Wilhelm Busch – Was den Heiland am Kreuz festhält

 

Sonntag Estomihi 1944

»Sie spotteten sein: Ändern hat er geholfen und kann

sich selber nicht helfen!« (Matthäus 27, 42)

 

Wisst ihr, wer Simson war? Das Richterbuch in der Bibel erzählt uns von ihm, dass er ein »Verlobter Gottes« war. Oh, was war dieser Simson für ein gewaltiger Held! Als ihn einst ein Löwe ansprang, griff er ihm ins Maul und riss ihn auseinander. Und als er einst in einer Stadt war, schlössen die Philister schnell die Tore, um ihn zu fangen. Da hob Simson einfach die ganzen Tore aus und trug sie weg. Es ist erschütternd zu lesen, wie dieser Starke unter dem Einfluss einer leichtfertigen Frau aufhört, ein »Verlobter Gottes« zu sein. Da war's mit seiner Kraft aus. Seine Feinde griffen und banden ihn. Und ich sehe es förmlich vor mir, wie sie ihn verhöhnen: »Jetzt kann er sich nicht mehr helfen!« In unserem Text sehen wir auch einen gebundenen Starken.

Er war stärker als Simson. Er stillte den Sturm im Meer

und rief die Toten aus dem Tode. Und er ist mehr als ein

Verlobter Gottes — er ist der Sohn!

Und aus dieser Stellung fiel er nicht heraus wie Simson.

Ja, bei Simson ist's begreiflich, dass die Kraft von ihm

wich. Aber bei Jesus nicht!

Und doch verspotteten sie ihn: »Er kann sich selbst nicht

helfen!« Kann er wirklich nicht? Kann er nicht die Nägel

herausreißen und herabspringen? Oh, das kann er wohl.

Und doch: Es hält ihn etwas Stärkeres als die Nägel am

Kreuz fest.

 

 

Was hält den Heiland am Kreuz fest?

 

 

1. Der Gehorsam gegen den Vater

In Psalm 14, 2 heißt es: »Der Herr schaut vom Himmel auf der Menschen Kinder, dass er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage. Aber sie sind alle abgewichen ...« Alle! So hieß es damals! Doch jetzt kann man das nicht mehr so sagen. Nein! Einer ist da, der nicht abgewichen ist. Einer, um dessentwillen Gott gnädig ist. Einer »ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.« (Philemon 2, 8) Wir ge­hören unter das vernichtende Urteil: »Sie sind alle abge­fallen.« Wir sind ja so ungehorsam, dass wir Gottes Willen meist nicht mal richtig wissen. Was wissen wir denn noch von der Stille über Gottes Wort, wo man unter Gebet seinen Willen erfragt. Mit großem Geschrei geben wir unseren Willen für Gottes Willen aus. Wir laufen ihm weg. Und wenn er uns durch harte Schläge unter seinen Willen zwin­gen will, dann begehren wir auf. Ich besuchte einmal eine Mutter, deren Sohn gefallen war; das war ein schweres Leid. Aber es war nun doch erschütternd, wie bei dieser Frau nur ein Aufbegehren war: »Wie kann Gott so etwas tun?!« Meine kleine Tochter hatte mal einen ganz bösen Tag. Da ging es nur immer »Nein! Ich will nicht!« Am Abend aber tat ihr das nun selber leid. Und da betete sie: »Herr! Gib mir doch ein Ja-sage-Herz!« — Seht, der Herr Jesus hatte so ein »Ja-sage-Herz«. Der Dichter Paul Gerhardt hat das in einem seiner Lieder so wunderbar und schön ge­schildert. Da sagt der Vater: »Geh hin mein Kind, und nimm dich an, der Kinder die ich ausgetan zu Straf und Zornesruten ... « Und der Sohn antwortet: »Ja, Vater, ja, von Herzensgrund, leg auf, ich will's gern tragen...« Und seht, dieser Gehorsam gegen den Vater hält den Heiland am Kreuz fest, er ist stärker als die Nägel.

