Gleicher Lohn für alle!?

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg

Matthäus 20,1-16

 

Predigt Andreas Symank

Freie Evangelische Gemeinde Zürich-Helvetiaplatz

7. 11. 2004

 

1 Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der sich früh am Morgen aufmachte, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. 2 Er fand etliche und einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn von einem Denar. Dann schickte er sie in seinen Weinberg. 3 Gegen neun Uhr ging er wieder auf den Marktplatz und sah dort noch andere untätig herumstehen. 4 „Geht auch ihr in meinem Weinberg arbeiten!“, sagte er zu ihnen. „Ich werde euch dafür geben, was recht ist.“ 5 Da gingen sie an die Arbeit. Um die Mittagszeit und dann noch einmal gegen drei Uhr ging der Mann wieder hin und stellte Arbeiter ein. 6 Als er gegen fünf Uhr ein letztes Mal zum Marktplatz ging, fand er immer noch einige, die dort herumstanden. „Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?“, fragte er sie. 7 „Es hat uns eben niemand eingestellt“, antworteten sie. Da sagte er zu ihnen: „Geht auch ihr noch in meinem Weinberg arbeiten!“

8 Am Abend sagte der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: „Ruf die Arbeiter zusammen und zahl ihnen den Lohn aus! Fang bei den Letzten an und hör bei den Ersten auf.“ 9 Die Männer, die erst gegen fünf Uhr angefangen hatten, traten vor und erhielten jeder einen Denar. 10 Als nun die Ersten an der Reihe waren, dachten sie, sie würden mehr bekommen; aber auch sie erhielten jeder einen Denar. 11 Da begehrten sie gegen den Gutsbesitzer auf. 12 „Diese hier“, sagten sie, „die zuletzt gekommen sind, haben nur eine Stunde gearbeitet, und du gibst ihnen genauso viel wie uns. Dabei haben wir doch den ganzen Tag über schwer gearbeitet und die Hitze ertragen!“ 13 Da sagte der Gutsbesitzer zu einem von ihnen: „Mein Freund, ich tue dir kein Unrecht. Hattest du dich mit mir nicht auf einen Denar geeinigt? 14 Nimm dein Geld und geh! Ich will nun einmal dem Letzten hier genauso viel geben wie dir. 15 Darf ich denn mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich so gütig bin?“

16 So wird es kommen, dass die Letzten die Ersten sind und die Ersten die Letzten.

 

Umfragen sind in. Alle naselang wird irgendwer zu irgendwas befragt. Vor ein paar Monaten wurde in Deutschland zur Abwechslung sogar mal eine eine fromme Umfrage gestartet. Prominente aus Politik und Kultur sollten die Frage beantworten: „Welches ist Ihre Lieblingsgeschichte in der Bibel?“ Natürlich musste sich auch Bundeskanzler Gerhard Schröder dazu äußern. Und wissen Sie, was es sagte? Ihm gefalle besonders gut das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg. Schröder schob auch gleich noch eine Begründung hinterher: „Weil alle Arbeiter den gleichen Lohn erhalten.“

Malochen? Nur wenn die Kohle stimmt!

Schröder ist Sozialist. Und als Sozialist hat er natürlich seine Ideale: „Gleicher Lohn für alle!“ Das wär’s doch! Jesus hat es uns vorgemacht. In allen Lohntüten, die der Herr des Weinbergs nach getaner Arbeit verteilt, steckt genau der gleiche Betrag: 1 Denar. In der Geschichte ist eine sozialpolitische Utopie Wirklichkeit geworden: Gleicher Lohn für alle – unabhängig davon, ob der Angestellte jung oder alt ist, ein Mann oder eine Frau, Staatsbürger oder Ausländer, stark oder schwach, gebildet oder ungebildet.

Gleicher Lohn für alle? Geht es in unserem Gleichnis wirklich so zu? Jeder kriegt einen Denar in die Hand gedrückt, richtig. Aber der eine hat dafür eine Stunde gearbeitet, der andere drei, wieder ein anderer sechs, noch einer neun und noch ein anderer zwölf! Am Abend steht der, der zuerst angeheuert wurde, neben dem, der erst in letzter Stunde dazustieß: Gleicher Lohn für beide? Von wegen: Zwölffacher Lohn für den letzten!

Gleicher Lohn ist gut – aber natürlich bei gleicher Leistung! Das versteht sich ja von selbst. So wollte das auch Schröder verstanden wissen. Wo kämen wir sonst hin! Stell Dir vor, allen würde von Staats wegen der gleiche Lohn garantiert, ganz gleich, ob einer vollzeitlich beschäftigt ist oder teilzeitlich, ob er 5 Tage die Woche arbeitet oder nur einen! Da würden meine Kollegen mich ja für unzurechnungsfähig erklären, wenn ich freiwillig mehr als 1 Tag maloche!

Gleicher Lohn für gleiche Leistung: Das ist gerecht. So empfinden wir es als gerecht. So muss es in dieser Welt sein. Nicht auszudenken, wenn Schröder bei Tarifverhandlungen den Gewerkschaften mit unserem Gleichnis käme! Da wäre er die längste Zeit Parteivorsitzender gewesen – er hätte sämtliche Sozialisten gegen sich. Aber nicht nur die: Er wäre die längste Zeit Kanzler gewesen, denn er hätte sämtliche Deutschen gegen sich. Und zu Recht: In unserer irdischen Welt funktioniert das so nicht, wie es im Gleichnis abläuft. In unserer Welt der Arbeitsverträge muss es einsichtige, messbare, gerechte Löhne geben.

Aber da würde Jesus auch gar nicht widersprechen. Er hat mit seinem Gleichnis nicht von dieser Welt gesprochen; er hat nicht an irgendein Reich auf dieser Erde gedacht, auch nicht an das Römische Reich. Jesus spricht vom Reich Gottes. „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer …“ Und wenn’s um Himmelreich geht, muss uns eins von vorneherein klar sein: Das Reich Gottes ist immer für eine Überraschung gut. Das Reich Gottes ist total anders als alle Reiche dieser Welt. Gott übt seine Herrschaft komplett anders aus, als menschliche Herrscher sie ausüben. Bei Gott gelten Prinzipien, die von unseren Prinzipien so weit entfernt sind wie der Himmel von der Erde. Deshalb ist die Botschaft, die Jesus gebracht hat – die Botschaft vom Reich Gottes – immer für eine Überraschung gut. Für manche ist es eine tolle Überraschung (z. B. für die Letzten in unserem Gleichnis). Andere empfinden es als eine richtig böse Überraschung (z. B. die Ersten in der Geschichte). Ob so oder so – es kommt bei Gott immer anders, als man denkt.

