Wilhelm Busch

Die Eiche zu Sichem

 

„Da sprach Jakob zu seinem Hause und zu allen, die mit ihm waren: Tut von euch die fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt euch, und ändert eure Kleider... Da gaben sie ihm alle fremden Götter, die unter ihren Händen waren, und ihre Ohrenspangen; und er vergrub sie unter einer Eiche, die neben Sichern stand."

1. Mose 35, 2 und 4

 

Heute wollen wir von einem Grab sprechen.

Bei diesem Grabe handelt es sich aber nicht um eine betrübliche, son­dern vielmehr um eine sehr frohe Geschichte. Es geht da auch gar nicht kümmerlich, sondern herrlich und großartig zu. Wir überschreiben die Geschichte:

 

 

Das seltsame Grab

 

1. Wie es zu diesem Grabe kam

Unsre Textgeschichte erzählt von dem großen Gottesmann Jakob. Aus dem armen Jüngling war ein reicher Mann geworden. Ihn um­gab ein Gewimmel von Kindern, Enkeln, Knechten und Herden. Da hatte er jeden Tag unendlich viel zu tun und zu regeln. Jakob wird wahrscheinlich oft ein geplagter und gehetzter Mann gewesen sein.

Aber — es war merkwürdig —: Je mehr Jakob sich nun mühte, desto schwieriger wurden die Verhältnisse, desto mehr drang auf ihn ein.

Und dann auf einmal — geradezu unmotiviert — steht da in der Geschichte: „Und Gott sprach zu Jakob: Mache dich auf und ziehe nach Bethel und mache daselbst einen Altar dem Gott, der dir einst erschien!"

Gott redet nur in der Stille. So müssen wir annehmen, dass Jakob aus aller Verworrenheit seines Lebens, aus allen Nöten und aus aller Unruhe in die Stille geflüchtet ist. Und da redet Gott! Es wird uns lange nicht alles berichtet, was Gott Jakob in dieser Stunde aufdeckte. Es liegt immer ein großes Geheimnis über solchen Stunden, wo Gott mit einer Seele allein redet. Aber wir können Einiges ahnen:

Gott sagt etwa so: „Sieh, Jakob! Es ist nicht von ungefähr, dass dein Leben so hart und unruhig geworden ist. Denn in deinem Leben und in deinem Hause ist nicht mehr alles, wie es sein sollte. Da haben sich heidnisches Wesen und weltliche Eitelkeit eingeschlichen. Da wird der Heilige Geist betrübt. Das Geisteswesen hat nicht mehr die Ober­hand."

Diese stille Stunde mit Gott wurde für das Leben Jakobs entschei­dend. Und wer aufmerksam die Bibel liest, wird bald entdecken, dass solche Gottesstunden das Wichtigste im Leben aller Knechte Gottes sind.

Haben wir noch die Fähigkeit zur Stille vor Gott? Zu solcher schöp­ferischen Pause? Der katholische Professor Pieper hat in einer be­deutsamen Schrift dargestellt, dass — ganz anders als in anderen Erd­teilen und Rassen — das Kennzeichen der abendländischen Kultur ein eiserner und verbissener Arbeitsdrang ist. Der Preis, den wir dafür bezahlt haben, ist ungeheuerlich: Es fehlt uns das Atemholen des inneren Menschen.

Dazu kommt der Wahnsinn unsres sogenannten Kulturlebens. Jeder ist beständig einem Hagel von äußeren Eindrücken ausgesetzt: von Fernsehen und Sensationen, von Zeitungen und Politik, von Radio und Unterhaltung. Der Mensch lebt nur noch von dem, was von außen auf ihn gepresst wird.

Und da hinein tönt wie eine tiefe Glocke das Wort des 46. Psalms: „Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin!" Die griechische Bibel übersetzt: „Habt musse und erkennt, dass ich Gott bin!"

 

2. Wie das seltsame Begräbnis stattfand

Kehren wir zu Jakob zurück, nachdem wir festgestellt haben, dass

seine Lebensprobleme im Grunde die gleichen waren wie die des

modernen Menschen.

Jakob tritt unter seine Leute und fordert sie auf: „Tut von euch die

fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt euch!" Da gaben sie

ihm die Götzen und Ohrenspangen; und er vergrub sie unter einer

Eiche zu Sichern.

