Über den eigenen Schatten springen

oder

Ein kleiner Schritt für Petrus

Apostelgeschichte 10, 1-48

 

Predigt Andreas Symank

Freie Evangelische Gemeinde Zürich Helvetiaplatz

Zürich, 3. Oktober 1999

 

 

Wissen Sie, welches Ereignis in der Apostelgeschichte am ausführlichsten berichtet wird? Es ist die Umkehr des römischen Hauptmanns Kornelius zu Jesus Christus; Kapitel 10. Lukas hält diese Begebenheit offensichtlich für so bedeutsam, daß er sie im nächsten Kapitel gleich noch einmal erzählen läßt – durch Petrus vor der Muttergemeinde in Jerusalem. Und in Kapitel 15, auf dem Apostelkonzil, trägt Petrus sie in geraffter Form nochmals vor – als Präzedenzfall für den Umgang von Judenchristen mit Heidenchristen. Diese Bekehrungsgeschichte fängt ja damit an, daß sowohl Kornelius als auch Petrus eine Vision haben, in der ein Engel bzw. eine Stimme vom Himmel zu ihnen spricht. Lukas erzählt die Geschichte so raffiniert, daß beide Visionen zweimal berichtet werden: Kornelius schildert sein Erlebnis vor Petrus, und Petrus schildert sein Erlebnis vor der Jerusalemer Gemeinde. Lukas wiederholt sich immer und immer wieder, bis auch der letzte begreift: Hier haben wir eine Schlüsselstelle bei der Ausbreitung des Evangeliums; was hier geschah, war bahnbrechend für die noch junge christliche Gemeinde.

 

So, ehe wir uns mehr Gedanken zu diesem Bericht machen, wollen wir ihn uns einmal anhören. Ich habe Apostelgeschichte 10 ihm Rahmen meiner Arbeit an der NGÜ erst vor ein paar Wochen übersetzt und erlaube mir, das Kapitel in dieser Version vorzulesen; es handelt sich natürlich nur um einen Übersetzungsentwurf, noch nicht um die endgültige Fassung. Das Kapitel ist total spannend; aber damit es noch spannender wird, habe ich ein paar junge Leute gebeten, beim Vorlesen mitzuhelfen. [Ganz links der Engel bzw. die Stimme aus dem Himmel; dann Kornelius; dann einer seiner Boten; und schließlich der Hauptakteur, Petrus. Ich übernehme den Erzähler.]

Die Vision des römischen Hauptmanns Kornelius in Cäsarea
1 In Cäsarea lebte ein römischer Offizier namens Kornelius, ein Hauptmann, der zum sogenannten „Italischen Regiment“ gehörte. 2 Kornelius war ein frommer Mann, der mit seiner ganzen Familie und allen anderen Mitgliedern seines Haushalts an den Gott Israels glaubte; er gab großzügige Spenden für die Bedürftigen in der jüdischen Bevölkerung und betete treu und regelmäßig.

3 Eines Tages – gegen drei Uhr nachmittags – hatte Kornelius eine Vision: In aller Deutlichkeit sah er, wie ein Engel Gottes zu ihm ins Zimmer trat. „Kornelius!“ hörte er ihn sagen. 4 Erschrocken starrte Kornelius den Engel an. „Was ist, Herr?“ fragte er. Der Engel erwiderte: „Gott hat deine Gebete gehört und hat gesehen, wieviel Gutes du den Armen tust. 5 Darum schicke jetzt einige Männer nach Joppe zu einem gewissen Simon mit dem Beinamen Petrus und bitte ihn, zu dir zu kommen. 6 Er ist bei einem Gerber zu Gast, der ebenfalls Simon heißt und dessen Haus direkt am Meer liegt.“ 7 Als der Engel wieder gegangen war, rief Kornelius zwei seiner Diener sowie einen gläubigen Soldaten aus seinem persönlichen Gefolge zu sich. 8 Er berichtete ihnen alles, was er soeben erlebt hatte, und schickte sie dann nach Joppe.

Die Vision von Petrus in Joppe
9 Um die Mittagszeit des folgenden Tages – die Boten des Kornelius waren noch unterwegs, näherten sich aber bereits der Stadt – stieg Petrus zum Beten auf das flache Dach des Hauses, in dem er zu Gast war. 10 Nach einiger Zeit wurde er hungrig und bat darum, etwas zu essen zu bekommen. Während ihm nun eine Mahlzeit zubereitet wurde, hatte er eine Vision. 11 Er sah, wie durch eine Öffnung im Himmel eine Art Gefäß herabkam, ein riesiges leinenes Tuch, das – gehalten an seinen vier Ecken – auf die Erde heruntergelassen wurde. 12 In dem Tuch befanden sich Tiere aller Art – Vierfüßer, Reptilien und Vögel. 13 Nun hörte er eine Stimme: „Auf, Petrus, schlachte und iß!“ 14 „Auf gar keinen Fall, Herr!“ entgegnete Petrus. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas Unheiliges und Unreines gegessen!“ 15 Doch die Stimme wiederholte ihre Aufforderung. „Was Gott für rein erklärt hat, das behandle du nicht, als wäre es unheilig!“ sagte sie. 16 Und noch ein drittes Mal wurde Petrus zum Essen aufgefordert. Danach verschwand das Tuch so plötzlich wieder im Himmel, wie es gekommen war.