An einem Tag wie jeder andere …

Sehen wir uns zunächst nochmals die Geschichte als solche an. Sie beginnt völlig normal und völlig harmlos. Jeder Zuhörer hat das, was Jesus da erzählt, so oder ähnlich schon mal miterlebt. Jesus knüpft bei seinen Bildergeschichten immer mitten im prallen Leben an. Die Leute können sich mit dem Personal, dem Szenarium identifizieren, können sich den Handlungsablauf vorstellen. So gelingt es Jesus, sie gewissermaßen mit auf die Reise nehmen – und irgendwann, manchmal unmerklich, manchmal mit einem Donnerschlag, befinden sie sich gar nicht mehr in ihrer vertrauten Welt, sondern mitten drin im Reich Gottes, und alles geht ganz anders zu, als sie es gewohnt sind.

Hier befinden wir uns also auf dem Marktplatz eines Städtchens irgendwo in Israel. Auf dem Marktplatz kann man alles haben – nicht nur Obst und Gemüse, sondern auch Arbeitskräfte. Es ist früh am Morgen, so zwischen 5 und 6 Uhr, die Sonne geht gerade auf. Einige Tagelöhner stehen bereits da und warten darauf, dass jemand ihnen für diesen Tag Arbeit gibt. [Tagelöhner waren in gewissem Sinn die Ärmsten der Armen in der damaligen Gesellschaft. Selbst ein Sklave hatte es in der Regel noch besser: Er gehörte zwar wie ein Tisch oder ein Maultier zum Hab und Gut irgendeines reichen Mannes, der mehr oder weniger freundlich mit ihm umsprang; aber dafür hatte er sein Auskommen und seine Unterkunft. Der Tagelöhner hingegen lebte buchstäblich von der Hand in den Mund. Wenn ihm an dem betreffenden Tag jemand eine Arbeit gab, bekam er am Abend den Lohn ausbezahlt – in der Regel einen Denar –, und das reichte dann gerade so, um sich und seiner Familie etwas zu essen zu kaufen. Fand er keine Arbeit, mussten Frau und Kinder und er selbst hungrig zu Bett gehen. Irgendwelche sozialen Netze, die ihn in einem solchen Fall hätten auffangen können, gab es damals noch keine.]

Plötzlich taucht noch ein Frühaufsteher auf: ein reicher Grundbesitzer. (Die Reichen machen sich also keineswegs immer ein bequemes Leben – das denken ja die Armen oft von ihnen. Umgekehrt sind aber auch die Armen nicht immer faule Säcke – das denken ja die Reichen oft von ihnen. Die Armen in unserer Geschichte sind jedenfalls genauso früh auf den Beinen wie der Reiche.) Der Gutsbesitzer sucht Arbeiter für seinen Weinberg. Wahrscheinlich ist an die Zeit der Weinlese zu denken, September oder Oktober. Das würde auch gut erklären, weshalb der Gutbesitzer im Lauf des Tages immer wieder auftaucht, um weitere Arbeiter anzuheuern. Die Trauben müssen schnell geerntet werden, ehe die Regenfälle einsetzen und alles zunichte machen.

Um die dritte Stunde (wie es wörtlich heißt) lässt er sich wieder auf dem Marktplatz blicken, dann um die sechste, dann um neunte und schließlich um die elfte. Gerechnet wurde von Sonnenaufgang an – sehr simpel und sehr effizient. (Eine Rolex für den Gutsbesitzer oder eine Swatch für die Tagelöhner gab es damals noch nicht.) Die Sonne geht um sechs auf – null Uhr nullnull sozusagen. Die dritte Stunde ist dann neun Uhr (man müsste genauer sagen: die Zeitspanne etwa von acht bis neun), wenn die Sonne auf halbe Höhe am Himmel steht. Steht sie im Zenit, ist Mittag – zwölf Uhr bei uns, die sechste Stunde nach damaliger Zählung. Wenn die Sonne wieder auf die halbe Höhe gesunken ist, haben wir die neunte Stunde – nachmittags um drei –, und beim Sonnenuntergang um sechs sind nicht weniger als zwölf Stunden vergangen: ein langer Arbeitstag! (Die Arbeitspausen lasse ich der Einfachheit halber aus dem Spiel.)

Immer wieder hält der Besitzer des Weinbergs nach weiteren Arbeitern Ausschau. Und jedesmal findet er welche, die bereit sind, mit ihm zu kommen. (Warum sie nicht gleich beim ersten Mal angestellt wurden, wird nicht gesagt und tut auch nichts zur Sache; vielleicht hatten sie erst woanders nach Arbeit gesucht. Auf jeden Fall machen sie nicht den Eindruck von Menschen, die sich so lange wie möglich vor der Arbeit drücken!) Mit den ersten hat der Gutsherr den üblichen Tageslohn vereinbart – einen Denar. Sie waren einverstanden, waren glücklich, zumindest für diesen Tag ihr täglich Brot zu haben, und gingen an die Arbeit. Denen, die später eingestellt werden, nennt er keine konkrete Zahl mehr; er sagt lediglich: „Ich werde euch geben, was recht ist“ – also, so müssen sie annehmen, den entsprechenden Bruchteil des vollen Tageslohnes.


… steht plötzlich alles Kopf

Es wird Mittag, es wird Nachmittag, die letzte Stunde bricht an, und schließlich ist der Zeitpunkt da, wo alle ihren Lohn ausgezahlt bekommen. „Wenn jemand um Tageslohn für euch arbeitet, dann zahlt ihm seinen Lohn noch am selben Tag aus“, heißt es im Gesetz des Mose (3. Mose 19, 13). Und jetzt, mit einem Mal, läuft alles anders ab als üblich. Üblich wäre, dass der Lohn gestaffelt ist, je nach Arbeitszeit. Doch hier bekommen alle, vom ersten bis zum letzten, denselben vollen Lohn, einen Denar. Üblich wäre zudem, dass die ersten als erste an der Reihe sind (sie waren schließlich sowieso schon den ganzen Tag auf den Beinen). Doch hier erhalten die Letzten ihren Lohn als erste, und die Ersten müssen warten bis zum Schluss.

