Wilhelm Busch

Mara

 

„Da kamen sie gen Mara, aber sie konnten das Wasser zu Mara nicht trinken, denn es war sehr bitter... Da wies der Herr dem Mose einen Baum; den tat er ins Wasser. Da ward es süß."                                               

2. Mose 15, 23 und 25

 

Ein Mann, der wie wenige in die Geschichte hineingewirkt hat, ist der Apostel Paulus gewesen.

Nun ist in dem Leben dieses Mannes etwas Seltsames zu beobachten: Er hatte eine umfassende Bildung. Er kannte als weitgereister Mann die politischen Probleme seiner Zeit. Er wusste auch um die schreien­den sozialen Nöte, denn er kam oft mit der Sklaverei in Berührung. Von der Seefahrt verstand er fast ebensoviel wie von Religionswissenschaft und Literatur. Und dieser Mann erklärt feierlich: „Ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten."

Damit hat er die Aufgabe unserer Predigt klar umrissen. Es ist gut, wenn Christen in das öffentliche Leben gehen. Aber unsere Predigt soll nicht Stellung nehmen zu den Zeitfragen, sondern sie muss allezeit Kreuzes-Predigt sein. So will ich euch anhand dieses alttestamentlichen Wortes das Kreuz verkünden. Unsere Geschichte sagt uns:

 

 

Das Kreuz macht die bitteren Wasser süß

 

1. Die bitteren Wasser

Was für ein Jubel war das, als der Herr das Volk Israel aus der furchtbaren Knechtschaft herausführte! Nun ging es nach Kanaan, in das herrliche Land der Freiheit und des Friedens. Wenn in jener Nacht des Auszugs einer gesagt hätte: „Aber vor uns liegt noch eine schreckliche Wüste, die wir durchwandern müssen!" — dann hätte die Antwort sicher gelautet: „O, damit werden wir nun spielend fertig!" Doch es ging leider gar nicht „spielend". Die Wüste war heiß und furchtbar. Wie quälte der Durst! Und dann — end­lich! — sah man in der Ferne Palmen. „Da ist Wasser!" ruft man freudig. Die letzten Kräfte werden zusammengerafft. Man stürzt zu dem blinkenden Wasserspiegel hin. Aber — welche furchtbare Ent­täuschung! Das Wasser ist gallenbitter. Da nennen sie den Platz Mara. Das heißt „bitter".

Ich denke an ein junges Mädchen, das gerade seinen Ausbildungs­weg vollendet hatte und nun mit Eifer in einen geliebten Beruf ging. Da überfiel es die entsetzliche Krankheit Multiple Sklerose. Bald war es ganz gelähmt und konnte nichts mehr tun. Ich denke an eine junge Braut, die mit den größten Hoffnungen in den Ehestand ging und bald durch die Untreue ihres Mannes schrecklich enttäuscht wurde. Ich denke an ein junges Paar, das mit großen Erwartungen nach Kanada auswanderte und merken musste: „Wir sind den Schwie­rigkeiten dieses Landes nicht gewachsen." Ich denke an einen jungen Mann, der brennend gern Missionar werden wollte und sich bei einer Missionsschule anmeldete. Aber dann stellte sich heraus, dass seine geistigen Fähigkeiten nicht ausreichten. O, die bitteren Wasser! Das Ruth-Büchlein der Bibel berichtet von einer Frau Naemi, die nach langem Leben erklärt: „Heißt mich nicht mehr Naemi (d. h. die Huldvolle), sondern Mara; denn der Allmächtige hat mich sehr be­trübt." (Ruth 1, 20).

Wir müssen darauf achten, dass es sich in unserer Textgeschichte um Gottes Volk handelt, das eine Erlösung erlebt hat. Diese Leute kom­men nach Mara, an die bitteren Wasser. So geht es im Christenstand. Die Seele ist zuerst voll Jubel, wenn sie das Wort aus Jesaja 43, 1 glauben kann: „Ich habe dich erlöst, du bist mein." Aber dann muss der lange Weg des Glaubens zurückgelegt werden. Da geht es durch dürre Wüsten und zu bitteren Wassern. Da geht es durch Anfech­tungen und Niederlagen. Man erlebt tiefe Enttäuschungen an sich selbst und an anderen.

Kurz: Wir kommen alle zu den bitteren Wassern. Was nun? Bei den einen versinkt die Seele in Schwermut. Andre trinken die bitteren Wasser in sich hinein, bis sie ganz verbittert sind. Wieder andre suchen Vergessen im Leichtsinn.