Die Boten des Kornelius bei Petrus
17 Während Petrus sich noch den Kopf darüber zerbrach, was diese Vision wohl bedeutete, kamen auch schon die Männer an, die Kornelius geschickt hatte. Sie hatten sich zu Simons Haus durchgefragt und standen jetzt unten vor dem Eingangstor. 18 „Ist hier ein gewisser Simon mit dem Beinamen Petrus zu Gast?“ riefen sie. 19 Da sagte der Geist Gottes zu Petrus, der immer noch über die Vision nachdachte: „Hast du es mitbekommen? Vor dem Haus sind drei Männer, die zu dir wollen. 20 Darum steh jetzt auf und geh nach unten. Sie werden dich bitten, mit ihnen zu kommen. Folge ihnen ohne Bedenken; ich selbst habe sie geschickt.“ 21 Da ging Petrus zu den Männern hinunter und sagte: „Ich bin der, den ihr sucht. Aus welchem Grund seid ihr gekommen?“ 22 „Hauptmann Kornelius hat uns geschickt“, antworteten sie, „ein frommer und gerechter Mann, der an den Gott Israels glaubt und bei der ganzen jüdischen Bevölkerung in hohem Ansehen steht. Er hat von einem heiligen Engel den Auftrag erhalten, dich in sein Haus einzuladen, um zu erfahren, was du ihm zu sagen hast.“ 23 Als Petrus das hörte, bat er die Männer herein und sorgte dafür, daß sie bei Simon übernachten konnten.

Petrus bei Kornelius
Gleich am nächsten Morgen machte sich Petrus mit ihnen auf den Weg, begleitet von einigen Brüdern aus Joppe. 24 Am darauffolgenden Tag kamen sie in Cäsarea an. Kornelius, der seine Verwandten und seine engsten Freunde zu sich eingeladen hatte, erwartete sie bereits.

25 Als Petrus nun vor dem Haus von Kornelius stand und im Begriff war, durch das Tor zu treten, kam Kornelius ihm entgegen und warf sich ehrfurchtsvoll vor ihm nieder. 26 Doch Petrus zog ihn wieder hoch. „Steh auf!“ sagte er. „Ich bin auch nur ein Mensch.“ 27 Und während er begann, sich mit Kornelius zu unterhalten, betrat er das Haus. Überrascht sah er die vielen Leute, die sich dort zusammengefunden hatten. 28 „Ihr wißt sicher“, sagte er zu ihnen, „daß es einem Juden nicht gestattet ist, engeren Kontakt mit jemand zu haben, der zu einem anderen Volk gehört, oder ihn gar in seinem Haus zu besuchen. Aber Gott hat mir unmißverständlich klargemacht, daß man keinen Menschen nur wegen seiner Herkunft als unheilig oder unrein bezeichnen darf. 29 Daher habe ich auch keinen Einspruch erhoben, als man mich hierher holte. Und nun laßt mich wissen, aus welchem Grund ihr nach mir geschickt habt!“

30 Kornelius erwiderte: „Vor drei Tagen war ich genau um diese Zeit, nachmittags gegen drei Uhr, hier in meinem Haus am Beten, als plötzlich ein Mann in einem leuchtend weißen Gewand vor mir stand. 31 ‚Kornelius!‘ sagte er. ‚Dein Beten ist erhört worden, und wieviel Gutes du den Armen tust, weiß Gott sehr wohl. 32 Schicke daher Boten nach Joppe zu einem Simon mit dem Beinamen Petrus und lade ihn zu dir ein; er ist bei dem Gerber Simon zu Gast, dessen Haus direkt am Meer liegt.‘ 33 Daraufhin schickte ich sofort einige Leute zu dir, und du bist so freundlich gewesen, zu uns zu kommen. Nun sind wir alle hier in Gottes Gegenwart versammelt, um zu hören, was du uns im Auftrag des Herrn alles zu sagen hast.“

Das Evangelium wird zum ersten Mal vor Nichtjuden verkündet
34 „Wahrhaftig“, begann Petrus, „jetzt wird mir klar, daß Gott keine Unterschiede zwischen uns Menschen macht! 35 Er fragt nicht danach, zu welchem Volk jemand gehört, sondern nimmt jeden an, der Ehrfurcht vor ihm hat und tut, was gut und richtig ist.

36 Was ich euch bringe, ist die Botschaft, die Gott den Israeliten verkünden ließ – das Evangelium vom Frieden durch den, der über alle Menschen Herr ist, Jesus Christus. 37 Ihr habt sicher von den Ereignissen erfahren, die sich über das ganze jüdische Land hin zugetragen haben. Angefangen hatte es in Galiläa, nachdem Johannes zur Taufe aufgerufen hatte: 38 Jesus von Nazaret wurde von Gott mit dem Heiligen Geist gesalbt und mit Kraft erfüllt und zog dann im ganzen Land umher, tat Gutes und heilte alle, die der Teufel in seiner Gewalt hatte; denn Gott war mit ihm. 39 Wir Apostel sind Zeugen von all dem, was er im jüdischen Land und in Jerusalem getan hat. Und dann hat man ihn getötet, indem man ihn ans Kreuz hängte. 40 Doch drei Tage danach hat Gott ihn auferweckt, und in Gottes Auftrag hat er sich als der Auferstandene gezeigt – 41 allerdings nicht dem ganzen Volk, sondern nur denen, die Gott im voraus zu Zeugen bestimmt hatte, nämlich uns. Mit uns hat er, nachdem er von den Toten auferstanden war, sogar gegessen und getrunken. 42 Und er gab uns den Auftrag, dem ganzen Volk seine Botschaft zu verkünden und mit allem Nachdruck zu bezeugen, daß er der von Gott eingesetzte Richter ist, der über die Lebenden und über die Toten das Urteil sprechen wird. 43 Schon die Propheten haben von ihm geredet. Durch ihn, so bezeugen sie alle übereinstimmend, bekommt jeder die Vergebung seiner Sünden, der an ihn glaubt.“

Auch Nichtjuden erhalten den Heiligen Geist
44 Während Petrus noch über diese Dinge sprach, kam der Heilige Geist auf alle herab, die seine Botschaft hörten. 45 Die Gläubigen jüdischer Herkunft, die mit Petrus gekommen waren, waren außer sich vor Verwunderung, daß der Heilige Geist, dieses Geschenk Gottes, auch auf Nichtjuden ausgegossen wurde. 46 Doch es war offensichtlich: Sie hörten, wie die Versammelten in unbekannten Sprachen redeten und wie sie Gott für seine Größe priesen.