Wenn wir herausfinden wollen, was Jesus uns mit seinen Geschichten beibringen möchte, müssen wir genau auf die Stellen achten, wo’s nicht mehr rund läuft, wo die Ereignisse sozusgen gegen den Strich gebürstet sind. In unserem Fall sind das also diese beiden Punkte: (a) dass alle den gleichen Lohn bekommen und (b) dass die Ersten ihren Lohn als letzte kriegen.

Wo wären wir, wenn Gott nicht wäre?

Sehen wir uns diese beiden Auffälligkeiten der Reihe nach an. Zuerst die Sache mit dem Einheitslohn. Auffällig daran ist nicht, dass die Ersten einen Denar bekommen; das war ja so abgemacht; da ging alles mit rechten Dingen zu. Auffällig ist, dass die Späteren mehr kriegen, als sie erwarten konnten, und je später sie mit der Arbeit im Weinberg angefangen haben, desto größerer wird das Missverhältnis zwischen Leistung und Lohn. In gewissem Sinn bekommen die von der letzten Stunde zwölfmal soviel wie die Ersten! Warum tut der Gutsbesitzer das? Er sagt es selbst: „Weil ich so gütig bin!“ (Vers 15) Er sieht diese armen Kerle vor sich stehen. Er stellt sich vor, wie sie nach Hause kommen, mit einem zwölftel Denar (einem Pondion – so hieß diese Winzig-Münze). Wie sollen sie damit all die hungrigen Mäuler stopfen? Er hat Erbarmen mit ihnen. Und er gibt ihnen so viel, als hätten sie den ganzen Tag für ihn gearbeitet. Damit sie wenigstens heute richtig satt werden.

So ist Gott. (Vergessen wir nicht: Es geht in diesem Gleichnis ums Himmelreich; der Besitzer des Weinbergs ist Gott!) Das will uns Jesus lehren: Mein Vater ist gütig. Wenn mein Vater euch für etwas belohnt, dann rechnet er nicht nach Heller und Pfennig ab, nein, er schüttet euch einen ganzen Geldsack in den Schoß. So großzügig geht es im Reich meines Vaters zu. Wo er herrscht, herrscht Überfluss.

Wenn Gott ein Pfennigfuchser wäre, ein Rappenspalter – du liebe Zeit, da wäre es schlecht um uns alle bestellt! Wenn Gott uns wirklich genau das geben würde, was wir verdient hätten – ja, wo wären wir denn da? So viele Jahre unseres Lebens haben wir vergeudet, ohne überhaupt nach Gott zu fragen. Wollen wir, dass er uns das angemessen anrechnet? So oft haben wir ihn mit unserem Tun beleidigt. Wollen wir, dass er uns das heimzahlt? Wollen wir Gott ernsthaft eine Leistungsabrechnung vorlegen und auf unseren Lohn pochen? Der Lohn könnte nur darin bestehen, dass Gott uns für immer von sich stoßen müsste.

Aber zum Glück (zu unserem Glück!) rechnet Gott anders. Zu unserem Glück ist sein Lohn kein Leistungslohn, sondern ein Gnadenlohn. Er hat sich bereits rückhaltlos für uns eingesetzt, als wir noch seine Feinde waren. „Gott beweist uns seine Liebe dadurch, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren.“ (Römer 5, 8). Und jetzt, wo wir seine Kinder sind, lässt er weiterhin Gnade vor Recht ergehen. Ich weiß, wir alle haben unsere Vorzeige-Frömmigkeit: Dass wir am Sonntag mit schöner Regelmäßigkeit im Weißen Saal aufkreuzen. Dass wir uns in der Bibel doch ein gutes Stück besser auskennen als dieser Neuling, der in der Kleingruppe immer wie wild in der Bibel blättert, weil er noch nicht mal weiß, dass die Evangelien im Neuen Testament stehen. Dass wir als treue Beter keine Gebetsstunde verpassen. Dass wir der Missionarsfamilie in Polynesien pünktlich an jedem Monatsersten einen Hunderter überweisen. Darauf sind wir stolz, dafür möge Gott uns, bitteschön, ordentlich belohnen. Aber wer eine Vorzeigeseite hat, der hat auch eine Damit-halte-ich-lieber-hinterm-Berg-Seite. Es gibt so vieles, auf das wir alles andere als stolz sind. So viele Nachlässigkeiten, so viele Versäumnisse, so viel Gleichgültigkeit. Wir sind heilfroh, dass die anderen in der Gemeinde davon nichts mitkriegen (hoffen wir wenigstens!). Nun, Gott kriegt alles mit. Gott umgibt uns von allen Seiten. Für ihn ist unsere Rückseite nicht weniger zugänglicher als unsere Vorderseite. Und es gibt nichts, was sich hinter seinem Rücken abspielen könnte. Er kennt unseren Einsatz für ihn. Aber er kennt auch die Zeiten der Trägheit, wo wir es mit dem Glauben nicht so genau nehmen, wo wir uns lieber von ihm fernhalten als seine Nähe suchen. Soll Gott das alles wirklich korrekt und gerecht gegeneinander aufrechnen? Meint ein einziger, er könne dann noch vor ihm bestehen? Wir können von Glück sagen, dass Gott so gütig ist. Er zahlt uns zwölffach, hundertfach, tausendfach mehr, als wir mit unserem bisschen Frömmigkeit beanspruchen könnten.

