1,1-16 Die Eingangsformel »Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams«, ähnelt dem  Ausdruck  in  1. Mose  5,1:  »Dies  ist das Buch der Geschlechterfolge Adams.« Das erste Buch Mose führt den ersten Adam ein, Matthäus den zweiten Adam. Der erste Adam war das Haupt der ersten oder natürlichen Schöpfung. Christus, der zweite Adam, ist das Haupt der neuen oder geistlichen Schöpfung. Das Thema dieses Evangeliums ist »Jesus Christus«. Der Name Jesus kennzeichnet ihn als Jahwe-Retter1, sein Titel »Christus« (»der Gesalbte«) weist ihn als den lang erwarteten Messias Israels aus. Der Titel »Sohn Davids« ist mit der Rolle des Messias und des Königs im AT eng verbunden. Der Titel »Sohn Abrahams« zeigt unseren Herrn als den Einen, der die endgültige Erfüllung der Verheißungen an den Stammvater des hebräischen Volkes ist.
Der Stammbaum ist in drei historische Abschnitte gegliedert, von Abraham bis Isai, von David bis Josia und von Jojachin bis Josef. Der erste Abschnitt führt bis zu David, der zweite behandelt die Königszeit, und der dritte hält die königliche Abstammungslinie vom Beginn des Exils (ab 586 v. Chr.) bis Jesus fest. Es gibt viele interessante Einzelheiten in dieser Liste. Zum Beispiel werden in diesem Abschnitt vier Frauen erwähnt: Tamar, Rahab, Rut und Batseba, (»die Frau des Uria«). Weil Frauen nur selten in den Stammbäumen des Orients erwähnt werden, ist es umso erstaunlicher, dass diese Frauen hier erwähnt sind, insbesondere, weil zwei von ihnen Huren waren (Tamar und Rahab), eine die Ehe brach (Batseba) und zwei heidnischer Abstammung waren (Rahab und Rut). Dass sie in den einleitenden Abschnitt des Matthäusevangeliums einbezogen werden, deutet vielleicht darauf hin, dass das Kommen Christi Sündern die Errettung sowie Heiden die Gnade bringen würde und in Christus alle Rassen- und Geschlechterschranken niedergerissen werden würden.
Interessant ist auch die Erwähnung eines Königs namens Jojachin. In Jeremia 22,30 spricht Gott einen Fluch über diesen Mann aus:
»So spricht der Herr: Schreibt diesen Mann auf als kinderlos, als einen Mann, dem nichts gelingt in seinen Tagen! Denn von seinen Nachkommen wird es nicht einem gelingen, auf dem Thron Davids zu sitzen und weiterhin über Juda zu herrschen.«
Wenn Jesus wirklich der leibliche Sohn Josefs gewesen wäre, dann wäre er unter diesen Fluch gekommen. Doch musste er der rechtmäßige Sohn Josefs werden, damit er das Anrecht auf den Thron Davids erben konnte. Das Problem wurde durch das Wunder der Jungfrauengeburt gelöst: Jesus war durch Josef der rechtmäßige Thronerbe. Er war der leibliche Sohn Davids durch Maria. Der Fluch über Jojachin traf nicht Maria oder ihre Kinder, da sie nicht von ihm abstammte.
1,16 Der Ausdruck »von welcher« könnte in der englischen Wiedergabe so gedeutet werden, dass er sich sowohl auf Josef als auch auf Maria bezieht. In der griechischen Ursprache steht »welche« jedoch in der Einzahl und ist weiblich. Dies lässt erkennen, dass Jesus von Maria geboren wurde, aber Josef nicht sein leib licher Vater war. Doch neben diesen in teressanten Merkmalen des Stammbaums müssen auch die darin ent haltenen Schwierigkeiten erwähnt werden.
1,17 Matthäus lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass es in den drei Teilen des Stammbaumes jeweils vierzehn Generationen gibt. Dennoch wissen wir aus dem AT, dass hier bestimmte Namen in seiner Liste fehlen. Zum Beispiel regierten zwischen Joram und Usija (V. 8) Ahasja, Joasch und Amazja als Könige (s. 2. Kön 8 – 14, 2. Chron 21 – 25). Die Stammbäume von Matthäus und Lukas scheinen sich in zwei Namen zu überschneiden: Schealtiel und Serubbabel (Matth 1,12; Lk 3,27). Es ist eigenartig, dass Josefs und Marias Linien sich in diesen Männern vermischt und dann wieder getrennt haben. Es wird noch schwieriger, wenn wir sehen, dass in Anlehnung an Esra 3,2 in beiden Evangelien Serubb abel ein Sohn Schealtiels ist, während er in 1. Chronik 3,19 als Sohn des Pedajas aufgeführt wird. Eine dritte Schwierigkeit ist, dass Matthäus 27 Generationen von David bis Jesus aufzählt, während es bei Lukas 42 sind. Auch wenn die Evangelisten verschiedene Stammbäume auflisten, scheint es dennoch seltsam, dass wir einen solchen Unterschied in der Generationenzahl haben.
Welche Haltung sollte jemand, der die Bibel studiert, gegenüber solchen Schwierigkeiten und scheinbaren Diskrepanzen einnehmen? Erstens besteht unsere Grundannahme darin, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist. Deshalb kann es keine Fehler enthalten. Zweitens ist es unermesslich reich, da es die Unendlichkeit Gottes widerspiegelt. Wir können die fundamentalen Wahrheiten des Wortes Gottes verstehen, aber wir können niemals alles begreifen, was es enthält. So führt uns unser Ansatz zu der Schlussfolgerung, dass das Problem mit diesen Schwierigkeiten in unserer mangelnden Erkenntnis und nicht in der Fehlbarkeit der Bibel begründet ist. Biblische Probleme sollten uns herausfordern, nach Antworten zu forschen und zu suchen. »Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verbergen, die Ehre der Könige aber, eine Sache zu erforschen« (Spr 25,2). Sorgfältige Studien von Historikern und Ausgrabungen von Archäologen haben nicht zeigen können, dass die Aussagen der Bibel falsch sind. Was uns schwierig und widersprüchlich erscheinen mag, hat alles eine Erklärung, und diese Erklärungen enthalten eine Fülle an geistlicher Bedeutung und geistlichem Nutzen. B. Die Geburt Jesu durch Maria (1,18-25) 1,18 »Die Geburt Jesu Christi« (LU 1912) unterschied sich von allen anderen Geburten, die in dem Stammbaum erwähnt sind. Bisher fanden wir die wiederholte Formulierung: »A … zeugte B.« Aber hier haben wir die Aufzeichnung einer Geburt ohne menschlichen Vater. Die Tatsachen dieser wunderbaren Empfängnis werden würdig und einfach dargestellt. Maria war dem Josef zur Ehe versprochen worden, aber die Hochzeit hatte noch nicht stattgefunden. Wenn sich in der Zeit des NT zwei Menschen verlobten, waren sie in gewisser Weise einander angetraut (damit ging man eine größere Verpflichtung als heute ein). Dieser Zustand konnte nur durch eine Scheidung rückgängig gemacht werden. Obwohl ein verlobtes Paar bis zur Eheschließung nicht zusammenlebte, wurde Untreue eines Partners wie Ehebruch behandelt und mit dem Tode bestraft.
Während ihrer Verlobungszeit wurde die Jungfrau Maria durch ein Wunder »von dem Heiligen Geist« schwanger. Ein Engel hatte Maria dieses geheimnisvolle Ereignis angekündigt: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten« (Lk 1,35). Eine Atmosphäre von Verdächtigungen und Skandalsucht umgab Maria. In der ganzen menschlichen Geschichte hatte es nie eine Jungfrauengeburt gegeben. Als die Leute deshalb eine unverheiratete Frau sahen, die schwanger war, gab es für sie nur eine logische Erklärung.
1,19 Sogar Josef kannte die wahre Erklärung für Marias Zustand noch nicht. Er hätte aus zweierlei Gründen über seine Verlobte entrüstet sein können: Erstens hatte es sich offensichtlich herausgestellt, dass sie ihm untreu gewesen war, und zweitens würde er trotz seiner Unschuld höchstwahrscheinlich der Mittäterschaft angeklagt werden. Seine Liebe zu Maria und sein Gerechtigkeitssinn führten ihn zu der Entscheidung, das Verlöbnis durch eine im Stillen vollzogene Scheidung zu lösen. Er wollte die öffentliche Schande meiden, die normalerweise mit einer solchen Handlung verbunden war.
1,20 Während dieser freundliche und besonnene Mann seinen Plan fasste, um Maria zu schützen, »da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum«. Der Gruß: »Josef, Sohn Davids« beabsichtigte zweifellos, das Bewusstsein seines königlichen Stammbaumes wieder wachzurufen, um ihn auf die ungewöhnliche Ankunft des Messiaskönigs Israels vorzubereiten. Er sollte keine Bedenken haben, Maria zu heiraten, sie war rein. Alle entsprechenden Verdächtigungen waren haltlos. Ihre Schwangerschaft war »von dem Heiligen Geist«.
1,21 Der Engel offenbarte dann das Geschlecht des ungeborenen Kindes, seinen Namen und seinen Auftrag. Maria sollte einen Sohn gebären. Er sollte den Namen »Jesus« tragen (das bedeutet »der Herr ist Rettung« oder »der Herr, der Retter«). Gemäß seinem Namen würde er »sein Volk erretten von seinen Sünden«. Jahwe selbst besuchte in diesem Kind die Erde, um Menschen vor der Strafe der Sünde, der Macht der Sünde und schließlich auch vor der Sünde als solche zu retten.
1,22 Als Matthäus diese Ereignisse aufzeichnete, erkannte er, dass ein neues Zeitalter in der Geschichte des Handelns Gottes mit den Menschen anbrach. Die Worte einer messianischen Prophezeiung, die lange verborgen gewesen waren, wurden nun plötzlich lebendig. Jesajas geheimnisvolle Weissagung wurde jetzt in dem Kind Marias erfüllt: »Dies alles geschah aber, damit erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten.« Matthäus bekräftigt die göttliche Inspiration der Worte des Propheten Jesaja, die er mindestens 700 Jahre v. Chr. im Namen des Herrn gesprochen hat.
1,23 Die Prophezeiung in Jesaja 7,14 beinhaltete die Voraussage einer einzigartigen Geburt (»Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden«), das Geschlecht des Kindes (»und einen Sohn gebären«) und den Namen des Kindes (»und wird seinen Namen Immanuel nennen«). Matthäus fügt als Erklärung hinzu, was »Emmanuel« bedeutet: »Gott mit uns«. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Jesus auf Erden jemals »Immanuel« bzw. »Emmanuel« genannt worden ist. Er wurde immer »Jesus« genannt. Dennoch ist in dem Namen Jesus  (s.  o.,  zu  V. 21)  die  Bedeutung »Gott mit uns« mit inbegriffen. Immanuel bzw. Emmanuel kann auch eine Bezeichnung für Christus sein, die erst bei seiner Wiederkunft gebraucht werden wird.
1,24 Durch das Eingreifen des Engels ließ Josef seinen Plan fallen, sich von Maria scheiden zu lassen. Er hielt bis zur Geburt Jesu daran fest, dass sie miteinander verlobt waren, und heiratete sie dann.
1,25 Die Lehre, dass Maria ihr ganzes Leben Jungfrau geblieben ist, wird widerlegt durch den Vollzug ihrer Heirat, die dieser Vers erwähnt. Weitere Stellen, die darauf hinweisen, dass Maria dem Josef noch andere Kinder geboren hat, sind Matth 12,46; 13,55.56; Mk 6,3; Joh 7,3.5; Apg 1,14; 1. Kor 9,5 und Gal 1,19. Als Josef Maria zur Frau nahm, nahm er auch ihr Kind als Adoptivsohn an. So wurde Jesus der rechtmäßige Erbe des Thrones Davids. Im Gehorsam gegenüber dem Engel nannte er den Namen des Kindes Jesus.
So wurde der Messiaskönig geboren. Der Ewige kam in die Zeit. Der Allmächtige wurde zu einem kleinen Kind. Der Herr der Herrlichkeit verhüllte diese Herrlichkeit in einem menschlichen Körper, und »in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« (Kol 2,9). II. Erste Jahre und Jugend des Messiaskönigs (Kap. 2)
A. Weise Männer kommen, um den König anzubeten (2,1-12)
2,1.2 Man lässt sich leicht von den Zeitangaben zu den Ereignissen rund um die Geburt Christi verwirren. Während Vers 1 scheinbar darauf hindeutet, dass Herodes versuchte, Jesus zu töten, als Maria und Josef im Stall zu Bethlehem waren, weisen uns die gesamten and eren Ang aben auf die Zeit ein oder zwei Jahre später  hin.  Matthäus  sagt  in  V. 11,  dass Weise Jesus in einem Haus besucht haben. Der Befehl des Herodes, alle Jungen unter zwei Jahren zu töten (V. 16), ist auch ein Hinweis auf eine nicht näher bezeichnete Zeitspanne zwischen der Geburt und den hier berichteten Ereignissen. Herodes der Große war ein Nachkomm e Esaus und deshalb von vornherein ein Feind der Juden. Er war zum Judentum übergetreten, doch erfolgte dieser Schritt wahrscheinlich aus politischen Gründen. Gegen Ende seiner Regierungszeit kamen weise »Männer vom Morgenland«, um »den König der Juden« zu suchen. Diese Männer könnten heidnische Priester gewesen sein, deren Religion sich um die Verehrung der Natur drehte. Wegen ihres Wissens und ihrer seherischen Fähigkeiten wurden sie oft als Berater von Königen beschäftigt. Wir wissen nicht, wo sie im Osten wohnten, wie viele es waren und wie lang ihre Reise dauerte.