Schließlich wandte sich Petrus an seine Begleiter und sagte: 47 „Wer dürfte es jetzt noch wagen, sich dagegen zu stellen, daß diese Leute mit Wasser getauft werden – jetzt, wo sie genau wie wir den Heiligen Geist empfangen haben?“ 48 Und er ordnete an, sie im Namen von Jesus Christus zu taufen. Danach blieb er auf ihre Bitte hin noch einige Tage bei ihnen.

 

Petrus wird eingeladen. Von einem gutbetuchten Mann in einem großzügig angelegten Haus mit einer vielköpfigen Dienerschaft. Toll, nicht? Eingeladen werden ist toll: Vielleicht gibt’s Kaffee und Kuchen. Vielleicht machen wir ein lustiges Spiel zusammen. Vielleicht lernen wir nette Leute kennen und führend anregende Gespräche. „Schönen Dank im voraus“, sagen wir. „Wir freuen uns drauf!“

 

Merkwürdigerweise reagiert Petrus völlig anders. Petrus ist schockiert. Das heißt, er wäre schockiert gewesen, wenn er nicht diese Vision gehabt hätte, das Tuch mit der Mischung von reinen und unreinen Tieren. Ohne diese Vision hätte er auf die Einladung genauso reagiert, wie er auf die Vision reagierte: mit Abscheu und Widerwillen. Ich, Petrus, soll die Einladung von einem römischen Offizier annehmen? Lieber würde ich sterben! In meinem ganzen Leben habe ich noch mit keinem Unbeschnittenen zu Tisch gesessen. Nur schon sein Haus zu betreten und die Gegenstände dort zu berühren würde mich unrein machen, und ich wäre fürs erste vom Gottesdienst in der Synagoge ausgeschlossen. Und wenn Kornelius mich dann zu Tisch bitten würde – was soll ich essen? Alles würde mich verunreinigen, das Brot, die Milch, das Olivenöl, der Wein, und am meisten natürlich das Fleisch, das wahrscheinlich von einem verbotenen Tier stammt oder vorher einer heidnischen Gottheit geopfert worden war und das in jedem Fall nicht koscher geschlachtet wurde, sondern noch Blut enthält. Nein, für diese Einladung setze ich meine Frömmigkeit und meinen guten Ruf nicht aufs Spiel!

 

Merken wir etwas? Durch Palästina lief damals ein tiefer Riß. Die Bevölkerung war gespalten in Juden und Heiden. Die Juden waren das erwählte Volk Gottes. Alle anderen waren in ihren Augen von Gott verstoßen. Sie waren die Gerechten, alle anderen gottlos. Sie hatten das Licht des göttlichen Gesetzes, die anderen lebten in Finsternis und Schmutz. Und sogar wenn einer wie dieser römische Offizier sich für den Gott Israels interessierte und zu ihm betete und der jüdischen Bevölkerung mit großen Geldspenden half, änderte das nichts daran: Er war ein Unbeschnittener und gehörte nicht zum erwählten Volk. Durch Palästina zog sich ein tiefer und breiter Graben. Petrus steht auf der einen Seite und Kornelius auf der anderen. Der Graben scheint unüberbrückbar. Petrus will ihn gar nicht überbrücken. Alles in ihm sträubt sich dagegen. Nur schon der Gedanke, bei einem Heiden am Tisch zu sitzen, läßt Ekel in ihm hochsteigen. In seinem tiefsten Inneren ist dieses Empfinden verwurzelt und verankert. Der Magen würde sich ihm umdrehen, wenn er unreine Speisen aus unreinen Schüsseln essen müßte. Und Achtung: Es ist nicht nur die Erziehung und die Gewohnheit, die Petrus hemmen; das ließe sich ja im Lauf der Zeit vielleicht noch umpolen. Nein, es gibt noch ein viel stärkeres Argument: Gottes Wort! Gott selbst hat durch Mose das Essen bestimmter Tiere verboten (3. Mose 11). Gott selbst hat die Beschneidung als Bundeszeichen eingesetzt, als Zeichen für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Gottes Wort (so, wie Petrus und sein ganzes Volk es verstehen) ist es, das eine Schranke zwischen dem jüdischen Apostel und dem heidnischen Offizier aufrichtet.

 

Da steht also auf der einen Seite des Grabens Petrus und will nicht hinüber. Und auf der anderen Seite steht Kornelius. Kornelius möchte den Graben wohl gern aufschütten, aber er weiß, daß das unmöglich ist. Am liebsten würde er rufen: Petrus, komm herüber und hilf mir! (wie jener Mann aus Mazedonien, der Paulus in einer nächtlichen Vision aus Asien nach Europa rief). Aber Petrus ist nicht bereit zu kommen. Seine Erziehung hemmt ihn. Seine Frömmigkeit hindert ihn. Gottes Wort verbietet es ihm.