Noch ein Nach-Gedanke zum Einheitslohn. Einheitslohn bedeutet immer auch Nivellierung. Alle stehen auf derselben Stufe. Unterschiede spielen keine Rolle mehr. Vor dem Kreuz sind tatsächlich alle gleich: der Reiche und der Arme, der Kluge und der Dumme, der Fromme und der Gottlose. „Nivellierung“ hat meistens einen negativen Beigeschmack: Das Herausragende wird eingeebnet, das Besondere wird Gewöhnlich, man findet sich ganz bescheiden auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner wieder. Aber die von Gott inszenierte Nivellierung wirkt sich positiv aus, nicht negativ. Das macht sie so toll. Wir werden nicht herabgestuft, wir werden aufgewertet. Es ist nicht so, dass Jesus allen alles wegnimmt, uns also auf die tiefste Stufe herunterzerrt. Nein, alle bekommen alles; Jesus hebt uns auf die denkbar höchste Stufe hoch. Nivellierung auf allerhöchstem Niveau. So ist Gott. So gut, so gütig.

Wer sich für gesund hält, geht nicht zum Arzt

Kleine Zwischenfrage: Wie ist es denn mit den Ersten, den Allerersten? Sie bekamen doch genau den abgemachten Lohn. Sie mussten die Güte Gottes also nicht in Anspruch nehmen, um vor ihm bestehen zu können, oder? Ich glaube nicht, dass Jesus so was lehren wollte. Im Weinberg Gottes sind alle auf seine Güte angewiesen. Dass die Ersten im Gleichnis wie abgemacht ihren Denar bekommen, liegt einfach an der Geschichte. Wie will man sie auch anders erzählen? Der springende Punkt ist nicht der Lohn der Ersten, sondern der Lohn der Letzten.

Aber nehmen wir mal an, das mit dem gerechten Lohn für die Ersten wäre doch bedeutsam. Wissen Sie, wie ich das dann deute? Ihr Leistungslohn spiegelt nicht die tatsächlichen Verhältnisse im Reich Gottes wider, sondern drückt aus, was sie empfinden. Sie haben den ganzen Tag geschuftet, auch in der glühenden Mittagshitze, auch bei dem ausdörrenden Wüstenwind. Jetzt wollen sie ihren gerechten Lohn dafür. Okay, den sollen sie haben. Einen Denar. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr. Hätten sie sich nicht auf ihre Leistung berufen, sondern auf Gottes Güte, wer weiß, vielleicht hätten sie auch das Zwölffache bekommen! Aber sie wollten nicht gütig behandelt werden, sondern gerecht.

In Kapitel 9 seines Evangeliums beschreibt Matthäus, der ehemalige Zolleinnehmer, wie Jesus einmal in seinem Haus zu Gast war. Matthäus hatte viele Berufskollegen und andere Leute von schlechtem Ruf eingeladen. Matthäus erinnert sich, wie empört die Pharisäer darüber waren: „Wie kann euer Meister nur zusammen mit Zolleinnehmern und Sündern essen?“ Als Jesus das hörte – so erzählt Matthäus –, erwiderte er: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken … Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ (Matthäus 9, 12.13) Eine höchst erstaunliche Antwort! Jesus tut so, als seien die Pharisäer gesund, als seien sie gerecht. Er tut so, als brauchten sie seine Hilfe nicht. Sind sie wirklich gesund? Können sie mit ihrer Gerechtigkeit wirklich vor Gott bestehen? Nicht die Spur! Aber das müssen sie selbst herausfinden. Solange sie sich für kerngesund halten, werden sie sich niemals dazu herablassen, auch nur einen Fuß ins Sprechzimmer dieses Arztes zu setzen.

So ähnlich, denke ich, verhält es sich mit den Ersten in unserem Gleichnis. Sie pochen auf Gerechtigkeit und meinen, sie kämen ohne Gottes Güte aus. Nun gut, sollen sie ihren Willen haben. Mal sehen, ob sie am Ende reicher dran sind oder ärmer. Und wer weiß, ob sie eines Tages nicht doch noch begreifen, was die Letzten gleich im ersten Anlauf begriffen haben: „Wir leben ganz und gar von Gottes Güte.“

Macht Liebe neidisch?

Soviel zur ersten Auffälligkeit: Die Letzten bekommen viel zu viel Lohn! Und jetzt noch zum zweiten Punkt, der fast genauso auffällig ist: dass die Ersten ihren Lohn erst nach den Letzten ausgezahlt bekommen. War das nötig? Ja, das war nötig. Das war gewissernmaßen der Trick, mit dessen Hilfe ans Licht kam, was die ersten von Gottes Güte hielten. Und das ist eben der zweite Punkt, den Jesus uns lehren will: Gottes Güte ist bei uns Menschen oft gar nicht so willkommen, wie wir meinen. Sie wirft liebgewordene Vorstellungen über den Haufen. Sie fordert ein radikales Umdenken.

Was wäre denn passiert, wenn die Ersten ihren Denar als erste bekommen hätten? Gar nichts wäre passiert! Sie hätten sich bedankt, hätten einen tiefen Bückling gemacht, hätten sich gefreut, dass der Gutsbesitzer sie nicht übers Ohr gehauen hat, und wären zufrieden abgezogen. Ein gerechter Mann, hätten sie gesagt; hält sich an seine Abmachungen. Von dem lassen wir uns gern wieder anheuern.

Aber jetzt, angesichts der Letzten, deren Lohntüte genauso voll ist wie ihre eigene? Entrüstung! Wut! Aufbegehren! „Gerecht will der sein? Gibt denen genauso viel, die den lieben langen Tag Däumchen gedreht haben? 12 Stunden lang haben wir uns den Rücken krumm geschuftet, und was haben wir davon? Wir werden nachträglich noch dafür bestraft!“ Richtig bedrohlich wird die Situation. Von wildem Streik würde man heute sprechen, von einer unbewilligten Demonstration für höhere Löhne.

