Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Die starke Hand

 

Engadin! – Der Name klingt wie ein Gedicht. Wir hatten einen Sommertag lang die Schönheit dieses herrlichen Landes genossen. Nun war es Abend. Wir bummelten noch ein wenig durch die Strassen von Pontresina. Kurgäste aus aller Herren Länder, Hotelburschen, Sennen, Alte und Junge, Reiche und Arme belebten die Straßen.

Auf einmal schritten zwei junge Männer an uns vorbei, die aller Blicke auf sich zogen: straff, braungebrannt, gingen sie mit langen, federnden Schritten gleichmütig durch die Menge.

„Das sind zwei berühmte Bergführer!“ sagte jemand.

Wir sahen ihnen nach. Ein Hauch von Abenteuern lag über ihnen. Und dann kam die Rede natürlich auf die Bergführer.

Während des Gesprächs gingen meine Blicke immer wieder hinüber zu den weißen Schneegipfeln der Bernina, die leise im Abend verdämmernd über die dunklen Tannenwälder herübergrüßten.

Mein Schweizer Freund folgte meinen Blicken. „Ja, sieh dort den scharfen Grat! Das ist der Bianco-Grat. Da hat es ein Bergführer einmal erlebt, dass Amerikaner schwindlig wurde. Er kauerte sich nieder und war durch alles Zureden nicht zu bewegen, weiterzugehen. Da erhob der Führer drohend seinen Eispickel und schrie: „Ich schlag' Sie jetzt über den Grat hinunter, wenn Sie nicht sofort weitergehen!“ Da erschrak der Amerikaner so fürchterlich, dass er aufsprang und – um sein Lehen zu retten – die beängstigende Gratwanderung fortsetzte. Und als sie wieder im Tal waren, da gab der reiche Mann dem Führer einen Extra-Dollarschein. Denn er hatte begriffen, wie prächtig ihm der Führer geholfen hatte.“

„Von dem Bianco-Grat weiß ich noch eine andre Bergführer-Geschichte“, sagte jetzt ein anderer Freund. „Da geht es steil bergauf durch harten Schnee, rechts und links aber schauerlich hinunter in endlose Tiefen. Und dann kommt da eine Stelle – da ist der Grat ausgebrochen ...“

„Da hört es einfach auf?“ frage ich erschrocken.

„Nun ja, es ist nicht so schlimm. Aber man muss eben doch etwas über einen Meter springen zu der Stelle hin, wo der Grat weitergeht.“

Uns, die wir aus der Ebene kommen, schaudert ein wenig hei diesem Bild. Aber mein Freund fährt fort: „Nun, für geübte Leute ist es nicht gefährlich. Also – dort ist nun die Geschichte passiert. Da geht eine Gesellschaft über den Grat. Sie kommen an diese Stelle. Der Führer springt voran. Der Nächste zögert. Da streckt der Führer ihm die Hand hin.

Der Ängstliche sieht nachdenklich auf die Hand – er überlegt, ob er es wagen kann. Da schüttelt der Bergführer nachdrücklich diese seine sehnige, braungebrannte Hand und ruft: „Sie können es getrost wagen. Diese Hand hat nie jemand losgelassen!”

Was nun noch weiter gesprochen wurde, habe ich nicht mehr gehört. Denn meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Ich sah im Geist diese starke Hand vor mir und hörte das unendlich stolze Wort: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“ Aber vor meinen Augen änderte sich das Bild der Hand. Die Hand, die ich sah, war durchbohrt.

Mein Leben mit Jesus ist auch eine Gratwanderung. Seitdem ich mein Leben an Ihn angeseilt habe, ging es oft über steile und gefährliche Wege. Und immer wieder wollte mir schwindlig werden. Immer wieder sagte das verzagte Herz: „Man kann nicht einfach gegen alle Berechnung nur auf Jesus hin leben.“ Aber dann war es immer so, wie dort am Bianco-Grat. Er streckte mir Seine Hand, die für mich durchbohrt war, entgegen und sagte: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“

Ja, so ist es! O, diese starke Hand Jesu! Man kann sich ihr getrost anvertrauen. Jesus sagt im 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums: „Niemand soll die Meinen aus meiner Hand reißen.“ Und ich bin gewiss, dass niemand und nichts Ihn zum Lügner machen wird.