 

Da müßte Gott schon höchstpersönlich eingreifen und Petrus einen Stoß geben, damit er über den Graben springt. Und genau das tut Gott. Er gibt Petrus einen Stoß. Was sage ich, einen – vier Stöße gibt er ihm. Gleich viermal schubst er Petrus, viermal tut er etwas so Außergewöhnliches, daß Petrus es schließlich wagt und über seinen eigenen Schatten springt und bereit ist, einen Nichtjuden zu taufen, ihn als Mitglied von Gottes Familie willkommen zu heißen, ohne daß dieser Nichtjude beschnitten ist oder die jüdischen Speisevorschriften einhält. Am Ende dieses Kapitels steht die Bekehrung von Kornelius. Aber damit die möglich wurde, mußte erst einmal Petrus sich bekehren, mußte umkehren von seinem verkehrten Denken und lernen, die Menschen anderer Völker so zu sehen, wie Jesus sie sieht. Und mir scheint beinahe, die Bekehrung des Petrus kostete Gott mehr Überzeugungsarbeit als die Bekehrung des Kornelius!

 

Der erste Schubs, den Gott Petrus gab, war die Vision mit dem Tuch. (Fragen Sie mich nicht, wie das genau vor sich ging; ich habe noch keine Vision gehabt. Ich stelle es mir vor wie einen Traum am hellichten Tag und bei vollem Bewußtsein, so lebensecht und realistisch, als wären das Tuch und die Tiere tatsächlich vorhanden.) Auf jeden Fall sieht sich Petrus plötzlich einer Mixtur aus reinen und unreinen Tieren gegenüber, erlaubten und verbotenen Tieren. Das Schaf neben dem Schwein, die Kuh neben dem Kaninchen. Petrus weiß, daß diese Vision von Gott kommt (das Tuch kommt vom Himmel, und die Stimme kommt vom Himmel), aber er begreift nicht, was Gott damit bezweckt. „Auf, Petrus, schlachte und iß!“ Will Gott mich auf die Probe stellen? Will er meine Gesetzestreue testen? Petrus ist sich seiner Sache so sicher, daß er es wagt, dem göttlichen Befehl zu widersprechen: „Auf gar keinen Fall, Herr! So was hab ich noch nie gemacht, und so was werde ich niemals machen! Kommt nicht in die Tüte!“ Merkwürdig nur, daß Gott seine Gesetzestreue nicht zu würdigen scheint. Im Gegenteil, die Stimme weist ihn zurecht: „Was Gott für rein erklärt hat, das behandle du nicht, als wäre es unrein!“ Und noch zweimal wiederholt sie den Befehl: „Schlachte und iß!“, ehe das Tuch wieder im Himmel verschwindet und einen total perplexen Petrus zurückläßt. Was soll das alles? Ich kapier überhaupt nichts mehr. Im Gesetz von Mose hat Gott diese Tiere doch für unrein erklärt. Und jetzt behauptet er, er habe sie für rein erklärt?! Wann ist denn das passiert? Petrus grübelt und grübelt. Über den Graben springt er zwar noch nicht, aber seine Standfestigkeit und Selbstsicherheit sind doch gehörig ins Wanken geraten.

 

Der zweite Schubs, den Gott Petrus gibt, kommt, als die Boten des Kornelius bei ihm eintreffen. Sie stehen unten vor dem Haus und rufen nach ihm. (Der begleitende römische Soldat hätte jederzeit das Recht gehabt, einfach die Tür zu öffnen und hineinzuspazieren, aber er ist rücksichtsvoll und tut es nicht; er weiß, daß er damit dieses Haus in den Augen seines jüdischen Besitzers verunreinigen würde.) Petrus auf dem flachen Dach des Hauses raucht der Kopf immer noch so, daß er nichts davon mitkriegt, obwohl doch sein Name laut gerufen wird. An dieser Stelle schaltet sich Gott wieder höchstpersönlich ein: „Hast du es mitgekriegt? Vor dem Haus sind drei Männer, die zu dir wollen. Darum steh jetzt auf und geh nach unten. Sie werden dich bitten, mit ihnen zu kommen. Folge ihnen ohne Bedenken; ich selbst habe sie geschickt.“ Dieser göttliche Befehl ist der zweite Schubs: „Geh ohne Bedenken mit ihnen; ich selbst habe sie geschickt.“ Petrus erfährt, daß es Heiden sind, Leute, deren Einladung er eigentlich strikt ablehnen würde. Aber was will er machen? Gott selbst befiehlt ihm, mit ihnen zu gehen. Und irgendwie dämmert ihm, daß mit den unreinen Tieren in dem Tuch vielleicht genau diese Boten aus Cäsarea gemeint waren. Kurz und gut, Petrus geht mit. Diesmal macht er schon einen gehörigen Satz: Er springt über seinen eigenen Schatten und betritt das Haus des Römers, des Unbeschnittenen, des Unreinen. (Übrigens: Etwa 800 Jahre früher befand sich in Joppe schon mal jemand, den Gott zu den Heiden schickte und der ebenfalls wahnsinnige Mühe hatte mit diesem Auftrag: der Prophet Jona. Nach Ninive sollte er, zu den Assyrern, und er nahm in Joppe ein Schiff nach Spanien, in die Gegenrichtung – ehe er auf dem Umweg über das Innere eines großen Fisches dann doch noch zur Besinnung kam.  Merkwürdig, wie sich Geschichte manchmal wiederholt – oder dann eben doch nicht wiederholt: Petrus hat zwar größte Mühe, aber er schlägt doch gleich die richtige Richtung ein.) Welche Überwindung das Petrus gekostet hat, macht Lukas deutlich, indem er so detailliert wie möglich berichtet: Petrus bleibt vor dem Haus stehen, Kornelius läuft ihm entgegen, fällt vor ihm nieder, Petrus richtet ihn wieder auf, sie beginnen sich zu unterhalten – und dann endlich tritt er über die Schwelle. Und gleich als allererstes stellt Petrus klar, wie ungeheuerlich dieser Schritt für ihn als Juden ist, es war kein Schritt, es war ein Sprung, ein Quantensprung: „Ihr wißt sicher, daß es einem Juden nicht gestattet ist, engeren Kontakt mit jemand zu haben, der zu einem anderen Volk gehört, oder ihn gar in seinem Haus zu besuchen.“ „Aber“, fügt er dann hinzu, „Gott hat mir unmißverständlich klargemacht, daß man keinen Menschen nur wegen seiner Herkunft als unheilig oder unrein bezeichnen darf. Daher habe ich auch keinen Einspruch erhoben, als man mich hierher holte.“ Wir merken – der Groschen beginnt zu fallen. Aber völlig klar sieht Petrus immer noch nicht: „Nun laßt mich wissen, aus welchem Grund ihr nach mir geschickt habt!“

