hinzu: „Das können und das müssen wir nicht aus eigener Kraft schaffen. Der Heiland ist es, der es in uns wirken will!“ Nach jedem Punkt fragte er freundlich hinüber zu Adam Straub: „Gelt, so hast du's doch gemeint?“ Der nickte jedesmal und sagte: „Ja, so habe ich 's gemeint!“ Kullen lebte selbst im Geist der Freiheit. So trieb er das Tabakschnupfen seit seinem 30. Lebensjahr mit Genuss und darum von Jahr zu Jahr stärker, auch wenn es manche Leute befremdete. Seine Ehefrauen (nach dem Tod der beiden ersten Ehefrauen hatte sich Kullen 1833 wiederverheiratet mit der Töchterschullehrerin Luise Bothner) machten es Kullen möglich, dass er seine Vakanzen zu ausgedehnten „Brüderreisen“ benützen konnte. Besonders wichtig war für Kullen 1830 die Reise ins Rheinland und nach Wuppertal. Er nahm Kontakt auf mit Baron von der Recke und mit den Wuppertaler Pfarrern Sander und Lückinghoff. Im Barmer Missionshaus wohnte Kullen einer Beratung von Brüdern bei, die aus den Trümmern der bisherigen Kirche eine neue Kirche sammeln wollten. Kullen wandte zum Befremden der Geschwister ein: „Das ist gut gemeint! Aber auch bei den Frommen fehlt es an der inneren Einheit. Wenn nicht der Geist der Liebe dazukommt, genügt aller Eifer für die Wahrheit nicht!“ Beim Heimkommen nach Korntal rief Kullen aus: „Meine Gesundheit ist wieder gestärkt! Mein Gemüt ist heiter, mein Herz zum Umgang mit Gott gestimmt! Es ist mir um und um wohl!“ Mitten in der Blüte des Knabeninstitutes brach 1834 die Ruhr im Internat aus. Fast alle Zöglinge wurden schwer krank, sechs von ihnen starben. Die in der näheren Umgebung beheimateten Schüler wurden nach Hause entlassen. Für die Übrigen hatte der König in einem leerstehenden Seitenflügel des Schlosses Solitude (auf der Höhe über Korntal) eine seuchenfreie Erholungsmöglichkeit bereitgestellt. Kullen selbst war gesundheitlich und auch nervlich schwer angeschlagen und musste in der Schweiz Erholung suchen. Die Knabenanstalt wurde (ohne Lateinzug) durch Hauptlehrer Elsäßer weitergeführt. Kullen selbst wollte nicht mehr zurück in die Aufgabe der Schul- und Heimleitung. Er fühlte sich den Aufgaben nicht mehr gewachsen. Er wollte sich darum ganz der Pflege der pietistischen Gemeinschaften widmen. Vorsteher Gottlieb Wilhelm Hoffmann jedoch ließ ihn nicht einfach ziehen. Vielmehr übertrug er Kullen den Posten eines Vorstehers der durch Hoffmann selbst ins Leben gerufenen „höheren Töchterschule“ (Töchterinstitut). Unter Kullen blühte diese Arbeit so auf, dass das Töchterinstitut neun Jahre später über 100 Insassen zählte. Es war vermutlich die Krönung des Lebenswerks des Pädagogen und Christen Kullen, als Lehrer und Seelsorger unter Heranwachsenden jungen Frauen wirken zu können. Viele von ihnen wurden später zu „Säulen“ in der Christenheit Württembergs, Badens und der Schweiz. Nicht wenige von ihnen wurden Lehrerinnen und gaben auf diese Weise „Korntaler Erbe“ weiter. 1842 wurde klar, dass Kullens Kraft total verbraucht war. Keine Kur konnte ihn mehr kräftigen. Demütig sagte er in dieser Zeit der Schwäche: „Auf Kullen reimt sich nur Nullen!“ In den letzten Leidenstagen sprach er sich selbst immer wieder den Vers vor: „Du strafst uns Sünder mit Geduld und schlägst nicht allzusehr. Ja endlich nimmst du unsre Schuld und wirfst sie in das Meer“. Erst 55-jährig starb Johannes Kullen am 5. September 1842. Sein Grabstein ist bis heute neben dem Grab von Vorsteher Gottlieb Wilhelm Hoffmann zu finden. An Kullen erinnern bis heute in Korntal die nach ihm benannte „Johannes-Kullen-Schule“ auf dem Gelände des Kinderheimes und die „Kullen-Strasse“ im Zentrum des Gemeinwesens. 4. Christine Barner, geh. KuIIen (1795 - 1837) die erste württembergische Rettungshaus-Mutter Von der Not der Zeit nach Napoleon kann man sich heute keine Vorstellung mehr machen: Von den Seuchen, von der Armut, von den Steuerlasten. Dazu kamen quer durch Europa die Missernten und damit die Hungerjahre von 1817 und 1818. Am meisten mussten Kinder unter dem allen leiden. Ganze Banden von bettelnden Straßenkindern durchzogen die Dörfer, abgeschoben von den eigenen Eltern oder sogar von den heimatlichen Ortsbehörden. Trotz eigener Armut wollten Christen diese Misere nicht einfach als gottgegeben hinnehmen. Sie mussten einfach Hilfreiches tun. Modellhaft war das 1820 in Beuggen bei Basel gegründete Rettungshaus, geleitet vom genialen Pädagogen Christian Heinrich Zeller. Er kombinierte diese Auffangstation für verwahrloste Bettelkinder mit einer „Armenschullehreranstalt“. Junge Männer sollten dazu ausgebildet werden, in verarmten Dörfern für einen Hungerlohn die Lehrerstellen wieder zu besetzen. Dahinter stand die Überzeugung: Wir können doch nicht Missionare nach Ubersee aussenden, damit Heiden zu Christen werden - und zugleich untätig Zusehen, wenn aus getauften Kindern wieder Heiden werden! Für diese Doppelaufgabe - nämlich schulische und außerschulische Betreuung gestrandeter Kinder und Betreuung der in Ausbildung befindlichen „Armenschullehrer“- holte sich Rettungshausvater Zeller 1822 den besten Mitarbeiter, den er sich denken konnte: den ideenreichen und bewährten württembergi-schen Lehrer Andreas Barner (1793 - 1853). Das Beuggener Modell wurde in den folgenden Jahren an über 50 europäischen Orten kopiert. Unter ihnen war das gerade neugegründete und bis über die Ohren verschuldete Korntal die „Nummer 1“. Gottlieb Wilhelm Hoffmann hatte 1822 für „arme, verwahrloste, verwaiste und verlassene Kinder“ eine „Kinderrettungsanstalt“ ins Leben gerufen. Die Betreuung der ersten aufgenommenen Kinder lag in der Hand eines Handwerkers. Das war gut gemeint. Aber das Meiste von dem, was gut gemeint war, ist nicht gut. Der Handwerker war mit den riesengroßen pädagogischen Aufgaben überfordert. So entschlossen sich Hoffmann und die Korntaler Brüdergemeinde, Andreas Barner aus Beuggen abzuwerben. 1825 gab Zeller der dringlichen Korntaler Bitte nach. Barner wurde für die Korntaler Aufgabe freigegeben. Barner selbst nahm das Weggehen von Beuggen schwer. Schließlich verehrte er den Christen und Schulmann Zeller „fast abgöttisch“. Die Rettungshausmutter Noch mehr jedoch verehrte Barner die Beuggener Rettungshausmutter Sophie Zeller-Siegfried. In Beuggen hatte Barner erkannt: Die besten pädagogischen Konzepte sind ein Schlag ins Wasser, wenn es keine „Seele des Ganzen“ gibt. Eine solche Seele war Frau Zeller. Barner beschrieb sie so: „Wenn man Zellers unvergleichliche Gattin unter diesen armen Kindern wirken sieht, dann sieht man ein Christentum, wie es die Bibel meint. Im Arbeitszimmer Zellers stehen drei Bettlein. Sie gehören den drei jüngsten Knaben die Anstalt, die alle noch Bettnässer sind. Oft sind sie krank. Aber Frau Zeller steht mehrfach in der Nacht auf, um nach den Kindern zu sehen. Auch den Tag über sind die Anstaltskinder ihre Hauptsorge. Bald nimmt sie einen Kamm und reinigt einem nach dem andern die Haare; denn sie selbst besorgen das nur oberflächlich. Bald kniet sie einen halben Tag auf dem kalten Dachboden, um die Schmutzwäsche zu sortieren. Dann verbindet sie einem den Kopf, einem andern den Finger. Sie rennt unzählige Male die vielen Treppen auf und ab - vom obersten Stockwerk bis in den Keller -, nur um die Bedürfnisse eines jeden zu befriedigen. Natürlich hat sie auch Gehilfinnen. Aber sie selbst ist überall vorne dran und tut das, was andere nicht wollen oder nicht können. Das alles tut sie, als wenn sie nichts täte - voll solcher Demut und Bescheidenheit. Ja, sie hält sich nicht einmal für würdig, dies alles tun zu dürfen.“ Barner war noch unverheiratet, als er 1825 nach Korntal kam. Für die Korntaler Aufgabe brauchte er eine „Gehilfin“, die dem Leitbild „Sophie Zeller“ entsprach. Eigentlich gab es nur eine junge Frau, die er sich dafür vorstellen konnte und die er dazu-hin heiß liebte: Christine Kullen, die Schwester und Mitarbeiterin seines langjährigen Freundes Johannes Kullen. Sie war weise, einsatzbereit, selbstlos, liebevoll im Umgang mit Kindern. Sie hatte zusammen mit ihrer älteren Schwester Sophie dem unverheirateten Institutsvorsteher-Bruder den Haushalt geführt und die Zöglinge in der wachsenden Internatsanstalt betreut. Sie war musisch begabt; nicht selten sangen die drei Geschwister im Terzett - auch im Gottesdienst der Brüdergemeinde. Christines Liebe und Milde wurde auch von den Institutszöglingen gerühmt. Durfte er jedoch diese ideale „Hausmutter“ seinem Freund Johannes Kullen wegnehmen? Sie war doch gerade damals unersetzlich; denn die Schwester Sophie war nach schwerer Krankheit gestorben. Barner war unentschlossen, ja, wie gelähmt. Er konnte ja nicht ahnen, dass Christine ihn von Herzen liebte. Da nahm Christine die Zügel in die Hand. In Schaffhausen hatte sie eine junge Frau kennengelernt. „Johannes, das wäre die rechte Person für dich!“. Damit hatte sie ihren Bruder in Bewegung gebracht. So war es dazu gekommen, dass 1825 Johannes Kullen seine Therese Hurter und Christine Kullen ihren Andreas Barner heiraten konnten. Bei beiden Paaren war die Verheiratung weit mehr als eben eine Zweck-Ehe von Christen, die Gaben für eine Heimleitung hatten. Vom ersten bis zum letzten Tag waren diese beiden Ehen geprägt von herzlichster Liebe. Mit Christine und Andreas Barner kam ein neuer Elan in die Korntaler Kinderrettungsanstalt hinein. Barner gliederte dem Heim eine eigene Heimschule an. Er wollte auf die Situation eines jeden Kindes eingehen. Auch wollte er die Begabungsreserven mancher Kinder entdecken und fördern. Die Gemeindeschule Korntals hielt er damit für überfordert. Barner wollte auch nicht, dass die Heimkinder zu Außenseitern der Dorfkinder würden. Von den Heimeltern Barner wurden zuerst 70, dann aber über 100 Kinder betreut. Christine und Andreas verstanden sich als wirkliche „Eltern“ der armen Kinder, Christine hatte außergewöhnliche und pflegerische Gaben. Ihre Briefe waren voll von präzisen und zugleich anteilnehmenden Schilderungen von Krankheits- und Schulnöten einzelner Kinder. Oft musste bei vielen Krankheiten der Arzt bemüht werden. Das riss zwar weitere Löcher in die ohnehin arg strapazierte Kasse des Heimes; aber die Kinder sollten ja wieder zurechtkommen! Gerade auch dann, wenn die von Christine geschätzten homöopathischen Mittel nicht mehr anschlagen wollten! Der damalige Korntaler Pfarrer Sixt Carl Kapff schrieb über Christine: „Sie eignet sich so vorzüglich zur Armut und zur Niedrigkeit der Armenschulanstalt! Sie steht mit ihrem Mann der Anstalt so vor, dass wir am äußeren und inneren Gedeihen der Kinder deutlich wahrnehmen, dass die Arbeit gesegnete Früchte trägt.“ In einem Brief an den Hülbener Schulmeister-Bruder schrieb Christine einmal: „Wieder ist die ganze Haushaltungslast auf mich gefallen. Ich habe gemeint, ich könnte es nicht mehr aus-halten. Dazu kam all die Arbeit! Nie lässt sie uns fertig werden! Aber ich bin vergnügt unter meinen Kindern und schätze mich glücklich, dass Gott mir einen so schönen Beruf anvertraut hat." Der Ehemann Andreas Barner schrieb an den Rand des Briefes: „Heute fehlen uns arg die Erdbirnen (Kartoffeln). Zwar hat es auf unseren Äckern mehr gegeben, als wir erwarten konnten, nämlich achtzig Säcke. Aber davon haben wir schon seit eineinhalb Monaten gegessen. Im Vorjahr brauchten wir 200 Säcke, die meisten davon waren uns geschenkt worden. Könntet Ihr nicht helfen? Oder die Geschwister auf der Alb? Wir sind geneigt, den Fuhr-lohn zu zahlen. Könntest Du nicht einmal mit den Brüdern der Konferenz der monatlichen Hülbener Brüderzusammenkunft sprechen? Aber wir wollen niemand zum Gutes-Tun nötigen oder irgendjemand zu nahe treten.“ „Zu nahe treten“ wollte Christine auch keiner der Dienstmägde. Einmal war ihr der Geduldsfaden gerissen: Sie hatte eine Mitarbeiterin hart angepackt. Als diese dann losweinte, war es Christine „sehr arg“. Sie war „recht im Jammer“. Sie bekannte im Gebet ihrem Herrn Jesus, „dem lieben Heiland“, die Schuld: „Ach, ich habe so unweise gehandelt, weil mir schon lange die Liebe gefehlt hat!“- Kaum hatte sie so gebetet, da kam die belei- digte Magd zur Türe herein. Aber man spürte es ihrem Auftreten und Reden ab, dass für sie die ganze Geschichte erledigt war. Christine hatte auch sieben eigene Kinder. Sie wurden alle später Stammväter und -mütter von einflussreichen württember-gischen und badischen Christenfamilien (Barner, Mundle, Lang). Dazuhin sorgte sie in großer Liebe als „Vize“-Mutter für die Kinder ihres verwitweten Bruders Johannes. Wie liebevoll hielt sie Kontakt mit ihren vielen Patenkindern! Wie die biblische Eva war sie eine rechte „Mutter des Lebendigen“! Ihre Kraft zu dem allen holte sie aus der Bibel, aus Chorälen und anderen geistlichen Liedern. Die Gemeinde-Mutter Korntal war Christine zur rechten Heimat geworden. Sie wusste, dass Gottes Segen gehindert wird, wenn die beiden eigengeprägten Männer Vorsteher Hoffmann und ihr leiblicher Bruder, der Institutsvorsteher, aneinander gerieten. Sie hatte ein sicheres Gespür dafür, wenn Vorsteher Hoffmann einen Groll gegen Johannes Kullen in sich hineingefressen hatte. Als sie eines Tages den Eindruck hatte, es müsse eine Katastrophe ausbrechen, da schritt sie beherzt zur Tat. Sie schrieb „dem lieben Bruder Hoffmann“ ein „Zettele“. Ein Kind überbrachte die Botschaft dem Vorsteher. Auf dem Schrieb war nur gestanden: „Vergeben Sie bitte doch alles, was mein Bruder und was wir falsch gemacht haben. Wir alle werden großen Schaden leiden und im Christenstand abnehmen, wenn wir nicht wieder Zusammenkommen!