Es war der »Stern im Morgenland«, der sie irgendwie auf die Geburt eines Königs aufmerksam machte. Ihn wollten sie nun anbeten. Möglicherweise waren sie mit den Prophezeiungen des AT über die Ankunft des Messias vertraut. Vielleicht kannten sie auch die Prophezeiung Bileams, wonach ein Stern aus Jakob hervortreten würde (4. Mose 24,17), und verbanden diese mit der Weissagung der 70 Wochen, die die Zeit des ersten Kommens Christi voraussagte (Dan 9,24.25). Doch ist es wahrscheinlicher, dass ihnen dieses Wissen auf übernatürliche Weise vermittelt wurde.
Verschiedene wissenschaftliche Erklärungen wurden vorgebracht, um die Identität dieses Sternes zu bestimmen. Einige sagen zum Beispiel, dass der Stern eine Planetenkonjunktion war. Aber der Weg dieses Sternes am Himmel war äußerst unregelmäßig, denn er ging vor den Weisen her und führte sie von Jerusalem zu  dem  Haus,  in  dem  Jesus  lebte  (V. 9). Dann blieb er auf seiner Position. Das ist so unnatürlich, dass man dies nur für ein Wunder halten kann.
2,3 »Als aber der König Herodes … hörte«, dass ein Kind geboren sei, das der König der Juden sein sollte, »wurde er bestürzt«. Wer immer es sein sollte – ein solches Kind würde seine ohnehin instabile Herrschaft gefährden. »Ganz Jerusalem« war mit ihm bestürzt. Die Stadt, die diese Nachricht voller Freude hätte aufnehmen sollen, ließ sich durch alles in Aufregung versetzen, was ihren derzeitigen Zustand verändern oder das Missfallen der gehassten römischen Herrscher heraufbeschwören konnte.
2,4-6 Herodes versammelte sich gemeinsam mit den religiösen Führern, um herauszufinden, »wo der Christus geboren werden solle«. Zu den »Hohenpriestern« gehörten der Hohepriester selbst und seine Söhne (und vielleicht noch andere Mitglieder seiner Familie). Die »Schriftgelehrten« waren dem Laienstand angehörende Experten, die das Gesetz des Mose gut kannten. Sie bewahrten und lehrten das Gesetz und dienten im Hohen Rat (Synedrium) als Richter. Diese Priester und Schriftgelehrten zitierten sofort Micha 5,1.2. Dort wird »Bethlehem (im) Land Juda« als Geburtsort des Königs angegeben. Der Text des Propheten Micha nennt die Stadt »Bethlehem Efrata«. Weil es in Palästina mehrere Städte mit dem Namen Bethlehem gab, bezeichnet dieser Zusatz eine Stadt im Gebiet von Efrata in den Stammesgrenzen Judas.
2,7.8 König Herodes berief die Weisen heimlich, um »die Zeit der Erscheinung des Sternes« herauszufinden. Diese Heimlichtuerei verriet seinen sadistischen Plan: Er brauchte diese Information, wenn er das richtige Kind finden wollte. Um seine wahre Absicht zu vertuschen, sandte er die Weisen hin, damit sie nach dem Kind »forschen« und ihm davon »berichten« sollten, sobald sie es gefunden hätten.
2,9 Als die Weisen sich auf den Weg machten, erschien »der Stern (wieder), den sie im Morgenland gesehen hatten«. Dies lässt erkennen, dass er sie nicht den ganzen Weg vom Morgenland bis hierher geführt hatte. Aber nun leitete er sie zu dem Haus, »wo das Kind war«.
2,1.2 Man lässt sich leicht von den Zeitangaben zu den Ereignissen rund um die Geburt Christi verwirren. Während Vers 1 scheinbar darauf hindeutet, dass Herodes versuchte, Jesus zu töten, als Maria und Josef im Stall zu Bethlehem waren, weisen uns die gesamten and eren Ang aben auf die Zeit ein oder zwei Jahre später  hin.  Matthäus  sagt  in  V. 11,  dass Weise Jesus in einem Haus besucht haben. Der Befehl des Herodes, alle Jungen unter zwei Jahren zu töten (V. 16), ist auch ein Hinweis auf eine nicht näher bezeichnete Zeitspanne zwischen der Geburt und den hier berichteten Ereignissen. Herodes der Große war ein Nachkomm e Esaus und deshalb von vornherein ein Feind der Juden. Er war zum Judentum übergetreten, doch erfolgte dieser Schritt wahrscheinlich aus politischen Gründen. Gegen Ende seiner Regierungszeit kamen weise »Männer vom Morgenland«, um »den König der Juden« zu suchen. Diese Männer könnten heidnische Priester gewesen sein, deren Religion sich um die Verehrung der Natur drehte. Wegen ihres Wissens und ihrer seherischen Fähigkeiten wurden sie oft als Berater von Königen beschäftigt. Wir wissen nicht, wo sie im Osten wohnten, wie viele es waren und wie lang ihre Reise dauerte.
Es war der »Stern im Morgenland«, der sie irgendwie auf die Geburt eines Königs aufmerksam machte. Ihn wollten sie nun anbeten. Möglicherweise waren sie mit den Prophezeiungen des AT über die Ankunft des Messias vertraut. Vielleicht kannten sie auch die Prophezeiung Bileams, wonach ein Stern aus Jakob hervortreten würde (4. Mose 24,17), und verbanden diese mit der Weissagung der 70 Wochen, die die Zeit des ersten Kommens Christi voraussagte (Dan 9,24.25). Doch ist es wahrscheinlicher, dass ihnen dieses Wissen auf übernatürliche Weise vermittelt wurde.
Verschiedene wissenschaftliche Erklärungen wurden vorgebracht, um die Identität dieses Sternes zu bestimmen. Einige sagen zum Beispiel, dass der Stern eine Planetenkonjunktion war. Aber der Weg dieses Sternes am Himmel war äußerst unregelmäßig, denn er ging vor den Weisen her und führte sie von Jerusalem zu  dem  Haus,  in  dem  Jesus  lebte  (V. 9). Dann blieb er auf seiner Position. Das ist so unnatürlich, dass man dies nur für ein Wunder halten kann.
2,10  »Als  sie  (d. h.  die  Weisen)  aber den Stern sahen, freuten sie sich mit sehr großer Freude.« Dies wird hier besonders erwähnt. Diese Heiden hatten eifrig nach Christus gesucht, Herodes wollte ihn töten, die Priester und die Schriftgelehrten waren (bislang) gleichgültig, und die Bevölkerung Jerusalems war bestürzt. Diese Haltungen gegenüber Christus waren Vorzeichen darauf, wie man dem Messias künftig begegnen würde.
2,11 Als sie das Haus betreten hatten, »sahen sie (d. h. die Weisen) das Kind mit Maria, seiner Mutter, und sie fielen nieder und huldigten ihm«, indem sie ihm kostbare Schätze darbrachten: »Gold und Weihrauch und Myrrhe«. Man beachte, dass sie Jesus mit seiner Mutter sahen. Normalerweise würde man zuerst die Mutter und dann das Kind erwähnen, doch dieses Kind ist einzigartig und muss den ersten Platz einnehmen (s. a. V. 13.14.20.21).  Die  Weisen  beteten  Jesus an, nicht Maria oder Josef. (Josef wird hier nicht einmal erwähnt. Er wird sehr bald nicht mehr in diesem Evangelium erscheinen.) Es ist Jesus, dem unser Lob und unsere Anbetung gebühren, nicht Maria oder Josef.
Die Schätze, die sie brachten, sprechen Bände. Gold ist das Symbol der Göttlichkeit und Herrlichkeit, es zeugt von der wunderbaren Vollkommenheit der Person Jesu in ihrer Göttlichkeit. Weihrauch ist ein Harz bzw. der daraus gewonnene Duftstoff, es bedeutet den Wohlgeruch des Lebens sündloser Vollkommenheit. Myrrhe ist ein Bitterkraut; es sagt seine Leiden voraus, die er zu erdulden hat, wenn er die Sünden der Welt tragen wird. Dass hier Heiden Geschenke bringen, erinnert an den Wortlaut von Jesaja 60,6. Jesaja sagte voraus, dass die Heiden mit Gaben kommen würden, doch erwähnte er nur Gold und Weihrauch: »Gold und Weihrauch tragen sie, und sie werden das Lob des Herrn fröhlich verkündigen.« Warum wurde die Myrrhe hier ausgelassen? Weil Jesaja von der Wiederkunft Christi – seinem Kommen in Macht und Herrlichkeit – sprach. Dann wird es keine Myrrhe mehr für ihn geben, denn dann wird er nicht mehr leiden. Aber in Matthäus wird die Myrrhe erwähnt, weil hier sein erstes Kommen im Blickpunkt steht. In Matthäus haben wir die Leiden des Christus; in der Jesajastelle finden wir die darauf folgenden Herrlichkeiten (vgl. 1. Petr 1,11; Schl).
2,12 Nachdem die Weisen »im Traum eine göttliche Weisung empfangen hatten, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren«, reisten sie gehorsam auf einem anderen Weg nach Hause. Niemand, der Christus mit einem aufrichtigen Herzen begegnet, kehrt je den gleichen Weg zurück. Die Begegnung mit Jesus verändert das ganze Leben.
B. Josef, Maria und Jesus fliehen nach Ägypten (2,13-15)
2,13.14 Schon von Geburt an schwebte immer die Todesdrohung über unserem Herrn. Es ist offensichtlich, dass er geboren wurde, um zu sterben, doch erst zu der festgesetzten Stunde sollte er den Tod erleiden. Jeder, der nach Gottes Willen wandelt, wird erst abgerufen, nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat. »Ein Engel des Herrn (erschien) dem Josef im Traum« und forderte ihn auf, mit seiner Familie nach Ägypten zu fliehen. Herodes war bereit, seine Such- und Vernichtungsaktion durchzuführen. Wegen des Zornes des Herodes wurde die Familie zu Flüchtlingen. Wir wissen nicht, wie lange sie in Ägypten blieben, aber nach dem Tode des Herodes war der Weg frei für die Rückkehr in ihre Heimat.
2,15 So bekam eine andere Prophezeiung des AT eine ganz neue Bedeutung. Gott hatte »durch den Propheten« Hosea gesagt: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen« (Hos 11,1). In ihrem ursprünglichen Zusammenhang bezog sich diese Aussage auf die Befreiung Israels aus Ägypten zur Zeit des Auszugs. Aber diese Aussage kann zwei Bedeutungen haben – die Geschichte des Messias würde dem historischen Weg des Volkes Israel sehr ähneln. Die Prophetie erfüllte sich im Leben Christi, als er aus Ägypten nach Israel zurückkehrte. Wenn der Herr wiederkommen wird, um in Gerechtigkeit zu regieren, dann wird Ägypten unter den Ländern sein, die an den Segnungen des Tausendj ährigen Reiches teilhaben werden (Jes 19,21-25; Zef 3,9.10; Ps 68,32). Warum sollte diese Nation, die seit alters her ein Feind Israels war, so bevorzugt werden? Könnte das ein Zeichen der göttlichen Dankb arkeit dafür sein, dass Ägypten dem Herrn Jesus Zufluchtsort gewesen ist? C. Der Kindermord des Herodes in Bethlehem (2,16-18)
2,16 Als die Weisen nicht zurückkamen, erkannte »Herodes«, dass er in seinem niederträchtigen Plan, den jungen König zu finden, »hintergangen« worden war. In einem sinnlosen Wutausbruch ordnete er an, »alle Jungen (zu) töten, die in Bethlehem und in seinem ganzen Gebiet waren, von zwei Jahren und darunter«. Die Schätzungen, wie viele Kinder getötet wurden, gehen auseinander. Ein Exeget schlägt eine Zahl von ca. 26 vor. Es ist unwahrscheinlich, dass Hunderte ums Leben kamen.
2,17.18 Mit dem »Weinen«, das auf die Ermordung der Kinder folgte, erfüllten sich die Worte des »Propheten Jeremia«: »So spricht der Herr: Horch! In Rama hört man Totenklage, bitteres Weinen. Rahel beweint ihre Kinder. Sie will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder, weil sie nicht mehr da sind« (Jer 31,15). In der Prophezeiung steht »Rahel« für das Volk Israel. Die Trauer der Nation wird Rahel zugeschrieben, die in »Rama« (in der Nähe von Bethlehem, wo das Massaker stattfand) begraben liegt. Weil die ihrer Kinder beraubten Eltern an ihrem Grab vorbeigingen, wird sie dargestellt, als »weine« sie mit ihnen. Mit seinem Bemühen, diesen Anwärter auf den Thron Israels auszuschalten, erreichte Herodes nichts anderes, als dass er seinen Platz in der Geschichte der Schändlichkeit bekam. D. Josef, Maria und Jesus lassen sich in Nazareth nieder (2,19-23)
2,19-23 »Josef« wurde nach dem Tod des Herodes durch »einen Engel des Herrn« die Zusicherung gegeben, dass es nun ungefährlich sei zurückzukehren. Als er »das Land Israel« erreichte, hörte er jedoch, dass »Archelaus«, der Sohn des Herodes, die Nachfolge seines Vaters als König von »Judäa« angetreten hatte. Josef zögerte, in dieses Gebiet zu ziehen, und reiste, nachdem »er im Traum eine göttliche Weisung empfangen hatte«, die seine Befürchtungen bestätigte, nach Norden »in die Gegenden von Galiläa« und siedelte in »Nazareth«.