Da tritt der Gutsbesitzer auf den Wortführer der Gruppe zu. „Mein Freund“, sagt er zu ihm, „ich tu dir kein Unrecht. Hattest du dich mit mir nicht auf einen Denar geeinigt? Nimm dein Geld und geh! Ich will nun einmal dem Letzten hier genauso viel geben wie dir. Darf ich denn mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?“ Hast du irgendeinen Nachteil davon, dass ich den Letzten genauso viel gebe wie dir? Habe ich dich unfair behandelt, habe ich dir etwas vorenthalten, was dir zusteht? Hast du unter meiner Güte zu leiden? Nein? Wieso dann dieser wütende Protest? „Bist du etwa neidisch, weil ich so gütig bin?“

Das Päckchen für dich, das Paket für mich

Eine raffinierte Frage, das. Fast so etwas wie eine Fangfrage. Wer will schon zugeben, dass er neidisch wird, wenn es einem anderen gut geht? „Natürlich bin ich nicht neidisch! Ich freu mich für ihn.“ Aber in uns kocht und brodelt es: Unfair ist das, ungerecht! Immer sind es die anderen, die so unverschämtes Glück haben. Da macht mein Nachbar ein einziges Mal bei einem Preisausschreiben mit – und prompt gewinnt er eine Kreuzfahrt in der Karibik. Ich habe schon hundert solche Zettel ausgefüllt ohne den geringsten Erfolg. Nicht mal zu ’nem Trostpreis hat’s bei mir gereicht.

Anders wäre es natürlich, wenn ich derjenige wäre, welcher … In meinem Fall würde ich mir die Gnade natürlich gefallen lassen. Ist das nicht merkwürdig? Wir haben zu Gottes Güte ein gespaltenes Verhältnis, eine gespaltene Wahrnehmung. Macht Gott jemand anders ein Geschenk – „Wie unverdient! Wie ungerecht!“ Macht Gott uns das Geschenk – „Nur her damit, das kommt ja wie gerufen! Wunderbar, wie lieb Gott zu mir ist!“ Soll Gott seinen Segen nur bei uns abladen! Unsere Schultern sind breit genug, unser Rücken ist stark genug, da passt noch mal ein Zentner drauf. Alles kein Problem. Aber ob wir es denn überhaupt verdient haben, ob es von Gott überhaupt gerecht ist, uns so zu beschenken – diese Frage stellen wir uns gar nicht erst. Die stellen wir nur beim lieben Nachbarn – und dort nicht erst nach einem Zentner, sondern schon bei hundert Gramm.

Jesus hat einmal (in einem anderen Zusammenhang) vom Splitter und vom Balken geredet, vom Splitter im Auge des Mitchristen und vom Balken im eigenen Auge. Gnadenlos entdecken wir Splitter im Auge des anderen, kleine Sünden, die uns mächtig auf den Keks gehen, und geflissentlich übersehen wir den Balken, der in unserem eigenen Auge steckt und den wir doch erst einmal herausoperieren müssen, ehe wir ein klares Urteil über uns und den anderen fällen können. Splitter und Balken – groteske Größenverhältnisse, grotesk verschobene Wahrnehmung.

Genauso ist es auch bei der Gnade. Vor unserer eigenen Haustür darf Gott seine Care-Pakete gleich säckeweise abladen; beim Mitchristen stört uns schon das kleinste Päckchen.  Für uns selbst berufen wir uns auf Gottes Güte, für den Mitmenschen auf Gottes Gerechtigkeit. Für unsere eigenen Schwächen halten wir immer eine passende Ausrede bereit; die Schwächen der anderen entlarven wir als krasses Versagen. Über die eigenen Sünden breiten wir den Mantel der Barmherzigkeit aus; auf die Sünden der anderen weisen wir so lange mit ausgestrecktem Zeigefinger hin, bis alle sie entdeckt haben. Unsere eigenen Beiträge für die Gemeinde halten wir für unentbehrlich; an den Beiträgen der anderen entdecken wir immer irgend ein Haar in der Suppe. Jesus möchte, dass es umgekehrt ist: Wir sollen streng sein mit uns selbst und nachsichtig gegenüber anderen.

Liebe lässt sich nicht halbieren

Außerdem ist dieses ganze Unterteilen in gut und besser und schlimm und noch schlimmer bereits im Ansatz verkehrt. Bei der Vergebung und beim ewigen Leben kann es ganz einfach keine Unterschiede und keine Ansprüche geben! „Der hat mehr gesündigt als ich; der hat grobere Sünden begangen als ich! Also krieg ich ein größeres Stück ewiges Leben als er!“ Merken wir, wie hirnrissig dieses Denken ist? Als gäbe es Sünden, bei denen Gott weniger empört ist als bei anderen. Und als wäre das ewige Leben ein Kuchen, von dem man unterschiedlich große Stücke abschneiden kann. Aber so denken wir Frommen ständig. In Wirklichkeit ist es piepegal, ob wir vor unserer Bekehrung viel oder weniger gesündigt haben. Unser Leben als Ganzes ist in die falsche Richtung gelaufen und kann nur als Ganzes verworfen werden. Unser Leben ohne Gott ist keine Verhandlungsmasse, aus der wir ein paar gute Stücke herausfischen und Gott präsentieren können, um mehr Lohn einzufordern. Mehr Lohn? Läßt sich das ewige Leben denn unterteilen? Verschenkt Gott seine Liebe scheibchenweise? Nein, du kriegst sie entweder ganz, oder du kriegst gar nicht. Den Denar konnte man durch zwölf teilen; Gottes Liebe ist unteilbar. Wer sie erfährt, der erfährt sie in ihrer ganzen Fülle.

Wir wollen das, was wir schon haben!

Mehr Lohn fordern die Ersten. Im Grunde zeigen sie damit, dass sie etwas Elementares noch gar nicht begriffen haben: Sie sind doch bereits belohnt! Ihr größter Lohn ist doch, dass sie den ganzen Tag für diesen Herrn arbeiten durften! Es handelt sich ja nicht um irgendeinen Gutsbesitzer; der Gutsbesitzer ist Gott! Einen besseren Arbeitgeber wirst du nirgends finden. Und der Weinberg ist nicht ein x-beliebiger Arbeitsplatz; der Weinberg ist Gottes Reich! Eine bessere Anstellung lässt sich nicht denken. Die Ersten hatten doch ein Riesen-Vorrecht: Von früh morgens an durften sie für den Herrn arbeiten! Für die Letzten war fast der gesamte Tag verlorene Zeit, ein verlorenes Stück Leben.

