Heilung auf Raten

Markus 2, 1-12

 

Predigt Andreas Symank

Freie Evangelische Gemeinde Zürich Helvetiaplatz

07.09.2003

 

 

Heilung eines Gelähmten

Einige Tage später kehrte Jesus nach Kafarnaum zurück. Es sprach sich schnell herum, dass er wieder zu Hause war. Da versammelten sich so viele Menschen bei ihm, dass kein Platz mehr war, nicht einmal vor dem Haus.

Während er ihnen das Wort Gottes verkündete, wurde ein Gelähmter gebracht; vier Männer trugen ihn. Sie wollten mit ihm zu Jesus, doch es herrschte ein solches Gedränge, dass sie nicht zu ihm durchkamen. Da deckten sie das Dach über der Stelle ab, wo Jesus sich befand, und machten eine Öffnung, durch die sie den Gelähmten auf seiner Matte herunterließen. Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“

Einige Schriftgelehrte, die dort saßen, lehnten sich innerlich dagegen auf. „Wie kann dieser Mensch es wagen, so etwas zu sagen?“, dachten sie. „Das ist ja Gotteslästerung! Niemand kann Sünden vergeben außer Gott.“ Jesus hatte in seinem Geist sofort erkannt, was in ihnen vorging. „Warum gebt ihr solchen Gedanken Raum in euren Herzen?“, fragte er sie. „Was ist leichter – zu dem Gelähmten zu sagen: ‚Deine Sünden sind dir vergeben’ oder: ‚Steh auf, nimm deine Matte und geh umher!’? Doch ihr sollt wissen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.“ Und er wandte sich zu dem Gelähmten und sagte: „Ich befehle dir: Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause!“ Da stand der Mann auf, nahm seine Matte und ging vor den Augen der ganzen Mange hinaus. Alle waren außer sich vor Staunen; sie priesen Gott und sagten: „So etwas haben wir noch nie erlebt!“

 

Eine tolle Geschichte, die sich da in Kafarnaum am See Gennesaret zugetragen hat! Ein Mann dringt durch ein Loch im Dach in ein Haus ein, und bald darauf verlässt er das Haus durch die Tür. Vier Männer müssen ihn herbeischleppen; allein und ohne jede fremde Hilfe marschiert er wieder davon. Er kommt im Liegen und geht im Stehen. Zu Beginn liegt er auf einem Bett, weil seine gelähmten Beine ihn nicht tragen; am Ende steht er auf eben diesen Beinen und hat sich sein Bett auf die Schulter geladen. Wirklich eine tolle Geschichte. Die Geschichte eines Wunders. Jesus hat diesen kranken Mann geheilt.

Jesus hat, als er auf der Erde war, viele Menschen geheilt. Das wäre soweit also nichts Besonderes. Aber im Fall des Gelähmten gab es eine Überraschung. Jesus hat ihn nicht wie sonst Knall auf Fall gesund gemacht, von einer Minute auf die andere, sondern in Etappen. Heilung auf Raten sozusagen. Wir werden uns das gleich noch genauer ansehen.

Die Geschichte steckt nicht nur voller Überraschungen; sie ist auch voll von höchst interessanten Personen: der Gelähmte, seine vier Freunde, die Herren Theologen, und mittendrin natürlich Jesus Christus. Jesus ist mit Abstand der Interessanteste von allen. Jesus war ein Magnet, der die Massen anzog. Wir haben immer die „kleine Herde“ vor Augen, aber manchmal war die kleine Herde ganz schön groß! Bevor wir uns Jesus genauer ansehen, nehmen wir uns kurz die anderen vor.

 

1. Die Freunde des Gelähmten: vorbildlich in ihrem Glauben

Da sind die vier Freunde des Gelähmten. Sie wollten den Kranken unbedingt zu Jesus bringen. Dummerweise waren sie nicht die einzigen, die zu Jesus wollten. Als sie zu dem Haus kamen, in dem Jesus sich aufhielt (wahrscheinlich das Haus seiner beiden Jünger Petrus und Andreas), war bereits kein Durchkommen mehr. Innen gab es nicht mal mehr einen Stehplatz, und vor dem Eingang drängten und drückten die Menschen dermaßen, dass für sie – zu viert und zwischen sich die Matte mit dem Gelähmten – nicht die geringste Chance bestand, auch nur in die Nähe von Jesus zu kommen. Was tun? Umkehren? Das ganze Unternehmen abblasen? Kommt nicht in Frage, niemals. Fieberhaft überlegen sie, sehen hilfesuchend umher. Ihr Blick fällt auf die Außentreppe, die aufs flache Dach des Hauses hinaufführt. Und plötzlich haben sie eine Idee: Wenn wir nicht dort rein können, wo der Maurer das Loch gemacht hat, müssen wir selber ein Loch graben und uns Zugang verschaffen. Gesagt, getan. Sie steigen der Menge, die sich um Jesus drängt, buchstäblich aufs Dach, und dort oben, schön in der Mitte, genau über Jesus, beginnen sie das Dach abzutragen. Zuerst die Schicht aus festgestampfter Erde und dann die Lagen aus Zweigen, Stroh und Lehm, mit denen die Zwischenräume zwischen den Dachsparren ausgefüllt waren. Und schon hatten sie ein Balken-Viereck freigelegt, groß genug, um die Matte mit dem Gelähmten nach unten zu lassen. Genau vor die Füße von Jesus. Ganz schön anstrengend. Und eigentlich ganz einfach.

Die Bibel sagt: „Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten …“ Wie kam Jesus darauf, dass diese Männer an ihn glaubten, dass sie ihm vertrauten? Er sah es an ihrem Einsatz, an ihrer Hartnäckigkeit, an ihrer Zielstrebigkeit. Sie hatten sich vorgenommen, ihren kranken Freund zu Jesus zu bringen, und sie brachten ihn zu Jesus. Kein Hindernis der Welt konnte sie davon abhalten. Offensichtlich waren sie felsenfest überzeugt, dass Jesus dem Gelähmten helfen würde; Jesus war ihre ganze und einzige Hoffnung. Das alles sah Jesus, als er diese Männer sah. Er sah ihren Glauben.