Matthäus macht uns nun zum vierten Mal in diesem Kapitel darauf aufmerksam, dass sich eine Prophezeiung erfüllte. Obwohl er keinen der »Propheten« namentlich erwähnt, hatten sie nach seinen Worten vorhergesagt, dass der Messias »Nazoräer genannt werden« wird. Kein Vers des AT sagt das direkt. Viele Gelehrte schlagen vor, dass Matthäus sich hierbei auf Jesaja 11,1 bezieht: »Und ein Spross wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen.« Das hebräische Wort, das mit »Spross« übersetzt wird, lautet nezer, obwohl der dadurch geschaffene Zusammenhang nicht unmittelbar einleuchtet. Eine wahrscheinlichere Deutung besteht darin, dass mit »Nazoräer« jemand gemeint ist, der aus Nazareth stammt – einer Stadt, die von der übrigen Bevölkerung verachtet wurde. Nathanael drückt das durch die damals sprichwörtliche Frage aus: »Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?« (Joh 1,46). Der Spott, mit dem diese »unbedeutende« Stadt bedacht wurde, traf auch ihre Einwohner. Wenn es deshalb in Vers 23 heißt: »Er wird Nazoräer genannt werden«, heißt das, dass er verachtet werden würde. Auch wenn wir keine Prophezeiung finden können, der zufolge Jesus Nazoräer genannt werden würde, so gibt es doch eine, die von ihm sagt, dass er »verachtet und von den Menschen verlassen« werden würde (Jes 53,3). In einer anderen Stelle heißt es, er sei ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk (Ps 22,7). Die Propheten benutzten also nicht die genauen Worte, wie sie hier stehen, doch dem Sinn nach entspricht V. 23 diesen Prophezeiungen. Es ist erstaunlich, dass der allm ächtige Gott, als er zur Erde kam, einen schmachvollen »Spitznamen« erhielt. Die jenigen, die ihm folgen, haben das Vor recht, seine Schmach zu tragen (Hebr 13,13).
III. Vorbereitung für den Dienst als Messias und seine Einsetzung (Kap. 3 und 4)
A. Johannes der Täufer bereitet den Weg (3,1-12)
Zwischen den Kapiteln 2 und 3 haben wir eine Zeitspanne von 28 oder 29 Jahren, über die Matthäus nichts berichtet. Während dieser Zeit lebte Jesus in Nazareth und bereitete sich auf sein Wirken, das vor ihm lag, vor. In diesen Jahren vollbrachte er keine Wunder, doch sein Wandel in dieser Zeit war Gott völlig wohlgefällig (Matth 3,17). Unser Kapitel führt uns an die Schwelle seines öffentlichen Dienstes.
3,1.2 Johannes der Täufer war sechs Monate älter als Jesus, sein Verwandter (s. Lk 1,26.36). Er betrat den Schauplatz der Geschichte als Vorläufer des Königs Israels. Sein ungewöhnliches Wirkungsfeld lag »in der Wüste von Judäa« – einer Steppenregion, die sich von Jerusalem bis zum Jordan erstreckt. Die Botschaft des Johannes lautete: »Tut Buße! Denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen!« Der König würde bald erscheinen, er könnte und würde über keine Menschen herrschen, die an ihren Sünden festhalten. Sie mussten die Richtung ihres Lebens ändern, ihre Sünden bekennen und von ihnen lassen. Gott rief sie aus dem Reich der Finsternis in »das Reich der Himmel«.
Exkurs zum Reich der Himmel
In Vers 2 finden wir das erste Mal den Ausdruck Reich der Himmel, der in diesem Evangelium 32-mal verwendet wird. Weil man Matthäus nicht richtig versteht, wenn man diesen Begriff nicht richtig erfasst hat, sollten wir hier eine Begriffsdefinition und -erklärung geben. Das Reich der Himmel ist jene Sphäre, worin die Herrschaft Gottes anerkannt wird. Das Wort »Himmel« bezieht sich auf Gott. Das wird in Daniel 4,22 deutlich, wo Daniel sagt, »dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht«. Im nächsten Vers betont er, dass »die Himmel« herrschen. Wo immer sich Menschen der Herrschaft Gottes unterstellen, besteht das Reich der Himmel. Es gibt zwei Bereiche des Reiches der Himmel. Im weiteren Bereich beinhaltet es jeden, der von sich sagt, dass er Gott als den höchsten Herrscher anerkennt. Im engeren Bereich umfasst es nur diejenigen, die wirklich bekehrt sind. Wir können das durch zwei konzentrische Kreise darstellen. Der große Kreis umfasst den Bereich des Bekenntnisses. Er schließt alle ein, die wirkliche Untertanen des Königs sind, und auch diejenigen, die nur behaupten, ihm treu zu sein. Das kann man in den Gleichnissen vom Sämann (Matth 13,3-9), vom Senfkorn (Matth 13,31.32) und vom Sauerteig (Matth 13,33) sehen. Der kleine Kreis in der Mitte umfasst diejenigen, die durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus wiedergeboren sind. In den inneren Bereich des Reiches der Himmel können nur Bekehrte kommen (Matth 18,3).
Wenn wir alle Erwähnungen des Reiches der Himmel in der Bibel in der Zusammenschau sehen, können wir seine historische Entwicklung in fünf verschiedenen Phasen darstellen: Erstens wurde das Reich im AT geweissagt. Daniel sagte voraus, dass Gott ein Königreich errichten würde, das niemals zerstört oder von einer anderen Herrschaft abhängig werden würde (Dan 2,44). Er sah auch die Ankunft Christi voraus, der kommen würde, um dieses allumfassende und ewige Reich zu regieren (Dan 7,13.14; s. a. Jer 23,5.6). Zweitens wurde das Reich von Johannes dem Täufer, von Jesus und von den zwölf Jüngern als nahe oder gegenwärtig beschrieben (Matth 3,2; 4,17; 10,7). In Matthäus 12,28 sagt Jesus: »Wenn ich … durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen.« In Lukas 17,21 sagt er: »Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch« (LU 1912) oder »mitten unter euch« (Elberfelder Bibel). Das Reich war in der Person des Königs anwesend. Wie wir später zeigen werden, sind die Ausdrücke »Reich der Himmel« und »Reich Gottes« oft untereinander austauschbar. Drittens wird das Reich in einer zwischenzeitlichen Gestalt beschrieben. Nachdem Jesus vom Volk Israel abgelehnt worden war, kehrte er in den Himmel zurück. Das Reich existiert heute, während der König abwesend ist, in den Herzen aller, die sein Königtum anerkennen. Die ethischen und moralischen Grundsätze dieses Reiches (einschließlich der Bergpredigt) sind auf uns heute anwendbar. Diese Zwischenzeit des Reiches wird in den Gleichnissen in Matthäus 13 beschrieben.
Die vierte Phase des Reiches können wir mit dem Wort Offenbarwerdung beschreiben. Damit ist die tausendjährige Herrschaft Christi auf Erden gemeint, die durch die Verklärung Christi dargestellt wurde, als er in der Herrlichkeit seiner zukünftigen Herrschaft erschien (Matth 17,1-8). Jesus bezog sich auf diese Phase in Matthäus 8,11. Dort sagte er: »Viele (werden) von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tisch liegen … in dem Reich der Himmel.«
Das Reich wird seine endgültige Gestalt im ewigen Reich annehmen. Es wird in 2. Petrus 1,11 als »das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus« beschrieben.
Der Ausdruck »Reich der Himmel« findet sich nur im Matthäusevangelium, »Reich Gottes« dagegen wird in allen vier Evangelien benutzt. Praktisch ges ehen besteht zwischen beiden kein Unterschied, denn über beide werden die gleichen Aussagen gemacht. In Matth 19,23 sagte Jesus z. B., dass es für einen Reichen schwer sei, in das Reich der Himmel zu gelangen. Markus (10,23) und Lukas (18,24) berichten davon, dass Jesus dasselbe über das »Reich Gottes« sagte (s. a. Matth 19,24 [wo der Ausdruck »Reich Gottes« im gleichen Zusammenhang verwendet wird]). Wir haben bereits oben erwähnt, dass das Reich der Himmel einen äußeren und einen inneren Bereich hat. Da das Gleiche für das Reich Gottes gilt, ist das ein weiterer Hinweis, dass die beiden Ausd rücke dasselbe bedeuten. Zum Reich Gottes zählen sich ebenfalls die wahren Gläubigen und die bloßen Bekenner. Das kann man in den Gleichnissen vom Sämann (Lk 8,4-10), vom Senfkorn (Lk 13,18.19) und vom Sauerteig (Lk 13,20.21) sehen. Auch in seinen inneren Bereich können nur diejenigen kommen, die wiedergeboren sind (Joh 3,3.5). Zum Schluss noch ein Punkt: Das Reich ist nicht mit der Gemeinde Gottes identisch. Das Reich begann, als Christus seinen öffentlichen Dienst aufnahm, die Gemeinde entstand erst zu Pfingsten (Apg 2). Das Reich wird fortb estehen, bis die alte Erde zerstört werden wird, die Gemeinde wird nur bis zur Entrückung (die Abholung oder Wegnahme der Gemeinde von der Erde, wenn Christus vom Himmel herabkommt und alle Gläubigen mit sich nach Hause nimmt – 1. Thess 4,13-18) auf der Erde bleiben. Die Gemeinde wird mit Christus bei seinem zweiten Kommen wiederkehren und mit ihm als seine Braut regieren. Gegenwärtig sind diejenigen, die sich im inneren Bereich des Reiches befinden, gleichzeitig Glieder der Gemeinde.
3,3 Wenn wir nun zur Auslegung von Matthäus 3 zurückkehren, wollen wir festhalten, dass der vorbereitende Dienst des Johannes schon über 700 Jahre vor seiner Zeit von »Jesaja« vorausgesagt worden war:
»Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des Herrn! Ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!« (Jes 40,3). Johannes war »die Stimme«. Das Volk Israel war geistlich gesehen »die Wüste« – leblos und unfruchtbar. Johannes rief die Angehörigen des Volkes auf, »den Weg des Herrn« zu bereiten, indem sie Buße wegen ihrer Sünden taten, diese aufg aben und »seine Pfade« gerade machten, indem sie alles aus ihrem Leben verbannten, was seine völlige Herrschaft behindern könnte.
3,4 Das Gewand des Täufers bestand aus »Kamelhaaren«. Dabei ging es nicht um die weichen, luxuriösen Kamelhaarstoffe unserer Zeit, sondern um das raue Gewand eines Mannes, der ständig draußen lebt. Auch trug er einen »ledernen Gürtel«. Das war die gleiche Kleidung, wie sie auch Elia trug (2. Kön 1,8). Diese Tatsache diente vielleicht dazu, gläubige Juden darauf aufmerksam zu machen, dass der Auftrag von Elia und Johannes der gleiche war (Mal 3,23; Lk 1,17; Matth 11,14; 17,10-12). Johannes aß »Heuschrecken und wilden Honig«, die magere Speise eines Menschen, der von seiner Aufgabe so in Anspruch genommen wird, dass die normalen Annehmlichkeiten und Vergnügungen des Lebens für ihn keine Bedeutung mehr haben. Es muss ein überzeugendes, eindrückliches Ereignis gewesen sein, Johannes zu begegnen – einem Menschen, der nichts um die Dinge gab, wofür die Menschen üblicherweise leben. Sein Aufgehen in geistlichen Realitäten muss andere zu der Erkenntnis geführt haben, wie arm ihr Leben war. Seine Selbstverleugnung war eine scharfe Anklage gegen die Verweltlichung seiner Zeitgenossen.
3,5.6 Menschen aus »Jerusalem und ganz Judäa« sowie aus dem Gebiet jenseits des Jordan versammelten sich, um ihn zu hören. Einige dieser Menschen reagierten auf seine Botschaft und »wurden von ihm im Jordanfluss getauft«. Damit brachten sie im Grunde zum Ausdruck, dass sie bereit waren, dem kommenden König treu und gehorsam zu sein.
3,7 Mit »den Pharisäern und Sadduzäern« war es eine ganz andere Sache. Als sie kamen, um ihn zu hören, wusste Johannes, dass sie es nicht ehrlich meinten. Er erkannte ihre wahre Natur: Die »Pharisäer« bekannten sich zu großer Gesetzesergebenheit, aber sie waren innerlich verdorben und sektiererisch, heuchlerisch sowie selbstgerecht eingestellt. Die Sadduzäer gehörten zur sozialen Oberschicht und waren religiöse Skeptiker, die solche grundlegenden Lehren wie die der Auferstehung des Leibes, die Existenz der Engel, die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Gericht ablehnten. Deshalb bezeichnete er die Angehörigen beider Gruppierungen als »Otternbrut«, die vorgaben, dem »kommenden Zorn« entfliehen zu wollen, aber keine Zeichen wahrer Buße erkennen ließen.
3,8 Er forderte sie heraus, ihre Aufrichtigkeit zu zeigen, indem sie »der Buße würdige Frucht« brächten. Wahre Buße »führt zu nichts«, wie J. R. Miller schrieb, »wenn sie nur ein paar Tränen, ein bisschen Reue und ein wenig Furcht erzeugt. Wir müssen die Sünden lassen, uns davon abkehren, und in neuen, reinen Wegen der Heiligung wandeln«.