Aber das vergessen wir Christen manchmal, vielleicht gerade die langjährigen Christen unter uns, die Ersten gewissermaßen. Jetzt habe ich Gott schon so lange die Treue gehalten! Ich habe mich Jahre und Jahrzehnte in der Gemeinde engagiert. Nie habe ich meine Frau betrogen, nie falsche Angaben in der Steuererklärung gemacht, nie mich auf Kosten der Kollegen beim Chef eingeschmeichelt. Eigentlich hätte ich dafür doch mal ein Sonderlob von Gott verdient, oder nicht? Eine Gratifikation, einen prall gefüllten Geschenkkorb. Wir tun geradezu so, als würden wir Gott einen Gefallen erweisen, wenn wir bei ihm bleiben; als würden wir ihm zuliebe auf Lüge und Betrug, auf Hurerei und Sauferei verzichten.

So verdreht kann frommes Denken sein! Lohnt es sich denn, so fragen wir uns allen Ernstes – lohnt es sich denn, fromm zu sein? Warum sich nicht ein Leben lang so richtig austoben und dann, kurz vor Torschluss, noch schnell zu Gott umkehren? Gerettet wird man doch als Spätzünder genauso wie als Frühstarter. Gott, was gibst du mir dafür, dass ich fromm bin? So pervers können wir daherreden! Hat Gott denn etwas davon, dass wir fromm sind? Sind nicht wir es, die davon profitieren? Unser Frommsein als solches ist unser Lohn! Die Gemeinschaft mit Gott, ein Sinn und ein Ziel für unser Leben, die Reinheit, die Treue, die Liebe, die Hoffnung, der Frieden – auf dem unfrommen Weg hätten diese Werte doch niemals in meinem Leben Einzug gehalten! Ist das nicht Lohn genug?

Sieh doch, das Gute liegt so nah!

Wir sind wie der ältere Bruder in dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Der jüngere Bruder hatte ja sein ganzes Erbe in Saus und Braus verjubelt, war halbverhungert am Schweinetrog gelandet, hatte sich schließlich eines Besseresn besonnen und sich auf den Rückweg zu seinem Vater gemacht. Der Vater schließt ihn in die Arme, vergibt ihm alles und beginnt ein Fest zu feiern.

Wie der ältere Bruder davon hört, will er nicht mitfeiern. Voll Zorn schleudert er seinem Vater entgegen: „So viele Jahre diene ich dir jetzt schon und habe mich nie deinen Anordnungen widersetzt. Und doch hast du mir nie auch nur einen Ziegenbock gegeben, so dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können! Und nun kommt dieser Mensch da zurück, dein Sohn, der dein Vermögen mit Huren durchgebracht hat, und du lässt das Mastkalb für ihn schlachten!“ (Lukas 15, 29+30). Mit anderen Worten: Du hast es mir nie gelohnt, dass ich bei dir geblieben bin! Ich hätte ja auch abhauen und mir ein schönes Leben machen können! Denken wir ganz tief in uns drin nicht manchmal ganz ebenso?

Und wissen Sie, was der Vater darauf sagt? „Kind, du bist doch immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört auch dir!“ Anders gesagt: Du hast doch alles, was du brauchst, und du hast alles im Überfluss! Du hättest jederzeit mit deinen Freunden feiern dürfen! Ist das Leben hier denn nicht Belohnung genug? Willst du mir am Ende sagen, du hättest es lieber deinem Bruder nachgemacht? Meinst du im Ernst, er hätte es in seinen Jahren in der Fremde besser gehabt als du hier? Sehnst du dich wirklich nach all den zweifelhaften Vergnügungen, die dich am Ende ausgebrannt zurücklassen und dein Gewissen quälen? Dein Leben lang bei mir zu sein – das ist der höchste Lohn, und der wird dir Tag für Tag ausgezahlt. Und der Vater schließt mit einem bewegenden Appell: Freu dich doch mit! Feiere doch mit! Freu dich an Gottes Güte im Leben deines Bruders, und freu dich an Gottes Güte in deinem eigenen Leben!

Alle kriegen was zu hören

Warum hat Jesus eigentlich dieses Gleichnis erzählt? Oder, anders gefragt: Für wen hat er es erzählt? Ganz einfach: für die Ersten und für die Letzten. Diese beiden Gruppen kommen nämlich nicht nur in seiner Geschichte vor; sie befinden sich ganz genauso auch unter seinen Zuhörern. Die Ersten – das waren die Frommen, die Herren Theologen, die Schriftgelehrten, die Gesetzestreuen. Die Letzten – das waren die Zolleinnehmer und die Prostituierten, die Verachteten und die Zu-kurz-Gekommenen.

Den Letzten möchte Jesus Mut machen; für sie gibt er der Geschichte die überraschende Wende mit dem unerwartet großen Lohn. Denkt nicht an all die verpfuschten Jahre eures Lebens, sagt er zu ihnen. Versinkt nicht in Selbstmitleid oder in Selbsthass. Versucht nicht, euch am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Kehrt um! Kommt zu mir. Stellt mir euer Leben zur Verfügung. Und am Ende werdet ihr das ewige Leben haben – genau wie alle anderen, die zu meinem Reich gehören. Das ewige Leben: überreicher, unverdienter Lohn!

Die Ersten möchte Jesus warnen; ihretwegen gibt er der Geschichte die überraschende Wende mit dem verkehrt herum ausgezahlten Tageslohn. Bildet euch nur ja nichts ein auf eure frommen Leistungen, sagt er zu ihnen. Meint nicht, ihr könntet auf Gottes Güte verzichten. Ihr habt nicht den geringsten Grund, verächtlich auf die Spätankömmlinge herabzublicken. Ihr lebt genauso von Gottes Gnade wie sie. Seht es doch als ein Vorrecht an, dass ihr schon so lange in Gottes Nähe sein dürft! Gönnt es den anderen, dass sie schließlich doch noch den Weg in Gottes Reich gefunden haben. Freut euch doch, dass ich so gütig zu ihnen bin! Wenn ihr euch darüber nicht freuen könnt, dann habt ihr noch eine Lektion zu lernen, die sie bereits gelernt haben, nämlich dass wir alle von Gottes Güte leben. Dann müsst ihr euch hinten anstellen, und sie rücken auf; dann seid ihr die Letzten, und sie sind die Ersten.

Wer bei Gott Karriere macht … und wer nicht

Erste werden Letzte, und Letzte werden Erste. Lassen Sie mich zum Schluss einfach noch ein paar Beispiele nennen, wo genau das eingetreten ist.