 

2. Die Ehrfurcht vor der Schrift

Als ich mich mit einem Freunde über diese Predigt be­sprach, machte er mich auf einen wichtigen Punkt auf­merksam. Jedem Kenner des Neuen Testamentes ist dies gewiss aufgefallen: So oft Jesus nach seiner Auferstehung mit seinen Jüngern über sein Kreuz sprach, berief er sich immer auf die Schrift des Alten Bundes. »Also steht ge­schrieben, und also musste es geschehen!« — Dahinter steckt ein tiefer Sinn. Der Herr macht deutlich: Die Schrift ist Gottes Wort! Und das gilt unwandelbar. Mit Gottes Wort ist es anders als mit unserem Wort und unseren Schriften. Unser Wort ist unzuverlässig! Gottes Wort aber gilt eisern. — Ein Freund von mir sagte mal: »Über alle Menschenschriften könnte man als Überschrift schreiben: >Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern !<« Der Philosoph Nietzsche hat in seinen späteren Schriften genau das Gegenteil gesagt von dem, was er früher sagte. Aber er gilt als »der Große im Reich der Geister«. So ist es mit dem Menschenwort. Es ist mit all unseren Worten wie bei jener Frau, die ein Lebensmittelgeschäft hatte. Da schrieb sie an ihren Eierlieferanten: »Schicken Sie mir eine Kiste Eier! Ihre Frau N.N.« — Nachschrift: »Eben sehe ich, dass ich noch welche habe. Also schicken Sie mir keine!« So ist Menschenwort! Ja und Nein! Man weiß nie, was gilt. Aber ganz anders ist es mit Gottes Wort. Da ist »Ja!«, das gilt!

Aber — nun passt auf! Es gab einen Augenblick, da stand es auf Messers Schneide, ob wirklich Gottes Wort gilt. Und das war, als Jesus am Kreuz hing. Seht, wenn Gott z.B. in Jesaja 43, 1 sagt: »Ich habe dich erlöst, du bist mein«, dann sollte das durch Jesu Sterben erfüllt werden. Wenn Gott in Sacharja 13, 1 sagt: »Zu der Zeit werden die Bürger zu Jerusalem einen offenen Born haben wider alle Sünde und Un­gerechtigkeit« — dann ging das auf Jesu Wunden. Wie, wenn nun Jesus vom Kreuze sprang? Wenn er sich selbst half? Dann war Gott zum Lügner gemacht. Dann waren seine Verheißungen Wind. Dann fiel das ganze Wort Gottes hin.

Und seht, das hält unseren Heiland am Kreuz und ist stärker als die Nägel: »Es muss Gottes Wort wahr sein!« Ich muss seine Verheißungen erfüllen. Sonst mache ich ihn zum Lügner. Nun kann Paulus das herrliche Wort sagen: »Alle Gottesverheißungen sind Ja in Jesus und sind Amen in Jesus« (2. Korinther 1, 20). Und nun können wir fest auf Gottes Wort vertrauen.

 

3. Die Liebe zu uns

Es hat mir einmal einer erzählt, wie er es erlebte, dass ein zum Tode Verurteilter zur Hinrichtung geführt wurde. Diese Schilderung ließ mich nicht schlafen. Und da musste ich auf einmal denken: »Ja, sind wir denn nicht alle in dieser Lage?« Ach, in noch viel schlimmerer! Wir gehen auch dem Tod entgegen. Aber damit ist's noch nicht zu Ende: dahinter kommt erst das Gericht Gottes. Und wer kann da bestehen?

Der Mensch kann sich über diese furchtbare Lage hinweg­täuschen. Durch wilde Arbeiterei, durch Zerstreuung, durch große Reden. Aber es bleibt doch so! Und da heißt es auch wieder, wie so oft, von dem Sohn Gottes: »Es jam­merte ihn des Volkes.« Und darum schuf er durch sein Sterben eine Errettung. Oh, dass wir uns doch gründlich zu ihm bekehrten! Bei ihm ist Errettung vom Gericht, weil er die Sünden vergibt. Bei ihm ist Errettung vom Tode, weil er der Lebensfürst ist und den Tod überwunden hat. Und wenn einer von uns dies Heil verschmähen sollte, so

bleibt er doch der, »dem allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht.«

Seine Liebe zu uns, sein Errettungswille, hält ihn fester am Kreuz als die Nägel. Er wollte es durchfechten für uns und hat es getan.

In meiner Bücherei habe ich ein Buch mit dem Titel: »Die ganz große Liebe!« In dem ist von Jesus die Rede. Oh, ihr Leute, denen das Leben hart mitspielt: Seht doch am Kreuz »die ganz große Liebe«! Sprecht mit Tersteegen:

»Ich will, anstatt an mich zu denken,

ins Meer der Liebe mich versenken.«