Wilhelm Busch

Die Suchaktion Gottes

Kurzgeschichten der Bibel

 

Große Männer mit kleinen Herzen

 

Apostelgeschichte 8, 2: „Es bestatteten aber Stephanus gottesfürchtige Männer und hielten eine große Klage über ihn.“

 

Ist denn das nun ein Text für eine Predigt? Da kommt ja Gott überhaupt nicht vor! Und der Name des Herrn Jesus auch nicht! Gegen eine solche Textwahl sollte man doch Einspruch erheben.

Nun, die Bibel will ein Doppeltes: Sie will uns das Tun des lebendigen Gottes zeigen. Sie will uns aber auch unser eigenes Herz aufdecken. Vielleicht hilft dieser Text manch einem, dass er sich selbst ein wenig kennen lernt.

Gewiss denken jetzt viele von uns: „Mich selbst kenne ich doch!“ Bitte, sagt das nicht so schnell! Nichts ist uns unbekannter als unser eigenes Herz. Die alten griechischen Philosophen haben das als geradezu quälend empfunden. Darum mahnten sie die Menschen: „Erkenne dich selbst!“

Es gibt auf der ganzen Erde nichts, was uns unser eigenes Herz so deutlich zeigt wie die Bibel. Sie ist ein ungetrübter Spiegel, in dem wir uns erkennen können.

In unserem Text finden wir große Männer mit kleinen Herzen.

 

1) Eine bewundernswerte Tat

 

Durch die Gassen Jerusalems raste die Christenverfolgung. Die führenden Männer hatten die Besinnung verloren, und der Mob war mobilisiert. Ich kann mir vorstellen, wie es dabei zuging. Im Jahre 1933 sah ich einmal einen Menschenhaufen durch die Straßen jagen, Männer mit Knüppeln in den Händen und Mord in den Augen, Frauen mit glasigen Augen und schreiende Halbstarke. Ich hielt einen an: „Was gibt's“? Da brüllte er: „Da vorn ist ein Kommunist!“

So war's in Jerusalem. „Da ist ein Christ!“ brüllte man. „Schlagt ihn tot, den Hund!“ Vor unserm Text heißt es: „Es erhob sich eine große Verfolgung über die Gemeinde. Und sie zerstreuten sich alle in die Länder …“ Und hinter unserm Text wird berichtet: „Saulus aber verstörte die Gemeinde, ging in die Häuser und zog hervor Männer und Weiber …“

Und draußen vor den Toren lag verlassen die zerschmetterte Leiche des jungen Stephanus, den die Wut des Volkes gesteinigt hatte.

Da nun geschieht das Erstaunliche: „Es bestattete aber den Stephanus gottesfürchtige Männer …“ Diese Männer also waren nicht Christen. Die Christen waren längst geflohen oder tot. Nein! es waren fromme, aufrechte Männer aus Israel. Es waren Männer, die Gott ernst nahmen.

Diese Männer waren nicht dem unheimlichen Fanatismus verfallen. Wie gefährlich sind doch die Massen! Vom Winde bewegt werden sie dahingetrieben und kämpfen blindlings gegen irgendetwas. Schiller sagte: „Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, / Verderblich ist des Tigers Zahn. / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist der Mensch in seinem Wahn.“

Sehen wir uns vor: Oft werden wir mitgetrieben und merken es gar nicht. Ich hörte einmal das nette Verschen: „Seitdem bei Schiller ist zu lesen: / ,Verstand ist stets bei Wen'gen nur gewesen', / Glaubt die Menge wahnbetört, / Dass sie zur Minderheit gehört.“

Seht doch diese ernsten Männer, die den Stephanus begraben. Sie haben sich in Gottesfurcht freigehalten vom ansteckenden Fanatismus. Und ihre Gottesfurcht macht sie mutig. Die feierliche Beerdigung des Stephanus ist ein Protest gegen die Masse und gegen die Obrigkeit: „Ihr tut, was nicht recht ist vor Gott.“

Was für wertvolle, aufrechte Männer waren das! Sie hätten ja denken können: „Wir sind keine Christen. Was geht uns der tote Stephanus an!“ Weil sie gottesfürchtig waren, sagten sie vielmehr: „Man muss tapfer tun, was recht ist.“ Und so gingen sie unter den finsteren Blicken der wütenden Menge vor das Tor und holten die Leiche des Stephanus.

Wie hätten wir uns verhalten? Leben auch wir in dieser Gottesfurcht, die frei macht von Menschenfurcht?

 

2) Und doch – kleine Herzen!

 

Es fällt mir schwer, diese großartigen, innerlich freien Männer zu kritisieren. Und doch muss ich es tun.