Beispiel Nr. 1

Von den Zuhörern Jesu habe ich bereits geredet. Die Ersten, die Frommen, pochten auf ihre Leistungen, ärgerten sich über Gottes Großzügigkeit und verbauten sich damit selbst den Zugang zu Gottes Lohn, zum ewigen Leben. Die Letzten dagegen, die Zolleinnehmer und Prostituierten, die verachteten Galiläer, die ungebildeten Fischer und Hirten griffen gierig nach diesem Strohhalm der zwölften Stunde, dem letzten Angebot sozusagen, doch noch etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie gehörten zu den Christen der ersten Stunde – und es dauerte lange, bis auch der eine oder andere Fromme sich zu Jesus bekannte. Erste wurden Letzte, und Letzte wurden Erste. Wie sagte Jesus ein Kapitel später zu den führenden Priestern und den Ältesten des jüdischen Volkes, zu lauter Ersten also? „Ich versichere euch: Die Zolleinnehmer und die Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr.“ (Matthäus 21, 31)

Beispiel Nr. 2

Unmittelbar vor unserem Gleichnis, in Kapitel 19, berichtet Matthäus von einem reichen Mann, der zu Jesus kam und wissen wollte, wie er das ewige Leben bekommen könnte. Der Mann hatte von klein auf alle Gebote gehalten, er hatte sich immer an alle frommen Regeln gehalten. Ganz zweifellos war dieser Mann ein Erster. Aber als Jesus ihm dann seine Hilfe anbot, lehnte er ab. Er war zu stolz. Er war zu reich. Traurig ging er weg – mit einem Mal ein Letzter.

Beispiel Nr. 3

Kaum ist der Reiche weg, sagt Petrus zu Jesus (Matthäus 19, 27): „Du weißt, wir haben alles zurückgelassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen?“ Daraufhin kündigt Jesus seinen Jünger eine Belohnung an, die alle Grenzen sprengt, die mit vernünftigem, gerechtem Lohn überhaupt nichts mehr zu tun hat, die so gigantisch ist, dass man sie nur noch als pure Gnade bezeichnen kann: „Ich sage euch: Wenn der Menschensohn in der zukünftigen Welt auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, werdet auch ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker zurücklässt, wird alles hundertfach wiederbekommen und wird das ewige Leben erhalten.“ (Verse 28 und 29) Und dann fügt Jesus etwas an, was wie eine leise Mahnung an Petrus klingt: „Aber viele, die jetzt die Ersten sind, werden dann die Letzten sein, und viele, die jetzt die Letzten sind, werden dann die Ersten sein.“ (Vers 30)

Es ist, als wollte Jesus Petrus und die anderen Jünger davor schützen, in ein falsches Denken zu geraten. Petrus, du warst einer von diesen Letzten, ein Fischer aus Galiläa, in den Augen der jüdischen Frommen ein religiöser Taugenichts. Und jetzt plötzlich bist du einer von den Ersten! Lass dir das nur ja nicht zu Kopfe steigen! Es werden sich mir noch viele andere anschließen, die nicht so lange für mich gearbeitet haben wie du. Dann prahle bloß nicht mit deinem Einsatz und deiner Hingabe! Nein, freu dich mit, dass Gottes Haus groß genug ist auch für sie und dass Gottes Güte groß genug ist, um auch mit ihrer Schuld fertig zu werden – genau wie mit deiner.

Beispiel Nr. 3a

Viele von uns sind schon lange Christen, gehören schon lange zu dieser Gemeinde und arbeiten schon seit Jahren treu und zuverlässig mit. Aber gerade wir sind in Gefahr! In der ersten Stunde im Weinberg ist man noch so richtig dankbar, dass man überhaupt eine Aufgabe hat und dafür sogar noch einen Lohn kriegt. Man freut sich über Gottes Güte. Aber nach und nach – je länger man arbeitet und je mehr Stunden man sich abmüht – schleicht sich wieder der alte Stolz ein, die alte Selbstgefälligkeit: Hier, in dieser Gemeinde, hier bin ich wer. Hier kann man nicht auf mich verzichten. Hier gehöre ich zu den Stützpfeilern, ohne die alles zusammenkracht. Ich bin für Gott auf jeden Fall viel wichtiger als irgend so ein Besucher, der nur ab und zu reingeschneit kommt und der sich hier noch keinerlei Privilegien erarbeitet hat! Und hast du’s nicht gesehen lebt man nicht mehr von Gottes Güte, sondern von der eigenen frommen Statur. Und hast du’s nicht bemerkt wird man von Gott höchstpersönlich nach hinten gereicht – von den Ersten zu den Letzten – und musst Gottes Urteil hören: Fang du nochmals ganz von vorne an; lern wieder das ABC der Gnade Gottes und das Einmaleins seiner Gerechtigkeit.


Beispiel Nr. 4

Wir merken: Erster und Letzter – das sind keine festgeschriebenen Positionen. Das kann ständig wechseln. Der Pharisäer, dieser fromme Mann, betet: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie jener Zolleinnehmer dort!“ (Lukas 18, 11) Und mit diesem Pharisäerdenken landet er prompt auf dem letzten Platz. Aber der Zolleinnehmer könnte sich genauso was einbilden: „Ich danke dir, Gott, dass ich kein Pharsiäer bin! Ich danke dir, dass ich in meinem Leben so viel Verkehrtes gemacht habe, denn das hat mich auf den letzten Platz abrutschen lasssen. Und deshalb darf ich jetzt damit rechnen, bei Dir Erster zu sein!“ Aber hallo, würde Jesus sagen, wenn du das so siehst, dann bleib du mal schön auf dem allerletzten Platz.

Das Beispiel par excellence

Ein weiteres Beispiel, eigentlich das Paradebeispiel schlechthin: der sog. Schächer am Kreuz (Lukas 23, 39-43). Ein Mann nicht nur der letzten Stunde, sondern der letzten Minute! Buchstäblich in letzter Sekunde kriegt dieser Verbrecher die Kurve, begreift, dass Jesus der König und Retter ist und übergibt ihm sein Leben und seine Zukunft. Und wie reagiert Jesus? „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ Ein Allerletzter wird Allererster! Er kommt genauso ins Paradies wie der, der sich ein Leben lang treu für Christus eingesetzt hat.