Ich will euch einen besseren Weg zeigen:

 

2. Der wunderbare Baum

Als Israel dort so enttäuscht und verzweifelt in Mara stand, ging Mose abseits und schrie zum Herrn. Der wies ihm einen Baum. Und als man den in das Wasser stellte, wurde es süß. Die Gelehrten haben sich über diese Geschichte den Kopf zerbrochen, ob sie eine Sage sei, oder ob man sich die Sache natürlich erklären könne, und ob solch ein Baum wohl heute noch zu finden sei. Solche Sorgen können wir uns sparen.

Hören wir doch die Botschaft: Dem Volk Israel wurde mächtig ge­holfen! Und es bekam hier eine wundervolle Verheißung auf das Kreuz von Golgatha, an dem der Sohn Gottes für uns gestorben ist. Denn das Kreuz ist der Baum, der die bitteren Wasser süß macht. Achtet bitte darauf, dass es das Kreuz sein muss! Nicht irgendeine Religion! Es gibt so viele sogenannte Christen, die ein Allerwelts-Gottvertrauen haben. Aber gerade dies wird ja zuschanden an den bitteren Wassern. Hier hilft nur das Kreuz. Wie sollen wir das nun in die bitteren Wasser hineinlegen? Nun, so, dass wir mitten in unsern Traurigkeiten und Anfechtungen im Glauben aufschauen auf den gekreuzigten Heiland. Dann werden die bitteren Wasser süß. Das geschieht dann auf mancherlei Weise: Es geht uns auf, dass wir ja einen Herrn haben, der das Kreuz trug. Wollen wir mehr als Er?

Oder wir sehen in Seinem Kreuz unsre Versöhnung mit Gott. Und dann werden wir froh, weil wir wissen: Ich bin Gottes Kind, erkauft und versöhnt - trotz allem! Oder es geht uns die ganz große Liebe Gottes auf, an der wir irre werden wollten; die Liebe, die so groß ist, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab. Oder wir lernen unter dem Kreuz, dass der Weg zum ewigen Leben so aussieht, dass man seine alte Natur und all ihr Wünschen mit Christus kreuzigt. In jedem Fall erleben wir, was im 34. Psalm steht: „Welche auf ihn sehen (wie Er am Kreuz hängt für uns!), die werden erquickt."

 

3. Die Erfahrung der Kinder Gottes

Das Wort Mara kommt im Alten Testament noch einmal vor. Und zwar im Jesaja. Luther übersetzt da: „Um Trost war mir sehr bange." Wörtlich heißt es (38, 17): „Mitten im Frieden traf mich Bitteres, ja Bitteres." Aber dann geht es weiter: „Du hast dich meiner Seele herz­lich angenommen, dass sie nicht verdürbe, denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück." — Das ist ja am Kreuze geschehen! Wenn wir im Glauben das Kreuz in die bitteren Wasser unseres Lebens stellen, geht es uns wie Israel: Die Wasser des Leidens und der Anfechtung werden süß. Davon singt der Glaubens- und Lei­densmann Paul Gerhardt: „Im Streite soll es sein mein Schutz, / in Traurigkeit mein Lachen... / Im Durst soll's sein mein Wasser­quell, / in Einsamkeit mein Sprachgesell... / Wenn mich der Sonne Hitze trifft, / so kann mir's Schatten geben; / setzt mir der Wehmut Schmerzen zu, / so find' ich bei dir meine Ruh' / wie auf dem Bett ein Kranker..."

Dazu eine Erfahrung aus der Gegenwart: Missionsdirektor de Kleine berichtet, wie er mit anderen Missionaren während des Zweiten Weltkrieges in Indonesien von den Japanern verhaftet und interniert wurde. Die Verhältnisse in dem Internierungslager waren grauen­voll. Seuchen und Hunger wüteten. Forschend und prüfend beobach­teten die indonesischen Wachen, ob die weißen Christen sich in die­ser Lage bewähren würden. Da lag Pastor de Vries im Sterben. Wenige Minuten vor seinem Hinscheiden ließ er alle, die er erreichen konnte, um sein Lager versammeln, und dann sagte er mit lauter Stimme:

»Was ich im Leben verkündigt habe, das will ich jetzt, wo ich heim­gehe, noch einmal laut sagen und bezeugen: Im Leben und im Sterben gibt es nur einen, der helfen, trösten und selig machen kann. Das ist Er, der Heiland, der am Kreuz starb und Sein Blut für uns gab. Ihm habe ich gelebt, Ihm habe ich vertraut. Ihm will ich jetzt auch sterben!" Ja, das Kreuz macht die bitteren Wasser süß.