 

Den dritte Schubs erhält er, als Kornelius ihm erzählt, wieso er ihn zu sich eingeladen hat: Gott hat es ihm befohlen, in einer Vision, schon vor drei Tagen, mit präzisen Angaben, wo er Petrus finden kann! Petrus ist baff. Dann hat Gott also in diesem heidnischen Haus schon Vorarbeit geleistet! Noch ehe ich meine Vision hatte, hatte Kornelius seine! Gott hat sich von beiden Enden her vorangearbeitet, vom Einladenden her und vom Eingeladenen her. Und alles hat er mit ungeheurer Präzision synchronisiert; eins greift wie in einem großen Räderwerk ins andere, alles paßt zusammen, alles geht auf. „Wahrhaftig“, sagt Petrus, „jetzt wird mir alles klar. Jetzt begreife ich, daß Gott keine Unterschiede zwischen uns Menschen macht!“ Und dann beginnt er ihnen das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden – die gute Nachricht von der Liebe Gottes zu uns. Und seine Zuhörer hören zu und öffnen sich für Jesus und unterstellen sich ihm.

 

Und jetzt kommt der vierte und letzte Schubs, das Tüpfelchen aufs i: Während Petrus noch spricht, schenkt Gott allen diesen Zuhörern mit ihren offenen Ohren und ihrem offenen Herzen den Heiligen Geist! Petrus und die mitgereisten Judenchristen merken es daran, daß sie genau dasselbe tun wie die Apostel seinerzeit an Pfingsten, als sie den Heiligen Geist bekamen: Sie reden in unbekannten Sprachen, und sie preisen Gott für seine großen Taten. Gott gibt ihnen seinen Geist. Wissen Sie, was das bedeutet? Gott gibt ihnen neues Leben, sie erleben die Wiedergeburt, sie sind ab jetzt Gottes Eigentum und gehören zu seinem Volk – genau wie die Christen jüdischer Herkunft. Obwohl sie nicht beschnitten sind, obwohl sie nicht versprochen haben, in Zukunft die jüdischen Speisegebote zu befolgen und den Sabbat zu halten. Sie stehen nicht einen Millimeter unter den jüdischen Christen. Sie sind nicht deren Stiefgeschwister. Sie sind vollwertige, gleichberechtigte Brüder und Schwestern. Und da macht Petrus Nägel mit Köpfen: Er tauft sie auf den Namen von Jesus Christus zum Zeichen, daß ihr Leben ihm gehört und daß sie ab jetzt Mitglieder der Gemeinde Jesu sind. Wenn Gott den gläubigen Heiden diese hohe Position verliehen hat, darf und will Petrus sie nicht nachträglich zu Zweite-Klasse-Christen degradieren. Er riskiert alles, setzt sein Ansehen vor den Juden aufs Spiel und wagt den unerhörten, kühnen, innovativen Schritt: Unbeschnittene zu taufen.

 

Jetzt hat Petrus seinen Schatten endgültig übersprungen; jetzt, wo Kornelius sich bekehrt hat, ist auch bei Petrus die Umkehr zu einem neuen Denken abgeschlossen. Es hat viel gebraucht; Gott mußte seine schwersten Geschütze auffahren, eine dicke Berta nach der anderen, bis Petrus endlich begriffen hatte. Vier Stöße mußte er ihm geben. Aber dann hatte Petrus es gewagt, die Tür zu etwas ganz Neuem aufzustoßen. Der Graben war übersprungen.

 

Kleine Zwischenfrage: Wieso mußte es eigentlich gerade Petrus sein, der Kornelius das Evangelium verkündete? War das von Gott nicht ein bißchen umständlich inszeniert? Extra jemand von so weit her kommen lassen (von Joppe nach Cäsarea sind es nicht weniger als 10 Stunden Fußmarsch!), wo es doch in Cäsarea schon seit längerer Zeit Christen gab! Philippus z. B. wohnte dort, der das Gespräch mit dem Finanzminister aus Äthiopien geführt hatte. Philippus hätte Kornelius doch bestimmt ebensogut alles Nötige erklären können.

 

Nun, Petrus war eben nicht irgendwer. Petrus war der Anführer der Apostel, der erste unter den zwölf Jüngern. Jesus selbst hatte ihm diese Stellung verliehen: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen“ (Matthäus 16,18). Und noch etwas hatte Jesus ihm versprochen: „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben“ (16,19). Petrus sollte der sein, der das Himmelreich für andere aufschloß. Und das hat er denn auch getan. Zu Pfingsten hielt er in Jerusalem vor Festbesuchern aus aller Welt eine gewaltige Predigt und schloß damit den Juden die Tür zu Jesus auf. Einige Zeit später reiste er nach Samaria zu denen, die bereits das Evangelium gehört hatten, betete mit ihnen und legte ihnen die Hände auf, so daß sie den Heiligen Geist bekamen, und so schloß er den Samaritanern die Tür auf. Und jetzt schickt ihn Gott zu Leuten, die auf der anderen Seite des Grabens leben, damit er auch ihnen die Tür ins Reich Gottes aufschließt. Petrus hat sein Schlüsselamt gut verwaltet.