“ Vorsteher Hoffman war drauf und dran gewesen, das Vorsteheramt niederzulegen. So hatte er sich brüskiert gefühlt durch eine Mehrheit im Brüdergemeinderat; sie war nicht auf seine Vorstellungen in einer schwierigen Personalentscheidung eingegangen. Dass es trotzdem danach wieder zu einem herzlichen Miteinander im Brüdergemeinderat und auch zwischen ihm und Kul-len kam, das hatte seinen Grund in Christines „Zettele“ und auch in den Gebeten, die jene Botschaft begleitet hatten. Christine konnte Spannungen erspüren, aber auch entschärfen. Sie war eine rechte „Gemeinde-Mutter“. Sie wollte nicht auseinanderdriften lassen, was doch zusammengehörte. Darum nahm sie sich die Freiheit, hochangesehene Männer „zur Sache“ zu rufen: „Wir wollen nicht im Christenstand abnehmen!“ Reif für Gottes Welt 1837 ging es mit der erst 42-jährigen Christine zum Sterben. Nach einer Totgeburt war sie körperlich und seelisch am Ende. Mitten in der Nacht wurde der Bruder Johannes an das Sterbebett gerufen, obwohl er damals selbst körperlich schwer angeschlagen war. Man hoffte darauf, er könne als großer Beter noch einmal Genesungskräfte bei Gott abrufen. Der Bruder Johannes hatte jedoch dazu keine Freiheit. Er stand unter dem Eindruck, dass Gott ihm das nicht zulasse. So sagte er Christine offen heraus: „Schwester, du bist reif für die Ewigkeit. Du wirst wohl heimgehen. Mache dich von allem los. Lege deine Kinder und deinen Mann Jesus hin. Sie sind in der Gemeinde; wir wollen für sie tun, was wir nur können. Aber nun schicke dich, zum Herrn heimzugehen!“ Das war kein unsensibles, frommes Geschwätz; denn Johannes Kullen hatte über dem schmerzlichen Tod seiner beiden Ehefrauen erlebt, wie die Brüdergemeinde in Notfällen zusammenstehen konnte. Christine ließ sich immer wieder die Strophe Vorsingen und vorbeten: „Den Armen und Elenden will Gott zum Segen wenden, was ihnen schwer will sein! Es gehe, wie es gehe, so weiß der in der Höhe schon Rat und Hilf für alle Pein.“ Bis heute erinnert auf dem Korntaler „Alten Friedhof“ ein gut erhaltener Grabstein an die im August 1837 verstorbene Christine Barner. In einem ergreifenden Brief klagte nach ihrem Sterben Andreas Barner: „0, die liebe, teure Christine! Ich war so glücklich durch sie! Und ich habe mein Glück doch nicht immer so geschätzt, wie es recht gewesen wäre! Aber der Herr deckt mir auch immer wieder auf, dass sie in meinem Herzen so viel Raum hatte, dass ER zu wenig Raum daneben hatte. Pfarrer Oberlin sagte, als seine Frau im Sterben lag: ,Lieber Gott, gib mir mein Lebtag nichts als Kartoffelschalen zu essen, lass mich Wasser aus einer Pfütze trinken, nur lass mir meine Frau!'. Newton sagte: ,Die englische Bank ist zu arm, um mir meinen Verlust ersetzen zu können!1 So wie diesen beiden Männern ist es auch mir zumute. Beide aber durften ihre Frauen viel länger behalten als ich!“ Einst hatte die junge Hülbener Schülerin Christine Kullen in ihr Heft geschrieben: „Es ist Gottes Gabe, eine ewige Hoffnung zu haben!“ Von dieser Gabe lebte sie, in dieser Hoffnung ist sie als „echte Korntalerin“ gestorben. 5. Johann Adam Straub (1776 - 1857) Schuhmacher, Stundenbruder, Brüdergemeinderat Korntal hatte Bedeutung für den Gesamtpieti'smus in Württemberg. Nicht jeder Zweig des Pietismus sollte eben „sein eigenes Gläuble“ haben. Vielmehr sollten sich die pietistischen Hauptrichtungen vereinen zu gemeinsamer Arbeit. Gottlieb Wilhelm Hoffmann verdankte den Herrnhutern ebensoviel wie den auf ein fröhliches Christsein gestimmten „Pregi-zern“, den von Johann Albrecht Bengel geprägten „Altpietisten“ ebensoviel wie den „Michelianern“ (so wurden die auf Michael Hahn zurückgehenden „Stunden“ genannt). Die Brüdergemeinde Korntal jedoch erhielt ihre Prägung ganz stark durch die Altpietisten und die Michelianer; ihre Gemeinschaften aus dem ganzen Land trugen auch finanziell die Hauptlast Korntals und Wilhelmsdorfs. In den Sonntagabendstunden im Saal wirkten Sprecher beider Richtungen einträchtig zusammen. Zusammenwirken sollten auch Schlüsselpersonen beider Richtungen bei der Gestaltung des Gemeindelebens. Es war keine „versöhnte Vielfalt“, wie man heute - Unterschiede kaschierend - sagt, sondern es war eine „vielfältige Einheit“. Um 1825 hatte jedoch der Altpietismus in den Gestalten von Institutsvorsteher Johannes Kullen und von Armenschulanstaltsleiter Andreas Barner ein gewisses Übergewicht in Korntal; die als Vorsteher ursprünglich vorgesehenen Männer Michael Hahn und Israel Kaufmann waren unerwartet verstorben; beide waren ent- scheidende Gestalten der neuen pietistischen Richtung der „Michelianer“. Hoffmann setzte alles daran, den jungen „Miche-lianer“-Lehrer Johann Friedrich Maier (1802 - 1880) für Korntal zu gewinnen. Das gelang jedoch erst 1831, nachdem finanzielle Bedenken im Brüdergemeinderat überwunden worden waren. Bis dahin vertrat der liebenswert-schlichte Schuhmacher Adam Straub den Korntaler Flügel der „Michelianer“. Von echtem Schrot und Korn Nur äußerliche Frömmigkeit stieß den jungen Schuhmacher Adam Straub aus Zell bei Kirchheim/Teck ab. Als er hörte, in England gebe es „bessere Christen“ als in Deutschland, machte er sich auf die Wanderschaft. Aber schon kurz vor Stuttgart überfiel ihn die Angst vor der Fremde. So blieb er, wo er gerade war, nämlich in Strümpfelbach im Remstal. „Dort hat mich der Vater zum Sohn Jesus gezogen“, so sagte er später wieder und wieder. Es kamen harte Bewährungsjahre. 23-jährig wurde er im Jahr 1800 als Soldat nach Ludwigsburg eingezogen. Damals war die Zeit der „Koalitionskriege“. Europäische Mächte hatten sich zusammengetan, um das Revolutions-Frankreich und danach das napoleonische Frankreich in seine Grenzen zu weisen. Genau das Gegenteil jedoch geschah: Das Unheil von Westen her ließ sich nicht aufhalten. Der württembergische Kurfürst Friedrich profitierte vom schmählichen Ausgang: Er ließ sich zum König von Napoleons Gnaden machen. Leiden mussten jedoch seine würt-tembergischen Soldaten. Unter ihnen war Adam Straub. Er geriet in französischer Gefangenschaft bis nach Bayonne. Als er schließ- lieh entlassen worden war, holte man ihn 1805 noch einmal zur Armee. Aber auch in diesem vierten Koalitionskrieg gab's nur Rückzug und Niederlagen für die Württemberger. Es war kein Wunder, dass Straub die Aufforderung ausschlug, Berufssoldat zu werden. Trotzdem hat die Soldatenzeit Straub für das ganze Leben geprägt. Als er in hohem Alter vergesslich geworden war und sich dann und wann verlaufen hatte, versuchten treue Nachbarn, ihn an die Hand zu nehmen und ihn wieder nach Hause zu bringen. Aber er konnte dann recht heftig werden. Er wollte nicht gegängelt werden. Darum konnte er in solchen Situationen drohen: „Wart, wenn ich noch Soldat wäre, dann wollte ich mit dir schon fertigwerden!“ Als Stundenbruder hatte er oft das soldatische Bild gebraucht: „Christen sollen so fest in der Gnade sein, dass nichts sie mehr aus dem Sattel heben kann. Ein Christ soll immer so gerüstet sein und parat stehen wie ein tüchtiger Kavallerist, der jeden Augenblick rechts oder links sein Pferd besteigen und in den Kampf rennen kann!“ Vor allem half ihm die Kriegszeit, sein Christsein zu bewähren. Schon in der Ludwigsburger Ausbildungszeit bestaunte man Straub wie ein exotisches Tier, der ganz offen seine Bibel las. Jedoch bald kamen die ersten Kameraden, die seinen seelsor-gerlichen Rat suchten. Eines Abends wurde beim Zapfenstreich entdeckt, dass Straub fehlte. Der Hauptmann, der Straub schätzte, sagte lachend: „Der ist nicht durchgegangen. Keine Sorge! Der sitzt sicher bei seinen Pietisten drüben im Haus Weigle und hat vergessen, wie spät es ist!“ Als Straub endlich auftauchte, musste er sich bei den Offizieren melden. In seiner Angst überlegte er sich Ausreden. Aber dann wurde ihm das Jesuswort bewusst: „Die Wahrheit wird euch freimachen!“ So sagte er: „Ich war bei den Stundenleuten und habe die Zeit ganz vergessen!“ In das Lachen der Offiziere hinein sagte der Hauptmann wohlwollend: „Ich hab's euch ja gleich gesagt!“ Die nur kurz ausgebildeten Württemberger wurden an den Rhein verlegt, aber von dort von den Franzosen durch den ganzen Schwarzwald bis in die Gegend von Ulm gejagt. Wundgelaufene Füße machten allen Soldaten zu schaffen. Noch verzagter jedoch wurden die paar Christen in Straubs Einheit, als ein Abgesandter von Michael Hahn sie aufsuchte und ihnen in Gedichtform eine Botschaft ausrichtete: „Christus im Herzen, Säbel in Händen, schicket sich just wie die Faust auf das Aug’!“ Was sollten sie tun, die verzagten Soldaten? Sollten sie desertieren? Straub sagte in geistlicher Wachheit: „Wir haben uns nicht freiwillig gemeldet! Wir gehören Gott. Er hat es zugelassen, dass wir Soldaten werden mussten. Er wird uns nicht verstoßen, sondern durchbringen!“ Das haben sie dann ein paar Tage später mutmachend erfahren. Sie sollten im Bayerischen einen Trupp Franzosen aus einem Waldstück vertreiben. Scharfe Patronen wurden ausgeteilt. Straub betete: „Herr, schicke doch einen Geist der Angst unter die Franzosen! Ich will doch niemand totschiessen!“ So kam es. Nach dem Durchkämmen des Waldes sahen sie in der Ferne die Feinde truppweise flüchten, weit außer Reichweite der altertümlichen Gewehre. In der Schlacht von Höchstett musste Straub seinen Tornister wegwerfen. In dem war jedoch sein Neues Testament. Straub schrie zu Jesus: „Herr Jesus, ich kann doch nicht durchkommen ohne dein Wort! Du musst mir einfach wieder eine Bibel besorgen!“ Wenig später drückte ihm ein Kamerad ein nagelneues Neues Testament mit Goldschnitt in die Hand. „Wieviel willst du denn dafür“, fragte Straub. „Ach was, nichts!“, war die Antwort, „als ich das Buch fand, dachte ich: Der Straub kann's brauchen. Nimms!“ Straub verließ sich auf Jesus. Er wollte sich nicht an Plünderungenbeteiligen. Lieber wollte er vor Hunger umkommen. „Herr, du kannst mir doch geben, was ich brauche!“ Das war sein Gebet. Darum wollte er auch nicht bettelnd die Hand ausstrecken, als der Zug mit den württembergischen Kriegsgefangenen über Lindau und die Schweiz nach Basel getrieben wurde. Dort in Basel erlebte er dann, dass ein junger Mann ihm ein Geldstück in die Hand drückte mit den Worten: „Weil Sie nicht gebettelt haben!“ Von den Kasematten der französischen Festung Hueningen aus ließ er den Baseler Gemeinschaftsgeschwistern die Bitte zukommen: „Schickt mir doch ein wenig Schuhmacherwerkzeug!“ Sie halfen umgehend. Nun konnte Straub die Lederbesätze an den Tschako-Helmen abtrennen und die längst durchgelaufenen Stiefel der Kameraden neu besohlen. Später - gerade auch in den mehrmonatigen Kriegsgefangenschaften - sagte er tröstend den Mitgefangenen: „Keine Angst, wir kommen bald wieder heim! “ Als er gefragt wurde, woher er das wissen wolle, da sagte er nur - im Gedanken an Jesus: „Ich habe einen Bekannten ganz oben bei Hof, der hat mich's wissen lassen!“ Nach seiner Rückkehr in die Heimat besuchte er - noch in voller Soldatenmontur - den verehrten Michael Hahn. Der nahm sich Zeit für den Krieger. Eine Stunde lang fragte er ihn aus, wie sich denn das Soldatenleben vereinen lasse mit dem Christsein. Straub erzählte all das, was er mit seinem Herrn Jesus erlebt hatte. Er ließ auch das nicht aus, dass der nach Ulm überbrachte Vers seine Freunde und ihn geschmerzt habe. Hahn ging lange wortlos im Zimmer auf und ab. Dann ging er auf Straub zu, gab ihm die Hand mit den Worten: „Du bist doch noch der Gescheiteste gewesen, gescheiter als ich!“ Von da an hat Michael Hahn die Brüder im Soldatenstand anders behandelt. Fürbittend hat er ihrer gedacht. Für Straub war das wie ein Ritterschlag: Auch unter widrigen Umständen kann man sein Christsein bewähren! Belastungs-Tests Als er 1808 in das elterliche Haus in Zell zurückkam, war Straubs Mutter gestorben. Der Vater war schon früher verstorben. Nun musste Straub der Ernährer seiner Angehörigen sein. In der „Stunde“ am Ort wollte man den erst 32-jährigen, bisherigen Soldaten nicht „reden“, d.h. die Bibeltexte auslegen lassen. Aber er durfte Fragen für die Brüder formulieren (So hatte sich einst l675 Philipp Jakob Spener die „Privatversammlungen“ vorgestellt! In Fragen und Antworten sollten Bibeltexte besprochen werden.). Aber Straub zeigte mit seinen Fragen so viel Einblick in die Bibelabschnitte, dass Geschwister mit der Bitte in sein Haus kamen, er möge ihnen doch zusätzlich zur „Stunde“ Gottes Wort auslegen. Das war der Anfang einer ganzen Reihe von Gemeinschaften, die Adam Straub in der heimatlichen Region ins Leben rief. Die Folge davon war, dass er von Pfarrern und vom zuständigen Kirch-heimer Dekan beim Oberamt verklagt wurde. Im Verhör gab Adam Straub so gute Antworten, dass schließlich der Oberamtmann den Dekan anfuhr: „Sie sehen doch, dass dies kein Separatist ist, sondern ein echter Pietist!“ Trotzdem musste der Oberamtmann, um es nicht mit dem Dekan zu verderben, Straub für 48 Stunden ins Gefängnis legen. Bei der Entlassung jedoch sagte der Oberamtmann: „Mein lieber Straub, Sie sind zu Unrecht gekreuzigt worden!“ Aber auch Zeller Mitbürger waren Straub nicht wohlgesonnen. So brachte ihm eines Tages ein armer Mitbürger seine zerrissenen Schuhe. Straub machte ihm aus dem besten Stück guten Ochsenleders neue Sohlen auf die Stiefel, ohne einen Kreuzer mehr dafür anzurechnen. Aber er sagte beim Abholen der Schuhe: „Mit diesen Sohlen kannst fast ein Jahr lang getrost gehen!“ Der beschenkte Tagelöhner jedoch streute im Dorf das Gerücht aus: „Jetzt habe ich den Beweis dafür, dass der Straub verrückt ist!