Wir können von den Freunden des Gelähmten mindestens zwei grundlegende Dinge lernen, die echten Glauben auszeichnen.

 

(a) Echter Glaube lässt sich nicht vom Ziel abbringen

Wer glaubt, gibt nicht auf. Glauben hat mit Beharrlichkeit zu tun. Glaube ist keine Eintagsfliege, sondern ein Langzeitprojekt. Glaube und Treue gehören zusammen. (Im Griechischen sind „Glaube“ und „Treue“ dasselbe Wort, und genauso auch im Hebräischen.) Die vier Männer wollen zu Jesus. Aber dann ist der Zugang zu ihm verstellt. Was jetzt?

- „Lassen wir’s halt bleiben!“?
- „Verschieben wir es auf ein andermal!“?
- „Womöglich ist es ein Wink des Himmels, dass es heute nicht sein soll!“?

Wir kennen diese Überlegungen, die so schnell zu Ausreden werden.

·        Jemand würde sich eigentlich gern näher mit Jesus befassen. Aber es gibt halt noch so viele andere interessante Themen. Da wird die Frage nach Gott eben auf die lange Bank geschoben. Ist das Glaube?

·        Jemand möchte sich bewusst Zeit nehmen fürs Bibellesen und Beten. Aber immer wieder kommt ihm was dazwischen. Schließlich lässt er es ganz bleiben. Sieht so Glaube aus?

·        Jemand hat an seinem Arbeitsplatz etwas getan, was er nicht hätte tun sollen, und nimmt sich vor, mit dem Kollegen zu reden und die Sache in Ordnung zu bringen.
Aber das braucht Mut; das Herz schlägt ihm bis zum Hals, als er an die Tür des Kollegen klopft. Und dann macht niemand auf; der Kollege ist gerade gar nicht da! Uff, da hab ich aber Glück gehabt. Ich hab’s versucht, aber es hat nicht sollen sein. Ist das die Art, wie Glaube handelt?

Echter Glaube lässt sich nicht davon abhalten, das zu tun, worauf es bei Gott ankommt. Die vier Männer jedenfalls haben sich nicht beirren lassen. Die unerwarteten Schwierigkeiten ließen sie nicht resignieren, sondern machten sie wagemutig und erfinderisch. Sie hatten ein klares Ziel: Jesus. Und nichts und niemand auf der Welt konnte sie daran hindern, ihr Ziel zu erreichen, die lieben Mitmenschen nicht und auch nicht die Mauern, die zwischen ihnen und Jesus standen. Das ist Glaube. Das sah Jesus. Und darüber freute er sich.

 

(b) Echter Glaube äußert sich in Taten

Glaube bleibt nicht unsichtbar. Es stimmt natürlich: Der Glaube ist eine Herzensangelegenheit, er ist sozusagen im Innersten des Menschen angesiedelt. Darum heißt es in der Bibel:

 „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht ins Herz.“ (1. Samuel 16,7)

Man kann nach außen hin unheimlich fromm tun und im Herzen ein elender Egoist sein. Menschen mögen sich blenden lassen, Gott nicht. Sein Blick dringt durch alle Fassaden. Er sieht uns ins Herz.

Aber so wichtig diese Feststellung ist – sie kann schnell zur Ausrede werden, zur Ausrede für ein bequemes, angepasstes Christenleben. Wenn es nicht aufs Äußere ankommt, warum soll ich mich dann anstrengen? Womöglich denken die anderen dann noch, ich würde mehr auf meine eigenen Leistungen geben als auf das, was Jesus getan hat. Nein, nein, gute Taten braucht es nicht. Der Glaube genügt. Wissen Sie, was das Neue Testament dazu sagt?

„Was hat es für einen Wert, wenn jemand behauptet: ‚Ich habe Glauben!’, aber er hat keine guten Taten vorzuweisen? Kann der bloße Glaube ihn retten? … Wenn aus dem Glauben keine Taten hervorgehen, ist der Glaube tot.“ (Jakobus 2,14.17)

Glaube beginnt im Herzen, ganz richtig. Aber wenn er echt und beständig ist, wird er auch äußerlich sichtbar. Einen heimlichen Glauben, von dem niemand nichts weiß – so was kennt die Bibel nicht. [Römer 10,10] Echter Glaube äußert sich (buchstäblich!), er tritt von innen nach außen, kommt zum Ausdruck im Leben und Handeln des Glaubenden. Wenn ich wirklich an die Realität Gottes glaube, wenn ich von der Wirksamkeit der biblischen Aussagen überzeugt bin, dann wird das einen Einfluss auf mein Verhalten haben.

„Jesus sah ihren Glauben“, heißt es. Er musste gar nicht in ihr Herz blicken, um ihn zu sehen. Es genügte, wenn er zu dem Loch in der Decke hinaufblickte, das immer größer wurde. Es genügte, wenn er die Strohteilchen und die Lehmbröckchen spürte, die auf ihn herunterrieselten. Es genügte, wenn er den keuchenden Atem der Männer hörte, die ihren Freund auf seiner Matte herabließen. Das sagte ihm genug. Ihre Beharrlichkeit und ihre Anstrengung zeigten ihm, wie sehr sie auf seine Liebe und seine Macht vertrauten. Gott sieht uns nicht nur ins Herz; er sieht uns auch auf die Finger.

 

2. Die Gesetzeslehrer: fromme Spitzel mit unheiligen Motiven

Eine andere Gruppe interessanter Personen in dieser Geschichte sind die Schriftgelehrten. Ihre Aufgabe war das Studium des alttestamentlichen Gesetzes. Sie wachten darüber, dass es richtig ausgelegt und richtig angewendet wurde. Für das einfache Volk waren sie die Lehrautorität in allen religiösen Fragen. Die meisten von ihnen gehörten der Partei der Pharisäer an, einer besonders gesetzestreuen Richtung im damaligen Judentum, und das erhöhte ihr Ansehen beim Volk noch.