Beispiel Nr. 6

Noch ein Beispiel: Nachdem Jesus gestorben und auferstanden war, schickte er den Apostel Paulus als seinen Botschafter auf Tournee ins ganze Römische Reich. Wie ging Paulus dabei vor? In jeder Stadt, in die er kam, suchte er als erstes die jüdische Synagoge auf und versuchte dort, das Evangelium zu verkünden. Das war ein ehernes Prinzip seiner Missionsstrategie: Zuerst die Juden, danach die anderen Völker. Und was musste er erleben? Die Juden lehnten seine Botschaft ab (Ausnahmen bestätigten die Regel). Und was durfte er erleben? Die Griechen und Römer öffneten sich scharenweise für das Evangelium; sie konnten sich gar nicht satthören an dieser guten Nachricht, dass die Gnade des Gottes Israels jetzt auch für sie da war. Die Letzten wurden die Ersten.

Aber handkehrum warnt Paulus diese Senkrechtstarter auch wieder. Im Römerbrief (Kapitel 11) vergleicht er die Gemeinde Gottes mit einem Ölbaum. Die Juden waren die ersten Zweige an diesem Baum, sagt er. Und diejenigen unter ihnen, die Christus ablehnten, wurden ausgebrochen und mussten gläubigen Nichtjuden Platz machen. Aber dann sagt Paulus: „Das ist kein Grund, verächtlich auf diese Zweige herabzusehen! … Dass sie ausgebrochen wurden, lag an ihrem Unglauben, und dass du da stehst, wo du stehst, liegt an deinem Glauben. Darum sei nicht überheblich, sondern sei dir bewusst, in welcher Gefahr du dich befindest. Denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht verschont hat, warum sollt er dann dich verschonen?“ (Verse 18-21) Mit anderen Worten: Aufgepasst, ihr römischen Christen! Ihr wart mal Letzte und seid jetzt Erste. Bildet euch darauf nur ja nichts ein. Sonst könntet ihr euch – schneller, als euch lieb ist – auf dem letzten Platz wieder finden! Paulus fährt fort: „Du hast hier also beides vor Augen, Gottes Güte und Gottes Strenge: seine Strenge denen gegenüber, die sich von ihm abgewendet haben, und seine Güte dir gegenüber – vorausgesetzt, du hörst nicht auf, dich auf seine Güte zu verlassen; sonst wirst auch du abgehauen werden. Die ausgebrochenen Zweige dagegen werden wieder eingepfropft werden, sofern sie nicht an ihrem Unglauben festhalten. Denn es steht sehr wohl in Gottes Macht, sie wieder einzupfropfen.“ (Verse 22 und 23) Also: Die, die jetzt Letzte sind, können auch wieder Erste werden. Entscheidend für alle ist der Grundsatz, den Paulus knapp, präzise und glasklar so formuliert: „… vorausgesetzt, du hörst nicht auf, dich auf Gottes Güte zu verlassen.“

Siebtes und letztes Beispiel: Ein guter Schluss ziert alles

Und noch ein letztes Beispiel: Paulus selbst. Jahrelang war er ein Letzter. Er hielt sich die Ohren zu, wenn die Jünger von Jesus erzählten. Mehr noch: Er fing an, die Christen zu bekämpfen; er ging mit äußerster Härte gegen sie vor und schreckte nicht einmal davor zurück, sie dem Henker auszuliefern. Und dann griff Jesus persönlich ein, vor Damaskus, mit einem blendend hellen Licht. „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ – „Wer bist du, Herr?“ – „Ich bin Jesus.“ – „Was soll ich jetzt tun?“ – „Tu, was ich dir sage!“ Paulus, ein Letzter, wurde zu Paulus, einem Ersten. Dieser unglaubliche Wechsel hat sein ganzes weiteres Leben geprägt. In 1. Korinther 15, 8-10 schreibt er: „Als Letztem von allen [sozusagen in zwölfter Stunde, fünf Minuten vor zwölf!] hat Christus sich auch mir gezeigt; ich war wie einer, für den es keine Hoffnung mehr gibt, so wenig wie für eine Fehlgeburt. Ja, ich bin der unwürdigste von allen Aposteln. Eigentlich verdiene ich es überhaupt nicht, ein Apostel zu sein, denn ich habe die Gemeinde Gottes verfolgt. Dass ich trotzdem ein Apostel geworden bin, verdanke ich ausschließlich der Gnade Gottes.“ Oder, mit dem Bild von unserem Gleichnis gesagt: Es war ein reines Geschenk, dass der Gutsbesitzer mich noch in seinen Weinberg gerufen hat; was bin ich froh, dass ich jetzt doch noch für ihn arbeiten darf! Aus lauter Dankbarkeit hat Paulus sich mit Feuereifer in die Arbeit gestürzt. Er sagt weiter: „Und dass Gott mir seine Gnade erwiesen hat, ist nicht vergeblich gewesen. Keiner von allen anderen Aposteln hat so viel gearbeitet wie ich.“ He Paulus, Achtung – bist du jetzt etwa eingebildet? Bedankst du dich womöglich bei dir selber statt bei Gott? – O nein. Hör lieber bis zum Ende zu! Und Paulus schließt seinen Gedankengang, indem er noch einmal auf den alles entscheidenden Aspekt hinweist: „Nicht mir verdanke ich das Erreichte, sondern der Gnade Gottes, die mit mir war.“ Nein, um Paulus musste einem nicht bange werden. Und solange wir uns ganz auf Gottes Güte verlassen, muss uns um uns auch nicht bange sein.

***

Das war es also, was Jesus uns mit diesem Gleichnis lehren wollte. Erstens: Gott ist unendlich, unbegreiflich gütig. Und zweitens: Seine Güte erfordert bei uns ein radikales Umdenken.

Ob Schröder, wenn er die heutige Predigt hören könnte, dieses Gleichnis immer noch zu seiner Lieblingsgeschichte erklären würde? Schön wär’s natürlich! Und zu wünschen wäre es ihm auch.