“ Als er jedoch noch nach einem Jahr keine neue Sohlen brauchte, war er so fair, im Dorf seinen Klatsch zurückzunehmen. Zu Beginn des Hungerjahres 1816 bekam er den Rat, er solle doch Dinkel aufkaufen, so viel er nur könne. Der Preis werde bestimmt steigen. Dann könne er mit dem Getreide viel Geld machen. Straub antwortete: „Mein Heiland ist kein Kornhändler gewesen. Wenn mein Heiland teure Zeit schickt, dann will auch ich in solcher Zeit leiden!“ Straub in Korntal „Korntal ist genau der richtige Platz für dich!“ So wurde Straub von Geschwistern aus dem Kreis der „Michelianer“ geraten. Eigentlich freute er sich auf die Gemeinschaft mit Israel Kaufmann; darum gab er das Hauswesen in Zell auf und zog mit seiner Schwester und dem verheirateten Bruder in die neugegründete Gemeinde. Aber Israel Kaufmann verstarb und Adam Straub musste die Stelle der Schlüsselfigur der „Michelianer“ einnehmen. Gottlieb Wilhelm Hoffmann schenkte ihm ganzes Vertrauen. Zuerst sollte er den Getreidestand überwachen. Straub erschrak, als er die mageren Äcker beim Schloss durchstreifte. Wie sollten denn die Familien mit den vielen kleinen Kindern durch- kommen? Wie dankte er Gott, als auf einigen Äckern weiter die Frucht dicht und schön stand! Als Hoffmann dann einen Brüdergemeinderat ins Leben rief, ließ Straub sich hineinwählen. Auch führte er 27 Jahre lang das Amt des Steuereinnehmers. Besonders treu nahm sich Straub jedoch um den geistlichen Grundwasserspiegel der Brüdergemeinde an. Im Saal hatte er wegen seines aus den Kriegen mitgebrachten Gehörleidens seinen Platz neben dem Prediger. Oft wurde er gebeten, auch das Wort zu nehmen. Manchmal wollte es ihm aber auch zu viel werden, bei all den Versammlungen und Betstunden der jungen Gemeinde anwesend sein zu müssen. Das gab er ehrlich zu. Aber er sagte: „Meine Natur sagte zu mir: 'Du wirst doch nicht jeden Abend hinüber in den Saal gehen, wenn dort Betstunde ist. Es genügt doch, wenn du in deinem Kämmerlein für dich betest!' Da sagte ich zu meiner Natur: ,Wenn du schon so große Freude am Gebet im Kämmerlein hast, so will ich jeden Abend mit dir ins Kämmerlein gehen. Aber dann musst du auch mit mir jeden Abend in den Betsaal zur Betstunde gehen!' Über dieses Abkommen ist meine Natur so erschrocken, dass sie mir nie mehr dreinredete.“ Auch konnte er sagen: „Wenn ich noch so müde war, habe ich meiner Natur nie in einer Versammlung einen Schlaf erlaubt!“ Mit Vorsteher Hoffmann war Straub eng verbunden. Der ehelos gebliebene Straub besuchte Hoffmann und seine Familie fast täglich, meist eine Stunde lang. Hoffmann nahm den Bruder Straub gerne mit auf Reisen, besonders auch nach Wilhelmsdorf. Zwar war Adam Straub kein Redner, der in seinen geistlichen Ansprachen einen logischen Aufbau hatte. Sein Bibelauslegen geschah mehr in der Form von einzelnen Gedankensplittern. So ähnlich haben es ja auch die rabbinischen Ausleger gehalten. Besonders wichtig war ihm, Menschen wach und bereit zu machen für den sicher bald wiederkommenden Jesus. Die Wiederkunft Jesu zu seinen Lebzeiten noch mitzubekommen, war sein höchstes Sehnen. Lebenslang ließ er sich nicht irremachen in der Auffassung, dass der „Bergungsort“ in der Not letzter antichristlicher Verfolgung in Russland sein müsse. Adam Straub konnte sogar Johann Albrecht Bengel verteidigen, sogar noch dann, als das durch Bengel errechnte Jahr 1836 ohne das Wiederkommen Jesu verstrichen war: „Nein, verrechnet hat der sich nicht! Er hat bloß nicht die .Verzugszeit1 mitbedacht. Von ihr hat Jesus gesprochen, als er im Gleichnis sagte: 'Da aber der Bräutigam verzog'!“ In früheren ausführlichen Berichten über Adam Straub wird nirgends erwähnt, was heute über ihn berichtet wird: Er habe nämlich bei der Feldarbeit seine Jacke am östlichen Rand des Ackers abgelegt; denn er wolle, wenn Jesus wiederkomme, nicht noch zurücklaufen und seine Jacke holen müssen. Nie ließ sich Straub von dem abbringen, was er einmal für richtig erkannt hatte. Auch nachdem Napoleon längst auf St. Helena gestorben war, blieb Straub überzeugt: „Ich habe ihn bei der Parade in Ludwigsburg gesehen. Er ist der Antichrist. Mir ist damals ein eisiger Schauer durch den ganzen Leib gegangen. Schließlich sagt doch die Offenbarung vom Antichrist: 'Der, der gewesen ist und jetzt nicht ist, der wird wiederkommen'!“ Nicht abbringen ließ sich Straub auch von der festen Überzeugung, dass Pfarrer Ignaz Lindl nicht der richtige Pfarrer für Korntal sein könne. Nach dem Tod von Pfarrer Friederich und nach der etwas schwierigen Überbrückungszeit mit Pfarrer Baumann war man in Korntal auf dringlicher Suche nach einem Gemeindeseelsorger. Lindl schien für viele der rechte Mann zu sein. Er stammte aus der „Allgäuer Erweckungsbewegung“ unter katholischen Priestern. Als feuriger Verkündiger war er nach St. Petersburg gerufen, dann vom Zaren zum katholischen Propst für Südrussland eingesetzt worden. Die Siedlergemeinden in Bessa-rabien hatten ihn zu ihrem „geheimen Bischof“ gemacht. Er galt als „evangelischer Wahrheitszeuge“. Bei den Probepredigten in Korntal war besonders die Jugend hellauf begeistert; manche Zuhörer wurden während der Verkündigung Lindls ohnmächtig. Adam Straub jedoch wurde klar: „Aha, das ist nicht lauter heiliger Geist! “ Beim Abschied war eigentlich schon ausgemacht, dass Pfarrer Lindl die Korntaler Pfarrstelle übernehmen würde. Aber Adam Straub begleitete den Abreisenden in der Kutsche bis Heilbronn. Lindl war über das Ehrengeleit beglückt. Straub jedoch sagte in seiner kargen Art: „Ich komme mit Ihnen, weil wir ja nicht wissen, ob wir uns in unserem Leben noch einmal sehen werden!“ Für Lindl war das wie ein Donnerschlag. Entgegen aller Abmachungen meldete er sich nie mehr in Korntal. Für Straub brachte dieser Zwischenfall manchen Ärger, den er aber lächelnd ertrug. Er ertrug es sogar, als ein Betstündlein einberufen wurde zu dem Zweck, Gott möge doch den Bruder Straub umstimmen oder ihn von dieser Welt rasch wegnehmen. Straub blieb bei seiner Meinung: „Wir brauchen keinen Fantasten, sondern einen bewährten einheimischen Theologen!“ Streng und eisenfest in seinen Überzeugungen, aber aufrichtig, das war Adam Straub. Umso glücklicher war er darum, als 1833 Pfarrer Sixt Karl Kapff, ein enger Freund von Dr. Wilhelm Hoffmann, sich als Pfarrer nach Korntal rufen ließ. 1832 hatte dem damals 56-jährigen eine Halsschwindsucht schwer zugesetzt. Freunde waren von seinem baldigen Tod so überzeugt, dass sie rieten, von ihm letzten Abschied zu nehmen. Straub jedoch sagte kalt: Ihr werdet euch noch brennen!“ Erst in hohem Alter von 81 Jahren ist er 1857 nach langer Zeit großer körperlicher und geistiger Schwachheit gestorben. Einer seiner oft geäußerten geistlichen Gedanken hieß: „Führe dein Christenleben so, wie es dein lieber Heiland gemacht hat! Er ließ sich alle Morgen das Ohr öffnen für das, was ihn sein himmlischer Vater jeweils lehrte. Gewöhne auch du dich so an die gute Hirtenstimme! Denn alles, was dir begegnet, es sei Verlust oder Gewinn, ist eine Sprache deines Herrn!“ 6. Johann Friedrich Maier ( 1802 - 1880) Lehrer, Chorleiter, Landeskatechet 41 Jahre lang, von 1831 bis 1872, ist Friedrich Maier Gemeindeschullehrer in Korntal gewesen. Aber die Gaben seines fröhlichen Christseins und des packenden Erzählens biblischer Geschichten hat er mit Gemeinden im ganzen württembergischen Land geteilt. Wenn ein Gemeindefest oder ein Jahresfest einer dia-konischen Anstalt gelingen sollte, dann hiess es: „Da muschd oifach da Korntaler Maier hola!“ Darum gab man ihm auch den Ehrentitel eines „Landeskatecheten“. Ein Freund dichtete: „Von Dan an bis gen Bersaba / kennt man den lieben Maier ja / an seinem Gang voll edler Würde, an seinem Haupt in weißer Zierde, an seiner Liebe im Gesicht, g'rad dann, wenn er mit Kleinen spricht; an seiner echten Kindlichkeit, die uns so wohltut jederzeit, und die - zuvörderst von den Gästen - gerühmt war bei den Jahresfesten. Sie schmückte ihn zu Gottes Preis / im Lehrerund im Brüderkreis. Drum, wo er immer trat herein, da freute sich gleich Groß und Klein, und nahm das lebensvolle Wort des Gottesknechts im Herzen fort. So trieb man's dutzendweise ja/von Dan an bis gen Bersaba.“ Er ließ sich rufen Friedrich Maier ließ sich nicht nur zu Jahresfesten im ganzen Land „rufen“. Sein ganzes Leben und Wirken kann überschrieben werden mit dem Satz: „Er ließ sich rufen!“ Der ohne den frühverstorbenen Vater aufwachsende Dagers- heimer Bauernbub wurde, als er gerade fünf Jahre alt geworden war, vom örtlichen Schulmeister gerufen: „Für dich ist's höchste Zeit, dass du in die Schule kommst!“ Der als „Haupt“ der „Miche-lianer“ (also der Michael-Hahn’schen Gemeinschaft) weit im Land bekannte, einflussreiche Immanuel Gottlieb Kolb (1784 -1859) war dieser Dorflehrer. Er hatte die Gaben des heranwach-senden Bübleins erkannt. Darum wollte er seine Fähigkeiten so früh wie möglich entwickeln. Dabei bewahrte Kolb sein Grundprinzip: „Wenn ich einem Menschen nicht mit wenigen Worten viel sagen kann, so kann ich ihm auch mit vielen Worten nur wenig sagen.“ Er überschüttete Friedrich weder mit Wissen noch mit religiöser Geschwätzigkeit. Aber er wirkte auf ihn ein durch sein Vorbild eines fröhlichen Christseins; „denn“, so konnte er sagen, „wer mit Jesus lebt, hat kein Recht, ein Kopfhänger zu sein!“ Friedrich Maier nahm wie ein trockener Schwamm alles auf, was er von Schulmeister Kolb hörte. Darum rief der Lehrer ihn in die Aufgabe, die mehrklassige Schülerschar zu unterweisen, wenn er selbst wegen immer wiederkehrenden Kieferentzündungen am Sprechen gehindert war. Als Kolb sah, wie geschickt Friedrich mit den fast gleichaltrigen Schülern umging, bekam er Mut zum nächsten „Ruf“: „Fritz, du musst einfach Lehrer werden!“ Er selbst bildete ihn - wie das damals üblich war - aus, sorgte aber auch dafür, dass er auch noch bei anderen erfahrenen Lehrern Anstöße bekommen konnte. Nach dem geglückten Examen wäre Friedrich Maier sicher gerne auch auf „eigenen Füßen“ gestanden. Wieder war da jedoch ein „Ruf“, dem er sich nicht entziehen konnte: „Komm bitte zurück zu uns nach Dagersheim!“ Zurück zur energischen Mutter, vor allem zurück zu Schulmeister Kolb! Der 18-jährige gehorchte. Sieben Jahre lang half er mit als „Lehrgehilfe“ in der Dorfschule, als „Knecht“ auf dem elterlichen Hof, als „Privatsekretär“ des Gemeinschafts-“Hauptes“ Kolb, als „Ordnungsdienst“ bei den überfüllten Dagersheimer „Stunden“ und als „Tischdiener“ für die vielen Gäste im Schulhaus. Nichts war dem jungen Schulmeister-Anwärter zu viel! Es ist das Verdienst von Schulmeister Kolb gewesen, dass er die manchmal auch tiefsinnigen Betrachtungen von Michael Hahn verständlich gemacht und mit praktischen Nutzanweisungen versehen hat. Das Verdienst jedoch von Friedrich Maier war es, die insgesamt zwölf Bände der Kolbschen Schriften in tadelloser Handschrift für den Druck vorzubereiten und die Register zu fertigen. Kolb ließ sich nicht von jedem bedenkenlos rufen. Noch nicht einmal vom württembergischen König. Der hatte von der exzellenten, gestochen klaren Handschrift Maiers gehört. Er wollte ihn zum Sekretär in seinem „Geheimen Kabinett“ machen. Der Korntaler Vorsteher Hoffmann jedoch wehrte sich: „Euer Majestät, den brauchen wir einmal in Korntal; den kann Euer Majestät nicht haben!“ Maier wurde durch die sieben Jahre bei Kolb in Dagersheim ganz entscheidend geprägt: als seelsorgerlicher Mensch, als Lehrer, als Christ, als Hahn'scher Gemeinschaftsmann. Aber dann war es höchste Zeit, als Lehrer auch eine eigene Stelle zu bekleiden. Die Schulbehörde berief den 25-jährigen in das „neu-würt-tembergische“ Oberland, nämlich in die ehemals „Freie Reichsstadt“ Isny. Zusätzlich zu den Aufgaben als „Elementar-Lehrer“ ließ sich Maier vom christlichen Unternehmer Schlegel rufen, als Hauslehrer bei den Fabrikantenkindern zu wirken. Nicht genug! Er gründete eine kleine pietistische Gemeinschaftsstunde; denn er konnte sich nicht damit abfinden, dass für den normalen Isny-er das „Evangelisch-Sein“ sich darin erschöpfte, katholische Riten nicht mitmachen zu müssen. Das „Jesus-Evangelium“ bekannt und lieb zu machen, das war Maier Herzensanliegen -auch bei den ihm anvertrauten Schulkindern. Auch die Belebung der etwas kargen Isnyer Gottesdienste war ihm wichtig. Darum rief er einen Kirchenchor ins Leben. Friedrich Maier ließ sich rufen, auch nach Korntal. Zu diesem Ruf „ja“ zu sagen, war dem in Isny hochgeschätzten Lehrer nicht leicht gemacht worden. Zwar wusste Maier, wie überaus dringlich Vorsteher Hoffmann ihn auf der frei gewordenen Schulmeisterstelle der Korntaler Gemeindeschule haben wollte. Aber, aber...! Um die Berufung gerade von Maier hatte es im Korntaler Brüdergemeinderat Streit gegeben: Die Mehrheit des Brüdergemeinderates hatte den Eindruck bekommen, Gottlieb Wilhelm Hoffmann habe ohne Rücksprache mit den verantwortlichen Brüdern hier etwas „über's Knie gebrochen“. Über den Spannungen war Hoffmann beinahe als Vorsteher zurückgetreten. Schließlich jedoch hatte Hoffmann seinen Kopf durchgesetzt - auch gegen Johannes Kullen, Andreas Barner und andere mitleitende Brüder. Denn Hoffmann wollte unbedingt einen hochqualifizierten Lehrer auf der Stelle haben, dazuhin einen bewussten Christen, der den „Hahnischen“ Flügel der Brüdergemeinde entscheidend verstärken konnte. Dass die Korntaler Stelle finanziell viel schlechter besoldet war als die einträgliche Stelle in Isny, machte dem damals unverheirateten Maier wenig aus. Aber er wollte doch nicht der Anlass für Meinungsverschiedenheiten und für Spannungen in der Brüdergemeinde sein! Seine Bedenken wurden erst dann überwunden, als Schulmeister Kolb und andere leitende Hahn'sche Brüder ihn wissen ließen: „Gerade wegen unserer Sorge um die Zukunft der Brüdergemeinde würdest Du uns einen Gefallen erweisen, wenn Du den Ruf annehmen würdest!