Warum waren sie da? Waren sie neugierig? Warteten sie auf ein spektakuläres Wunder? Freuten sie sich auf eine spannende Predigt? Glaubten sie womöglich an Jesus? Leider nein. Sie waren gekommen, um ihn aus dem Weg zu räumen. Jesus passte ihnen nicht ins Konzept. Bis dahin waren sie vom Volk verehrt und bewundert worden. Jetzt liefen die Leute zu hunderten und tausenden Jesus nach. Das machte sie neidisch. Außerdem sagte Jesus Dinge, die sich nicht in ihr Weltbild fügten. Das empfanden sie als Angriff auf die Fundamente ihrer Religion. Jesus musste aus dem Verkehr gezogen werden. Aber wie? Offen attackieren konnten sie ihn nicht; dazu hing das Volk viel zu sehr an ihm. Sie mussten einfach hoffen, dass er irgendwann etwas machte oder etwas sagte, was ganz offensichtlich gegen Gott gerichtet war. Das könnten sie ihm dann um die Ohren schlagen, und damit wäre er erledigt. Was also tun? Die frommen Gesetzeslehrer reisten Jesus hinterher. Sie klebten an ihm wie Kletten. Sie klopften jedes seiner Worte ab, nahmen jede seiner Handlungen unter die Lupe – immer in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, was nicht lupenrein war. Lukas, der diese Geschichte in seinem Evangelium ebenfalls erzählt, berichtet uns, dass die Pharisäer und Gesetzeslehrer eigens aus Jerusalem angereist waren, aus dem Kernland Judäa in das heidnische Galiläa. Als so bedrohlich empfanden sie Jesus!

Wissen Sie, was mich beschäftigt? Die frommen Spitzel sind eine Spezies, die leider bis heute nicht ausgestorben ist. Und heute wie damals sind Gottesdienste ihr liebstes Betätigungsfeld. Sie haben sich selbst zu Wächtern der Gemeinde ernannt, zu Hütern der reinen Lehre. Und deshalb spionieren sie allem hinterher, was da so abgeht. Sie warten geradezu auf einen schiefen Ton, auf eine unorthodoxe Aussage. Und wenn sie etwas gefunden haben (sie werden immer etwas finden), dann warnen sie. Leider warnen sie meist nicht offen und nicht direkt; sie warnen hinter vorgehaltener Hand und hinter verschlossenen Türen. Wie viele gute Ideen sind dadurch schon im Keim erstickt worden. Wie viele tatkräftige Mitarbeiter haben sich dadurch schon entmutigen lassen. Wie viele blühende Gemeinden sind daran schon zugrunde gegangen.

Und wissen Sie, was ich an Jesus bewundere? Er ließ sich von diesen Spitzeln nicht drausbringen. Wenn er sie unter seinen Zuhörern entdeckte, dann wurden ihm nicht die Knie weich. Nein, er ging in die Offensive; er dreht den Spieß um und attackierte sie – nicht hinterhältig wie sie, aber doch sehr bestimmt und immer klug und liebevoll. Meistens ärgerten sie sich hinterher noch mehr als vorher. Aber ab und zu passierte es, dass einer von ihnen die Fronten wechselte. Er wurde so von Jesu Liebe und Weisheit gepackt, dass er seine Spionagetätigkeit vergaß und sich für das Evangelium öffnete.

 

3. Jesus Christus: der Interessanteste von allen

Jetzt müssen wir uns aber unbedingt Zeit für die Person nehmen, die im Mittelpunkt dieser Geschichte steht: Jesus Christus. Es gibt einen Augenblick in diesem Geschehen, der ist nicht nur der spannendste, sondern auch der überraschendste. Es ist der Augenblick, als der Gelähmte endlich vor den Füßen von Jesus liegt. Jesus hat natürlich aufgehört zu predigen. Alle starren zu Decke, wo das Loch immer größer wird. Alle sehen, wie da ein Kranker auf seiner Matte heruntergelassen wird. Jetzt endlich können sich die beiden in die Augen blicken: Jesus und der Gelähmte. Alle recken die Köpfe. Alle halten den Atem an. Jeder möchte unbedingt mitbekommen, was jetzt geschieht. Die Menschenmenge wartet auf eine weitere sensationelle Heilung. Die vier Männer auf dem Dach sind sich sicher: Jetzt macht er unseren Freund gesund! Die Gesetzeslehrer spitzen die Ohren, damit ihnen ja kein frevlerisches Wort entgeht. Und der Gelähmte selbst starrt Jesus an, ängstlich und erwartungsvoll zugleich. Alle wissen, was Jesus jetzt sagen wird: „Steh auf; du bist geheilt!“ Und in diese angespannte Stille hinein sagt Jesus: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“

Hier haben wir den Dreh- und Angelpunkt dieser Begebenheit. Dieses Wort Jesu in dieser Situation ist einfach riesengroße Klasse. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr staune ich über Jesus. Die Leute damals werden vielleicht nicht gleich so gedacht haben. Es war vielleicht eher so, als wenn man einen Ballon aufgeblasen hat und jetzt plötzlich die ganze Luft wieder rauslässt. Für manche kam das Wort von Jesus vielleicht sogar wie ein Schock. Wie, das ist jetzt alles? Die Sünden vergeben? Sieht Jesus denn nicht, wie schlimm der Mann dran ist? Merkt er nicht, was er von ihm will? Hat er denn kein Mitleid mit ihm? O doch: Jesus hatte solches Erbarmen mit diesem Mann, der da vor ihm lag, dass er gar nicht anders konnte, als ihm das Beste zu geben, was er ihm geben konnte: die Vergebung seiner Schuld.

„Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Diese Aussage Jesu richtet sich an den Gelähmten, aber sie soll auch von der Menge gehört werden, und sie gilt ebenso den Gesetzeslehrern. Man kann sie drehen und wenden wie ein Prisma, und immer wieder erscheint sie in einem anderen Licht und zeigt sich von einer neuen wunderbaren Seite. Einige dieser vielen Aspekte wollen wir uns genauer ansehen.