3,9 Die Juden sollten aufhören, ihre Abstammung von »Abraham« als Eintrittskarte für den Himmel zu betrachten. Die Gnade der Errettung wird nicht durch eine natürliche Geburt vermittelt. Gott konnte durch einen viel einfacheren Prozess als durch die Bekehrung der Pharisäer und Sadduzäer aus den »Steinen« des Jordan »dem Abraham … Kinder … erwecken«.
3,10 Indem er feststellte, dass »die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt« war, sagte er, dass das göttliche Gericht bald beginnen würde. Die Ankunft und Gegenwart Christi würde alle Menschen prüfen. Mit den als fruchtlos erkannten Bäumen würde man umgehen, wie man mit ihresgleichen verfährt: Sie würden »abgehauen und ins Feuer geworfen« werden.
3,11.12 In den Versen 7-10 hatte Johannes ausschließlich die Pharisäer und Sadduzäer  angesprochen  (s.  V. 7),  aber  jetzt wendet er sich offensichtlich an all seine Zuhörer, zu denen die Aufrichtigen und die Unaufrichtigen gehörten. Er erklärte, es würde zwischen seinem und dem Dienst des Messias, der bald kommen sollte, einen bedeutsamen Unterschied geben. Johannes taufte »mit Wasser zur Buße«: Das Wasser war ein zerem onielles Zeichen und konnte selbst nicht reinigen; die »Buße«, auch wenn sie echt war, brachte einem Menschen nicht die völlige Errettung. Johannes sah seinen Dienst als Vorbereitung und unvollständig an. Der Messias würde Johannes vollkommen übertreffen. Er würde »stärker« sein, er würde »würdiger« sein, und sein Werk würde weiter reichen, denn er würde »mit Heiligem Geist und Feuer taufen«. Die Taufe mit »Heiligem Geist« unterscheidet sich von der Taufe mit »Feuer«. Die erste ist eine Segenstaufe, während die letztgenannte eine Gerichtstaufe ist. Die erste fand zu Pfingsten statt, die andere liegt noch in der Zukunft. Alle wahren Christusgläubigen erfahren die erste Taufe, während alle Ungläubigen der Gerichtstaufe entgegengehen. Die erste sollte für jene Israeliten bestimmt sein, deren Taufe ein äußeres Zeichen innerer Buße war, die letztgenannte für die Pharisäer, Sadduzäer und all diejenigen, die keine Anzeichen einer echten Buße erkennen ließen.
Einige lehren, dass die Taufe mit dem Heiligen Geist und die Taufe mit Feuer dasselbe sind. Sie fragen also: Könnte nicht die Feuertaufe auf die Feuerzungen hinweisen, die erschienen, als der Geist zu Pfingsten auf die Erde kam? Im Licht von Vers 12, der Feuer mit dem Gericht gleichsetzt, ist das sicherlich nicht der Fall.
Unmittelbar nachdem Johannes die Taufe mit Feuer erwähnt hat, spricht er vom Gericht. Der Herr wird in einem Bild dargestellt, wie er eine »Worfschaufel« gebraucht, um den gedroschenen Weizen in den Wind zu werfen. Der »Weizen« (wahre Gläubige) fällt sofort zu Boden und wird »in die Scheune« gebracht. »Die Spreu« (die Ungläubigen) wird vom Wind ein Stück weit weggetragen, um dann gesammelt und »mit unauslöschlichem Feuer« verbrannt zu werden. Das Feuer in Vers 12 bedeutet Gericht, und weil wir hier eine Erläuterung von Vers 11 haben, ist es angemessen, darauf zu schließen, dass die Taufe mit Feuer eine Taufe des Gerichts ist. B. Johannes tauft Jesus (3,13-17)
3,13 Jesus ging etwa 100 Kilometer von »Galiläa« an den unteren »Jordan«, um sich von Johannes »taufen zu lassen«. Das zeigt, wie wichtig er diese Zeremonie nahm, und es weist auf die Bedeutung der Taufe für seine Nachfolger heute hin.
3,14.15 »Johannes« erkannte, dass Jesus keine Sünden getan hatte, angesichts derer er hätte Buße tun müssen. Deshalb war es ihm gar nicht recht, ihn zu taufen. Es war das richtige Empfinden, das ihm sagte, dass die angemessene Rangfolge gewesen wäre, wenn Jesus ihn getauft hätte. Dies stellt Jesus nicht infrage, sondern wiederholt einfach seine Taufbitte als »gebührenden« Weg, »alle Gerechtigkeit zu erfüllen«. Er wusste, es war angemessen, dass er sich selbst in der Taufe mit denjenigen gottesfürchtigen Israeliten eins machte, die gekommen waren, um sich zur Buße taufen zu lassen. Aber es gibt noch eine tiefere Bedeutung. Die Taufe war für ihn eine Handlung, die symbolisieren sollte, wie er alle gerechten Ansprüche Gottes gegenüber den sündigen Menschen erfüllen wollte. Das Untertauchen versinnbildlichte seine Taufe in den Wassern des Gerichtes Gottes, die er auf Golgatha erleiden würde. Sein Heraufsteigen aus dem Wasser schattete seine Auferstehung vor. Durch Tod, Grablegung und Auferstehung würde er die Ansprüche der göttlichen Gerechtigkeit befriedigen und eine von Gerechtigkeit gekennzeichnete Grundlage dafür schaffen, dass Sünder gerechtfertigt werden konnten.
3,16.17 Sobald er »aus dem Wasser« heraufkam, sah Jesus »den Geist Gottes wie eine Taube« aus dem Himmel »herabfahren und auf sich kommen«. So wie Menschen und Dinge im AT für heilige Zwecke durch das Öl der heiligen Salbung (vgl. 2. Mose 30,25-30) ausgesondert wurden, wurde Jesus durch den Heiligen Geist zum Messias gesalbt. Das war ein heiliges Ereignis, bei dem die Dreieinheit Gottes sichtbar wurde. Der »geliebte Sohn« war anwesend, das Herabkommen des Heiligen »Geistes« wird im Bild der »Taube« erwähnt, und die »Stimme« des Vaters wurde »aus den Himmeln« gehört, der Jesus seinen Segen zueignete. Es war ein bemerkenswertes Ereignis, weil man hören konnte, wie Gott die Schrift zitierte: »Dieser ist mein geliebter Sohn« (nach Ps 2,7), »an dem ich Wohlgefallen gefunden habe« (nach Jes 42,1). Das ist eines der drei Ereignisse, bei denen der Vater vom Himmel her in freudiger Anerkennung von seinem einzigartigen Sohn sprach (die anderen Stellen sind Matth 17,5 und Joh 12,28). C. Jesus wird durch Satan versucht (4,1-11)
4,1 Es mag seltsam scheinen, dass Jesus »von dem Geist« in die Wüste, auf den Schauplatz der Versuchung, geführt wurde. Warum sollte ihn der Heilige Geist zu solch einer Begegnung leiten? Die Antwort lautet, dass diese Versuchung notwendig war, um seine moralische Eignung zur Vollbringung des Werkes zu zeigen, um dessentwillen er auf diese Erde kam. Der erste Adam hatte bewiesen, dass er für die Herrscherstellung ungeeignet war, als er dem Widersacher im Garten Eden begegnete. Hier tritt nun der zweite Adam dem Teufel in einer direkten Konfrontation entgegen und geht aus dieser Begegnung als Sieger hervor. Das griechische Wort, das mit »versuchen« oder »erproben« übersetzt wird, hat zwei Bedeutungen:
1. erproben oder prüfen (Joh 6,6; 2. Kor 13,5; Hebr 11,17) und 2. zum Bösen aufstacheln. Der Heilige Geist wollte Christus auf die Probe stellen bzw. prüfen. Der Teufel dagegen versuchte, ihn durch List dahin zu bringen, etwas Böses zu tun. Mit der Versuchung unseres Herrn ist ein tiefes Geheimnis verbunden. Unausweichlich stellt sich die Frage: »Hätte er sündigen können?« Wenn wir mit »Nein« antworten, dann müssen wir die weitere Frage stellen: »Wie konnte es eine wirkliche Versuchung sein, wenn er ihr nicht nachgeben konnte?« Wenn wir mit »Ja« antworten, stehen wir vor dem Problem, wie der menschgewordene Gott hätte sün digen können.
Man muss sich unbedingt vor Augen halten, dass Jesus Christus Gott ist und Gott nicht sündigen kann. Es stimmt, dass Jesus auch Mensch war. Wenn wir jedoch sagen, dass er als Mensch zwar sündigen konnte, nicht jedoch als Gott, dann entbehrt unsere Argumentation jeder biblischen Grundlage. Die Schreiber des NT betonten an verschiedenen Stellen die Sündlosigkeit Christi. Paulus schrieb, dass er »Sünde nicht kannte« (2. Kor 5,21); Petrus sagt, dass er »keine Sünde getan hat« (1. Petr 2,22); und Johannes schreibt: »Sünde ist nicht in ihm« (1. Joh 3,5). Jesus konnte wie wir von außen versucht werden: Satan kam mit raffinierten Vorschlägen zu ihm, die dem Willen Gottes entgegengesetzt waren. Aber anders als wir konnte er nicht von innen versucht werden – er kannte keine sündigen Begierden oder Leidenschaften, die aus ihm selbst kamen. Außerdem war in ihm nichts, das auf die Versuchungen des Teufels antworten würde (Joh 14,30). Obwohl Jesus zur Sünde nicht fähig war, war die Versuchung dennoch sehr real. Es war für ihn möglich, mit den Verlockungen zur Sünde konfrontiert zu werd en, aber er konnte ihnen in moralischer Hinsicht unmöglich unterliegen. Er konnte nur das tun, was er den Vater tun sah (Joh 5,19), und die Vorstellung, dass er den Vater je sündigen sah, ist völlig absurd. Er konnte nichts aus eigener Macht tun (Joh 5,30), und der Vater hätte nie zugelassen, dass er der Versuchung nachgab.
Die Versuchung sollte nicht zeigen, ob er sündigen würde, sondern vielmehr beweisen, dass er selbst unter außerordentlichem Druck nichts anderes tun konnte, als dem Wort Gottes zu gehorchen. Wenn Jesus als Mensch hätte sündigen können, dann hätten wir das Problem, dass er auch im Himmel noch Mensch ist. Konnte er also bei der Versuchung sündigen? Offensichtlich nicht.
4,2.3 Nachdem Jesus »vierzig Tage und vierzig Nächte« gefastet hatte, »hungerte ihn«. (Die Zahl »vierzig« wird in der Bibel oft im Zusammenhang mit Erprobung bzw. Bewährung benutzt.) Dieses natürliche Bedürfnis gab »dem Versucher« eine Gelegenheit, die er bei vielen Menschen ausnutzen konnte. Er wollte Jesus einreden, dass dieser seine wunderwirkende Kraft einsetzen könne, um die »Steine« der Wüste in »Brote« zu verwandeln. Mit seinen anfänglichen Worten: »Wenn du Gottes Sohn bist«, will Satan keinen Zweifel andeuten. In Wirklichkeit bedeuten sie: »Weil du der Sohn Gottes bist.« Satan spielt damit auf die Worte des Vaters bei der Taufe an: »Dieser ist mein geliebter Sohn.« Er benutzt die griechische Form2, die nahelegt, dass die Behauptung wahr ist. Somit fordert er Jesus auf, seine Macht zu benutzen, um seinen Hunger zu stillen.
Den natürlichen Hunger zu stillen, indem man göttliche Kraft als Reaktion auf die Einflüsterung Satans einsetzt, ist direkter Ungehorsam gegenüber Gott. Der Gedanke, der Satans raffiniertem Vorschlag zugrunde liegt, hat seine Entsprechung  in  1. Mose  3,6  (»gut  zur Speise«). Johannes stuft diese Versuchungen als »die Begierde des Fleisches« ein (1. Joh  2,16).  Die  entsprechende  Versuchung in unserem Leben besteht darin, ein Leben zur Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse zu führen, einen bequemen Weg zu wählen, statt nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit zu trachten. Der Teufel sagt uns: »Du musst doch leben, oder?«
4,4 Jesus »antwortete« auf die Versuchung, indem er das Wort Gottes zitiert. Das Beispiel unseres Herrn lehrt uns, dass wir nicht leben müssen, aber verpflichtet sind, Gott zu gehorchen! »Brot« zu bekommen, ist nicht das Wichtigste im Leben. Der Gehorsam gegenüber »jedem Wort … Gottes« ist das Wichtigste. Da Jesus vom Vater nicht die Anweisung erhalten hatte, aus Steinen Brot zu machen, wollte er nicht eigenmächtig handeln und damit Satan gehorchen, ganz gleich, wie groß sein Hunger war.
4,5.6 Die zweite Versuchung fand in Jerusalem auf der »Zinne des Tempels« statt. »Der Teufel« forderte Jesus auf, sich hinabzuwerfen, um damit auf spektakuläre Weise seine Gottessohnschaft sichtbar werden zu lassen. Wieder wird mit dem einleitenden Wort »wenn« kein Zweifel ausgedrückt, was man daran sehen kann, dass Satan sich auf den Schutz bezieht, den Gott dem Messias in Psalm 91,11.12 verheißt.