“ Kurz: Er ließ sich rufen! Das hat Gott gesegnet. In kurzer Zeit war von Spannungen keine Rede mehr. Maier fand den Schlüssel zu den Herzen der Kinder und der Verantwortlichen der Brüdergemeinde. Johannes Kullen bat ihn sogar, einige Lektionen am „Kul-len'schen“ Töchterinstitut zu übernehmen. Bald wurde Maier zum Mitglied des Brüdergemeinderates gewählt. Ihm wurde die Verantwortung für die Opferkasse der Brüdergemeinde und für die Kasse der „Güterkaufsgesellschaft“ übertragen. Täglich war er Gast an Hoffmanns Mittagstisch, bis er sich 1832 mit Friderike Bazlen verheiratete, einer bewährten Lehrerin an der Kinderrettungsanstalt. Rufen ließ sich Schullehrer Maier auch als Leiter des Kirchenchores der Brüdergemeinde. Der Chor sollte nicht hängenbleiben am bisher gewohnten Liedgut. Maier setzte halbe Nächte daran, um Noten abzuschreiben. Er komponierte sogar selbst Sätze. Aber das Wichtigste war ihm: „Wir müssen betend singen und singend beten!“ Eines Sonntags sagte eine Sängerin zu Maier: „Heute haben wir fast umgeschmissen!“ Da erwiderte Maier: „Heute haben wir die ganze Gemeinde erbaut!“ Denn Friedrich Maier war davon überzeugt: Gott wirkt durch seine Leute dort am meisten, wo sie sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewusst sind! Berufen zur Selbstverleugnung Friedrich Maier war Lehrer „aus Berufung“. Aber auf seinem Berufsweg hatte es auch Stationen und Kreuzungen gegeben, da es ihm nicht leichtgefallen war, einen Ruf zu bejahen. Etwa damals, als er die Vorstandschaft der Rettungsanstalten übernehmen sollte. Noch einschneidender dann, als er vom schwerkranken Gottlieb Wilhelm Hoffmann vertretungsweise das Vorsteheramt übernehmen musste. Schon bei der Übernahme der - meist leeren - Kassen ließ Maier hören: „Jetzt hat man mir das Weichste anvertraut, nämlich die Kinderherzen - aber auch das Härteste, nämlich das Geld!“ So etwas war aus dem Mund von Lehrer Maier nur selten zu hören. Denn es war seine Überzeugung: „Ein Christ muss sich den Tag über hundertmal verleugnen, aber so, dass es die Umgebung nicht merkt!“ Mit seinem ganzen Leben und Wirken wollte Friedrich Maier dem Jesus gehören, von dem es in der Bibel heisst: „... der verleugnete sich selbst!“ Als Lehrer wollte er bewusst nicht hart auftreten. Es widerstrebte ihm, Kinder zu strafen. Das haben nicht selten die älteren Burschen ausgenützt. Wenn dann Geschwister in der Brüdergemeinde kritisch anmerkten: „Heute ist's ja in der Schule offenbar wieder drunter und drüber gegangen!“, dann sagte sich Maier selbst vor: „Zum Demütigen ist alles recht!“ Am allerliebsten hat Lehrer Maier mit den Schulkindern gesungen. Wenn sie gegen Ende eines langen Vormittags nicht mehr recht aufnahmefähig zu sein schienen, konnte er sagen: „Jetzt wollen wir noch ein halbes Stündchen singen!“ Nicht selten wurde dann aus der halben Stunde eine ganze oder sogar mehr! Vorsteher Hoffmann machte sich zu Recht Sorge um das wirtschaftliche Auskommen von Lehrer Maier, auch um die eventuelle Versorgung seiner Angehörigen im Fall eines frühen Todes. Denn beim Annehmen der Berufung nach Korntal hatte Maier die staatliche Pensionsberechtigung verloren. Gerade damals, im Jahr 1837, war die staatliche Pensions- und Witwenkasse der Volksschullehrer ins Leben gerufen worden. Hoffmann bot Lehrer Maier an, dieser Kasse beizutreten; die Brüdergemeinde würde dann die auf sie zukommenden anteiligen Beiträge übernehmen. Maier antwortete postwendend mit einem eindrücklichen Brief: ,,Wenn ich von der Schulbehörde etwas empfange, wird diese auch verlangen, dass ich mich nach ihren Gesetzen, auch nach noch möglichen künftigen Gesetzen richte. Aber ich will auf dem Weg der Brüdergemeinde bleiben; darum entsage ich allen Versorgungsansprüchen. Ich tue das in der Überzeugung, dass Gott mir und den Meinen täglich das nötige Brot in Gnaden verleihen wird.“ Im 70. Lebensjahr legte Maier sein Schulamt nieder. Umso mehr setzte er sich für die Rettungsanstalten in Korntal und in Wilhelmsdorf ein. In großer Treue hielt er Kontakt mit den Spenderkreisen von Naturalgaben auf der Schwäbischen Alb. Die bitterste Berufung zur Selbstverleugnung war es jedoch, als er wegen der Übernahme einer Bürgschaft fast um seine ganzen finanziellen Rücklagen kam. Damals sagte er zu Freunden: „Unser Herr gibt normalerweise seinen Leuten zum Durchschwimmen des Weltmeeres hilfreich ein Brett oder gar einen Balken. Aber mir hat er das Brett weggezogen. Offenbar soll ich umso abhängiger von ihm selbst bleiben!“ Der 78-jährige hatte zu Fuß die große Hahn'sche Gemeinschaft in Fellbach besucht. Es war ein regnerisch-kalter Novembertag gewesen. Der total Durchnässte wurde erkältet. Aus der Erkältung wurde eine schwere Lungenentzündung. Noch als Schwerkranker war es ihm wichtig, dass Kinder ihn doch besu- chen möchten. Er sprach mit ihnen so herzlich und auch fröhlich, dass niemand ahnen konnte, dass es mit Friedrich Maier zu Ende gehen könnte. Er wollte eben in den letzten Lebenstagen noch einmal jungen Leuten einladend sagen: „Lasst doch Jesus in eurem Leben wirken!“ Als ein Gemeindeglied besorgt fragte: „Bruder Maier, muss denn das jetzt auch noch sein?“, erwiderte Maier: „Wenn sich junge Leute früh bekehren, dann wird doch ihr ganzes Leben einfach - nicht nur das Leben; man kann dann auch freudig sterben!“ Friedrich Maier schien bewusstlos. Jeden Augenblick musste man mit dem letzten Atemzug rechnen. Doch da begann der Sterbende mit kräftiger Stimme den Vers der Konfirmanden zu singen: „Herr Jesus, dir leb ich, dir leid ich, dir sterb ich; dein bin ich tot und lebendig. Mach mich, o Jesus, ewig selig!“ Das war Friedrich Maiers „Ja“ zum „Ruf aus dieser Welt“! Es war sein „Ja“ zu seiner Berufung zur ewigen Herrlichkeit. 7. Johann Jakob Friederich (1759 - 1827) der erste Korntaler Pfarrer In Korntal können Menschen zurechtkommen. Sogar eigenartige und höchst eigenwillige Persönlichkeiten müssen in Korntal nicht so bleiben, wie sie sind. Ein Beispiel dafür ist der erste Korntaler Ortsgeistliche, der Pfarrer Johann Jakob Friederich. Um 1800 war Friederich solch ein kirchenkritischer Rebell und dazuhin solch ein apokalyptischer Visionär gewesen, dass ihn manche pietistischen Kollegen am liebsten in der Luft zerrissen hätten. An der Seite von Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771 -1846) ist jedoch Friederich ein anderer Mensch geworden. Dazu brauchte es noch nicht einmal jenen von Hoffmann manchmal ersehnten „Mörser der Liebe“. In ihm hätte Hoffmann die oft schwierigen Vertreter unterschiedlicher Frömmigkeits-Färbungen gerne „zerpulvert“, um sie dann neu zusammenzusetzen. Dafür hat vielmehr der lebendige Jesus gesorgt. Mit dessen Gegenwart wurde in Korntal handgreiflich gerechnet. Er hat aus dem Feuerkopf Friederich einen demütig-stillen Seelsorger gemacht - auch durch schweres Erleben hindurch. Anna Schiatter, die wichtige schweizerische Kontaktperson der Erweckung im süddeutschen Sprachraum, hörte 1821 aus dem Mund von Pfarrer Friederich das ergreifende Bekenntnis: „Sie finden einen anderen Mann in mir, als ich ehemals war. Ich bin zum Kind geworden. Ehemals glaubte ich, den Sinn der Offenbarung verstanden zu haben und auslegen zu können. Doch da kam alles anders, als ich prophezeit hatte. Zudem starb mir meine Frau; ich hatte geglaubt, sie mir im Drang-Gebet zu Gott erhalten zu können. Aber ich wurde nicht erhört. Diese Umstände zusammen wirkten so auf mein Gemüt, dass ich eine Zeit lang allen Glauben verlor, sogar an Gott, und an seinem Wort zweifelte und so in tiefe Dunkelheit geriet. Jedoch erbarmte sich Gott wieder meiner. Er brachte mich wieder zum Glauben. Aber das Grübeln habe ich seitdem aufgegeben. Ich bekümmere mich nur ums Seligwerden.“ Einst hatte Friederich alle seine und auch der Mitchristen Hoffnung auf das neue Jerusalem gesetzt, ln Jerusalem sollte die totale Weltveränderung beginnen. In seiner 1800 veröffentlichten Schrift „Glaubens- und Hoffnungsblick“ ist das ausführlich in kräftigsten Farben beschrieben. Fast zwanzig Jahre später war alles auf einen anderen Ton gestimmt; denn im armen und kleinen Korntal hatte Friederich mitten in „trostlosester Lage“ in der Bibel „göttlichen Trost“ gefunden. Am 7. November 1819 predigte Pfarrer Friederich bei der Saalweihe über das Bibelwort: „Sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne“ (2. Mose 25,8). Das war der Beginn von „Heiligs Korntal“! Gottes Gegenwart sollte hier sein, wo an Stelle des fruchtbaren Lößlehmbodens des Strohgäus nur schwere Tonböden des Gipskeuper waren! Gottes Gegenwart hier-nicht im fernen Jerusalem! Gottes Gegenwart nicht in den erträumten „heiligen Gefilden“, da „überall die Fußstapfen heiliger Männer und Knechte Gottes, ja die Fußstapfen des Sohnes Gottes, des Jehovah, des Gottes Israels“ zu finden sind. Sondern in Korntal bei dem Häuflein der über alle Ohren verschuldeten neuen Ansiedler. Was war in Pfarrer Friederich vorgegangen? Wer war der Mann, dieser erste Pfarrer der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal? Wie kam der einstige Unruhestifter, den sogar bibeltreue Theologen und Pfarrbrüder als gefährlichen Fantasten und Verführer angesehen hatten, dazu, für das neugegründete Korntal die richtige, die nüchtern-geistliche Parole auszugeben: „Hier soll Gott wohnen!“? Hier, in Korntal! Ein langer Weg zum Ziel Am 25.11.1759 war Johann Jakob Friederich in Backnang als Sohn des dortigen Schneider-Obermeisters geboren worden. Erst als 29-jähriger konnte er das Theologiestudium beginnen. Darum konnte er auch erst verhältnismässig spät, nämlich 1795, seine erste Pfarrstelle Winzerhausen antreten. Zuvor war der Sprachbegabte - nach Besuch der deutschen und der lateinischen Schule in Backnang - schon bald nach seiner Konfirmation Hauslehrer geworden, zuerst für die Pfarr-kinder in Rudersberg und dann für die Kinder von Philipp Matthäus Hahn in Kornwestheim. Sogar in seiner Heimat Backnang hatte er an der Lateinschule unterrichtet. Eigentlich war während dem allen sein Ziel gewesen, sich in Halle für den Missionsdienst in Ostindien ausbilden zu lassen. Philipp Matthäus Hahn jedoch ermutigte den Begabten, trotz fortgeschrittenen Alters das Studium der Theologie zu ergreifen. Während der Tübinger Studienzeit bekam Friederich wichtige Impulse vom Lustnauer Pfarrer Magnus Friedrich Roos, dem späteren Anhausener Prälaten. Roos sammelte im Lustnauer Pfarrhaus regelmäßig einen Kreis von Theologiestudenten. In einer Art von Privatvorlesung wollte Roos „biblische Theologie“ nüchternster Art weitergeben; denn er hatte die Sorge, die gut biblische Theologie Bengels würde durch die spekulativen Systeme Oetingers und Frickers verfälscht werden (Die theologischen Werke von Roos spielen noch heute in der lutherischen Theologie Finnlands eine große Rolle.). Vor solchen unnüchternen Spe- kulationen wollte Pfarrer Roos die jungen Theologiestudenten bewahren. Bei Friederich war das allerdings vergebliche Liebesmüh'. Zu sehr hatte Friederich das Alte Testament im hebräischen Urtext gepackt! Um dieses besser verstehen zu können, sammelte Friederich alles, was er an Informationen über das gelobte Land, aber auch über Arabien und Syrien in die Hand bekommen konnte. Bis in tiefe Nächte hinein war Friederich am Forschen. Als die Übernahme in den Pfarrdienst schwierig wurde, unterrichtete Friederich noch einmal als Hauslehrer an verschiedenen Orten. „Ohne weiteres Bedenken“ schlug er eine ihm angetragene Stelle als Feldprediger aus. Erwirkte dann als Präzeptor, also Lehrer, zuerst in Esslingen und danach in Urach. Während der Ura-cher Zeit hielt Friederich brüderlichen Kontakt mit den „Stundenleuten“ in Dettingen (Erms) und in Hülben. Er selbst richtete eine pietistische Gemeinschaftsstunde in Urach ein. Freundschaft verband Friederich mit dem Hülbener Schulmeisterjakob Friedrich Kulten (1758-1818), dem Vater des späteren Korntaler Institutsvorstehers Johannes Kullen. An einem heißen Sommertag kam Friederich mit seinen Kostgängern herauf nach Hülben. Die erschöpften jungen Leute erbaten etwas Milch. Kullen war allein zu Hause. Er holte so viele Milchgefäße herbei, wie er in Küche und Keller nur finden konnte. Friedrich fragte: „Herr Schulmeister, gibt er's uns auch wirklich gerne?“ Kullen antwortete: „Danach dürfen Sie mich nicht fragen! Seien Sie froh, dass Sie's haben!“ Es muss Friederichs besondere Gabe gewesen sein, Kontakte mit Schlüsselpersonen der damaligen ersten Erweckungsbewegung zu knüpfen (so mit dem originellen Schulmeister Klett in Stockach bei Dusslingen, mit dem Marbacher Barchentweber Gottlieb Conradt und mit dem Sulzbacher Konditor Johann Michael Kurr). Vermutlich entstanden die ersten Kontakte zwischen dem Leonberger „Bruderkreis“ (mit Josenhans und Hoff-mann) und Pfarrer Friederich über den mit Hoffmann besonders eng verbundenen Barchentweber Conradt, Marbach. Als Friederich dann 1795 schließlich die kleine Pfarrei Winzerhausen übertragen bekam, wurde er zum „Geheim-Tip“ für fromme Leute aus der weiten Umgebung. Bald waren es richtige Völkerscharen, die zu den lebendigen, von dringlichster Wiederkunftserwartung geprägten Gottesdiensten von Winzerhausen pil-gerten. Denn viele, die auf Jesu Wiederkommen hofften, bauten auf die Vorhersage Bengels: „Wann die Jahreszahl bis auf 1800 steigt, so wird es nicht weit vom Ziele seyn.