Wilhelm Busch

Das Denkmal in Gilgal

 

„Und die zwölf Steine, die sie aus dem Jordan genommen hat­ten, richtete Josua auf zu Gilgal."

Josua 4, 20

 

Erlaubt mir, dass ich eure Aufmerksamkeit auf ein seltsames Denk­mal richte.

Ich weiß: Denkmäler stehen bei uns nicht hoch im Kurs. Die Zeiten ändern sich zu schnell. Ein Mann, dem man vielleicht heute ein Denk­mal errichten wollte, ist morgen schon vergessen oder als Verbrecher entlarvt. Darum hat unsere Zeit an Stelle von Denkmälern einfach und praktisch die Straßennamen gesetzt. Die lassen sich schnell und billig ändern und sind auch eine ganz hübsche Erinnerung. Wir sind also wieder einmal sehr unzeitgemäß, wenn wir uns mit einem Denkmal beschäftigen. Und nun gar mit einem Denkmal, das vor 3000 Jahren bei Gilgal am Jordan errichtet wurde! Aber es lohnt sich, dies Denkmal anzusehen. Denn es ist ein Vorbild und eine Abschattung des wichtigsten Denkmals aller Zeiten: des Kreuzes auf Golgatha.

 

 

Was das Denkmal am Jordan bedeutet

 

1. Es bezeugt eine Entscheidung Gottes

Nun muss ich zunächst von dem Denkmal erzählen. Da wird uns im Buch Josua berichtet, wie das Volk des Alten Bundes, das Gott aus der schrecklichen Sklaverei in Ägypten erlöst hatte, nach 40jähriger Wanderung am Jordan stand. Dort drüben lag das ersehnte Land der Freiheit. Aber — es führte kein Weg hinüber. Und es gab wirklich keine menschliche Möglichkeit, dass dies arme Nomadenvolk mit Weibern, Kindern und Herden im Angesicht seiner Feinde über den Strom kommen konnte. Nun war eigentlich alles zu Ende.

Doch der lebendige Gott war noch da. Er schafft spielend Wege, wo wir keine mehr sehen. Ja, Gott war noch da!

Aber — da war ein schlimmes „Aber"! Die 40 Jahre, die hinter Israel lagen, waren böse Jahre, voll von Ungehorsam gegen Gott oder von Gleichgültigkeit gegen Ihn. Da hatte man sich gegen Gott empört oder war Ihm weggelaufen. Wie oft hatte Gott sagen müssen: „Sie haben mich erzürnt..."

Ist das nur Israels Geschichte, oder ist es nicht auch die unsrige?

 

Und nun standen sie am Jordan. Festgefahren! Was nun? Da greif Gott ein: Er befiehlt, dass die Priester die Bundeslade, das Zeichen Seiner Gegenwart, ergreifen und in den Fluss hineingehen sollen. Ein­fach hineingehen! Die tun das. Und nun geschieht das Wunder: Vor ihrem Fuß weichen die Wasser zurück. Gott schafft einen Weg. Seine Hände halten die Wasser auf. Mitten im Strom bleiben die Priester stehen. Das Volk zieht an ihnen vorbei — hindurch. Und da lässt der Anführer Josua zwölf große Felsblöcke aus dem Strombett aufneh­men. Als alles vorbei ist, werden die am Ufer zu einem Denkmal geschichtet.

Was predigt das Denkmal? Es sagt: Gott entschied sich für uns. Er entschied sich für uns, als wir es nicht erwarten durften. Er entschied sich für uns, obwohl wir Ihn erzürnt und betrübt haben. Er entschied sich für uns aus reiner, bloßer Gnade, „ohn' all unser Verdienst und Würdigkeit".

Solch ein Denkmal sollten wir heute haben; heute, wo kein Mensch mehr weiß, wie wir mit Gott dran sind! Wo nur eins klar ist, dass wir Ihn schlimmer erzürnt haben als Israel. Ja, solch ein Denkmal sollten wir haben!

Das ist die „Frohe Kunde" (= Evangelium): Wir haben solch ein Denkmal! Es ist das Kreuz Jesu von Golgatha. Es sagt dir, dem Sün­der: Gott hat sich für dich entschieden. Aus lauter Liebe und Gnade. Gott will dich. Gott sagt „Ja" zu dir.

Ich entsetze mich bei dem Gedanken, es könnte einer hier diese Bot­schaft zur Kenntnis nehmen und dann in seinem Leben alles beim alten lassen. Das Kreuz sagt: Gott hat sich für dich entschieden. Nun ist eine Entscheidung bei dir fällig.