 

Aber wenn man sich’s genau überlegt, dann war es eigentlich gar nicht Petrus, der die Türen aufschloß; es war Gott selbst! Hier in Cäsarea ist es mit Händen zu greifen: Petrus steht vor dem Tor und will nicht hinein. Er weigert sich. Er begreift nicht. Gott muß ihm einen Stoß geben, und noch einen, und noch einen, und noch einen, bis er schließlich den Schritt über die Schwelle macht. Im Grunde schließt Gott selbst auf; Petrus muß nur noch hinter ihm her marschieren und offene Türen einrennen. Gott macht ihm (mit Hilfe der Visionen und der himmlischen Stimme) alles so unmißverständlich klar, daß Petrus nur noch eins und eins zusammenzählen muß. Gott stellt ihn vor so ein erwartungsvolles Publikum, daß Petrus nur noch den Mund aufzumachen und das Evangelium zu predigen braucht, und schon sind seine Zuhörer überzeugt. Gott gießt seinen Geist in so offensichtlicher Weise auf die Heiden aus, daß Petrus nur noch das Zeichen der Taufe dazufügen muß. Angesichts von all dem, was Gott getan hat, kann er am Ende nur sagen: „Wie hätte ich mich Gott in den Weg stellen können?“ (Apg. 11,17)

 

Das war also die Umkehr des Petrus – die Abkehr von seiner auf ein Volk und auf äußere Dinge verengten Sicht und die Hinkehr zu einer Sicht, die alle Völker umfaßt und sich auf das Wesentliche konzentriert: „Wahrlich, jetzt wird mir klar, daß Gott keine Unterschiede zwischen uns Menschen macht! Er fragt nicht danach, zu welchem Volk jemand gehört, sondern nimmt jeden an, der Ehrfurcht vor ihm hat und tut, was gut und richtig ist“ (Apg. 10,34.35). Äußerlich gesehen war es ein kleiner Schritt – nicht mehr als der Schritt über eine Türschwelle. Aber was für ein großer Schritt war es für das Denken von Petrus und für sein Verhalten! Und was für ein riesiger Schritt war es erst für die Gemeinde Jesu! Von jetzt an würde nichts mehr so sein wie vorher. Von jetzt an würden sich Menschen aller Völker der Gemeinde anschließen können, ohne zuerst einmal einen jüdischen Lebensstil annehmen zu müssen. Eigentlich konnte die Weltmission erst jetzt so richtig beginnen.

 

Damit haben wir diese zentrale Begebenheit der Apostelgeschichte ein wenig unter die Lupe genommen, und zwar aus der Perspektive des Petrus. Man könnte sich das Ganze jetzt auch noch aus der Sicht des Kornelius ansehen, und dabei kämen nochmals zahlreiche interessante Dinge zum Vorschein (oder auch aus der Sicht der sechs Judenchristen, die als Zeugen mit Petrus gereist sind). Aber dafür reicht die Zeit heute nicht. Statt dessen möchte ich, um die Sache abzurunden, noch auf zwei Fragen hinweisen, die mit der Bekehrung des Kornelius aufbrachen – Fragen, die sich die jüdischen Anhänger Jesu bis dahin gar nicht gestellt haben und auch gar nicht stellen mußten, Grundfragen zur biblischen Lehre, die bis heute unter den Christen z. T. heftig und hitzig diskutiert werden und die zeigen, von welcher Tragweite dieses Geschehen war.

 

Da ist zum einen die Frage nach dem alttestamentlichen Gesetz. Das Alte Testament listet eine lange Reihe von Tieren auf, die die Israeliten nicht essen dürfen, weil Gott sie als unrein bezeichnet (3. Mose 11). Und jetzt sagt die himmlische Stimme zu Petrus von eben diesen Tieren: „Was Gott für rein erklärt hat, das behandle du nicht, als wäre es unheilig!“ Widerspricht sich Gott hier nicht? Kann er denn sein eigenes Wort für null und nichtig erklären? Ist das, was er sagt, nicht immer und ewig gültig? (Deswegen war Petrus ja so skeptisch!)

 

Wissen Sie, was ich denke? Das Alte Testament ist von Anfang bis Ende ein prophetisches Buch, ein Buch, das über sich hinausweist in die Zukunft. Es berichtet von unvollkommenen Dingen und kündigt etwas Vollkommenes an. Es lenkt den Blick auf einen, der noch gar nicht da ist: auf Jesus. Alles, was im Alten Testament steht, bereitet auf Jesus vor. Wie sagte Jesus zu seinen jüdischen Zuhörern? „Ihr forscht in der Schrift (= im Alten Testament), weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu finden. Aber gerade die Schrift weist auf mich hin“ (Johannes 5,39). Das Alte Testament berichtet z. B. von Königen, einigen guten, vielen weniger guten, einigen ganz schlimmen. Und damit weckt es die Hoffnung auf einen König, der größer und besser ist als David & Co, auf einen, der wirklich gerecht regiert. Das Alte Testament berichtet von Priestern, Priestern, die kamen und gingen, die Tieropfer brachten für die Schuld des Volkes, aber auch für die eigene Schuld. Und damit weckt es die Hoffnung auf einen Priester, der größer und reiner ist als Aaron & Co, auf einen, der schuldlos ist. Das Alte Testament berichtet von Propheten, Propheten, denen Gott ab und zu ein Stückchen von sich offenbarte und die dieses Wissen an ihre Mitmenschen weitergaben. Und damit weckt es die Hoffnung auf einen Propheten, der größer ist als Mose & Co, auf einen, der uns Gott ständig und vollständig offenbart, der ihn durch und durch kennt. Erst in Jesus Christus finden die alttestamentlichen Einrichtungen der Prophetie, des Priesterwesens und des Königtums ihre letzte und endgültige Erfüllung. In Jesus ist das Ziel erreicht, auf das Gott hinauswollte. Erst durch Jesus hat Gott uns alles gesagt, was er uns sagen wollte, und alles geschenkt, was er uns schenken wollte. (Hebräer 1,1.2) Deshalb ist nun aber auch mit Jesus alles Bisherige überboten. Jetzt noch am Alten festzuhalten, ist nicht nur rückständig und überflüssig; es ist verkehrt. Wer Christ ist, bringt keine Tieropfer mehr; Jesus ist unser Opferlamm. Wer Christ ist, braucht keinen menschlichen Vermittler mehr, um zu Gott zu kommen; Jesus ist unser Priester. Wer Christ ist, setzt keinen Herrscher mehr über die Gemeinde ein; Jesus ist unser König.