 

1. Lektion: Zwischen Krankheit und Sünde besteht ein Zusammenhang

„Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Alle reden von der Krankheit des Mannes, Jesus redet von seiner Sünde. Damit stellt er einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde her. Genau genommen stellt er diesen Zusammenhang nicht her; er weist vielmehr daraufhin, dass dieser Zusammenhang bereits besteht. Er besteht seit dem Sündenfall, seit Adam und Eva im Garten Eden Gott ungehorsam wurden. Was kam zuerst – die Krankheit oder die Sünde? Die Bibel sagt: Die Sünde. Bis dahin war die Welt vollkommen. Nachdem Gott den Himmel und die Erde, die Pflanzen, die Tiere und den Menschen, das ganze Universum geschaffen hatte, sah er sich alles an und stellte fest: Es war sehr gut. (1. Mose 1,31) Es gab noch keinen Tod, und es gab noch keine Vorstufe zum Tod, keine Krankheit. Doch dann versündigten sich Adam und Eva gegen Gott, und jetzt geschah das, was Paulus im Römerbrief so ausdrückt:

„Durch einen einzigen Menschen – Adam – hielt die Sünde in der Welt Einzug und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise ist der Tod zu allen Menschen gekommen, denn alle haben gesündigt.“ (Römer 5,12)

Sünde und Krankheit hängen zusammen wie z. B. Fremdgehen und Scheidung. Das eine ist die Ursache, das andere die Wirkung. Ohne Sünde gäbe es keine einzige Krankheit. In Gottes neuer Welt, wenn die Sünde endgültig besiegt sein wird, wird niemand mehr krank sein.

„Gott wird alle Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen.“ (Offenbarung 21,4)

Aber jetzt heißt es Acht geben. Krankheit ist eine Folge der Sünde, lehrt die Bibel. Das stimmt so jedoch nur, wenn man es auf die Menschheit als Ganzes bezieht. Weil die Menschheit als Ganzes sündigte, erlebt die Menschheit als Ganzes Krankheit und Tod. Auf der Ebene der Einzelpersonen sieht die Sache anders aus. Hier sind alle Varianten denkbar.

Textfeld: Nicht jeder, der sündigt, wird krank.
Nicht jeder, der nicht sündigt, bleibt gesund.
- Jemand hat eine schwere Schuld auf sich geladen und ist deswegen krank geworden. (Das ist sozusagen der Normalfall.)
- Ein anderer hat sich ebenso sehr versün-digt, lebt aber gesund und munter weiter (sterben muss er am Ende aber trotzdem; spätestens dann holt ihn die Sünde ein).
- Jemand lässt sich nichts zu schulden kommen, und auch gesundheitlich ist er topfit. (Das wäre wieder der Normalfall.)
- Ein anderer lebt ebenfalls so, wie es Gott gefällt, und muss trotzdem ein schmerzhaftes Leiden ertragen.

Gott allein weiß, wie es bei uns Menschen um den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit bestellt ist. Jesus hat jeden einzelnen Fall wieder anders beurteilt.

·        Einmal, als er einen Schwerstkranken gesund gemacht hatte, sagte er zu ihm: „Du bist jetzt gesund. Sündige nicht mehr, damit dir nicht noch etwas Schlimmeres geschieht, als was du bist jetzt durchgemacht hast.“ (Johannes 5,14). Hier stellt Jesus eindeutig einen Zusammenhang zwischen Krankheit und persönlicher Schuld her.

·        Ein anderes Mal, als er einen Blindgeborenen heilte, fragten ihn seine Jünger: „Wie kommt es, dass dieser Mann blind geboren wurde? Wer hat gesündigt – er selbst oder seine Eltern?“ Und Jesus gab ihnen zur Antwort: „Es ist weder seine Schuld noch die seiner Eltern. An ihm soll sichtbar werden, was Gott zu tun vermag.“ (Johannes 9,2.3) In diesem Fall bestreitet Jesus kategorisch, dass die Krankheit irgendetwas mit der Schuld der betroffenen Menschen zu tun hat.

Wie sah es bei dem Gelähmten in unserer Geschichte aus? Es wird nichts gesagt von irgendeiner persönlichen Schuld als Ursache der Krankheit. Und daher gilt – wie überall, wo wir jemand zu beurteilen haben – die Unschuldsvermutung. Jesus deutet mit keinem Wort auch nur an, dass der Mann deshalb gelähmt auf seiner Matte liegt, weil er sich gegen Gott versündigt hat. Gesündigt hat er, ja; aber das muss nicht der Grund für seine Lähmung sein.

 

2. Lektion: Sünde ist schlimmer als Krankheit; Vergebung ist wichtiger als Heilung

„Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Alle warten darauf, dass Jesus den Kranken heilt. Statt dessen vergibt er ihm seine Schuld. Damit macht Jesus klar: Vergeben ist wichtiger als Heilen. Sobald wir anfangen, darüber nachzudenken, müssen wir ihm recht geben. Kranksein kann wehtun, zermürben, lahm legen. Sünde tut noch viel mehr weh. Schmerzen können schrecklich quälen; Schuld quält noch viel mehr. Von dem Schriftsteller Botho Strauß las ich vor ein paar Tagen folgendes Zitat:

„Keine Form eines üblichen Fehlschlages, weder Krankheit noch Unfall und auch nicht geschäftliches Unglück bewirkt ein so grausames und tiefes Echo in unserem Unterbewusstsein wie eine Scheidung.“

Ehescheidung hat mit persönlicher Schuld zu tun; z. B. damit, dass ein Mann seiner Frau untreu wird. Er zerstört sein Leben, und er zerstört ihr Leben. Keine Krankheit schadet unserem Leben so sehr wie die Sünde. Darum hat Jesus recht: Vergebung ist wichtiger als Heilung.

Man könnte sich ja mal ausmalen, wie das wäre, wenn die Medizin eines Tages so weit wäre, dass man jede Krankheit sofort beenden könnte und dass überhaupt niemand man erkranken würde. Die Erde bevölkert von lauter kerngesunden Menschen! Hätten wir deshalb eine bessere Welt? Wären wir Menschen glücklicher? Ich fürchte nein. Die Krankheiten mögen beseitigt sein – der Egoismus wäre geblieben. Die Habgier, der Stolz, die Treulosigkeit, die Unwahrhaftigkeit, die Gleichgültigkeit – alles wäre noch immer vorhanden und würde die menschliche Gesellschaft auch weiterhin in den Abgrund treiben.