Die Versuchung für Jesus war, seine Messianität dadurch zu zeigen, dass er eine sensationelle Handlung begeht. Er hätte Herrlichkeit ohne Leiden erreichen können – er hätte das Kreuz umgehen und dennoch den Thron erlangen können. Aber eine solche Handlung wäre gegen den Willen Gottes gewesen. Johannes beschreibt die mit dieser Aufforderung gepaarte Gesinnung als den »Hochmut des Lebens« (1. Joh 2,16). Sie entspricht dem Baum, »der begehrenswert war, Einsicht zu geben« (1. Mose 3,6), im Garten Eden. Beide waren nämlich Mittel, persönlichen Ruhm unter Missachtung des Willens Gottes zu erlangen. Diese Versuchung tritt an uns in dem Verlangen hera n, im Bereich der Christenheit bekannt zu werden, ohne an der Gemeinschaft seiner Leiden teilzuhaben. Wir streben nach großartigen Dingen für uns selbst, wenn wir aber Schwierigkeiten begegnen, dann ergreifen wir die Flucht und verstecken uns. Wenn wir Gottes Willen missachten und uns selbst erheben, dann versuchen wir Gott.
4,7 Wieder konnte »Jesus« dem Angriff widerstehen, indem er eine Schriftstelle zitierte: Es »steht geschrieben: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen‹« (s. 5. Mose 6,16). Gott hatte zugesagt, den Messias zu bewahren, aber diese Garantie setzte voraus, dass er im Willen Gottes lebte. Diese Verheißung im Ungehorsam in Anspruch zu nehmen würde bedeuten, Gott zu versuchen. Die Zeit würde noch kommen, da Jesus als Messias geoffenbart werden würde, aber zuerst musste das Kreuz kommen. Der Opferaltar musste dem Thron vorausgehen. Die Dornenkrone kam vor der Krone der Herrlichkeit. Jesus würde Gottes Zeit abwarten und Gottes Willen erfüllen.
4,8.9 Bei der dritten Versuchung nahm der Teufel Jesus »auf einen sehr hohen Berg« mit und zeigte ihm »alle Reiche der Welt«. Er bot sie Jesus unter der Bedingung an, dass dieser ihn »anbetet«. Obwohl diese Versuchung etwas mit »Anbetung« – einer Geistesübung – zu tun hatte, umfasste sie einen Versuch, unseren Herrn zu verführen, die Herrschermacht über die Welt zu erlangen, indem er Satan anbetet. Die angebotene Belohnung, »alle Reiche der Welt« mit ihrer Herrlichkeit, sprach »die Begierde der Augen« an (1. Joh 2,16). In gewissem Sinne gehören die Reiche dieser Welt gegenwärtig dem Teufel. Von ihm wird als »dem Gott dieser Welt« (2. Kor 4,4) gesprochen, und Johannes teilt uns mit, dass »die ganze Welt … in  dem  Bösen«  liegt  (1. Joh  5,19).  Wenn Jesus bei seiner Wiederkunft als König der Könige erscheint (Offb 19,16), dann wird »das Reich der Welt« ihm gehören (Offb 11,15). Jesus wollte den göttlichen Zeitplan nicht außer Kraft setzen, und ganz bestimmt würde er Satan niemals anbeten!
Für uns besteht diese Versuchung in zweifacher Weise: darin, dass wir unser geistliches Erstgeburtsrecht für die vergängliche Herrlichkeit dieser Welt verkaufen, und außerdem darin, dass wir das Geschöpf statt den Schöpfer anbeten und ihm dienen.
4,10 Zum dritten Mal widerstand Jesus der Versuchung, indem er das AT anführte: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.« Anbetung und der daraus entspringende Dienst sind allein für Gott bestimmt. Hätte Jesus Satan angebetet, wäre dies darauf hinausgelaufen, dass er ihn als Gott anerkannt hätte.
Die Reihenfolge der Versuchungen wie sie Matthäus aufgezeichnet hat, unterscheidet sich von der bei Lukas befindlichen (Lk 4,1-13). Einige haben vorgebracht, dass die Reihenfolge bei Matthäus der Abfolge der Versuchungen des Volkes Israel in der Wüste entspricht (2. Mose 16; 17; 32). Jesus zeigte, dass er selbst in Schwierigkeiten ganz anders als Israel reagierte.
4,11 Als Jesus die Versuchungen Satans erfolgreich entkräftet hatte, »verlässt ihn der Teufel«. Versuchungen kommen oft in Wellen und nicht in ständiger Folge. »Wenn der Bedränger kommen wird wie ein Strom, so wird der Hauch des Herrn ihn in die Flucht schlagen« (Jes 59,19; Elb). Welch eine Ermutigung für die geprüften Heiligen Gottes! Wir erfahren hier, dass »Engel kamen … und (ihm) dienten«, doch wird hier keinerlei Erklärung im Blick darauf gegeben, wie diese übernatürliche Hilfe aussah. Damit ist vielleicht gemeint, dass sie Jesus mit der leiblichen Nahrung versorgten, die er sich nicht auf die Aufforderung Satans hin beschafft hatte. Anhand der Versuchung Jesu lernen wir, dass Satan zwar die Menschen, die durch den Heiligen Geist regiert werden, versuchen kann, dass er aber gegenüber denen machtlos ist, die ihm mit dem Wort Gottes Widerstand leisten. D. Jesus beginnt seinen Dienst in Galiläa (4,12-17)
Der Dienst Jesu in Juda, der fast ein Jahr dauerte, wird von Matthäus nicht erwähnt. Dieser einjährige Zeitraum, der in  Johannes  1 – 4  erfasst  wird,  liegt  zeitlich zwischen Matthäus 4,11 und 4,12. Matthäus führt uns von der Versuchung direkt zum Dienst in Galiläa.
4,12 »Als er aber gehört hatte, dass Johannes (d. h. Johannes der Täufer) überliefert worden war«, erkannte er, dass dies ein Vorzeichen seiner eigenen Verwerfung war. Wenn die Angehörigen des Volkes den Vorläufer des Königs ablehnte, dann lehnten sie damit praktisch auch den König ab. Aber es war nicht Angst, die ihn in den Norden nach »Galiläa« trieb. In Wirklichkeit begab er sich in die Mitte des herodianischen Reiches – in das Reich des gleichen Königs, der gerade erst Johannes ins Gefängnis geworfen hatte. Indem er in das Galiläa der Heiden ging, zeigte er, dass seine Verwerfung durch die Juden dazu führen würde, dass das Evangelium den Heiden gepredigt wird.
4,13 Jesus blieb in »Nazareth«, bis die Bevölkerung ihn zu töten versuchte, weil er das auch den Nichtjuden zugeeignete Heil verkündigt hatte (s. Lk 4,16-30). Dann ging er nach »Kapernaum« am See Genezareth – in ein Gebiet, das ursprünglich von den Stämmen »Sebulon und Naftali« bewohnt wurde. Von dieser Zeit an wurde Kapernaum zu demjenigen Ort, an den er immer wieder zurückkehrte.
4,14-16 Der Umzug Jesu nach Galiläa war  eine  Erfüllung  von  Jesaja  8,23 – 9,1. Die unwissenden, abergläubischen »Heiden«, die in »Galiläa« wohnten, sahen »ein  großes  Licht«  –  d. h.  Christus,  der das Licht der Welt ist.
4,17 »Von da an« griff »Jesus« die Botschaft auf, die Johannes gepredigt hatte: »Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen!« Es war ein weiterer Ruf zu moralischer Erneuerung als Vorbereitung auf sein Königreich. Das Reich war nahe in dem Sinne, dass der König nun anwesend war.
E. Jesus beruft vier Fischer (4,18-22)
4,18.19 In Wirklichkeit werden »Petrus und Andreas« hier zum zweiten Mal berufen. In Johannes 1,35-42 wurden sie zum Heil berufen, hier werden sie zum Dienst berufen. Die erste Berufung erfolgte in Judäa, die zweite in Galiläa. Petrus und Andreas »waren Fischer«, doch Jesus berief sie dazu, »Menschenfischer« zu werden. Ihre Verantwortung bestand darin, Christus nachzufolgen, während es seine Aufgabe war, sie zu Menschenfischern zu »machen«, die viel ausrichten würden. Ihre Nachfolge bestand nicht nur darin, Jesus im körperlichen Sinne nahe zu sein. Vielmehr sollten sie dem Herrn auch hinsichtlich des Charakters ähnlich werden. Sie sollten einen Dienst als Bewährte ausüben. Was sie waren, war wichtiger als das, was sie sagten oder taten. Ebenso wie Petrus und Andreas sollen wir der Versuchung widerstehen, echtes geistliches Leben durch Beredsamkeit, Persönlichkeit oder kluge Argumente zu ersetzen. Indem er Christus nachfolgt, lernt der Jünger, dorthin zu gehen, wo die Fische schwimmen, den rechten Köder zu benutzen, Unannehmlichkeiten und Mühen zu ertragen, geduldig zu sein und sich selbst im Hintergrund zu halten.
4,20 Petrus und Andreas hörten den Ruf und folgten »sogleich«. In wahrem Glauben »verließen … (sie) die Netze«. In rechter Hingabe und Ergebenheit folgten sie Jesus nach.
4,21.22 Der nächste Ruf erreichte »Jakobus … und Johannes«. Auch sie wurden sofort Jünger. Sie verließen nicht nur ihre Arbeitsstätte, die ihnen den Lebensunterhalt sicherte, sondern auch »ihren Vater«. Dadurch bekannten sie, dass Jesus den Vorrang vor allen irdischen Bindungen hatte.
Indem sie dem Ruf Christi folgten, wurden diese Fischer zu Schlüsselfiguren bei der Aufgabe, die Welt zu evangelisieren. Wären sie bei ihren Netzen geblieben, hätten wir nie etwas von ihnen gehört. Es ist in dieser Welt ein großer Unterschied, ob man die Herrscherstellung Jesu anerkennt oder nicht. F. Jesus heilt eine große Menge (4,23-25) Der Dienst des Herrn Jesus war dreifacher Art: Er lehrte Gottes Wort in den »Synagogen«, er predigte »das Evangelium des Reiches«, und er heilte die Kranken. Eine Zielsetzung der Heilungswunder bestand darin, seine Stellung als Messias und seinen Dienst zu beglaubigen (Hebr 2,3.4). Kapitel 5 – 7 beinhalten ein Beispiel für seinen Lehrdienst, während die Kapitel 8 und 9 seine Wunder beschreiben.
4,23 In Vers 23 wird zum ersten Mal im NT das Wort »Evangelium« verwendet. Der Ausdruck bedeutet »gute Nachricht von der Errettung«. In jedem Zeitalter der Weltgeschichte hat es nur ein Evangelium und nur einen Heilsweg gegeben.
Exkurs zum Evangelium
Das Evangelium hat seinen Ursprung in der Gnade Gottes (Eph 2,8). Das heißt, dass Gott ewiges Leben Sündern zueignet, die es nicht verdient haben. Die Grundlage des Evangeliums ist das Werk Christi am Kreuz (1. Kor 15,14). Unser Heiland erfüllte all die Forderungen der Gerechtigkeit und ermöglichte es Gott auf diese Weise, glaubende Sünder zu rechtfertigen. Die Gläubigen des AT wurden durch das Werk Christi gerettet, obwohl es damals noch in der Zukunft lag. Sie wussten wahrscheinlich nicht viel vom Messias, aber Gott wusste davon – und er rechnete ihnen die Verdienste Christi an. In gewissem Sinne war ihre Rettung »ein im Voraus gewährter Gnadenakt«. Auch wir sind durch das Werk Christi gerettet, doch in unserem Fall ist das Werk bereits vollbracht worden.
Das Evangelium wird nur durch den Glauben angenommen (Eph 2,8). Im AT wurden die Menschen gerettet, indem sie all dem glaubten, was Gott ihnen aufgetragen hatte. In unserem Zeitalter werden Menschen gerettet, indem sie Gottes Zeugnis bezüglich seines Sohnes als dem einzigen Heilsweg glauben (1. Joh  5,11.12).  Das  Endziel  des  Evangeliums ist der Himmel. Wir haben die Hoffnung darauf, die Ewigkeit im Himmel zubringen zu können (2. Kor 5,6-10), die auch die Heiligen des AT hatten (Hebr 11,10.14-16).
Während es nur ein Evangelium gibt, gelten zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Aspekte des Evangeliums. Zum Beispiel werden im Evangelium des Reiches andere Dinge betont als im Evangelium von der Gnade Gottes. Im Evangelium des Reiches Gottes heißt es: »Tut Buße und nehmt den Messias an, dann werdet ihr in sein Reich eingehen, wenn es auf Erden aufgerichtet wird.« Das Evangelium der Gnade sagt: »Tut Buße und nehmt Christus an, dann werdet ihr zu ihm hin entrückt und allezeit bei ihm sein.« Grundsätzlich ist es das gleiche Evangelium – Rettung aus Gnade durch den Glauben –, aber es wird deutlich, dass die Schwerpunkte hinsichtlich des Evangeliums entsprechend den haushaltungsgemäßen Zielen Gottes verschieden gesetzt werden.