“ Im persönlichen Leben schien Friederich an das ersehnte Ziel gekommen zu sein: Er hatte einen großen Wirkungskreis, eine wachsende Familie (die heranwachsenden Töchter lehrte er das Hebräische, damit sie die Buchstaben der Bibel ganz ernst nehmen könnten) und einen großen Freundes- und Bruderkreis. Eine im Jahr 1800 publizierte Schrift - von ihr wird gleich noch zu berichten sein - machte Friederichs Namen weit über die Heil-bronner Region hinaus bekannt. Doch gerade diese Schrift löste auch den beginnenden Absturz aus. Der Absturz In jener kirchlich lauen Zeit galt das biblische Wort Gottes nicht mehr viel. Umso mehr strömten zu den Gottesdiensten in Winzerhausen Menschen, die auf biblische Kost aus waren. In der Pfarrerschaft der ganzen Gegend, aber auch bei den Vorgesetzten, erregte das zahlreiche „Predigt-Fremdgehen“ gewaltigen Unmut. Friederich wurde vorgeworfen, er predige viel zu viel vom Antichrist und vom kommenden Tausendjährigen Reich; das sei doch in den Bekenntnissen der Reformation ausdrücklich abgelehnt worden. Friederich war es zu wenig, sich zu verteidigen. Er war seiner Sache gewiss! Kühn verfasste er die Schrift „Glaubens- und Hoffnungsblick des Volkes Gottes in der antichristlichen Zeit, aus den göttlichen Weissagungen gezogen“. Damit hatte er kräftig in die Saiten seiner Harfe gegriffen, in die Saiten seiner umfassenden Bibelkenntnis, auch in die Saiten seiner tiefen Verehrung für das Gottesvolk Israel und in die Saiten seines Wissens um Geschichte und Geographie des Vorderen Orientes. Die Schrift wurde zuerst nur „innerpietistisch“ in etwa 800 Exemplaren verbreitet. Als Verfasser hatte sich Friederich unter einem Pseudonym versteckt. Diese Schrift machte Furore. Sie war für nicht wenige Radikal-Kirchenkritische der Anlass, die Auswanderung in Richtung „heiliges Land“ zu wagen. Die Friederichsche Schrift war eine Mischung von Biblischem und von Menschlichem, von Bibelauslegung und von Träumereien, die in die Bibel hineingeheimnist wurden. Grundlage war die Überzeugung Oetingers: „Leiblichkeit ist das Ende (das Ziel) der Werke (der Wege) Gottes!“ Israel hatte eine Zentralstellung in dem Zukunftsgemälde Friederichs. Aber manches war nichts anderes als überhitzte Fantasievorstellung. Besonders dort, wo die beschwerdefreie Reise der Auswanderer nach Jerusalem in allen Farben ausgemalt worden war. Der erste, der sich gegen Friederichs Zukunftsgemälde zur Wehr setzte, war der damalige Oberstenfelder Vikar Jonathan Friedrich Bahnmaier (1774-1841); er war später als Kirchheimer Dekan ein herausragender Sprecher der Erweckungsbewegung. Er ahnte den Sprengstoff, den diese Schrift darstellte. Recht hatte er! Die betrügerische Cleebronner „Prophetin“ Maria Gottliebin Kummer (die „Kummerin“, die später sich für einige Zeit mit der baltischen Adligen Juliane von Kruedener verband), berief sich 1801 bei ihrem Aufbruch mit Familien aus dem Zabergäu auf die Friederichsche Schrift. Außer Friederich hatte der Karlsruher Hofrat Dr.Jung-Stilling mit seinem Buch „Heimweh“ die Erwartung bestärkt, dass der wahre Zufluchtsort für die Gemeinde Jesu weit im Osten zu suchen sei. Bahnmaiers Protest erreichte jedoch genau das Gegenteil von dem, was er angestrebt hatte. Denn jetzt wurde Friederichs Schrift erst recht von Hand zu Hand weitergereicht. Das württembergische Konsistorium reagierte so, wie sich Konsistorien seit den Tagen der Apostel verhalten: Friederichs Wirken wurde beobachtet, seine Schrift wurde kritisch untersucht. Das abschließende Urteil fiel erstaunlich milde aus (schließlich wollte man es mit dem Pietismus nicht verderben). Friederich wurde vor das Konsistorium zitiert und verwarnt: Er solle es bei dem ihm aufgetragenen Wirken belassen; apokalyptische Schwärmereien gehörten nicht zu seinen Dienstaufgaben als Pfarrer von Winzerhausen. Friederich fühlte sich als unschuldiger Märtyrer. Er war überzeugt, dass sich über kurz, keineswegs über lang, seine Vorhersagen als Wahrheit heraussteilen würden. Darum ließ er, etwas murrend, wissen: Man dürfe doch hoffentlich in Zeiten, da dem Unglauben keine Grenzen gesetzt seien, auch so etwas wie seine Schrift unter die Leute bringen! Schließlich habe er keinerlei politische Absichten gehabt. Vor allem habe er nie und nimmer zur Auswanderung ermutigen wollen. Vermutlich stand er später unter dem Eindruck, er habe zu viel Luft aus seinem Anliegen herausgelassen. Mindestens war er 1809 beim nächsten Strauß mit dem Königlichen Konsistorium wesentlich starrköpfiger. Damals war die neue Liturgie Hals über Kopf in Kraft gesetzt worden. Besonders die Taufordnung war auf Befehl von König Friedrich I. einschneidend verändert worden. Aber auch die Neuformulierungen der Kirchengebete waren aus den Grundsätzen der Aufklärung heraus konstruiert worden. Der König hatte höchstpersönlich angeordnet, dass bei der Taufe die Nennung des Teufels zu unterbleiben habe. Die Absage an den Teufel und alle seine Werke gehörte nach Meinung von Friederich jedoch ganz entscheidend zur Taufe auf den Namen Jesu. Die Kirchenobrigkeit kam Friederich weit entgegen. Sie gestattete ihm, bei Taufen die bisherigen Formulierungen zu verwenden. Trotzdem lehnte Friederich die ganze Liturgie ab. Er boykottierte sie einfach. Der mit Friederich befreundete Dekan Hartmann in Lauf-fen konnte darüber nur den Kopf schütteln. Warum wollte denn Friederich unter allen Umständen das Konsistorium so provozieren? Die königlich-kirchliche Oberbehörde reagierte auch prompt: Wegen „Renitenz“ wurde Friederich vom Pfarramt abgesetzt. Erstaunlicherweise wurde ihm gnadenhalber ein jährlicher Unterstützungsbetrag gewährt (im Blick auf Friederichs kränkliche Frau und seine fünf Kinder). Friederich sollte jedoch seinen Wohnsitz nach Schorndorf verlegen (weitab von Winzerhausen und unter den Augen eines strengen Dekans und eines noch strengeren Oberamtmannes). Begreiflicherweise zog es Friederich jedoch nach Leonberg in die Nähe des Josenhans-Hoffmannschen Geschwisterkreises. Darum bat er beim königlichen Konsistorium um die Gnade, nach Leonberg ziehen zu dürfen; schließlich liege Leonberg „an keiner Chaussee oder sonst vielbegangenen Straße“. Diese Bitte wurde Friederich gewährt. Aber er wurde darauf verpflichtet, alles öffentliche Predigen zu unterlassen. Friederich schien total am Ende zu sein, zumal auch seine Ehefrau schwer erkrankte. Neue Hoffnung durch Hoffmann Es war der Leonberger Amtsbürgermeister Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771 - 1846), der dem geächteten Pfarrer Friederich in Leonberg einen „Zufluchtsort“ verschaffte, dazu einen Freundeskreis, der Friederichs Familie finanziell und materiell durchtrug. Zwar durfte Friederich nicht mehr öffentlich predigen; aber Hoffmann wusste auch da einen Ausweg. Schließlich war Friederich nicht verboten worden, in seiner Privatwohnung biblische Unterweisungen und Gespräche abzuhalten. So sammelte sich in Friederichs Wohnung, von der wieder wie durch ein Wunder genesenen Frau Friederich gastlich versorgt, regelmäßig ein beachtlicher Kreis württembergischer Christen. Hoffmann ging schon damals mit dem Gedanken um, eine freie, vom Konsistorium unabhängige, aber doch auf dem landeskirchlichen Bekenntnis stehende Gemeinde zu gründen. Die mit dem Konsistorium zerworfenen Gläubigen des Landes sollten in einer Gemeinde „wirklicher Brüder und Schwestern“ gesammelt werden. Als geistlichen Vorsteher - damals wurde noch der neutestamentliche Begriff „Bischof“ verwendet - hatte Hoffmann den ebenfalls seines Amtes enthobenen Dekan Karl Friedrich Hartmann vorgesehen. Aber Hartmann lehnte den Antrag entschieden ab: Eine solche Separation sei ein Unrecht gegen die Kirche, in der es noch viele lebendige Glieder gäbe. Friederich hatte nicht vorausgesehen, dass seine Schrift „Glaubens- und Hoffungsblick“ wie ein Funke im Pulverfass wirken musste. Das Auswandern, besonders nach Osten in den Schwarzmeerraum, wurde zur religiösen Seuche. Für den würt-tembergischen Staat bedeutete dies einen schmerzlichen Aderlass; denn besonders die Tüchtigen waren es, die in die Fremde aufbrachen. König Wilhelm I. versuchte, die Auswanderung zu stoppen. Das gab Gottlieb Wilhelm Hoffmann die Gelegenheit, unter neuen Gesichtspunkten und mit neuen Argumenten seinen alten Plan einer „Brüdergemeinde“ wieder aufzunehmen. Korntal sollte mitten in Württemberg ein „Zufluchtsort“ für solche Christen sein, die ihres Glaubens leben wollten, ohne dabei behördliche Auflagen befürchten zu müssen. Zu den schließlich durch den König gewährten Privilegien gehörte auch die freie Wahl des Pfarrers im neu entstehenden Korntal. Während die ersten Siedler zuerst durch benachbarte Pfarrer pastoriert worden waren, wählte 1818 die Brüdergemeinde Pfarrer Friederich zu ihrem Pfarrer. Wegen der Armut der Gemeinde wurde die Regierung gebeten, das Friederich bisher gewährte Gratial von 78 Gulden auch weiterhin zu zahlen, und Friederich zu gestatten, „provisorisch“ alle Amtshandlungen vorzunehmen. Friederich wurde nominell zum „Inspektor“ des durch Johannes Kullen geleiteten Knabeninstitutes berufen; dafür bekam er jährlich 200 Gulden und eine Amtswohnung im Knabeninstitut. Für Holz, Hauszins und Neujahr bekam Friederich noch weitere 162 Gulden. Alles zusammengenommen war dies für eine kinderreiche Pfarrfamilie herzlich wenig; aber auch dies Wenige konnte nur mit Mühe von der Brüdergemeinde aufgebracht werden. Keine allzu große Mühe machte die einschränkende Bestim- mung des Konsistoriums, dass solche Internatskinder in Weilimdorf konfirmiert werden müssten, deren Eltern nicht der Brüdergemeinde angehörten. Viel beschwerlicher war es, dass der seit langer Zeit mit Friederich verbundene Johannes Kullen sich plötzlich nicht mehr recht mit Friederich verstand. Kullen und Friederich waren in ihrem Naturell einfach zu verschieden! Friederich etwa konnte sich nicht anfreunden mit der originellen, vom Geist der Freiheit und Heiterkeit bestimmten, pädagogisch-unor-thodoxen Lehrweise Kullens. Der tiefernste Friederich hatte nicht die Gabe, mit jungen Leuten hilfreich umzugehen. Seine Predigten passten schlecht für die große junge Zuhörerschaft. Umso mehr wurde die „biblische Kost“, die gestimmt war auf die rechte Zubereitung zum ewigen Leben, von der Erwachsenengemeinde geschätzt. Die Gottesdienste fanden anfangs im „Schlösschen“ statt (heute: „Landschloss“). Aber dort waren die Räumlichkeiten viel zu beengt. Denn die Zahl der Gottesdienstbesucher nahm geradezu rapide zu; aus der Umgebung, ja, aus weiterer Entfernung kamen geistlich suchende Menschen zu den Korntaler Gottesdiensten. Außerdem musste im „Schlösschen“ auch zusätzlich Wohnraum für Pfarrer Friederich und seine Familie geschaffen werden; denn das Zusammenleben von Friederich und Kullen auf engstem Raum im „Knabeninstitut“ hatte sich absolut nicht bewährt! Dies alles führte dazu, dass sich die junge Brüdergemeinde an die riesengroße Aufgabe machen musste, innerhalb kürzester Zeit den „Grossen Saal“ zu errichten. Die Einweihungspredigt wurde dann von Pfarrer Friederich gehalten. Das Haupthema von Verkündigung und Seelsorge Pfarrer Friederichs war nicht mehr das verklärte irdische Jerusalem und sein Tempel, vielmehr das Leben der Glaubenden nach dem Sterben und ihr Heimkommen ins himmlische Vaterland. Ein Biograph schreibt: „Den 19. Oktober 1827 nahm ein sanfter Tod Pfarrer Friederich hinweg. Statt ins irdische Kanaan zu kommen, ging er ein in das himmlische Vaterland.“ Einst war Friederich wegen seiner ungeschützten Auswanderungsparolen auch von schwäbischen Pietisten als gefährlicher „Brandstifter“ angesehen worden. Im „Zufluchtsort“ Korntal war er zum milden „Feuerbekämpfer“ des Auswanderungs-Flächenbrandes geworden. Die in Korntal so überaus lebendige Hoffnung auf die Auferstehung der Toten wurde ganz wesentlich durch ihn genährt. Davon gibt seine eindrückliche handschriftliche Aufzeichnung Zeugnis mit dem Titel „Betrachtungen über den Zustand eines Christen von seinem Abscheiden bis hin zur Auferstehung des Leibes, aus den Belehrungen der heiligen Schrift“ (versehen mit dem Zusatz: „darf durchaus nicht gedruckt werden“). Auch die Korntaler Mitchristen sollten den „göttlichen Trost“ finden, den er nach dem schmerzlichen Verlust seiner Ehefrau und seiner fünf Kinder gefunden hatte: Man kann „aushalten in den dunklen Wegen der göttlichen Führung, bis das Lebensschifflein durch alle noch so stürmischen Wogen hindurch in den ersehnten sicheren Hafen einläuft!“ 8. Dr. Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806 - 1873) Missionsinspektor in Basel, Ephorus in Tübingen, Generalsuperintendent in Berlin Im August 1852 trat Dr. Wilhelm Hoffmann sein Amt als Berliner Hofprediger an. Sein Freund, Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805 - 1880), hatte ihn aus der württembergischen Heimat verabschiedet mit dem Wunsch: „Wilhelm, verlier' bloß dein ,f net“ (werde bloß nicht aus einem „Mann des Höffens“ ein Höfling)!