Textfeld: Jesus bekämpft die Ursache
(die Sünde),
nicht nur die Folge
(die Krankheit).
Man muss Jesus auch deshalb recht geben, weil – wie wir vorhin gesehen haben – Krankheit eine Folge der Sünde ist. Wer nur die Krankheit bekämpft, bekämpft Symptome, nicht die eigentliche Ursache. Angenommen, ich bin mit dem Auto unterwegs, und plötzlich leuchtet das Warnlicht auf. Wie ärgerlich! Zum Glück habe ich im Handschuhfach einen kleinen Hammer. Damit schlag ich solange auf das rote Lämpchen ein, bis kein Licht mehr blinkt. So, jetzt kann ich beruhigt weiterfahren! Von wegen. Gleich geht der Ärger erst richtig los. Jesus macht es anders. Er stellt den Motor ab, öffnet die Motorhaube und behebt den Schaden. Er bekämpft nicht nur Symptome; er geht der Sache auf den Grund. Er packt das Übel bei der Wurzel. Deshalb beginnt Jesus mit der Vergebung. Die Heilung kann warten. Vergeben ist wichtiger als Heilen.

 

3. Lektion: Jesu eigentlicher Auftrag

„Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Die Menge wartet darauf, dass Jesus dem Gelähmten die Krankheit wegnimmt. Statt dessen nimmt er ihm erst einmal die Schuld weg. Damit zeigt Jesus, worin sein eigentlicher Auftrag besteht.

·        Schon im Alten Testament war es vorausgesagt: „Aus Zion wird der Retter kommen, der die Nachkommen Jakobs von all ihrer Gottlosigkeit befreien wird. Denn das ist der Bund, den ich mit ihnen schließen werde, sagt der Herr: Ich werde ihnen die Last ihrer Sünden abnehmen.“ (Jesaja 59,20.21 und 27,9, von Paulus zitiert in Römer 11,26.27)

·        Der Engel kündigt Josef an: „Maria wird einen Sohn zur Welt bringen. Dem sollst du den Namen Jesus geben (‚Der Herr rettet’), denn er wird sein Volk von aller Schuld befreien.“ (Matthäus 1,21)

·        Jesus selbst sagt von sich: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.“ (Markus 10,45)

·        Bei der Einsetzung des Abendmahls heißt es: „Dann nahm Jesus einen Becher mit Wein, sprach ein Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sagte: ‚Trinkt alle daraus! Das ist mein Blut, das Blut des [neuen] Bundes, das für viele zur Vergebung der Sünden vergossen wird.“ (Matthäus 26,27.28)

·        Und Paulus fasst den Auftrag Jesu kurz und bündig so zusammen: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten.“ (1. Timotheus 1,15)

Viele sahen damals in Jesus vor allem den Wundertäter. Wenn ein Blinder plötzlich wieder sehen konnte, wenn ein Aussätziger mit einem Mal gesund war, wenn gar ein Toter wieder aus dem Grab hervorkam – das waren so spektakuläre Ereignisse, dass alles andere daneben verblasste. Aber für Jesus gab es eine andere Rangordnung. Sein höchster Auftrag war, die Menschen von ihrer Schuld zu befreien. Das musste er seinen Zuschauern und Zuhörern immer wieder eintrichtern. Hier tat er es auf die Weise, dass er sich als allererstes mit der Schuld befasste, nicht mit der Krankheit.

 

4. Lektion: Wie Jesus als Seelsorger handelt

„Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben!“ Dabei handelt es sich auch um eine zutiefst seelsorgerliche Anrede, ein Gespräch wie unter vier Augen. Der Gelähmte hat Dinge getan, die nicht in Ordnung sind, und er weiß das. (Dass seine Schuld mit seiner Krankheit zu tun hat, sagt die Bibel nicht. Auch als Gesunder könnte er ein belastetes Gewissen haben.) Seine Krankheit plagt ihn, aber seine Sünde plagt ihn noch mehr. Vielleicht war er, als er sich mit seinen Freunden auf den Weg zu Jesus machte, völlig auf seine Heilung fixiert. Aber jetzt, wo er endlich am Ziel ist, Auge in Auge mit Jesus, da geht es ihm wohl so, wie es Petrus einmal gegangen ist, als er Jesus begegnete. Petrus hatte sich vor Jesus auf die Knie geworfen und gesagt: „Herr, geht fort von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ (Lukas 5,8) Der Gelähmte sieht den vor sich, der nie eine Sünde begangen hat und der daher eine Autorität besitzt wie kein anderer Mensch. Und da ist ihm plötzlich bewusst, dass er noch an einer anderen Stelle seines Lebens Heilung braucht, nicht nur an seinen gelähmten Beinen. „Du brauchst dich nicht zu fürchten, mein Sohn“, sagt Jesus zu ihm (nach dem Bericht im Matthäus-Evangelium, Kapitel 9,2). „Deine Sünden sind dir vergeben.“

„Deine Sünden sind dir vergeben“ – das heißt übrigens nicht, dass sie ihm irgendwann früher einmal vergeben wurden. Nein, das heißt: Jetzt, in diesem Augenblick werden sie ihm vergeben. Jesus selbst vergibt ihm. Jesus heilt ihn in seinem Innersten. Heilung auf Raten – und das Beste, das Wichtigste kommt zuerst!