Sie mussten kleine Herzen haben, wenn ihnen überhaupt nichts davon aufgegangen war, wie durch den Tod des Stephanus der starke Ruf des Evangeliums zu ihnen kam. Man kann doch solch einen Mann nicht begraben, ohne dass man sein Ende ansieht. Wie war denn das? Das ganze Sterben war eine unerhörte Evangeliumspredigt. All das Neue, das mit dem Evangelium in die Welt gekommen ist, wurde hier offenbar.

Mit dem Namen „Jesus“ auf den Lippen war Stephanus gestorben. Und während die tobende Masse ihre Steine auf ihn schleuderte, hatte er niedersinkend sie geliebt – jawohl – geliebt, und hatte für sie gebetet. Sterbend hatte er gerufen: „Ich sehe den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen.“ Von einem offenen Himmel wussten diese wackeren Männer nichts. Sie wandelten in Gottesfurcht; aber Gottes errettende Liebe in Jesus kannten sie nicht.

Nun trugen sie finster und tapfer die Leiche des Stephanus davon. Aber von dem herrlichen Evangelium merkten sie nicht eine Spur.

Sie blieben in der Furcht Gottes. Aber von der Gnade und der Liebe Gottes in Jesus sahen sie nichts. Sie sahen nichts von der Erlösung durch den Gekreuzigten. Sie trugen die Leiche eines Zeugen davon und blieben doch unberührt von seinem Zeugnis.

Wie kümmerlich klein ist doch so ein Herz! Da hören wir: „Seht, welch eine Liebe hat der Vater erzeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!“ – und wir finden diese Botschaft unaktuell und langweilig. Da hören wir: „Jesus Christus ist gekommen in die Welt, die Sünder zu erretten“ – wir aber gähnen innerlich und denken: „Wenn ich nur das Geld hätte, mir einen schonen Wagen zu kaufen.“ Da hören wir: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab“ – und wir denken heimlich: „Der Pastor sollte lieber mal über die steigenden Lebensmittel-Preise predigen.“

O unsere engen Herzen !

Wie kommt das eigentlich, dass diese Männer, die den Stephanus begruben, So vermauert waren gegen das herrliche Evangelium? Woran liegt das – auch bei uns?

Das bleibt so lange so, als unser Herz unzerbrochen ist. solange wir das Leben als einen kleinen Spaziergang ansehen, – solange wir das Wort ,Sünde' als komisch empfinden, – solange wir nichts merken von der Schrecklichkeit Gottes, bleibt unser Herz klein. Aber es kann zerbrechen – an der Gewalt des Lebens, an der Grausamkeit des Todes, an der Erkenntnis unserer Schuld, an der Wirklichkeit Gottes. Und dann – ja, dann hören wir das Evangelium: „Der Herr ist nahe den zerbrochenen Herzen.“

 

3) Eine unpassende Trauerfeier

 

„… und hielten eine große Klage über ihn.“ Wirklich, eine Beerdigung mit allem, was dazugehört: Klageweiber und Jammer und Tränen! So etwas versteht man im Orient großartig aufzuziehen.

Noch einmal muss ich den Mut dieser wackeren Männer bewundern. In diesem Augenblick, wo der Fanatismus gegen die Christen rauchte, hätten sie allen Grund gehabt, die Sache möglichst geräuschlos zu machen. Aber – nichts da! Diese gottesfürchtigen Männer kannten keine Menschenfurcht. Herrlich ist das!

Und doch! Sie machen es noch einmal peinlich klar, dass sie nicht eine Spur gehört haben von dem, was der sterbende Stephanus bezeugt hatte. Seht, in der ersten Christenheit bekannte man: „Jesus sitzt zur Rechten Gottes.“ Stephanus aber hatte im Sterben gerufen: „Ich sehe den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen.“ Das heißt: „Jetzt holt er mich heim.“

Hier wurde ein Mann begraben, der eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens hatte und der mit seinem ganzen Leben seinen Heiland verherrlicht hatte. Was war denn da zu klagen? Sie aber „machten eine große Klage“. Verständnislose blinde Welt!

So großartig diese Männer waren, ich möchte es nicht mit ihnen halten, sondern lieber mit dem Stephanus. Ich möchte beten wie jener Liederdichter: „Schenk gleich Stephanus uns Frieden mitten in der Angst der Welt, / wenn das Los, das uns beschieden, in den schwersten Kampf uns stellt. / In dem rasenden Getümmel schenk uns Glaubensheiterkeit, / öffn im Sterben uns den Himmel, zeig uns Jesu Herrlichkeit.“