Als Jesus »das Evangelium des Reiches« predigte, verkündigte er sein Kommen als König der Juden und erklärte die Bedingungen, unter denen man Zugang zu seinem Reich hat. Seine Wunder zeigten das ganzheitliche Wesen des Reiches.3
4,24.25 Sein Ruhm verbreitete sich in ganz »Syrien« (das Gebiet nördlich und nordöstlich von Israel). Alle mit »Krankh eiten« Geplagten, »Besessenen« und Behind erten rührte er an, sodass sie geheilt wurden. Zu ihm strömten die Menschen aus »Galiläa«, aus dem »Zehnstädtegebiet« (einem Zusammenschluss von zehn heidnischen Städten in Nordost-Palästina), aus »Jerusalem«, »Judäa« und aus dem Gebiet von jenseits des »Jordan«. B. B. Warfield schrieb dazu: »Krankheit und Tod müssen in diesem Gebiet für kurze Zeit fast nicht mehr vorhanden gewesen sein.« Kein Wunder, dass die Öffentlichkeit sehr verwundert war über die Berichte, die sie aus Galiläa zu hören bekam! IV. Die Verfassung des Reiches (Kap. 5 – 7)
Es ist kein Zufall, dass die Bergpredigt fast am Anfang des Neuen Testaments steht. Ihre Stellung zeigt, wie wichtig sie ist. Darin fasst der König das Wesen seiner Untertanen und das Verhalten zusammen, das er von ihnen erwartet. Diese Predigt ist keine Darstellung eines Heilsplanes. Auch ist ihre Lehre nicht für Menschen bestimmt, die nicht err ettet sind. Sie war vielmehr an die Jünger gerichtet (5,1.2) und sollte eine Verfassung oder – anders ausgedrückt – die rechtmäßige und Grundsatzordnung sein, die für die Untertanen des Königs während seiner Herrschaft gelten sollte. Die Bergpredigt ist für alle diejenigen bestimmt, die – ob in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft – Christus als König anerkennen. Als Christus auf der Erde war, fand sie auf seine Jünger direkte Anwendung. Jetzt, während unser Herr im Himmel regiert, gilt sie für alle, die ihn in ihren Herzen zum König gekrönt haben. Schließlich wird sie eine Verhaltensanweisung für die Nachfolger Christi in der Trübsalszeit und während seiner Herrschaft auf Erden sein. Die Predigt hat eine besonders jüdische Prägung, wie man in den Ans pielungen auf den Hohen Rat (d. h. das Synedrium) in 5,22, auf den Altar (5,23.24) und auf Jerusalem (5,35) sehen kann. Doch wäre es falsch zu sagen, dass ihre Lehre sich ausschließlich auf die gläubigen Israeliten in der Vergangenheit oder Zukunft bezieht. Sie ist vielmehr in jedem Zeitalter für diejenigen bestimmt, die Jesus Christus als König anerkennen. A. Die Seligpreisungen (5,1-12)
5,1.2 Die Predigt beginnt mit den Seligpreisungen. Diese stellen uns den Idealbürger des Reiches Christi vor. Die Eigenschaften, die hier beschrieben und empfohlen werden, entsprechen dem Gegenteil der weltlich anerkannten Werte. A. W. Tozer beschreibt sie so: »Eine ziemlich genaue Beschreibung der Menschheit für jemanden, der sie nicht kennt, wäre, wenn man die Seligpreisungen nehmen, sie auf den Kopf stellen und sagen würde: ›Schau her, das ist die Menschheit.‹«
5,3 Die erste Seligpreisung wird über die »Armen im Geist« ausgesprochen. Das bezieht sich nicht auf eine natürl iche Veranlagung, sondern auf einen Zustand, den man bewusst gewählt und dem man sich unterworfen hat. Die »Armen im Geist« sind diejenigen, die ihre eigene Hilflosigkeit anerkennen und sich auf Gottes Allmacht verlassen. Sie spüren ihre geistliche Bedürftigkeit und entdecken, dass der Herr ihren Mangel ausfüllt. Diesen Menschen gehört »das Reich der Himmel«, in dem Selbstzufriedenheit eine Untugend und Selbstüberhebung ein Laster ist.
5,4 »Die Trauernden« werden »glückselig« gepriesen, denn ein Tag des Trostes erwartet sie. Das bezieht sich jedoch nicht auf Trauer, die durch die Wechselfälle des Lebens verursacht ist. Gemeint ist die Betrübnis, die man wegen der Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus erfährt. Das bedeutet, dass man den Schmerz und die Sünde der Welt im Sinne Jesu verspürt, als wäre man selbst betroffen. Deshalb gehört dazu nicht nur die Betrübnis angesichts eigener Sünde, sondern auch der Schmerz aufgrund des schrecklichen Zustands der Welt und der Tatsache, dass sie den Heiland verwirft, bzw. infolge des Schicksals derer, die seine Gnade ablehnen. Diese Trauernden werden an dem kommenden Tag »getröstet werden«, wenn Gott »jede Träne von ihren Augen abwischen« wird (Offb 21,4). Gläubige trauern nur in diesem Leben; für die Ungläubigen ist ihr heutiger Kummer nur ein Vorgeschmack der ewigen Betrübnis.
5,5 Eine dritte Seligpreisung wird über »die Sanftmütigen« ausgesprochen: »Sie werden das Land erben.« Von Natur aus mögen diese Menschen unberechenbar, launisch und schroff sein. Doch indem sie bewusst den Geist Christi annehmen, werden sie »sanftmütig« bzw. milde (vgl. Matth 11,29). Sanftmut beinhaltet die Annahme der Tatsache, dass man niedrig gestellt ist. »Der Sanftmütige« ist demütig und milde, wenn es um ihn selbst geht, obwohl er wie ein Löwe kämpfen mag, wenn es um Gott oder darum geht, andere zu verteidigen.
Die Demütigen werden nicht schon jetzt das Land bzw. die Erde (vgl. Anm. Elb 2003)  erben;  sie  werden  vielmehr Misshandlung und Enterbung erleben. Aber sie werden im wörtlichen Sinne die Erde »erben«, wenn Christus als der König tausend Jahre lang in Frieden und Wohlergehen herrschen wird.
5,6 Als Nächstes werden die selig gepriesen, »die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten«: Ihnen wird Sättigung verheißen. Diese Menschen sehnen sich nach »Gerechtigkeit« in ihrem eigenen Leben. Sie wollen Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft verwirklicht sehen und suchen nach praktischer Heiligung in der Gemeinde. Wie die Menschen, von denen Gamaliel Bradford schrieb, haben sie »einen Durst, den kein irdischer Strom löschen kann, und einen Hunger, der sich von Christus ernähren muss, weil der Betreffende sonst stirbt«. Diese Menschen werden im kommenden Reich Christi überreich beschenkt werden: »Sie werden gesättigt werden«, denn dann wird Gerechtigkeit regieren, und die moralische Verderbnis wird durch vollkommene Ehrlichkeit ersetzt werden.
5,7 Im Reich unseres Herrn sind die Barmherzigen glückselig, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren. Barmherzig sein bedeutet, aktives Mitleid zu empfinden. In einer Hinsicht bedeutet es, dem, der Strafe verdient hat, diese Strafe zu ersparen. Im weiteren Sinne bedeutet es, Not Leidenden zu helfen, die sich nicht selbst helfen können. Gott bewies seine Barmherzigkeit, indem er uns die Strafe erspart hat, die wir für unsere Sünden verdient hätten, und indem er seine Zuneigung zu uns durch das Rettungswerk Christi zeigte. Wir ahmen Gott nach, wenn wir barmherzig sind. Den Barmherzigen wird Barmherzigkeit widerfahren. Hier spricht Jesus nicht von der Gnade der Errettung, die Gott dem gläubigen Sünder widerfahren lässt. Diese Barmherzigkeit hängt nicht davon ab, ob jemand selbst barmherzig ist – sie ist ein bedingungsloses Geschenk. Unser Herr spricht von der Gnade, die der Christ im täglichen Leben braucht, und von der Barmherzigkeit in der Zukunft, wenn unsere Werke beu rteilt werden (1. Kor  3,12-15).  Wenn  man  nicht  barmherzig gewesen ist, dann wird man auch keine  Barmherzigkeit  empfangen,  d. h. dass der Lohn entsprechend niedriger ausfallen wird.
5,8 Denen, die reinen Herzens sind, wird die Zusage gegeben, dass sie Gott schauen werden. Ein Mensch hat ein reines Herz, wenn er keine falschen Motive hat, wenn seine Gedanken heilig sind und sein Gewissen rein ist. Der Ausdruck »sie werden Gott schauen« kann in verschiedener Weise verstanden werden. Erstens schauen diejenigen, die reinen Herzens sind, Gott in der Gemeinschaft des Wortes und des Geistes. Zweitens wird ihnen manchmal eine übernatürliche Erscheinung unseres Herrn zuteil. Drittens werden sie Gott in der Person Jesu schauen, wenn er wiederkommt. Viertens werden sie Gott in der Ewigkeit schauen.
5,9 Eine Seligpreisung wird über die Friedensstifter ausgesprochen: »Sie werden Söhne Gottes heißen.« Man beachte, dass der Herr hier nicht von friedlichen Menschen oder von denen redet, die den Frieden lieben. Er spricht von denen, die sich aktiv für den Frieden einsetzen. Die natürliche Haltung besteht darin, sich nicht einzumischen. Der göttliche Ansatz ist, zu handeln, um Frieden zu schaffen, auch wenn das bedeutet, dass man sich damit Beschimpfungen und Verleumdungen einhandelt.
Friedensstifter werden Söhne Gottes genannt werden. Hier haben wir also nicht die Weise, wie sie zu Söhnen Gottes wurden – das kann nur durch das Annehmen Christi als persönlichen Retter geschehen. Indem sie Frieden stiften, zeigen die Gläubigen, dass sie Söhne Gottes sind, und Gott wird sie eines Tages als Menschen anerkennen, die zu seiner Familie gehören und ihm ähnlich sind.
5,10 Die nächste Seligpreisung beschäftigt sich mit den Verfolgten, die nicht wegen ihrer eigenen Vergehen, sondern »um Gerechtigkeit willen« verfolgt werden. Das Reich Gottes ist den Gläubigen versprochen, die wegen ihres richtigen Handelns leiden müssen. Ihr reines Leben verdammt die gottlose Welt und bringt ihre Feindschaft zum Vorschein. Die Menschen hassen ein gerechtes Leben, weil es ihre eigene Ungerechtigkeit hervortreten lässt.
5,11 Diese letzte Seligpreisung scheint eine Wiederholung der vorhergehenden zu sein. Es gibt jedoch einen Unterschied. Im vorhergehenden Vers wird jemand verfolgt, weil er gerecht ist, hier dagegen um Christi willen. Der Herr wusste, dass seine Jünger misshandelt werden würden, weil sie ihm verbunden und ihm treu sind. Die Geschichte hat dies bestätigt: Von Anfang an hat die Welt die Nachfolger Jesu verfolgt, ins Gefängnis geworfen und getötet.
5,12 Um Christi willen zu leiden, ist ein großes Vorrecht, das uns freuen sollte. Ein großer Lohn erwartet diejenigen, die wie die Propheten Drangsal leiden müssen. Diese Sprecher des alttestamentlichen Gottes blieben trotz Verfolgung treu. Alle, die ihren hingebungsvollen Mut nachahmen, werden ihre gegenwärtige Freude und zukünftige Erhöhung teilen. Die Seligpreisungen zeichnen uns ein Porträt des idealen Bürgers in Christi Reich. Man beachte die Betonung von Gerechtigkeit (V. 6), Frieden (V. 9) und Freude (V. 12). Paulus hatte sicherlich diese Stelle im Gedächtnis als er schrieb: »Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist« (Röm 14,17). B. Die Gläubigen als Salz und Licht (5,13-16)
5,13 Jesus verglich seine Jünger mit Salz. Sie sollten für die Welt sein, was das Salz im täglichen Leben ist: Salz würzt Speisen, es verhindert Fäulnis, es verursacht Durst und unterstützt den Geschmack. So sollen seine Nachfolger der menschlichen Gesellschaft Pikantheit geben, als Schutz vor dem Verderben dienen und andere dazu bringen, sich nach der Gerechtigkeit zu sehnen, von der die vorhergehenden Verse sprechen. Wenn das Salz kraftlos wird, wie soll es seine Salzigkeit zurückerhalten? Es gibt keinen Weg, ihm den echten, natürlichen Geschmack wiederzugeben. Hat es einmal seinen Geschmack verloren, dann taugt Salz zu nichts mehr. Es wird auf den Weg geworfen. Der Kommentar von Albert Barnes über diesen Vers erleichtert das Verständnis:
Das Salz, das in unserem Land verwendet wird, ist eine chemische Zusammensetzung – und wenn es seine Salzigkeit oder seinen Geschmack verlöre, dann bliebe nichts übrig. In östlichen Ländern war das benutzte Salz unrein, es war mit Pflanzen und Erde vermischt, sodass es seine ganze Salzigkeit verlieren konnte und eine beträchtliche Menge [Salz ohne Geschmack] übrig blieb. Es war zu nichts mehr zu gebrauchen, außer, dass es, wie hier gesagt wird, auf den Weg gestreut wird, wie wir unsere Wege mit Kies bestreuen.4 Der Jünger hat eine wichtige Aufgabe – Salz der Erde zu sein, indem er die Anweisungen für Jünger auslebt, die in den Seligpreisungen und im Rest der Predigt aufgeführt sind. Wenn er diese geistliche Realität nicht durch sein Leben sichtbar macht, werden die Menschen sein Zeugnis mit Füßen treten. Die Welt hat nur Verachtung für einen treulosen Gläubigen übrig.
5,14 Jesus ruft Christen auch auf, Licht der Welt zu sein. Er sprach von sich selbst als dem »Licht der Welt« (Joh 8,12; 12,35.36.46). Die Beziehung zwischen den beiden Erklärungen ist, dass Jesus der Ursprung des Lichtes ist und die Christen dieses Licht reflektieren. Ihre Aufgabe ist es, seine Strahlen zurückzuwerfen, wie der Mond die Herrlichkeit der Sonne widerspiegelt.