Textfeld: Jesus als Seelsorger:
·	feinfühlig und 
behutsam
·	kein Wort zu wenig,
kein Wort zu viel.
Stellt Jesus diesen Mann damit eigentlich nicht bloß? Ist das nicht diskriminierend, vor der ganzen Menge von seiner Sünde zu sprechen? Ich stelle mir vor, ich wäre damals dabei gewesen, und plötzlich hätte sich Jesus zu mir gewandt und hätte laut gesagt: Andreas, dir sind deine Sünden vergeben! Wie peinlich! Jetzt wissen alle, dass ich dunkle Flecken in meinem Leben habe! Die anderen hielten mich doch immer für einen Mann mit blütenweißer Weste, und jetzt zerreißt Jesus diesen frommen Schein. Ist das noch korrekt? Geht er da nicht zu weit? Ich denke, Jesus ist haargenau richtig weit gegangen – keinen Schritt zu wenig, keinen Schritt zu viel. Ja, er spricht von der Sünde dieses Mannes. Aber er nennt keine Einzelheiten. Er fordert kein detailliertes Schuldbekenntnis. Er führt kein Beichtgespräch, das nicht für fremde Ohren bestimmt wäre und bei dem doch alle mithören würden. Was alle gehört haben, ist lediglich dieser eine Satz, mit dem Licht auf das Dunkel im Leben des Mannes fällt. Und jeder in diesem Raum muss erschrecken und sich fragen: Was würde Jesus zu mir sagen? Sieht er auch mir bis auf den Grund des Herzens? Kennt er auch meine Vergangenheit, meine Schattenseiten? Und mancher denkt vielleicht: Wenn er doch auch mir vergeben würde! Ich hab Heilung genauso nötig wie dieser Gelähmte!

Noch etwas müssen wir beachten: Jesus hat dem Mann keine Vorwürfe gemacht. Er hat nicht gesagt: „Du hast gesündigt!“ Wenn ein Kranker zu einem Arzt kommt, stellt dieser als erstes eine Diagnose. Er erfasst und beschreibt das Krankheitsbild so genau wie möglich. Erst danach sucht er nach einer geeigneten Therapie. Aber der Arzt Jesus bringt sozusagen die Diagnose bei der Therapie unter. Nicht erst: Du bist ein Sünder!, und dann: Mal sehen, was sich dagegen machen lässt. Nein, Jesus spricht sofort von der Therapie („Dir sind deine Sünden vergeben!“), und man begreift eigentlich erst im Rückblick, worin die eigentliche Krankheit des Mannes bestand (in seiner Sünde). So feinfühlig ist Jesus, so behutsam geht er vor. Ein einziger Satz, und jedes einzelne Wort war nötig, um dem Mann zu helfen, und kein einziges Wort war zuviel angesichts der vielen Zuhörer und Zuschauer.

Was wäre, wenn ein paar Tage später jemand zu dem Geheilten gesagt hätte: „He du, ich wusste gar nicht, dass du mal was Unrechtes getan hast!“? – „Doch, doch“, könnte der Geheilte antworten. „Jesus hatte völlig recht. Aber vergiss nicht, was er über meine Sünden gesagt hat: Sie sind mir vergeben! Und daran gibt es nichts zu rütteln. So sicher, wie er mich von meiner Lähmung befreit hat, so sicher hat er mich auch von all meiner Schuld befreit.“

 

5. Lektion: Was gehen Jesus die Sünden anderer Menschen an?

„Dir sind deine Sünden vergeben!“ An diesem Satz fällt noch etwas auf, etwas höchst Ungewöhnliches. Vielleicht haben Sie es bisher gar nicht bemerkt. Dann soll Sie ein kleines Anspiel auf den Trichter bringen.

[Rainer, Thomas und Markus auf die Bühne. Markus hält sich im Hintergrund. Rainer lehnt sich – mit dem Rücken zum Rednerpult – gegen den Flügel und blättert konzentriert in einem Buch. Thomas schleicht sich von hinten an ihn heran und zieht ihm vorsichtig das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Wie er sich gerade wieder davonmachen will, merkt Rainer etwas, greift an die leere Tasche, blickt sich um – und schreit Thomas an: „He, was soll das! Sie haben mir mein Geld geklaut! Geben Sie mir sofort mein Geld zurück!“ – Thomas streckt ihm ängstlich den Geldbeutel hin: „Tut mir schrecklich leid. Ich hab gleich gewusst, dass das nicht gut geht. Können Sie mir verzeihen?“ – Jetzt tritt Markus, der alles beobachtet hat, aus dem Hintergrund auf Thomas zu und sagt: „Ich vergebe Ihnen!“ – Thomas: „Sie? Was haben Sie denn damit zu tun?“]

Ich glaube, jetzt ist uns klar, was so merkwürdig ist an dieser Aussage Jesu. Was hat denn Jesus mit den Sünden des Gelähmten zu tun?

- Wenn ein Kind seine Eltern anlügt, muss es seine Eltern um Verzeihung bitten, nicht den Onkel oder die Tante.
- Wenn ein Angestellter seinen Chef betrügt, muss er sich beim Chef entschuldigen, nicht bei seinen Kollegen. Denen hat er schließlich nichts getan.

Es gibt allerdings jemand, an dem er sich mit seiner Betrügerei ebenfalls versündigt hat. Aber dieser Jemand ist kein Mensch, sondern ist Gott. Sünde spielt sich zwischen Menschen ab; sie hat eine horizontale Dimension (man könnte auch sagen: eine soziale Dimension). Einmal versündige ich mich an dem Mitmenschen und einmal an dem. Aber Sünde hat auch eine vertikale (oder religiöse) Dimension. Sünde richtet sich gegen Gott, und das gilt immer und in jedem Fall. Denn Gott, der uns das Leben geschenkt hat, hat uns auch gesagt, wie wir unser Leben so führen können, dass er Freude daran hat. Sündigen heißt: Von Gottes Vorstellungen für unser Leben abweichen. Wenn ich gegen Gottes Willen handle, ist einmal mein Nachbar betroffen und ein andermal meine Frau und wieder ein anderes Mal ein guter Freund; aber immer und jedes Mal ist auch Gott betroffen. Deshalb gibt es immer zwei Adressen, an die ich mich wenden muss, um Vergebung zu bekommen: in der horizontalen Dimension den Mitmenschen, dem ich weh getan habe, und in der vertikalen Dimension Gott, dem ich
ebenfalls weh getan habe.