“ Der Wunsch wurde Wirklichkeit. Zwar stieg Dr. Wilhelm Hoffmann fast unaufhaltsam die Stufenleiter der Ehrungen empor (von einem unter den Hofpredigern zum Oberhofprediger; zum Generalsuperintendenten der Kurmark, zum Domherrn von Brandenburg, zum Mitglied des Preussischen Staatsrates und schließlich zum Oberkonsistorialrat). Aber bei dem allem blieb sein Ziel, die Kirche in Preussen und in Deutschland - ja, bis hinein in die seiner Fürsorge anvertrauten protestantischen Auslandsgemeinden im Orient - hin zu lebendigem Glauben zu reformieren; die verschiedenen Ausprägungen kirchlichen Lebens und theologischer Ansichten sollten dabei so harmonisch Zusammenwirken, wie er das in der Korntaler Heimat erlebt hatte. Dr. Wilhelm Hoffmann, der Sohn des Korntalgründers Gottlieb Wilhelm Hoffmann, blieb auch in fernen preußischen Landen ein „Korntaler“, ein echter Sohn seines Vaters. Zwar hatte der am 30. Oktober 1806 in Leonberg Geborene nur gelegentlich (während der Schul- und Seminarferien) in Korntal gelebt. Aber mit seinem Vater und mit der Brüdergemeinde verband ihn zeit- lebens die Überzeugung: Mit einem lauen Glauben kann kein Christ durchkommen! Es braucht vielmehr ein klares Wollen, mit Jesus zu leben! Deshalb sollen zu Hause in Deutschland und erst recht in Afrika und Asien Menschen für den Glauben an Christus gewonnen werden! Das war schon insgeheim die Sehnsucht des Bübleins Wilhelm Hoffmann gewesen. Wenn er aus den Fenstern der Leonberger Fachwerkhauses am Marktplatz hinausschaute auf die Säule des Marktbrunnens, dann sah er dort im viergeteilten würrtembergi-schen Wappen die Reichssturmfahne und den „Heiden von Heidenheim“. Da war es sein Wunsch: „Ich möchte einmal mit dem Herrn der Herrscharen, die Hand an seiner Fahne, Land erobern für ihn - mitten unter den Heiden!“ In diesem Geist war er aufgewachsen. Die Aufgabe der Weltmission hatte schon jung seinen Horizont geweitet. Stationen auf dem Weg nach Berlin Wie der Vater hatte Wilhelm Hoffmann die ausgesprochene Gabe, Menschen zu gewinnen und eine Fülle von Kontakten zu knüpfen. So wurden Ludwig Hofacker, Sixt Karl Kapff undjohann Christoph Blumhardt seine Freunde - schon während des Studiums im Tübinger Stift und erst recht danach während seiner dortigen Repetentenzeit. Auseinandersetzungen fürchtete er schon damals nicht. Wo es ihm notwendig zu sein schien, trat er für die biblische Wahrheit ein. So schrieb er eine Gegenschrift auf das „Leben Jesu“ seines Mitstudenten und auch späteren Mitrepetenten David Friedrich Strauß. Noch wichtiger jedoch war ihm - wie schon seinem Vater -das Aufbauende. So unterstützte er als Stuttgarter Stadtvikar die Kaufmannsfrau Charlotte Reihlen (1805-1868) bei der Einführung eines Stuttgarter Missionsfestes, bei der Gründung einer bewusst evangelischen Töchterschule und bei der Gründung des Stuttgarter Diakonissenhauses. Als 2. Stadtpfarrer („Diakonus“) von Winnenden kümmerte er sich seelsorgerlich um die seelisch und geistig Kranken in der neu errichteten Anstalt Winnental; dabei war er eigentlich völlig ausgelastet durch die seelsorgerliche Betreuung von beinahe 3.000 Gemeindegliedern, die in sechs verschiedenen Ortschaften lebten. Aber in Nachtstunden brachte er sich im Selbststudium sogar noch Sanskrit bei. Eigentlich hatte der Vater fest damit gerechnet, dass sein Sohn Wilhelm Pfarrer in Korntal oder in Wilhelmsdorf werden würde. Aber da kam 1839 der Ruf aus Basel, die Leitung der Basler Mission als Missionsinspektor zu übernehmen. Bis 1848 wirkte Dr. Hoffmann in Basel. Dann allerdings bat er als gebrochenener Mann um seine Entlassung; einige Monate zuvor war seine geliebte Frau Wilhelmine, geb. Beck, nach schwerem Nervenleiden verstorben. Hoffmanns Leidenszustand blieb, obwohl er nach seiner Wiederverheiratung (mit Sophie von Stoffregen) Hoffnung auf einen seelischen und körperlichen Aufschwung gehabt hatte. Als jedoch die ihm angetraute adlige Ehefrau im ersten Kindbett starb (1850), folgte Dr. Hoffmann einem Ruf der württembergischen Heimat zurück nach Tübingen, diesmal als Theologieprofessor und als Ephorus des Tübinger Stiftes. Auf diese Aufgabe hatte er sich gefreut; aber mehr und mehr empfand er sie als aufpasserischen „Wachtmeisterdienst“. Dazu jedoch wusste er sich nicht geschaffen. Inzwischen war das Auge des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. auf Dr. Hoffmann gefallen. Während eines Staatsbesuches in den Hohenzollerischen Fürstentümern Sigmaringen-Hechingen rief er Dr. Hoffmann zu einem Privat-Sonntagsgottes-dienst in die Hechinger Villa „Eugenia“. Der Preußenkönig war von Dr. Hoffmanns Predigt zutiefst beeindruckt. Die „gewaltige imponierende Persönlichkeit, sein mächtiges Organ, sein in die Tiefe des göttlichen Wortes grabender Geist“ hatten es ihm ebenso angetan, wie sein „stupendes Wissen, seine Weitherzigkeit und Weitsichtigkeit“. Der König sah in ihm eine „ihm geistesverwandte Natur“. Er bat Dr. Wilhelm Hoffmann dringend, als Hofprediger nach Berlin zu kommen. 1852 war es dann soweit: Hofprediger Dr. Hoffmann begann seinen Dienst - und er verheiratete sich mit Clara Gräfin Kanitz, Tochter des ehemaligen preußischen Kriegsministers. Vater und Sohn Hoffmann Beide, Vater und Sohn Hoffmann, hatten in auffallender Weise die Gabe, Menschen zu gewinnen - gerade auch Menschen, die Vorbehalte ihnen gegenüber hatten. Starke Vorbehalte gegen den Sonderweg Korntals und gegen den „sturen Eigensinn“ von Gottlieb Wilhelm Hoffmann hatten etwa die beiden jungen Vikare Ludwig Hofacker (1798 - 1828) und Albert Knapp (1798- 1864). Darüber hatten sie sich auf dem Weg hinauf zum Pragwirtshaus zwischen Stuttgart und Feuerbach unterhalten. Als eine kleine Kutsche sich näherte, gezogen von zwei struppigen Kosakenpferdchen, machten sie dem Gefährt Platz. Aber in der Kutsche saß Hoffmann, über den sie gerade gelä- stert hatten. Freundlichst grüßend hielt er an und lud die beiden Vikare zum Mitfahren ein. Mehr noch: Er lud die große Feuerbacher Konfirmandengruppe ein, mit ihrem Vikar Knapp einen fröhlichen Mittag im Korntaler Institutsgarten zu verbringen. Das legte den Grund zu einer bleibenden Verbundenheit. Dr. Wilhelm Hoffmann gewann als Pfarrer von Winnenden das Herz des Arztes und Hofrates Dr. Albert Zeller. Als Seelenarzt war Dr. Zeller überaus skeptisch gewesen, ob sich denn die geistlich geprägte Seelsorge von Pfarrer Dr. Hoffmann vereinen lasse mit dem Winnender Psychologie-Konzept. Aber Wilhelm Hoffmann gewann sein Herz dadurch, dass er den bewährten Arzt immer wieder um Rat fragte, wenn er persönlich und auch im Umgang mit Seelsorgebefohlenen ein Problem hatte. Bei allem Reich-Gottes-Ernst hatten Vater und Sohn Hoffmann die Gottesgabe schlagfertigen Humors. 1814 sollte Gottlieb Wilhelm Hoffmann (damals Mitglied der Landeskommission für die Verproviantierung durchziehender Truppen) einem österreichischen Husarenoberst Heu herausgeben. Hoffmann weigerte sich, die Notreserven der einheimischen Bevölkerung anzugreifen. Der Oberst gebärdete sich wie wild geworden. Hoffmann jedoch sagte: „Ereifern wir uns doch nicht so sehr! Schließlich sind doch nicht wir das Heu, das gefressen werden soll!“ Dieser Scherz besänftigte den Offizier, auch wenn er unverrichteter Dinge abziehen musste. Pfarrer Dr. Wilhelm Hoffmann kümmerte sich geduldig um einen Winnender Geisteskranken, der sich für Napoleon hielt. Schließlich hatte das Begleiten den Erfolg, dass der Kranke von seiner Wahnvorstellung abließ und geheilt entlassen werden konnte. Nach zwei Jahren jedoch begegnete er Dr. Hoffmann wieder. Überzeugt sagte er: „Ich bin aber doch Napoleon!“ Hoffmann nahm ihn auf die Seite und flüsterte ihm ins Ohr: „Ist ja gut! Aber sagen Sie es bloß niemand weiter. Sonst sperrt man Sie wieder ein!“ Bei allen Leitungsqualitäten blieben sowohl der Vater als auch der Sohn Hoffmann letztlich demütige Leute. Schon damals in Leonberg wollten - meist sonntags - viele Menschen den „geheimen Bischof des Landes“ sehen und grüßen. Darum verschwand Hoffmann immer wieder in aller Stille durch eine Hintertüre. Er sagte: „Ich will keinen Anhang! Anhänger heben in die Höhe; aber das kann dem inneren Menschen schädlich werden!“ Dr. Wilhelm Hoffmann führte als Basler Missionsinspektor immer wieder geologische Wanderungen durch. Gesteinskunde war nicht nur sein Hobby; sondern er sah sie auch für künftige Missionare als hilfreich an (er war zeitlebens stolz darauf, dass der „Entdecker“ des Kilimandscharo, Johannes Rebmann, sein Schüler gewesen war. Noch nach Dr. Hoffmanns Tod wurde in Anerkennung seiner geographischen Forschungen in den Eisgefilden des Polarmeeres ein Berg „Hoffmann-Mountain“ genannt). Vor allem gaben solche Exkursionen dem Missionsleiter die Gelegenheit, mit den Missionskandidaten in persönliche Gespräche zu kommen. Dabei bekannte einer: „Herr Missionsinspektor, ich schaffe es nicht! Ich muss die Aufgabe an den Nagel hängen. Ich habe Angst vor jedem neuen Tag! “ Dr. Hoffmann sagte tröstend: „Ich kenne noch einen, dem es ebenso geht, und das bin ich!“ Vater Hoffmann war dreimal verheiratet; zweimal hatte er hilfreiche Gemahlinnen verloren. Dr. Wilhelm Hoffmann war insgesamt viermal verheiratet (1864 heiratete er nach dem Tod von Clara Gräfin Kanitz die ihn um 40 Jahre überlebende Pauline Gräfin Görlitz). 74 Noch auffallender jedoch als diese Ähnlichkeit in schweren persönlichen Führungen war die bei Vater und Sohn Hoffmann ausgeprägte Begabung für Konzeptionen. Strategisch-lösungsori-entiert konnte auch Dr. Wilhelm Hoffmann denken und handeln. Schon als Basler Missionsdirektor hatte er sich für folgende Weichenstellungen eingesetzt: a) Die Mission braucht nicht nur fromme Mitarbeiter, sondern auch „first-class-missionaries“; darum muss die Basler Ausbildung entscheidend verbessert werden. b) Die Mission darf sich nicht beschränken auf fördernde Kreise, die dem Pietismus angehören. Mission muss auch in die Kirche hineinwirken. Zwar werden nicht alle Kirchenleute für Mission zu gewinnen sein; denn viele sind davon überzeugt, dass man doch den Heiden ihren Glauben lassen soll. Deshalb wollen wir in der Kirche eine Scheidung herbeiführen zwischen Freunden und „Feinden“ der Mission. c) Es muss auf dem Missionsfeld - ebenso wie in der Heimat (Dr. Hoffmann war ein bewusster Förderer der Evangelischen Allianz) - eine Zusammenarbeit angestrebt werden mit Anglikanern, Baptisten, Methodisten und anderen Denominationen und ihren Missionen (dass es nach dem 2. Weltkrieg in Indien zur Gründung der .Vereinigten Südindischen Kirche“ kam, ist wie eine späte Frucht dessen, was Dr. Hoffmann angestrebt hatte). d) Es muss versucht werden, missionarische „Vorposten“ in den Bereich des Islam hinein vorzuschieben (Hoffmann hatte den Plan, über Russland und Armenien eine „Landbrücke“ zu bauen hin nach Indien.). e) Es muss versucht werden, gläubig gewordene Afrikaner aus Westindien (Jamaika) und aus Sierra Leone einzusetzen als „einheimische Missionare“. f) In Indien muss angestrebt werden, die Arbeit unter verschiedenen Völkern und Sprachgruppen zu bündeln. g) Die Missionsarbeit muss gerade in Indien verstärkt werden; denn dort begegnet das Christentum dem „gefährlichsten Feind“, nämlich dem religiösen Synkretismus. Zur Behebung der kirchlichen Not in der Großstadt Berlin mit ihren zahlenmäßig aus allen Nähten platzenden Kirchgemeinden entwickelte Dr. Hoffmann ein Notprogramm: Er ließ das „Domkandidatenstift“ Wiederaufleben. Aus ganz Deutschland lud er stellungslose junge Theologen nach Berlin ein und schulte sie zur Seelsorge „von Haus zu Haus“ und von „Glastüre zu Glastüre“. Als Generalsuperintendent der Kurmark gestaltete Dr. Hoffmann die „Visitationen“ als volksmissionarische Ereignisse, bei denen für ihn seine abendlichen evangelistischen Vorträge das Wichtigste waren. Um in den vielen Gremien, denen er meist selbst Vorstand, nicht zu viel Zeit zu verlieren, lud Dr. Hoffmann nicht selten bis zu drei Sitzungsgruppen zugleich in sein geräumiges Palais beim Monbijou-Park ein. Er selbst schritt dann von Gremium zu Gremium. Dabei gab er meist die entscheidenden Impulse zum Weiterschreiten. Wie der Vater hatte auch Hoffmann jun. eine beinahe unermessliche Arbeitskraft und auch grenzenloses Interesse an allen Wissensgebieten. Neben dem Erlernen von Sanskrit vertiefte er sich auch ins Arabische. In Basel schrieb der Missionsinspektor persönlich an die Missionare in der Ferne; oft waren es 25 Briefe an einem Tag - und das neben all den vielfältigen Leitungs- und Verwaltungsaufgaben. Inmitten des konfessionellen Streites zwischen den protestantischen Denominationen war Dr. Hoffmanns Vision die „eine Kirche“. Sie sollte nicht aufgespalten sein in verschiedene Bekenntnisse und Kirchentümer, sondern vereint sein im Glauben an Jesus Christus, den alleinigen Herrn der Kirche. Darum liebte und unterstützte Wilhelm Hoffmann die Arbeit der weltweiten Evangelischen Allianz. Schon als Basler Missionsinspektor hatte er darauf hingewirkt: Die Missionsgemeinden draußen sollen ebenso wie die Heimatgemeinde ein Vorgeschmack sein für eine erst zukünftige Kirche, in der Jesus wichtiger sein soll als die bisherigen Bekenntnisstandpunkte. Gerade darin war und blieb Korntal für ihn vorbildlich mit seiner pietistischen Jesusfrömmigkeit, die Frömmigkeits- und Bekenntnisstandpunkte zweitrangig sein ließ. Dr. Wilhelm Hoffmanns besondere Liebe gehörte neben der Evangelischen Allianz dem „Jerusalem-Verein“ und dem durch diesen Verein ermöglichten Ausbau protestantischer Gemeinden in der Levante. Die Präsenz europäischen Großmächte im Vorderen Orient sollte nicht nur bestimmt sein von machtpolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen. Sondern es sollte auch die gute Botschaft von Jesus unverfälscht dorthin gelangen! Daneben kam es bei Dr. Hoffmann mitunter auch zu fast naiven Vorstellungen. So konnte er noch im Alter sagen: „Alles wäre im Orient geklärt, wenn einfach die Türkei christlich würde und wenn dabei der Sultan mit gutem Beispiel voranginge!“ Seine Grundhaltung war nun einmal ein gläubiger Optimismus, verbunden mit einem aufnahmebegierigen, beweglichen Geist! Das Reformieren lag ihm mehr als das Kritisieren. Darin wurde er von „seinem“ König Friedrich Wilhelm IV. so besonders geschätzt. Auch König und später Kaiser Wilhelm I. vertraute seinem Rat (Wilhelm I. unterschrieb die Briefe an Dr. Hoffmann mit „Ihr Ergebener“ (nicht, wie eigentlich üblich „Ihr Gnädiger“). Dr. Hoffmanns einziger wirklicher Gegner war Reichskanzler v. Bismarck. Sarkastisch konnte dieser sagen: „Die politischen Fähigkeiten derer, die lange Röcke tragen, ob Frauen oder Geistliche, sind gleich Null!