Der Christ ist wie eine Stadt, die oben auf einem Berg liegt: Sie ist über ihre Umgebung erhöht und leuchtet in der Dunkelheit. Diejenigen, deren Leben die Char akterzüge der Lehre Christi widerspiegeln, können nicht verborgen bleiben.
5,15.16 Man zündet nicht eine Lampe an und setzt sie unter den Scheffel. Stattdessen wird man sie auf ein Lampengestell setzen, damit sie allen leuchtet, die im Hause sind. Jesus wollte nicht, dass wir das Licht seiner Lehre für uns selbst sammeln, sondern dass wir sie anderen mitteilen. Wir sollten unser Licht so leuchten lassen, dass die Menschen unsere guten Taten sehen, sodass sie den Vater im Himmel verherrlichen. Die Betonung liegt hier auf dem Dienst eines christlich geprägten Charakters. Das Gewinnende eines Lebens, in dem Christus deutlich sichtbar wird, spricht lauter als der Versuch einer Überzeugung durch Worte.
C. Christus erfüllt das Gesetz (5,17-20)
5,17.18 Die meisten revolutionären Führer kappen alle Verbindungen zur Vergangenheit und lehnen die traditionelle existierende Ordnung ab. Nicht so der Herr Jesus. Er hielt das Gesetz des Mose hoch und bestand darauf, dass es erfüllt werden müsse. Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen. Er bestand darauf, dass kein Jota oder Strichlein vom Gesetz vergehen würde, ehe es nicht vollständig erfüllt wäre. Das Jota, oder hebr. jod, ist der kleinste Buchstabe im hebräischen Alphabet; das Strichlein ist ein kleines Zeichen, das dazu dient, zwei Buchstaben voneinander zu unterscheiden, wie sich z. B. das große E und das große F nur durch einen kleinen Strich unten unterscheiden. Jesus glaubte auch an die wörtliche Inspiration der Bibel, wenn es um scheinbar kleine und unwichtige Einzelheiten geht. Nichts in der Schrift, noch nicht einmal das kleinste Strichlein, ist ohne Bedeutung. Es ist wichtig zu betonen, dass Jesus nicht gesagt hat, dass das Gesetz für immer bestehen bliebe. Er sagte, dass es nicht vergehen würde, »bis alles geschehen ist«. Diese Unterscheidung hat für den Gläubigen heute Konsequenzen, und weil das Verhältnis des Gläubigen zum Gesetz so wichtig ist, wollen wir uns nun Zeit nehmen, die biblische Lehre zu diesem Thema zusammenzufassen.
Exkurs zum Thema Verhältnis des Gläubigen zum Gesetz
Das Gesetz ist ein System von Vorschriften, die Gott durch Mose dem Volk Israel gegeben hat. Das gesamte Gesetzeswerk findet  sich  in  2. Mose  20 – 31  sowie  im 3. und 5. Buch Mose, auch wenn die Zusammenfassung in den Zehn Geboten gegeben wird.
Das Gesetz ist nicht als ein Mittel zur Errettung gegeben worden (Apg 13,39; Röm 3,20a; Gal 2,16.21; 3,11). Es wurde gegeben, damit es den Menschen ihre Sündhaftigkeit zeigt (Röm 3,20b; 5,20; 7,7;  1. Kor  15,56;  Gal  3,19)  und  sie  dann zu Gott treibt, um bei ihm gnadenreiche Vergebung zu suchen. Es wurde dem Volk Israel gegeben, auch wenn es moralische Prinzipien enthält, die für alle Zeitalter gelten (Röm 2,14.15). Gott erprobte Israel im Rahmen des Gesetzes als Teil des Menschengeschlechtes, und Israels Schuldh aftigkeit bewies die Schuldhaftigkeit der ganzen Welt (Röm 3,19). Das Gebot beinhaltete die Todesstrafe (Gal 3,10). Wer ein Gesetz brach, war des ganzen Gesetzes schuldig (Jak 2,10). Weil die Menschen das Gesetz gebrochen hatten, standen sie unter dem Fluch des Todes. Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit erforderten es, dass die Strafe bezahlt würde. Genau aus diesem Grund kam Jesus in diese Welt: um mit seinem Tod die Strafe zu bezahlen. Er starb stellvertretend für die schuldigen Gesetzesbrecher, obwohl er selbst sündlos war. Er schob das Gesetz nicht einfach zur Seite, sondern er erfüllte seine gerechten Ansprüche durch sein Leben und seinen Tod. Deshalb wird das Gesetz durch das Evangelium nicht einfach umgestoßen, sondern das Evangelium hält das Gesetz aufrecht und zeigt, wie die Ansprüche des Gesetzes durch das Erlösungswerk Jesu vollkommen erfüllt worden sind. Deshalb steht derjenige, der auf Jesus vertraut, nicht länger unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6,14). Er ist für das Gesetz durch das Werk Christi tot. Die Strafe des Gesetzes muss nur ein einziges Mal bezahlt werden, und da Christus sie bezahlt hat, braucht der Gläubige sie nicht noch einmal zu bezahlen. In diesem Sinne hat das Gesetz für den Gläubigen seine Gültigkeit verloren (2. Kor 3,7-11). Das Gesetz war ein Zuchtmeister, bis Christus kam, aber nach der Errettung ist dieser Zuchtmeister nicht länger nötig (Gal 3,24.25). Obwohl der Christ nicht unter dem Gesetz steht, heißt das jedoch nicht, dass er jetzt gesetzlos wäre. Er ist nun mit einer stärkeren Kette als dem Gesetz gebunden, weil er unter dem Gesetz Christi steht (1. Kor 9,21). Sein Verhalten wird verändert, und zwar nicht aus Furcht vor Strafe, sondern durch ein liebendes Verlangen, seinem Retter zu gefallen. Christus ist seine Lebensregel geworden (Joh 13,15; 15,12; Eph 5,1.2; 1. Joh 2,6; 3,16). Eine allgemein diskutierte Frage im Zusammenhang mit der Bedeutung des Gesetzes für den Gläubigen ist: »Soll ich mich nach den Zehn Geboten richten?« Die Antwort ist, dass bestimmte Prinzipien, die im Gesetz enthalten sind, für immer von Bedeutung bleiben. Es ist immer falsch, zu stehlen, zu morden oder zu begehren. Neun der Zehn Gebote werden im NT wiederholt, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Sie sind nicht als Gesetz gegeben (damit wäre eine Strafe verbunden), sondern als eine Übung in der Gerechtigkeit für das Volk Gottes (2. Tim 3,16b). Das Gebot, das im NT nicht wiederholt wird, ist das Sabbatgebot: Christen werden niemals aufgefordert den Sabbat zu halten (d. h. den siebten Tag der Woche, den Samstag). Der Dienst des Gesetzes an nicht erretteten Menschen ist nicht beendet: »Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht« (1. Tim 1,8). Sein gesetzmäßiger Gebrauch ist, Sündenerkenntnis zu bringen und so zur Buße zu führen. Aber das Gesetz gilt nicht denen, die schon gerettet sind: »Für einen Gerechten (ist) das Gesetz nicht bestimmt« (1. Tim 1,9). Die Gerechtigkeit, die durch das Gesetz gefordert wird, ist in denen erfüllt, »die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln« (Röm 8,4). Die Lehren unseres Herrn in der Bergpredigt setzen sogar einen höheren Standard als den Maßstab des Gesetzes an. Zum Beispiel sagte das Gesetz: »Du sollst nicht töten«; Jesus sagte jedoch: »Du sollst noch nicht einmal hassen.« So hält die Bergpredigt nicht nur das Gesetz und die Propheten aufrecht, sondern führt sie näher aus und entwickelt ihre tieferen Absichten.
5,19 Wir kommen nun zur Bergpredigt zurück und bemerken, dass Jesus voraussah, dass es eine natürliche Tendenz des Menschen gibt, Gottes Gebote zu umgehen oder zu entschärfen. Weil sie von solch übernatürlicher Art sind, versuchen die Menschen, sie wegzuerklären und ihre Bedeutung rational zu erklären. Aber wer eins dieser geringsten Gebote auflöst und andere Menschen lehrt, das Gleiche zu tun, wird der Geringste im Reich der Himmel heißen. Es ist ein Wunder, dass solche Menschen überhaupt Einlass in das Reich der Himmel finden – aber zum Eingang in das Reich Gottes reicht der Glaube an Christus. Die Stellung eines Menschen im Reich wird von seinem Gehorsam und seiner Treue hier auf Erden bestimmt. Wer dem Gesetz des Reiches gehorcht, der wird im Reich der Himmel groß heißen.
5,20 Um Eingang in das Reich der Himmel zu finden, muss unsere Gerechtigkeit diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer überragen (welche mit religiösen Zeremonien zufrieden waren, die ihnen eine äußerliche, rituelle Reinheit verschafften, ihre Herzen jedoch nicht ändern konnten). Jesus verwendet hier das Stilmittel der Übertreibung, um darzustellen, dass äußerliche Gerechtigkeit ohne innere Realität den Zugang zum Reich der Himmel nicht gewährl eistet. Die einzige von Gott akzeptierte Gerechtigkeit ist die Vollkommenheit, die er denen anrechnet, welche seinen Sohn als Retter annehmen (2. Kor 5,21). Natürlich wird da, wo echter Glaube an Christus vorhanden ist, auch praktische Gerechtigkeit mit einhergehen, die Jesus nun im Rest dieser Predigt beschreibt. D. Jesus warnt vor Zorn (5,21-26)
5,21 Die Juden zur Zeit Jesu wussten, dass Mord von Gott verboten worden war und der Mörder seine Strafe empfan gen sollte. Das galt schon vor dem Ge setz  (1. Mose  9,6)  und  wurde  später  ins Gesetz  aufgenommen  (2. Mose  20,13; 5. Mos   e 5,17). Mit den Worten »Ich aber sage  euch«  (V. 22)  leitet  Jesus  einen  Zusatz zu diesem Gesetz ein. Man kann nun nicht länger damit prahlen, noch keinen Menschen umgebracht zu haben. Jesus sagt nun: »In meinem Reich darfst du noch nicht einmal Gedanken hegen, die auf Mord abzielen.« Er verf olgt damit den Mord bis an seinen Urs prung und warnt da bei vor drei Formen des ungerechten Zorns.
5,22 Der erste Fall, den Jesus hier anspricht, ist der Fall eines Menschen, der über seinen Bruder grundlos zornig ist.5 Jemand, der dieses Verbrechens angeklagt werden könnte, läuft also Gefahr, dem Gericht zu verfallen, das heißt, er könnte zur Verantwortung gezogen werden. Die meisten Menschen meinen, sie könnten eigentlich immer einen Grund für ihren Zorn angeben, aber Zorn ist nur dann gerechtfertigt, wenn es um die Ehre Gottes geht oder wenn einem anderen Unrecht geschieht. Zorn ist immer dann falsch, wenn es um die Vergeltung persönlicher Fehler geht.
Eine Sünde, die noch ernster zu nehmen ist, besteht darin, den Bruder zu beleidigen. In der Zeit Jesu benutzten die Menschen das Wort »Raka« (ein aramäischer Ausdruck, der »der Hohle« bedeutet), um andere Menschen verächtlich zu machen und zu beschimpfen. Wer dieses Wort benutzte, sollte dem Hohen Rat verfallen sein, d. h. er musste sich vor dem Synedrium verantworten, dem höchsten Gerichtshof des Landes.
Die dritte Form des Zorns, die Jesus verurteilt, ist, jemanden mit »Narr« zu bezeichnen. Hier bedeutet das Wort »Narr« mehr als nur Spaßmacher. Es bezeichnet – im moralischen Sinn – denjenigen als Narren, dem man das Lebensrecht abspricht. Damit drückt man aus, dass man ihm den Tod wünscht. Heute hören wir oft, wie andere Menschen mit den Worten »Gott verdamme dich« verwünscht werden. Jesus sagt, dass derjenige, der einen solchen Fluch ausspricht, in der Gefahr steht, der Hölle des Feuers zu verfallen. Die Leichname von Hing erichteten wurden oft auf einen brennenden Abfallhaufen außerhalb von Jerusalem geworfen, der als »Tal Hinnom« oder »Gehenna« bekannt war. Das war ein Hinweis auf die Flammen der Hölle, die niemals ausgelöscht werden können. Man kann die Schärfe dieser Worte gar nicht missverstehen. Er lehrt, dass Zorn der Ursprung des Mordes ist, Beschimpfungen ebenfalls in diese Richtung gehen und Verfluchungen dem Wunsch nach Mord gleichkommen. Die sich steigernde Reihenfolge der Vergehen zieht eine Steigerung der Strafe nach sich: Gericht, Hoher Rat und höllisches Feuer. In seinem Reich wird Jesus jede Sünde nach ihrer Schwere bestrafen.
5,23.24 Wenn ein Mensch einen anderen verletzt, ob durch Zorn oder einen anderen Grund, dann hat es für ihn keinen Zweck, ein Opfer darzubringen. Der Herr wird sich nicht daran freuen. Derjenige, der den anderen verletzt hat, sollte zuerst hingehen und sein Unrecht in Ordnung bringen. Nur dann wird sein Opfer angenommen werden.
Auch wenn diese Worte für ein jüdisches Umfeld geschrieben worden sind, heißt das nicht, dass sie heute nicht mehr anwendbar seien. Paulus bezieht diesen Befehl auf das Mahl des Herrn (s.  1. Kor  11).  Gott  nimmt  von  einem Gläubigen keine Anbetung an, wenn dieser mit einem anderen Gläubigen nicht mehr reden kann.