Das war eine Stunde! Ich sehe im Geist, wie der Jakob unter der alten Terebinthe das Grab geschaufelt hat. Und nun tritt einer nach dem andern vor und wirft in die Grube, was Gott nicht gefällt. Da waren solche, die sprangen freudig herbei. Auf ihren Gesichtern stand: „Endlich kommt mein Leben in Ordnung!" Und da standen andre, deren Gesichter waren blass. Sie sahen die Götzenbilder in ihren Händen an, wie süß und lieblich und wertvoll sie waren. Was gab es da für ein Ringen in den Herzen! Und dann traten sie vor und warfen — mit Tränen in den Augen. Aber sie warfen! Solch eine Grube sollten wir haben! Aber — so möchte ich fragen — genügt ein Grab, in dem die äußeren Zeichen meiner Weltliebe und Sünde versinken? Ich müsste ein Grab haben, in das mein böses Herz und mein ungeistliches Wesen versenkt werden könnten. Wenn es doch solch ein Grab gäbe!

Freunde! Das gibt es! Es ist das Kreuz des Sohnes Gottes auf Gol­gatha, das für alle Zeiten und für alle Menschen aufgerichtet worden ist. Ich sehe im Geist, wie durch die Jahrhunderte hindurch alle Knechte und Mägde Gottes — ach nein! alle Kinder Gottes zu diesem Kreuze pilgern und dort ihre Lieblingssünden, ja, ihre alte, böse Natur in den Tod geben; wie sie unter dem Kreuze stehen und fle­hen: „Liebe, zieh uns in dein Sterben, / lass mit dir gekreuzigt sein, / was dein Reich nicht kann ererben! / Führ' ins Paradies uns ein." dass wir doch die Botschaft vom Kreuz recht erfassen wollten! Das Kreuz Jesu ist die Versöhnung mit Gott. Aber es ist mehr! Paulus sagt: „Jesus Christus ist uns von Gott gemacht zur Heiligung." Das Kreuz ist das Grab unserer Liebe zur Welt und zur Sünde. Das Kreuz ist das Grab, wo unsere alte, ungeistliche Natur in den Tod gegeben wird. Bildet euch nicht ein, ihr wüsstet etwas vom Christen­stand, wenn ihr nicht versteht, was das heißt: „Ich bin mit Christo gekreuzigt." Oder: „Durch ihn ist mir die Welt gekreuzigt und ich der Welt."

O Freunde! Seid stille und erkennt, wer Gott ist und wie es um uns steht! Und dann lasst uns unser Leben unter Jesu Kreuz gründlich in Ordnung bringen! Lasst uns zu Gott schreien wie der Liederdichter Gottfried Arnold in dem Verse: „Herr, zermalme, brich, vernichte / alle Macht der Finsternis, / unterwirf sie dem Gerichte, / mach des Sieges uns gewiss. / Heb uns aus dem Staub der Sünden, / wirf die Schlangenbrut hinaus, / lass uns wahre Freiheit finden / droben in des Vaters Haus."

 

3. Wie der ganze Vorgang zu einer Bereicherung führte

Kehren wir noch einmal zu Jakob zurück! Glaubt mir, es waren in jenes Grab Dinge versenkt worden, die einen großen Wert darstell­ten. Und ein Volkswirtschaftler könnte sich ausrechnen, um wie viel ärmer das Volk des Jakob nun war.

Aber am Ende hätte er sich doch verrechnet. Denn wenn wir die fol­genden Verse in der Bibel lesen, dann erfahren wir mit Erstaunen, dass das Heer Jakobs unendlich reich geworden war. In Friede und Freude zogen sie nach Bethel. Die Furcht des Herrn fiel auf alle Hei­den ringsum, die ihnen Not gemacht hatten.

Das ist das geheimnisvolle Gesetz im Christenstand: Je mehr ich mich entäußere von dem, was Gott nicht gefällt, je mehr ich mit Jesus sterbe, je ärmer ich in mir selbst werde, je mehr ich opfere — desto reicher werde ich an allen Gaben des Heiligen Geistes: an Freude, Frieden, Hoffnung, Vollmacht. Nur der Mensch, der in der Stille vor Gott lebt, der geistlich gesinnt ist, den die Welt einen armen Narren heißt, der ist in Wahrheit reich in Gott.