“ Als Dr. Hoffmann im 67. Lebensjahr am 28. August 1873 einer Herzkrankheit erlag, wurde er in Berlin bestattet. Sein jüngster Sohn jedoch, der nachmalige württembergische Hofprediger und spätere Ulmer Prälat Dr. Konrad Hoffmann (1867 - 1959), fand in „Korntaler Erde“ sein Grab. „Der Gang der Dinge schritt bald über vieles hinweg“, was Dr. Wilhelm Hoffmann wichtig gewesen war (so Dr. Konrad Hoffmann, Enkel von Dr. Wilhelm Hoffmann). Geblieben ist die Brüdergemeinde Korntal mit ihren Impulsen, die auch via Dr. Hoffmann in die Weite der Welt hineingewirkt haben. 9. Rosina Widmann, geb. Binder (1827 - 1908) die erste Korntalerin im Missionsdienst Die Vorfahren von Rosina Binder gehörten zu den ersten Ansiedlern Korntals. Der Vater war Landwirt. Rosina war die Älteste von neun Geschwistern. Als „Binders Rösle“ war sie im kleinen Korntal bekannt. Sie hatte das Korntaler Töchterinstitut besucht. Bibelkenntnis und Bildungshunger zeichneten sie aus. Das Verlangen, Neues kennenzulernen, war bei ihr stark. Auf das zwanzigjährige Rösle fiel der Blick des Korntaler Pfarrers Jakob Heinrich Staudt (1808 -1884; Pfarrer in Korntal 1843 -1882), als die Basler Missionsanstalt dringend eine Missionarsbraut suchte. Nämlich für den aus Giebel stammenden Ghana-Missionar Johann Georg Widmann, der seit 1843 unter schwierigsten Bedingungen den Ghana-Pioniermissionar Andreas Riis unterstützt hatte. Damals und noch lange Zeit danach waren die Missions-Hochzeitsregeln so festgelegt: Missionare sollten unverheiratet auf das Missionsfeld gehen; schließlich war meist nicht klar, welche Schwierigkeiten sie erwarten würden. Aber sie sollten auch „ungebunden“ in den Missionsdienst gehen; denn erst an Ort und Stelle könnten sie ermessen, welche Herausforderungen und Belastungen sie einer Ehefrau zumuten müssten. Meist durften sie etwa nach fünf Jahren Aushalten auf den fernen Missionsstationen das heimatliche Komitee bitten, ihnen eine Braut zu suchen und zu entsenden. Der aus Korntal stammende Basler Missionsinspektor Dr. Wilhelm Hoffmann war dafür, die Wartezeit jeweils nach der Situation des heiratswilligen Missionars und nach den Bedürfnissen der jeweiligen Station eventuell auch zu verkürzen. So brauchte etwa die Missionsstation Akropong/Ghana dringend eine weibliche Mitarbeiterin, da die Frau von Missionar Riis kränklich war. Darum ging das Basler Komitee auf das Heiratsgesuch von Missionar Widmann ein. Den Vertrauten Basels wurde mitgeteilt, sie sollten Ausschau halten nach einer „Person kindlich-einfältigen Glaubens, ruhigen Gemüts und nicht vollblütigen Körpers“. Eine ganze Reihe von möglichen Kandidatinnen erwiesen sich als nicht geeignet. So eine Ludwigsburger Gastwirtstochter, die zwar fromm, aber „an geringe Kost nicht gewöhnt“ war. Es waren also keine unverantwortlichen Hoppla-Hopp-Entscheidungen, die das Basler Komitee traf. Zwei „Rechte“ kommen zusammen Endlich brachte der mit der Basler Mission eng verbundene Korntaler Pfarrer Staudt die Bauerntochter Rosine Binder ins Gespräch; sie wurzele im Frieden Gottes, sei noch nicht zwanzig Jahre alt, habe die Neigung, „aufwärts zu streben“, verstehe aber in Haushaltsgeschäften nur das „gewöhnliche Kochen“. Missionsinspektor Dr. Hoffmann benützte einen Besuch beim Vater in Korntal, um das „Rösle“ persönlich zu begutachten. Sein Urteil fiel überaus positiv aus. Allerdings sollte Pfarrer Staudt und seine Ehefrau dafür sorgen, dass Rosine im Nähen und Kochen sich verbessere und dazuhin sich Englischkenntnisse aneigne. Dazu blieb nicht viel Zeit. Schon am Donnerstag, 17. September 1846, wurde Rosina Binder in Korntal ..eingesegnet zu dem wichtigen Beruf, dem Herrn in West-Afrika unter den armen Negern zu dienen“; so formulierte sie es selbst. Beim werktäglichen Aus- sendungsgottesdienst war die ganze Korntaler Gemeinde versammelt, zusammen mit auswärtigen Freunden und Verwandten. Pfarrer Staudt nahm die Einsegnung vor. Zwar legten weder er noch die Gemeindevorsteher segnend ihr die Hand auf (einige Brüder hatten dagegen Bedenken gehabt); aber die Eingesegnete schrieb: „Des Herrn Hand war nicht verkürzt; darum machte es mir nichts aus!“ Außerdem legte der eigene Vater ihr beim plötzlichen Abschied segnend die Hand auf. Es folgte - zusammen mit vier neu ausgesandten Basler Missionaren - die mühsame fünftägige Reise nach London: mit dem Leiterwagen bis Bruchsal; mit der Bahn nach Mannheim; auf dem Rheinschiff bis Köln; von dort wieder mit der Bahn nach Ostende; auf einem Segelboot zur englischen Küste und dann noch einmal mit der Bahn in die Weltstadt London. Dort wurde ihr „das Herz schwer beim Blick auf die fremden Leute, auf fremde Sitten, auf die fremde Sprache“. Zu den ermutigenden Erfahrungen gehörten Gottesdienste beim schwäbischen Pfarrer Dr. Steinkopf und hilfreiche Kontakte mit Familien von Missionaren der Herrnhuter und der Quäker. Nach entmutigender Wartezeit kam endlich Mitte November der Aufbruch in Richtung West-Afrika. Gleich nach dem Einschiffen auf dem Dampfschiff warf sie jedoch die Seekrankheit aufs Bett; sie konnte nicht einmal Mantel, Schuhe und Kleider ablegen. Drei Wochen dauerte die beschwerliche Seereise. Dann ankerte das Dampfschiff vor Accra. „Mein Herz pochte, als zwei Kanus näherkamen“, berichtete die Missionsbraut. Schließlich hatte sie erst vor ihrer Abreise aus England Gewissheit darüber bekommen, dass der künftige Ehemann überhaupt ihren Namen wusste. Würde er in einem der näherkommenden Boote sein? Nein, er war ihr nicht entgegengefahren. Er stand auch nicht am Ufer. Keiner der dort stehenden Europäer war der „Künftige“. Er warte auf die Ersehnte im Missionshaus, so wurde ihr ausgerichtet. Dort im Missionshaus ließ man die beiden „Fernverlobten“ zuerst einmal sich ohne Zeugen grüßen und kennenlernen. „Es war, wie wenn wir uns schon lange gekannt hätten! Der Herr, der unseren Bund geschlossen hatte, verband unsere Herzen in inniger Liebe, noch ehe wir uns richtig kennenlernten!“ So schrieb die Braut in ihr Tagebuch. Ein paar Tage später wurde in Akropong ohne großes Aufheben Hochzeit gefeiert. Noch am Vormittag des Hochzeitstages musste der Bräutigam die Träger mit dem Gepäck in Empfang nehmen und sie entlohnen. Dann vollzog am Nachmittag der aus Basel mit eingetroffene Missionar Meischel die Trauung. Viele Afrikaner waren Zaungäste; sie bildeten vor den offenen Fenstern richtige Menschentrauben. Darum wurde die Traupredigt und die Trauzeremonie in die Landessprache übersetzt. Rosina konnte die dankbaren Gefühle gegen Gott nicht in Worte fassen! Sie hatte -zusammen mit ihrem ebenso glücklichen Mann - nur den Wunsch: Möge uns doch der Heiland dazu helfen, dass wir einander Gehilfen zur Seligkeit werden und dass wir den Afrikanern Gehilfen zum Leben werden! Treuer Einsatz unter schwersten Bedingungen Vier Jahre lang schrieb Rosina Widmann kaum Einträge ins Tagebuch. Was sollte sie auch festhalten? Zu unerfreulich waren die Spannungen auf der Missionsstation! Ausgelöst waren sie durch ehemals versklavte Christen aus Westindien. Eigentlich war es die Vision des „Korntalers“ Dr.Wilhelm Hoff-mann gewesen, damals Missionsinspektor in Basel: Diese in West- indien freigekauften Sklaven, die Christen geworden sind, sind doch eigentlich Afrikaner. Sie müssen doch ihren „Landsleuten“ den Jesusglauben besser als weiße Europäer bezeugen und Vorleben können! Missionar Riis setzte die Vision in die Realität um. 1843 hatte er einige „westindische“ Christenfamilien nach Ghana bringen lassen. Aber angesichts der unübersehbaren Fülle afrikanischer Stämme, Sprachen und Dialekte waren diese aus der Sklaverei Freigekauften alles andere als „Landsleute“. Gerade erst aus dem Versklavtsein befreit, wollten sie sich nichts mehr von „Weißen“ sagen lassen. Darum gliederten sie sich nicht in das Missionarsteam ein. Die Missionare bekamen untereinander Streit darüber, ob man die „Westinder“ hart oder liebevoll behandeln solle. Einer der besonders radikal denkenden Missionare musste nach Hause geschickt werden. Dazu kamen die ersten Anfälle von „Schwarzwasserfieber“, auch bei Rosina Widmann selber. Dem teuflischen „Erzfriedensstörer“ zum Trotz hielt sie den täglichen Nachmittags-Unterricht für Afrikanermädchen durch. Gleich nach ihrer Hochzeit hatte der Dorfvorsteher dazu eingeladen. Am Anfang waren 14 Kinder gekommen; aber bald hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt. Die Kinder fassten Zutrauen zu ihr, danach deren Eltern. Der enge Kontakt half dazu, dass Rosina sich bald ohne Schwierigkeiten mit den Ghanaern unterhalten konnte. Aber dann brachte eine schwere Erkrankung Missionar Widmann fast den Tod; die Sterberate unter den Missionaren der „Goldküste“ (so wurde Ghana damals genannt) war schrecklich hoch. Johann Georg Widmann jedoch durfte genesen, litt allerdings in der Folge immer wieder unter Fieberanfällen und unter schmerzhafter Augenentzündung. Für die ehemalige Korntalerin war besonders tragisch die „Thompson'sche Katastrophe“. Katharina Thompson, die Ehefrau des ersten in Basel ausgebildeten afrikanischen Missionars, hatte Rosina Widmann zu ihrer vertrauten Seelsorgerin gewählt. So erfuhr Frau Widmann als erste davon, dass George Thompson mit einigen „ihrer“ Schulmädchen Ehebruch getrieben hatte. Welch abgrundtiefe Enttäuschung! Wieviel erschrockene Unsicherheit bei den Missionaren, wie mit dieser Katastrophe umgegangen werden sollte! Anfang 1849 wurde endlich Rosina Widmann selbst schwanger. Aber die Zeit der Erwartung wurde belastet durch Todesfälle unter den Missionaren und durch die erbarmenswürdige Schwachheit der ebenfalls hochschwangeren Missionarsfrau Riis. Schließlich gebar Frau Riis ihr Kind, bekam aber eine eitrige Brustentzündung. Die sie pflegende Frau Widmann steckte sich an und brach zusammen, von Fieberschüben gepeinigt. Zehn Tage war sie ohne jedes Bewusstsein. Beim Aufwachen wusste sie nicht mehr, wer sie war und wo sie sich eigentlich befand. Wie aus einer schwarzen Nacht tauchten zuerst wieder die Korntaler Kinderjahre auf. Korntal! Dort gab es gewiss auch Reibungen unter den Geschwistern, es gab Krankheiten und andere Nöte. Auch Korntal war keine „heile Welt“. Aber in Korntal wurde auch erfahren: „Unter Belastungen wächst auch Gottes Gnade!“ Das auch in Ghana zu erfahren, war das ständige Gebet von Rosina Widmann. Vom Herrn erbeten! Samuel („vom Herrn erbeten“), so nannten die überglücklichen Eheleute Widmann den im November 1849 geborenen Ältesten, dem in den folgenden Jahren noch fünf Geschwister folgten. Auch „vom Herrn erbeten“ war es, dass sich die Verhältnisse unter den Missionaren nach dem Abgezogenwerden des in Afrika „sozusagen verwilderten“ Missionspioniers Riis verbesserten; an seiner drastisch-derben Art im Umgang mit den Afrikanern und mit den aus Westindien geholten Christenfamilien hatten sich viele der von Liebe beseelten jüngeren Missionare gestoßen. Auch konnte sich Rosina Widmann seelisch und körperlich erholen. Ihr Mann, ein fähiger Erforscher der einheimischen Twi-Sprachen, wurde mehr und mehr zur „Säule“ der Goldküstenmission, auf die Missionsinspektor Dr. Hoffmann so viel gesetzt hatte. In den Augen der englischen Kolonialherren wurde es als geradezu unglaublich angesehen, dass „the Widmanns“ so lange im ungesundem Klima Ghanas leben und arbeiten konnten. Im Januar 1869 reisten Rosina und Missionar Johann Georg Widmann zum letzten Mal nach Afrika aus. Sie mussten - nach einem längeren gemeinsamen Heimaturlaub - ihre sechs Kinder im Basler Kinderhaus zurücklassen. Auf dem Missionsfeld gab es keine Ausbildungsmöglichkeit für sie. Außerdem sollte Frau Widmann sich ganz auf die Missionsarbeit konzentrieren können. Rosine Widmann machte es dem biblischen Vorbild der Samuelmutter Hanna auch darin nach: Sie befahl ihre Kinder bewusst dem lebendigen Gott! Nur so konnte sie den Schmerz des Weggebens überwinden. Jedoch half ihr auch die Liebe der afrikanischen Christen. Diese hatten die ältergewordenen Missionarsleute empfangen mit den Worten: „Ihr dürft nie wieder Weggehen! Ihr müsst bei uns bleiben, bis ihr sterbt!“ Noch neun Jahre konnte sie gemeinsam mit ihrem Mann in Ghana wirken. 1872 feierten die beide ihre Silberne Hochzeit in Afrika - ein seltenes Ereignis in den großen Missionsfamilien! 1877 starb Johann Georg Widmann. Frau Rosina, die seine „Dia- konin“ und die „Mutter der Gemeinde“ gewesen war, reiste mit ihrem jüngsten Sohn in die alte Heimat Korntal. Dort wurde sie zur Freude ihrer Kinder und Enkel 82 Jahre alt. Am 14. November 1908 verstarb sie in Korntal und wurde in Heimaterde bestattet. Mit der für sie vorbildlichen Prophetenmutter Hanna hatte sie erlebt: „Der Herr macht arm und macht reich; er erniedrigt und erhöht. Die Unfruchtbare hat viele geboren. Er wird behüten die Füße seiner Heiligen.