Textfeld:    GOTT



Mitmensch              Sünde            Mitmensch


    Mitmensch                 Mitmensch

Nun, Jesus gehörte ganz sicher nicht zu den Mitmenschen, an denen sich der Gelähmte versündigt hat. Die beiden waren sich bis dahin vermutlich noch nie begegnet. Und trotzdem sagt Jesus: „Ich vergebe dir!“ Es kann nur einen einzigen Grund dafür geben: Jesus ist Gott in Person. Nur dann hat der Gelähmte sich tatsächlich an Jesus versündigt, und nur dann hat Jesus das Recht und die Macht, zu sagen: „Ich vergebe dir!“ Auf eine ganz subtile, ganz zurückhaltende Art macht er dem Gelähmten klar, mit wem er es zu tun hat: mit dem Sohn Gottes.

 


Wie Jesus sich als Sohn Gottes in unserer Welt eingeführt hat

Sehen Sie, das ist auch so etwas, was ich an Jesus faszinierend finde – die Art, wie er sich in dieser Welt eingeführt hat, wie er uns beigebracht hat, dass er mehr ist als nur ein Mensch. Er hat sich nicht einfach vor den Menschen aufgepflanzt und gerufen: „Alle mal herhören! Vor euch steht der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Das hätte ihm so schnell keiner abgekauft.

·        Statt dessen hat Jesus begonnen, ihnen vom Reich Gottes zu erzählen – so klar und so tief, dass sie ins Grübeln kommen mussten: Woher weiß der das nur alles? Stammt er am Ende selbst aus Gottes Welt?

·        Und er hat Wunder getan – Brote vermehrt, Stürme gestillt, Kranke geheilt, Tote auferweckt –, so außergewöhnliche Wunder, dass die Leute sich fragen mussten: Woher hat er nur diese Macht? Besitzt er denn die Schöpferkraft Gottes?

·        Und er hat drei Jahre lang unter ihnen gelebt. Er hat sich ganz bewusst ihren prüfenden Blicken ausgesetzt, hat sich mit ihnen unterhalten, mit ihnen gegessen, bei ihnen gewohnt. Sie konnten ihn von allen Seiten ausleuchten. Gab es da nicht doch auch ein paar Dunkelstellen? Lagen nicht auch bei ihm ein paar Leichen im Keller? Vergriff er sich nie im Ton? Ließ er es nie an der nötigen Liebe fehlen? Behandelte er niemand je ungerecht? Nein, nie. Und die Leute mussten zu dem Schluss kommen: Hier lebt einer in unserer Mitte, der ist anders als wir alle. Bei ihm klafft keine Lücke zwischen dem, was er sagt, und dem, was er tut. An seine Liebe, an seine Aufrichtigkeit, an seinen Gerechtigkeitssinn, an seine Reinheit kommt keiner von uns heran.

Das ist die Art, wie Jesus sich als Sohn Gottes in unserer Welt eingeführt hat. Nicht mit markigen Sprüchen, sondern mit beharrlicher Überzeugungsarbeit. Und diese eine überraschende Aussage in unserer Geschichte gehörte auch dazu: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“

Ich denke mal, nicht alle haben sofort begriffen, dass Jesus mit diesem Satz die Tür zur vertikalen Dimension aufstieß. Aber eine Gruppe unter den Zuhörern hat es sehr wohl und sehr rasch gecheckt: die Gesetzeslehrer, die Herren Theologen. Na ja, das war ja auch ihr Job, sie befassten sich ja tagaus, tagein mit der Welt Gottes. Und sie empfanden sofort: Jetzt hat Jesus etwas gesagt, was nur Gott sagen darf. Jetzt ist er zu weit gegangen. Jetzt hat er sozusagen die Horizontale verlassen und maßt sich an, in die Vertikale hinaufzusteigen. „Niemand kann Sünden vergeben außer Gott.“ Recht haben sie. Sünden zu vergeben steht nur Gott zu.

 

Zwei mögliche Schlussfolgerungen

Aber jetzt sind zwei Schlussfolgerungen möglich.

(a)        Die eine geht so: Nur Gott kann Sünden vergeben. Jesus vergibt Sünden. Also ist Jesus
Gott.

(b)       Die andere geht so: Nur Gott kann Sünden vergeben. Jesus behauptet, Sünden zu vergeben. Also ist er ein Gotteslästerer (und auf Gotteslästerung steht die Todesstrafe).

Je mehr die Jünger von Jesus über das Geschehene nachdachten, desto fester waren sie überzeugt: Die erste Schlussfolgerung stimmt. Jesus muss Gott in Person sein. Für die Gesetzeslehrer hingegen stand von vorneherein fest: Jesus ist ein Scharlatan, ein frommer Betrüger. Er ist dreist genug, in Gottes Hoheitsbereich einzugreifen. Und damit verlästert er Gott.

Die Gesetzeslehrer geben ein trauriges Bild ab, finden Sie nicht auch? Sie, die es wissen müssten, begreifen nichts. Sie wollen nicht begreifen. In Titus 1,15 steht ein nachdenkenswertes Wort:

„Für die Reinen ist alles rein, aber für die Unreinen ist nichts rein.“

Die Motive dieser Männer sind unrein; es geht ihnen um die eigene Ehre, nicht um die Ehre Gottes. Und deshalb können sie an dem, der die Reinheit in Person ist, nichts Reines entdecken, sondern ziehen ihn in ihren eigenen unreinen Sumpf hinab. Sie erklären ihn zum Gotteslästerer. Wer lästert Gott denn wirklich? Das sind sie, sie selbst. Vor ihnen steht Gott in Person, und sie werfen Gott Gotteslästerung vor. Wenn das keine Gotteslästerung ist!

 

Die zweite Rate der Heilung

Den Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Jesus, der die angeblich so frommen Gesetzeshüter durchschaut, stellt ihnen eine Frage: „Was ist leichter – zu dem Gelähmten zu sagen: ‚Deine Sünden sind dir vergeben’ oder: ‚Steh auf, nimm deine Matte und geh umher!’?“ Na, was ist wohl leichter? Ziemlich knifflig, diese Frage. Sünden vergeben ist sicher besonders schwer. Andererseits: Sagen kann man das noch schnell; schließlich kann keiner nachprüfen, ob sie dann wirklich vergeben sind. Heilen ist vielleicht nicht ganz so schwer wie vergeben; andererseits: Wenn ich zu einem Gelähmten sage: „Steh auf!“, und er bleibt liegen, dann bin ich blamiert.