 

Und so ist es auch mit dem Gesetz. Das Gesetz regelte viele äußere Dinge wie eben die Beschneidung und das Einhalten des Sabbats und das Vermeiden bestimmter Speisen. Aber dabei entstand doch immer nur eine äußerliche Reinheit. Die Reinheit, auf die es letztlich doch allein ankommt – die Reinheit des Herzens –, konnte das Gesetz nicht schaffen. Und die Bereitschaft zum Gehorsam wecken konnte das Gesetz auch nicht. Und Schuld vergeben konnte es erst recht nicht. Dafür mußte ein Größerer kommen, Jesus Christus, der uns die Schuld abnimmt und der ein neues Gesetz in unser Innerstes schreibt und uns durch seinen Heiligen Geist die Bereitschaft gibt, ihm zu folgen. Das Gesetz war als Erzieher gedacht, bis Jesus kam. Jetzt, wo der Retter, der Freund, der Lehrer persönlich da ist, kann der Erzieher abtreten. Ich glaube, keiner hat das je besser begriffen und tiefer verstanden als Paulus, vielleicht gerade deshalb, weil er vor seiner Umkehr zu Jesus so ein glühender Verfechter des Gesetzes war, stolz wie Oskar auf seine Gesetzestreue. Auf jeden Fall finden sich nirgends so klare und so konkrete Formulierungen für die neue Sicht wie bei Paulus. Zum Beispiel in Sachen Beschneidung: „Jetzt zählt nicht mehr, ob jemand zu den Griechen gehört oder zu den Juden, ob jemand beschnitten ist oder unbeschnitten, ob jemand versklavt ist oder frei. Was einzig und allein noch zählt, ist Christus“ (Kolosser 3,11). Oder in Sachen Speisegebote: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Wie sollte es da verkehrt sein, etwas zu essen, was wir mit einem Dankgebet von ihm entgegennehmen! Die Speisen sind ja durch Gottes Wort für rein erklärt und werden durch das Gebet geheiligt“ (1. Timotheus 4,4.5). Oder in Sachen Sabbatheiligung: „Niemand soll euch verurteilen, weil ihr bestimmte Festtage oder den Neumondstag oder den Sabbat nicht beachtet. Das alles ist nur ein Schatten der kommenden neuen Welt; doch die Wirklichkeit ist Christus“ (Galater 2,16).

 

Vielleicht hilft zum Verständnis ein Vergleich: Im Alten Testament wird sozusagen ein Haus gebaut. Ein Fundament wird gelegt, Mauern werden hochgezogen, Wände werden gestrichen. Solange sich ein Haus im Rohbau befindet, braucht es ein Gerüst, sonst kann man nicht weiterbauen. Die alttestamentlichen Zermonialgesetze sind solch ein Gerüst. Sie helfen, den Blick auf Gott zu richten. Aber dann kommt Jesus, und damit ist der Bau vollendet. Das Gerüst wird abgebrochen. Es gibt Leute, die wollen die Bretter und Stangen immer noch stehen lassen; sie haben sich so an sie gewöhnt, daß sie meinen, die gehörten jetzt für immer und ewig dazu, und ohne sie würde das Gebäude einstürzen. Aber dadurch lenken sie sich und andere vom Eigentlichen ab und verstellen den Blick auf die Schönheit des fertigen Gebäudes.

 

Die andere Frage, die sich mit der Bekehrung des Kornelius zum ersten Mal ganz massiv stellt: Wo ist denn jetzt das Volk Gottes zu finden? Bisher war Israel das erwählte Volk. Und sämtliche Christen waren gleichzeitig Juden. Scheinbar gab es da kein Problem. Aber seit Kornelius gibt es mit einem Mal Leute, die sind keine Juden und sind trotzdem vollwertige Christen und also auch vollwertige Mitglieder des Volkes Gottes – Römer, Griechen, Araber, Germanen, Helveter, Chinesen, Japaner, Indianer, Afrikaner. Plötzlich ist Christ nicht mehr automatisch gleich Jude. Plötzlich ist Volk Gottes nicht mehr automatisch gleich Volk Israel. Aber wie sieht denn dieses neugestaltete Volk Gottes jetzt aus? Wo ist es zu suchen? Die Antwort, so revolutionär sie den ersten jüdischen Christen vorkommen mußte, ist ganz einfach: Das Volk Gottes ist ab jetzt ein Volk aus vielen Völkern. Jesus hat, um das zu veranschaulichen, von einer Schafherde gesprochen. „Ich bin der gute Hirte“, sagt er in Johannes 10. „Ich kenne meine Schafe, und meine Schafe kennen mich ... Ich habe auch noch Schafe, die nicht aus diesem Stall sind (nämlich aus Israel). Auch sie muß ich herführen; sie werden auf meine Stimme hören, und alle werden eine Herde unter einem Hirten sein“ (Johannes 10,14.16). Eine Herde mit Schafen aus verschiedenen Ställen; ein Volk aus vielen Völkern. Paulus verwendet im Römerbrief ebenfalls ein Bild; er vergleicht Israel mit einem Ölbaum. „Einige Zweige hat Gott ausgebrochen“, sagt er – nämlich die Juden, die nicht an Jesus glauben wollten. Dafür hat Gott „Zweige von einem wilden Ölbaum eingepfropft“ (Römer 11,17) – nämlich die Nichtjuden, die bereit waren, ihr Leben Jesus zu unterstellen. Ein Ölbaum mit Zweigen verschiedenster Herkunft; ein Volk aus vielen Völkern.