Mit ein paar Brüdern bete ich vor jedem Gottesdienst. Und da be­wegt es mich, dass einer jedes mal bittet: „Herr, lass Entscheidungen für Dich fallen!"

 

2. Es spricht vom Weg an das andere Ufer

Im Geiste sehe ich in späteren Zeiten einen Vater aus Israel mit sei­nem Sohn an dem Denkmal vorbeigehen. Der Junge fragt: „Vater, was ist das für ein seltsamer Steinhaufe?" Und dann erzählt der Vater: „Sieh, wir standen einst ratlos dort drüben. Wo wir standen, war die Wüste. Am anderen Ufer war das blühende Land. Wo wir standen, war die Unruhe. Am andern Ufer waren die Ruhe und der Friede. Wo wir standen, waren die Armut und die Not. Am andern Ufer war der Reichtum ... O wie sehnten wir uns nach dem andern Ufer! Aber wir sahen keinen Weg. Und nun sieh das Denkmal an: Hier hat Gott uns einen wundersamen Weg bereitet, den Weg an das andere Ufer." So spricht der Vater. Und in seinen Augen glänzen die Tränen der Bewegung.

Wir leben von Natur alle in der Wüste. Davon singt ein Dichter: Hier ist Müh / morgens früh / und des Abends spät, / Angst, da­von die Augen sprechen, / Not, davon die Herzen brechen. / Kalter Wind oft weht." Und ein anderer schildert die Menschen dieser Wüste: „Sie suchen, was sie nicht finden, / in Liebe und Ehre und Glück / und kommen beladen mit Sünden / und unbefriedigt zu­rück." Und das Schrecklichste: Es ist eine Welt ohne Hoffnung. Was hast du zu erwarten? Das Grab! Und dann? Das Gericht Gottes. Und wer könnte da bestehen?

Haben wir nicht schon manchmal Sehnsucht gehabt nach dem andern Ufer? Nach einer Welt, wo man Frieden im Herzen und Frieden mit Gott hat? Wo man sich ein Kind des lebendigen Gottes nennen darf? Wo man Vergebung der Sünden und Trost in allem Leide kennt? Wo man das ewige Leben schon ergriffen hat und sich hier schon auf den Himmel freuen kann? In unsern besten Stunden schreit unser armes, friedeloses Herz: „Wo ist das Denkmal, das Zeichen, dass mir der Weg zum andern Ufer gebahnt ist?"

Gott sei Dank! Wir wissen eine Antwort: Der Weg zum andern Ufer führt über das Kreuz Jesu auf Golgatha. Darüber wäre viel zu sagen. Aber heute kann ich euch nur ganz allgemein die Richtung weisen: „Der Weg zum Paradiese / führt über Golgatha."

 

3. Es ruft die Welt

Als dort am Jordan die Felsblöcke aufgeschichtet waren, sagte Josua zum Volke: „Wenn eure Kinder hernach ihre Väter fragen: Was sol­len diese Steine?, so sollt ihr ihnen sagen: Israel ging trocken durch den Jordan... auf dass alle Völker auf Erden die Hand des Herrn erkennen."

Wenn dieser Steinhaufe schon ein Ruf an die Welt war, wie viel mehr gilt das für das Kreuz, auf das jenes Denkmal hinweist. Was wir predigen, geht alle Völker und Menschen an. Seit dem Turmbau zu Babel ist die Zertrennung und Not der Völker- und Menschenwelt ins Ungemessene gewachsen. Und was einst Jesaja Sa8te, gilt heute mehr als je: „Sie gingen alle in der Irre wie Schafe, und ein jeglicher sah auf seinen Weg." Und das ist ein Irrweg!

 

Das Kreuz ruft die Menschen aller Völker zum Heil Gottes. Jener Steinhaufe stand in Gilgal. Gilgal heißt auf deutsch etwa „wegwäl­zen". Das ist bedeutungsvoll. Die Menschen tragen unendliche Lasten. Von der größten Last jedoch reden sie nicht gern, von der Schuld vor Gott.

Das Kreuz aber ist das Gilgal für die Welt: Hier dürfen wir alle, alle Lasten abwälzen, Schuld und Not und Sorge. „Komm zum Kreuz mit deinen Lasten, / müder Pilger du. / An dem Kreuze kannst du rasten. / Da ist Ruh."