Textfeld: Vergeben und Heilen:
Beides ist gleich schwer – für Menschen.
Beides ist gleich einfach – für Gott.
Wissen Sie, was ich vermute? Jesus wollte seine Gegner einfach zum Nachdenken bringen. In Wirklichkeit ist nämlich beides gleich schwer. Beides ist nur Gott möglich. Nur Gott kann vergeben, und nur Gott kann heilen. Beides ist gleich weit entfernt von unseren menschlichen Möglichkeiten. Der Unterschied ist nur der: Das eine kann man nachprüfen, das andere nicht. Vergebung spielt sich im unsichtbaren Bereich ab, und prompt bestreiten die Pharisäer, dass Jesu Aussage von der Vergebung wirksam ist. Heilung dagegen spielt sich im sichtbaren Bereich ab; jeder kann sich selbst vom Erfolg oder Misserfolg überzeugen. Und deshalb holt Jesus jetzt das nach, worauf alle von allem Anfang an gewartet haben. Er tut das Wunder, das sie sehen können, damit sie glauben, dass er auch das Wunder getan hat, das sie nicht sehen konnten. Heilung auf Raten. Er wendet sich noch einmal zu dem Gelähmten und befiehlt ihm: „Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause!“ Nochmals atemlose Stille. Und diesmal geschieht das Wunder, das keiner nachträglich abstreiten kann: Der Mann steht auf, rollt seine Matte zusammen, wirft sie sich über die Schulter und geht vor den Augen der versammelten Menge hinaus.

Übrigens verschwand er nicht einfach – wortlos und undankbar. O nein. Lukas berichtet, dass der Mann Gott lobte und pries, als er nach Hause ging. Er hatte Jesus vertraut, und sein Vertrauen war belohnt worden. Er hatte auf Heilung gehofft, und er hatte Heilung bekommen. Und als wäre das nicht schon mehr als genug, hat Jesus die Heilung sogar noch getoppt. Er hat ihm vergeben. Der Mann war frei – frei von Schuld und frei von der Lähmung, frei für einen kompletten Neuanfang. Krank an Leib und Seele war er gekommen, gesund an Leib und Seele ging er wieder. Was für ein Tag! O happy day, when Jesus washed my sins away! Und seine Freunde werden mit ihm gejubelt haben.

 

Und die Gesetzeslehrer?

Die standen am Ende ganz schön belämmert da. Erst hatten sie frohlockt über so viel Naivität bei diesem Jesus. Er hätte doch einfach den Mund halten und den Gelähmten heilen können, wie er es sonst immer tat; dann hätten sie nichts gegen ihn in der Hand gehabt. Aber nein, er fing ganz von allein von der Vergebung an und lieferte sich ihnen damit selbst ans Messer. Denn vergeben, das durfte, das konnte er nicht. Doch dann koppelte Jesus die Vergebung mit der Heilung. Vor aller Augen lieferte er den Beweis für seine Macht über die sichtbare Welt, indem er den Körper heilte. Wie konnten sie jetzt noch bestreiten, dass er auch Macht über die unsichtbare Welt hatte und den Mann auch von seinen Sünden heilte? So siegessicher waren sie gewesen, und ehe sie sich’s versahen, waren sie auf die Verliererstraße geraten. Sie konnten nur noch die Köpfe einziehen und sich möglichst unauffällig durch die jubelnde Menschenmenge nach draußen wegstehlen.

 

Jesus, das Multigenie

Wenn ich mir überlege, wie er in dieser Geschichte aufgetreten ist, dann denke ich: Jesus ist ein Multigenie. So viele wollten gleichzeitig etwas von ihm: Manche wollten eine tolle Predigt hören. Manche wollten ein spektakuläres Wunder erleben. Einige wollten ihn in eine Falle locken. Einer wollte gesund werden. So viele Anforderungen und Herausforderungen auf einmal. Und Jesus ist ihnen allen gerecht geworden.

·        Jesus hat als Seelsorger gehandelt, an dem Gelähmten: Er hat ihn voll Liebe auf seine Sünden aufmerksam gemacht.

·        Jesus hat an ihm auch als Retter gehandelt: Er hat ihn von der Last seiner Schuld befreit.

·        Jesus hat als Lehrer gehandelt, nämlich an der ganzen Schar der Zuschauer: Er hat ihnen etwas über die Prioritäten im Reich Gottes beigebracht – Sünde ist schlimmer als Krankheit; Vergebung ist wichtiger als Heilung –, und er hat ihnen eine Ahnung davon gegeben, dass er der Sohn Gottes ist.

·        Jesus hat sich als Prophet erwiesen, und zwar gegenüber den frommen Spitzeln: Er durchschaute sie, und er bot ihnen die Chance, umzudenken.

·        Jesus hat sich als König erwiesen: Er demonstrierte seine Macht über die von ihm geschaffene Welt, indem er den verkrüppelten Körper wiederherstellte.

Und all das im Grunde genommen mit zwei Sätzen. „Dir sind deine Sünden vergeben!“ und „Steh auf!“ So große Wirkungen mit so wenigen Worten! Jesus war alles andere als ein eindimensionaler Mensch. Er war imstande, gleichzeitig ein ganzes Dutzend Eisen im Feuer zu schmieden. Was er sagte, war sozusagen polyvalent; was er tat, war multifunktional. Das klingt schrecklich technisch, ich weiß, aber mir macht es Jesus groß, wenn ich so denke, und es gibt sowieso keine geeigneten Ausdrücke, um ihm gerecht zu werden. Wir können ihn einfach nur bewundern. Und wir können ihn lieben und uns ihm zur Verfügung stellen.

„Das Leben schreibt die besten Geschichten“, sagt man, und das stimmt sicherlich. Aber ich würde diese kluge Einsicht noch ein klein wenig ausbauen: „Das Leben mit Jesus schreibt die allerbesten Geschichten.“ Der Gelähmte von Kafarnaum hat bei seiner Begegnung mit Jesus solch eine allerbeste Geschichte erlebt. Und Ihnen und mir wünsche ich ebenfalls viele solche allerbeste Geschichten – Geschichten mit Jesus.