“ 10. Samuel Kullen (1827 - 1865) Korntaler Missionar in drei Kontinenten Samuel Kullen wurde am 20. April 1827 als Sohn des Korntaler Institutsvorstehers Johannes Kullen geboren. Seinem Vater setzte er in Dankbarkeit ein Denkmal mit dem Buch „Fünfundfünfzig Erbauungsstunden des entschlafenen Johannes Kullen“, erschienen 1852 in Korntal. Dieser Sammlung von biblischen Auslegungen seines Vaters stellte der Sohn einen ausführlichen Lebenslauf des Lehrers und Institutsvorstehers Kullen voran. Noch entscheidender jedoch als der Kullensche Vater- und Vorelterneinfluss auf Samuel Kullen waren die Weichenstellungen, die der „Korntaler“ Dr. Wilhelm Hoffmann (1806 -1873) im Leben von Samuel Kullen vornahm: 1849 holte er den stellungslosen Kandidaten der Theologie Kullen zur Missionsausbildung nach Basel; 1858 berief er den aus indischem Missionsdienst hinausgeekelten Kullen als Tutor an das Berliner Domkandidatenstift; 1860 sorgte Dr. Hoffmann dafür, dass Samuel Kullen die Pfarrstelle an der deutsch-französischen evangelischen Gemeinde in Beirut/Libanon übertragen wurde. Das kurze Leben und Wirken von Samuel Kullen gewährt darum auch immer wieder Ausblicke auf die kühnen strategischen Konzeptionen von Dr. Wilhelm Hoffmann. „So dass Jesus dich brauchen kann ...!“ Samuel verlor seine Mutter, als er gerade drei Jahre alt war. Treue „Vize-Eltern“ wurden ihm die Rettungshauseltern Andreas Barner und Christine, geb. Kullen. Auch die Verwandten im Hül- bener Schulhaus nahmen sich treu um den kleinen Samuel an. Die Barner-Vettern im Korntaler Rettungshaus waren ihm wie Geschwister. Mit besonderer Liebe hat jedoch der Vater Johannes Kullen den Weg seines Sohnes begleitet. Es war seine tägliche Gebetsbitte: „Hilf, o Herr, meinem Samuel auch heute durch!“ Samuel wollte auf den Pfarrberuf zugehen. Zusammen mit dem Vetter Gottlob Barner (später Pfarrer in Barmen) ließ sich Samuel auf das „Landexamen“ vorbereiten. Der Vater Johannes hatte keine Einwände gegen dieses Berufsziel, obwohl er in seinen jungen Jahren große Bedenken gegen Theologie und Landeskirche gehabt hatte. Nun aber war es seine Überzeugung: „Wenn junge Leute schon biblische Erkenntnis auf die Universität mitbringen, dann werden sie weniger aus ihrem Schriftglauben herausgerissen werden, auch wenn sie da und dort Ungläubiges hören werden.“ 1841 begleitete der schon kränkliche Vater seinen Samuel ins „niedere Seminar“ Blaubeuren. In treuem Briefverkehr ließ er den Kontakt mit dem Sohn nicht abreißen. Er schrieb ihm: „Ich freue mich, wie sich Deine Lehrer und Repetenten um Euch annehmen. Allerdings könnte man doch noch evangeliumsgemäßer in der Freude des Glaubens mit Euch umgehen!“ Vom Vater hatte Samuel eine besondere Liebe zur Mathematik geerbt. Der Vater ließ ihn wissen: „Treibe mathematische Studien, soweit Du es nebenher tun kannst. Es wird die Zeit kommen, da man bezahlte Pfarrer nicht mehr anstellen kann. Dann kannst Du mit Mathematikunterricht Dein Brot verdienen. Die Liebe Jesu muss Dich dazu treiben, Deine Gaben durch gründliches Studieren so auszubilden, dass er Dich in seinem Reich brauchen kann, wo und wie er will!“ Leider verlor Samuel nun auch noch den Vater im Jahr 1842. Umso wichtiger waren ihm die vielen Briefe; sie waren ihm ein Vermächtnis. In den Seminaren Blaubeuren (1841/42) und Schöntal (1843/44) war Samuel bei Lehrern und bei Mit-Seminaristen hochgeschätzt. Trotz seiner auffallenden Begabung galt er nie als „Streber“. Schließich hatte ihn der Vater immer wieder vor „Selbstüberhebung“ gewarnt: „Die wahre Berufung eines Knechtes Gottes ist eingehüllt in ein unaufhörliches Gefühl von Angst und eigener Untüchtigkeit!“ 1845 bezog Samuel als Theologiestudent das Evangelische Stift in Tübingen. Sein etwas älterer Hülbener Vetter Johannes Kullen (1827 - 1905) erzählt: „Samuel war schon im Seminar stets Primus.“ Im Tübinger Stift blieb er auf derselben Höhe. Bei seiner Bescheidenheit sah man ihm die hervorragende Begabung nicht an. Sein Predigen war gedankenreich und tiefgehend. In der Staatsprüfung erhielt er für Predigt und Katechese die beste Note; insgesamt schloss er das Examen mit der seltenen Note „eins“ ab. Trotzdem war damals an eine Anstellung im Kirchendienst nicht zu denken. Die Vikars- und Pfarrstellen waren überbesetzt. Jetzt galt es erst recht: „Der Herr soll Dich in seinem Reich brauchen können wo und wie er will!“ Kurzentschlossen bewarb sich Samuel Kullen um Aufnahme in das Basler Missionshaus. Damals war Dr. Wilhelm Hoffmann dort noch Leiter. Er war es, der den wesentlich jüngeren Kornta-ler Freund zum Missionsdienst ermutigt hatte. Er war es, der Wert darauf gelegt hatte, dass qualifizierte Theologen die Schar der seminaristisch ausgebildeten Missionare komplettierten. Dr. Hoffmann hatte auch die Parole ausgegeben: „Mit aller Kraft die Arbeit in Indien angehen und ausbauen!“ Am Riesenumfang des vielgestaltigen Heidentums müsse das Evangelium von Jesus seine Kraft erweisen. Für die Arbeit in Indien sollte auch Samuel Kullen aufgebaut werden. Dr. Hoffmann freute sich vor seiner Übersiedelung nach Tübingen noch darüber, dass Samuel Kullen sich in die Sanskritsprache einarbeitete; „denn die eigentliche Verleugnung des Missionars liegt darin, sich einer mächtigen fremden Nation so hinzugeben, dass er mit ihr verwächst“ (Hoffmann). Schon 1852 wurde Kullen dazu ausersehen, zusammen mit dem in Basel ausgebildeten ehemaligen Brahmanen Hermann Kaundinja ein Predigerseminar in Mangalur/Südindien aufzubauen. Für die Evangeliumsverkündigung sollten einheimische indische Christen ausgebildet werden. Beim Leonberger Missionsfest 1851 wurden Kullen und Kaundinja durch Prälat Dr. Sixt Carl Kapff ordiniert. Die Ausreisenden wurden begleitet vom neuen Basler Missionsinspektor Joseph Josenhans (1812 - 1884), der auf dem indischen Missionsfeld „nach dem Rechten“ sehen wollte. Zu lange hatten nach der Überzeugung der Basler Missionsleitung begabte, aber höchst eigenwillige Missionspioniere versucht, ihren eigenen Kopf durchzusetzen. So war es - völlig berechtigt - die Überzeugung der an verschiedenen Orten wirkenden Basler Missionare: Man kann angesichts der Kastenunterschiede Indiens und auch angesichts der unterschiedlichen Volksstämme und Sprachen keine gemeinsame Basler Ausbildungsstätte für junge indische Pastoren aufbauen! Stattdessen wollte jeder Missionar seine eigenen Helfer schulen. Doch dies war nur ein Streitpunkt unter vielen zwischen der Basler Leitung und den ideenreichen, einsatzbereiten, aber auch eigenwilligen Indienmissionaren wie Samuel Hebich, Greiner, Dr. Mögling und Dr. Gundert. Immer wieder hatten sich diese Missionare auf dem Missions-Compound Mangalur getroffen, um sich nach Möglichkeit von den Direktiven Basels abzukoppeln. Nun aber kam der neue Herr Missionsinspektor höchstpersönlich nach Mangalur und dekretierte: „Mangalur wird die neue Ausbildungsstätte; sie wird geleitet werden von Samuel Kullen und von Hermann Kaundinja!“ Die beiden kamen also unter Umgehung des Regens direkt in die Traufe! Die alterfahrenen Missionare ließen Kullen einfach ins Leere laufen. Das mit viel Optimismus geplante Seminar wurde ein Fehlschlag. Der erste auf vier Jahre geplante Kurs war noch nicht zu Ende, da musste das Seminar schon wieder aufgelöst werden. Es hatte Krankheiten und sogar Todesfälle unter den Studierenden gegeben. Es gab grobe sittliche Verfehlungen unter den Indern. Samuel Kullen muss sich in aller Harmlosigkeit etwas zu intensiv um indische Studierende angenommen haben. Man warf ihm widernatürliche Beziehungen vor, sprach von einer „Kullenschen Katastrophe“ und schickte ihn mit dem nächsten Schiff, das von Madras abging, nach Europa zurück. Als Großstadtmissionar in Berlin 1856 schlug sich Samuel Kullen als College-Lehrer im englischen Hüll durch. Dort lernte er Margarete am Ende (1830 -1898) als seine spätere Frau kennen. Die Tochter aus einer hoch-gestellten preußischen Offiziersfamilie konnte sich auch in ganz einfache Verhältnisse schicken. So hielt sie mit ihrem einfachen Einkommen als Lehrerin einer Töchterschule in Hüll ihre Leutnantsbrüder finanziell über Wasser. An ein Heiraten war wegen Geldmangel nicht zu denken. Wieder trat Dr. Hoffmann als Helfer in Aktion. Er war inzwischen Berliner Hof- und Domprediger geworden. Der preußische König hatte ihn gebeten, sich vor allem um die religiöse und sittliche Not des aus allen Nähten platzenden Berlin anzunehmen. Durch die vielen Zuzüge aus der Provinz waren die Kirchgemeinden der Hauptstadt zu monströsen Gebilden herangewachsen. Es gab Pfarrbezirke, in denen zwei Pfarrer für insgesamt 80.000 Gemeindeglieder zuständig waren. In Hoffmanns Domgemeinde gab es allein 1852 über 80 Trauungen, über 800 Taufen, 262 Konfirmanden und 260 Beerdigungen. Dr. Hoffmann war es zu wenig, nur „Kasual-Pope“ zu sein. Kurzentschlossen belebte er das stillgelegte Domkandidatenstift neu. Stellungslose Theologen aus ganz Deutschland wurden eingeladen, dort praxisbezogene Weiterbildung zu absolvieren. Sie sollten vor allem Seelsorge bis hinter die Glastüren auf- und ausbauen und erste diakonische Hilfe in Notlagen vermitteln. Da erinnerte sich Dr. Hoffmann an seinen „Korntaler Schutzbefohlenen“ Samuel Kullen. 1858 berief er ihn als „Repetenten“ oder „Tutor“ der jungen Theologen; Kullen nahm den Ruf als „Hilfsprediger“ am Domkandidatenstift an - und endlich 1860 konnte er sein „Gretchen“ heiraten. Dr. Hoffmann hatte mit diesem vertrauensvollen Ruf zur Arbeit an und mit jungen Theologen Kullens Ehre wiederhergestellt. Das war eine Christentat im „Korntaler Geist“! Pfarrer als Großstadtmissionare zu schulen für Menschen, die in einem Meer religiöser Gleichgültigkeit lebten, das war die Herausforderung für Samuel Kullen. Aber schon Monate später hat- te Dr. Hoffmann eine noch delikatere Aufgabe für Kullen vorgesehen. Im September 1861 übernahm Kullen die evangelische deutsch-französische Gemeinde in Beirut im Libanon. Missionarischer Gemeindepfarrer in der Levante Mit einem Schlag hatten sich die europäischen Großmächte für den Vorderen Orient interessiert. Zuvor hatten Christen - vor allem der Basler Spittler und der nach Jerusalem entsandte englisch-preußische Bischof Gobat - die Bedeutung des „heiligen Landes“ neu entdeckt. Die Wirtschaft Europas, vor allem Frankreichs, erkannte die hohe ökonomische Bedeutung der Levante. Mit der rapide steigenden Bedeutung des Vorderen Orients wurde Beirut zu einem Stützpunkt von Politik (Konsulate!) und Wirtschaft (Banken!). Freie christliche Werke stießen nach (katholische Orden; protestantische Missionen; der „Johanniterorden“ und auch die Kaiserswerther Diakonie). Krankenhäuser und Schulen wurden gebaut. Durch den interkonfessionellen Bürgerkrieg von 1860 zwischen maronitischen Christen und muslimischen Drusen wurde das europäische Interesse am Libanon nur noch angefacht. Der preußische Generalsuperintendent Dr. Hoffmann reagierte wach mit dem von ihm geleiteten „Jerusalem-Verein“. Mit seinen geistlich-missionarischen Motiven hängte er sich an die groß-preußischen Einflusspläne an. Eine deutsch-französische Gemeinde, dem preußischen Oberkirchenrat unterstellt, war ins Leben gerufen worden. Erster Pfarrer dieser Gemeinde war der aus einer französischen Emigrantenfamilie stammende Berliner Domkandidat Krämer. Während der Wirren von 1860 jedoch hatte er sich zur Rückkehr nach Deutschland entschlossen. Nun brauchte Dr. Hoffmann für diesen geistlich-politischen Vorposten in der Levante einen sprachbegabten, ausdauernden und auch mit diplomatischem Fingerspitzengefühl ausgestatteten Nachfolger. Samuel Kullen warf sich engagiert auf die neuen Aufgaben. Mit seiner Sprachbegabung hatte er sich bald so ins Arabische und Neugriechische eingelebt, dass er in diesen Sprachen predigen, ja auch Seelsorge in den Hospitälern der Johanniter und der Kaisers-werther Schwestern ausüben konnte. Kullen kümmerte sich um die Gemeindeschule, die allerdings dahinsiechte. Er richtete Bibelstunden für die deutschen Schwestern und Pfleger ein, er begann eine französische Katechese für Kinder. Trotzdem hatte Kullen mit einer überaus schwierigen Gemeindesituation zu ringen: Der Schwung des Anfangs war vorüber, die finanziellen Beiträge gingen zurück, der Kirchenbesuch bröckelte ab. Ein Grund dafür war die finanziell stark unterstützte Gründung einer anglo-amerikanischen Gemeinde; ihr Pastor war zugleich Vorsteher der schottischen Judenmission. Kullen ließ jedoch keinen Neid aufkommen. Im Korntaler Stil war es ihm um ein geschwisterliches Verhältnis zwischen den beiden Gemeinden zu tun. Samuel Kullen hielt auch engen Kontakt mit anderen im Vorderen Orient vom Jerusalemverein angestellten Pfarrern. 1863 und noch einmal 1865 besuchte er auf Maultierrücken Jerusalem, wo er sich mit Bischof Gobat - einem ehemaligen Basler Missionar - über die Lage im Vorderen Orient austauschte. 1865 brach in Beirut eine Cholera-Epidemie aus. Die Ausländer flüchteten mit ihren Familien auf die Höhen des Libanon. Auch Kullen brachte seine Frau mit den beiden Kindern nach Bhamdun auf das Gebirge. Er selbst kehrte als treuer Seelsorger zu seiner Stadtgemeinde zurück. Nach einem Besuch bei den Seinen brach die Cholera auch bei ihm aus. Zuerst meinte man, einen Sonnenstich diagnostizieren zu müssen. Trotz großer Schwäche predigte Samuel Kullen am Sonntagmorgen noch in deutscher Sprache. Beim „französischen“ Nachmittagsgottesdienst jedoch brach er auf der Kanzel zusammen. Kurz darauf starb er am 4. Oktober 1865. Auf dem amerikanischen Friedhof von Beirut fand er seine letzte Ruhestätte. Auf der weißen Marmorplatte wurden die Worte eingemeisselt: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben ... ihre Werke folgen ihnen nach.“ Als echter Missionar hatte Samuel Kullen mit einem frühen Tod gerechnet. Er hatte für diesen Fall seiner Frau aufgetragen, nach Württemberg zu ziehen. Dort wurde der vaterlosen Familie durch die Verwandten das ehemalige Korntaler Haus des Institutsvorstehers Kullen zur Verfügung gestellt. So wurde Korntal aufs Neue zu einem „Bergungsort“ für Menschen, die eigentlich im Orient hatten dazu mithelfen wollten „Zion“ zu bauen.