 

Gott hat das von langer Hand vorbereitet. Es stimmt, in alttestamentlicher Zeit hat er ein Volk erwählt. Für die Israeliten war das das letzte Wort, der Schlußstein in Gottes Plan. Ihre Erwählung machte sie stolz. Ihre Erwählung führte dazu, daß sie sich von allen anderen Völkern abgrenzten. Dabei hatte Gott sich die Konzentration auf ein Volk nur als Zwischenstation gedacht, als Sprungbrett für einen viel umfassenderen Plan: alle Völker zu erreichen. Schließlich sind alle Menschen Gottes Geschöpfe; alle sind im gleich lieb und gleich wichtig. Und wenn man das Alte Testament aufmerksam liest, entdeckt man viele verstreute Hinweise auf dieses größere Ziel. Es ist, als hätte Gott – verzeihen Sie das kriegerische Bild – eine Zündschnur gelegt. Immer wieder gibt er einen Hinweis auf sein weltumspannendes Ziel, immer weiter frißt sich das Feuer an der Schnur. Das geht los bei Abraham, zu dem Gott sagt: „Durch dich sollen alle Völker der Erde gesegnet werden“ (1. Mose 12,3). Und weiter frißt sich das Feuer, bis zu Jesaja, der ankündigt: „Der Herr wird die Erde segnen mit den Worten: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk! Gesegnet ist Assyrien, das ich geschaffen habe! Gesegnet ist Israel, mein Eigentum!“ (19,25). Und dann kommt der Missionsbefehl von Jesus; jetzt ist das Feuer schon ganz nah beim Dynamit angelangt: „Geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern!“ (Matthäus 28,19). Und dann endlich, hier, im Haus des Kornelius, bringt Petrus den Sprengsatz zum Explodieren. Jetzt ist der entscheidende Schritt gemacht; jetzt sind die einengenden Fesseln endgültig weggesprengt. Jetzt ist der Weg freigesprengt für eine Gemeinde aus Juden und Nichtjuden.

 

Dem entspricht haargenau, was Johannes im letzten Buch der Bibel schildert: „Ich sah eine riesige Menschenmenge aus allen Stämmen und Völkern, Menschen aller Sprachen und Kulturen; es waren so viele, daß niemand sie zählen konnte. In weiße Gewänder gehüllt, standen sie vor dem Thron Gottes und vor dem Lamm“ (Offenbarung 7,9). (Das Tuch, das Petrus in seiner Vision gesehen hat, das Tuch vom Himmel mit den reinen und unreinen Tieren, ist letztlich nichts anderes als ein Bild für die Gemeinde Jesu, die Gemeinde aus Juden und Nichtjuden.)

 

Johannes sieht voraus, daß es einmal so kommen wird. Aber damals, als Petrus die Einladung von Kornelius annahm, ahnten wohl die wenigsten, was für eine Lawine er damit lostrat. Sie hielten es vielleicht eher für eine Ausnahme, einen Einzelfall. Schließlich waren bis dahin 99,9 Prozent aller Christen Juden. Wer so dachte, hatte sich ganz schön getäuscht! Indem Petrus die Tür zu Kornelius‘ Haus öffnete, stieß er ein Scheunentor auf, durch das die Heiden nur so hereinströmten. Innerhalb weniger Jahre gab es im ganzen Mittelmeerraum zahlreiche christliche Gemeinden, und überall waren die Nichtjuden in der Mehrzahl. Ja, es ging nur wenige Jahrzehnte, da hatte sich das Zahlenverhältnis völlig auf den Kopf gestellt. Für uns ist selbstverständlich, daß es in der Schweiz Christen gibt und in Deutschland und England und Amerika; Christen in Israel dagegen sind die große Ausnahme (aber zum Glück gibt es auch davon neuerdings mehr und mehr).

 

Ein Volk aus vielen Völkern – ist das nicht großartig? Daß es dazu kam, verdanken wir der Begebenheit, die Lukas uns in Apostelgeschichte 10 berichtet. Ich glaube, ich weiß auch, warum Lukas das so ausführlich schildert – nicht nur, weil er begriffen hatte, was für ein Sprengsatz da gezündet wurde, sondern auch, weil er ganz persönlich betroffen war. Lukas war kein Jude! Von allen Schreibern des Neuen Testaments ist Lukas der einzige Nichtjude! Dieser Begebenheit verdankt er alles, die Vergebung seiner Schuld, sein neues Leben, seine Hoffnung, seinen Frieden. Immer wieder wird er sich gesagt haben: Was wäre aus mir geworden, wenn Kornelius Petrus nicht zu sich eingeladen hätte? Was wäre aus mir geworden, wenn Gott Petrus nicht geschubst hätte, wieder und wieder? Was wäre aus mir geworden, wenn Petrus schließlich nicht bereit gewesen wäre, über den Graben und über seinen eigenen Schatten zu springen und über die Schwelle von Kornelius‘ Haus zu treten? Ein kleiner Schritt für diesen einen Menschen; ein großer, revolutionärer Schritt für die Gemeinde Jesu und für die ganze Menschheit. Gott sei Dank, daß Petrus ihn gemacht hat!