5,25.26 Jesus warnt hier vor Prozesssucht und vor dem Zögern, eigene Schuld zuzugeben. Es ist besser, sich sofort mit einem Ankläger zu einigen, als das Risiko einer Gerichtsverhandlung einzugehen. Wenn das passiert, wird man sicherlich verlieren. Es gibt zwar einige Uneinigkeit unter den Gelehrten, auf welche Personen sich dieses Gleichnis bezieht, doch ist die Absicht eindeutig: Wenn man im Unrecht ist, sollte man es schnell zug eben und versuchen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Wenn man hier keine Reue zeigt, dann wird einen die eigene Sünde schließlich einholen, sodass man nicht nur alles wiedergutmachen, sondern eventuell auch noch eine Strafe hinnehmen muss. Und man sollte nie zu eilig mit dem Prozessieren sein. Wenn wir das tun, dann wird das Gesetz uns ert appen, sodass wir bis zum letzten Pfennig werden bezahlen müssen.
E. Jesus verurteilt Ehebruch (5,27-30)
5,27.28 Das mosaische Gesetz verbietet eindeutig  den  Ehebruch  (2. Mose  20,14; 5. Mose 5,18). Vielleicht könnte einer voller Stolz darauf hinweisen, dass er dieses Gebot noch nie gebrochen hat, doch trotzdem mag er »Augen voll Begier nach einer  Ehebrecherin«  haben  (2. Petr  2,14). Während nach außen hin alles stimmt, kann es sein, dass seine Gedanken ständig um Unreines kreisen. Damit erinnerte Jesus seine Jünger daran, dass es nicht reicht, sich äußerlich einer Tat zu enthalten – die Reinheit muss auch innerlich sein. Das Gesetz verbot den Ehebruch, Jesus dagegen verbietet das Verlangen: »Jeder, der eine Frau ansieht, sie zu begehren, hat schon Ehebruch mit ihr begangen in seinem Herzen.« E. Stanley Jones hat die Bedeutung dieses Verses getroffen, als er schrieb: »Ob du an Ehebruch denkst oder ihn ausführst, du wirst deinen Trieb dadurch nicht beruhigen, denn du versuchst, mit Öl Flammen zu löschen.« Die Sünde beginnt in unseren Gedanken, und wenn wir sie nähren, dann wird der Gedanke schließlich zur Tat.
5,29.30 Die Aufrechterhaltung eines reinen Gedankenlebens fordert eisern e Selbstdisziplin. Deshalb lehrte Jesus, dass, sobald eines unserer Glieder uns zur Sünde verführt, es besser wäre, dieses Glied in diesem Leben zu verlieren, als die Seele hinsichtlich der Ewigkeit einzubüßen. Sollen wir Jesu Worte wirklich wörtlich nehmen? Hat er wirklich Selbstverstümmelung gelehrt? Die Worte sind bis zu diesem Punkt wörtlich zu nehmen: Wenn es nötig wäre, eher ein Glied als die Seele zu verlieren, dann sollten wir uns froh von diesem Glied trennen. Glücklicherweise ist das niemals nötig, denn der Heilige Geist befähigt den Gläubigen, ein heiliges Leben zu führen. Dennoch ist es für den Gläubigen nötig, mit dem Geist auf diesem Gebiet zusammenzuarbeiten und sich einer strengen Selbstdisziplin zu unterwerfen.
F. Jesus tadelt Ehescheidung (5,31.32)
5,31 Im Rahmen des alttestamentlichen Gesetzes war Scheidung nach 5. Mose 24,1-4 gestattet. Dieser Abschnitt beschäftigt sich nicht mit dem Fall einer ehebrecherischen Frau (die Strafe für Ehebruch war der Tod, s. 5. Mose 22,22). Es beschäftigt sich stattdessen mit der Scheidung wegen gegenseitiger Abneigung oder infolge der Tatsache, dass man meint, man »passe nicht zusammen«.
5,32 Im Reich Christi gilt jedoch: »Jeder, der seine Frau entlassen wird, außer aufgrund von Hurerei, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird.« Das bedeutet nicht, dass sie durch die Scheidung automatisch zur Ehebrecherin wird. Hier wird jedoch von der Annahme ausgegangen, dass sie, da sie keine Mittel zu ihrem Unterhalt hat, gezwungen ist, mit einem anderen Mann zusammenzuleben. Dadurch wird sie zur Ehebrecherin. Und nicht nur die ehemalige Ehefrau begeht Ehebruch, auch »wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch«. Das Thema Scheidung und Wiederheirat ist eines der kompliziertesten in der Bibel. Es ist beinahe unmöglich, alle Fragen zu beantworten, die damit im Zusammenhang stehen. Es mag aber hilfreich sein, zu sichten und zusammenzufassen, was die Bibel unserer Meinung nach zu dem Thema lehrt.
Exkurs zur Scheidung und Wiederheirat
Scheidung lag nie in der Absicht Gottes mit dem Menschen. Sein Ideal ist, dass ein Mann und eine Frau verheiratet bleiben, bis ihre Gemeinschaft durch den Tod auseinandergerissen wird (Röm 7,2.3). Jesus machte den Pharisäern dies deutlich, indem er auf die göttliche Schöpfungsordnung hinwies (Matth 19,4-6). Gott hasst Scheidung (Mal 2,16), d. h. nicht schriftgemäße Scheidung. Er hasst nicht jegliche Form der Scheidung, weil er selbst von sich sagt, dass er sich von Israel geschieden habe (Jer 3,8). Das geschah, weil das Volk ihn vergaß und Götzendienst trieb. Israel war untreu geworden.
In Matthäus 5,31.32 und 19,9 lehrte Jesus, dass Scheidung verboten ist, außer in dem Fall, dass ein Partner sich des Ehebruchs schuldig gemacht hat. In Markus 10,11.12 und Lukas 16,18 ist der Nachsatz mit dieser Ausnahme ausgelassen worden.
Der Widerspruch lässt sich vielleicht am besten dadurch erklären, dass weder Markus noch Lukas den Ausspruch vollständig wiedergeben. Auch wenn die Scheidung nie das Ideal sein darf, ist sie deshalb in dem Fall erlaubt, wenn ein Partner untreu geworden ist. Jesus erlaubt Trennung in einem solchen Fall, aber er gebietet sie nicht.
Einige Gelehrte sehen 1. Korinther
7,12-16 als eine Lehre, die die Scheidung erlaubt, wenn ein Gläubiger von einem ungläubigen Ehepartner verlassen wird. Paulus sagt, dass der übrig gebliebene Partner in diesem Fall »nicht gebunden« ist, d. h. er oder sie ist frei, eine Scheidung zu erlangen. Nach Meinung des Autors dieses Kommentars ist hier der gleiche Fall wie in Matthäus 5 und 19 gemeint ist, dass nämlich der Ungläubige weggeht, um mit jemand anders zusammenzuleben. Deshalb kann dem Gläubigen eine Scheidung nur dann gewährt werden, wenn der andere Partner Ehebruch begeht. Es wird oft behauptet, dass Scheidung im NT zwar erlaubt sei, aber die Wiederheirat nicht erwähnt wird. Dennoch geht das Argument an der Fragestellung vorbei. Wiederheirat des unschuldigen Teiles wird im NT nicht verurteilt – nur bei dem, der den Anlass zur Scheidung gegeben hat. Außerdem ist einer der Hauptgründe für schriftgemäße Scheidung die Möglichkeit zur Wiederheirat, sonst würde ja eine einfache Trennung ausreichen. In jeder Diskussion dieses Themas kommt unausweichlich die Frage auf: »Was ist mit den Menschen, die sich scheiden ließen, ehe sie gläubig wurden?« Es sollte keine Frage sein, dass ungesetzliche Scheidungen und Wiederverheiratungen vor der Bekehrung Sünden sind, die vollständig vergeben worden sind (so nennt z. B. Paulus in 1. Kor 6,11 den Ehebruch unter denjenigen Sünden, die die Korinther in ihrem früheren Leben begangen haben). Sünden vor der Bekehrung sollten den Gläubigen nicht von einer vollen Teilnahme am Gem eindel eben ausschließen.
Eine schwierigere Frage betrifft Christen, die sich aus schriftwidrigen Gründen scheiden lassen und dann wieder heiraten. Können sie wieder in die Gemeinschaft der Gemeinde aufgenommen werden? Die Antwort beruht darauf, ob ein Fehltritt in Form eines einmaligen Ehebruchs oder ein weiterhin bestehendes ehebrecherisches Verhältnis vorliegt. Wenn dieses Paar im Ehebruch lebt, dann müssten sie nicht nur ihre Sünde bekennen, sondern auch ihren gegenwärtigen Partner verlassen. Aber Gottes Lösung für ein Problem besteht nie darin, schwierigere Probleme als vorher aufzuwerfen. Wenn Menschen, um einen ehelichen Konflikt zu entwirren, in Sünde getrieben oder Frau und Kinder ohne Geld und Obdach zurückgelassen würden, dann wäre die Heilung schlimmer als die Krankheit. Nach der Meinung des Autors können Christen, die sich unschriftgemäß haben scheiden lassen und dann wieder geheiratet haben, echte Buße von ihrer Sünde tun und wieder in die Gemeinschaft des Herrn und der Gemeinde aufgenommen werden. In Scheidungsfragen liegt fast jeder Fall anders. Deshalb müssen die Ältesten einer Gemeinde jeden Fall einzeln untersuchen und ihn gemäß dem Wort Gottes beurteilen. Wenn einmal Gemeindezucht geübt werden muss, dann sollten sich alle Beteiligten der Entscheidung der Ältesten unterordnen.
G. Jesus verurteilt das Schwören (5,33-37)
5,33-36 Das mosaische Gesetz enthielt mehrere Verbote, beim Namen Gottes nicht falsch  zu  schwören  (3. Mose  19,12; 4. Mose  30,2;  5. Mose  23,21).  Wer  beim Namen Gottes schwor, ließ erkennen, dass er Gott zum Zeugen dafür aufrief, dass er die Wahrheit sagte. Die Juden versuchten, die Ungehörigkeit zu umgehen, falsch beim Namen Gottes zu schwören, indem sie den Schwur beim Namen Gottes durch den Schwur beim Himmel, bei der Erde, bei Jerusalem oder bei ihrem Kopf ersetzten.
Jesus verdammt eine solche Um gehung des Gesetzes als pure Heuc helei und verbietet jede Form des Schwures oder Eides in der normalen Unterh altung. Es war nicht nur heuchlerisch, sondern auch völlig nutzlos, das Schwören beim Namen Gottes nur durch ein anderes Hauptwort statt des Gottesn amens zu ersetzen. Wer beim Himmel schwört, schwört bei Gottes Thron. Wenn man bei der Erde schwört, so schwört man beim Schemel seiner Füße. Wer bei Jerusalem schwört, schwört bei der königl ichen Hauptstadt. Sogar ein Schwur beim eigenen Kopf beinhaltet Gott, denn er ist der Schöpfer.
5,37 Für den Christen ist ein Schwur unnötig. Sein Ja soll ja bedeuten, ebenso wie sein Nein auch nein bedeuten soll. Wer eine andere Sprache wählt, gibt zu, dass jemand anders – der Böse – ihn regiert. Es gibt keinerlei Umstände, in denen ein Christ lügen darf. Dieser Abschnitt verbietet jede Täuschung oder »Schönung« der Wahrheit. Jedoch wird hier nicht der Eid vor Gericht verboten. Jesus selbst sagte vor dem Hohenpriester unter Eid aus: (Matth 26,63ff.). Auch Paulus verwandte einen Eid, um Gott als Zeugen dafür anzurufen, dass er die Wahrheit schrieb (2. Kor 1,23; Gal 1,20). H. Die zweite Meile gehen (5,38-42)
5,38 Das Gesetz sagte: »Auge um Auge,  Zahn  um  Zahn«  (2. Mose  21,24; 3. Mose 24,20; 5. Mose 19,21). Das war sowohl das Gebot zur Strafe als auch eine Begrenzung der Strafe – die Strafe durfte nie das Verbrechen übersteigen. Dennoch liegt nach dem Alten Testament die Aufgabe der Bestrafung bei der Obrigkeit und nicht beim Einzelnen.
5,39-41 Jesus ging hier über das Gesetz hinaus und zu einer höheren Gerechtigkeit, indem er die Vergeltung an sich abschaffte. Er zeigte seinen Jüngern, dass Rache zwar einst vom Gesetz erlaubt war, aber jetzt das Erdulden durch die Gnade möglich geworden war. Jesus lehrte seine Nachfolger, einem Bösen keinen Widerstand zu leisten. Wenn jemand sie auf die Wange schlug, dann sollten sie ihm auch die andere darbieten. Wenn jemand das Unterkleid verlangen sollte, dann sollten sie ihm auch den Mantel lassen (er wurde auch als Zudecke für die Nacht verwendet). Wenn eine Person sie zwingen würde, ihr Gepäck eine Meile weit zu tragen, sollten die Jünger es freiwillig zwei Meilen tragen.
5,42 Das letzte Gebot Jesu in diesem Abschnitt scheint uns heute das weltfremdeste zu sein. »Gib dem, der dich bittet, und weise den nicht ab, der von dir borgen will.« Unser Hang nach Besitz und Eigentum lässt uns vor dem Gedanken grauen, dasjenige wegzugeben, was wir uns erarbeitet haben. Wenn wir jedoch bereit wären, uns lediglich auf die Schätze im Himmel zu konzentrieren, und nur mit dem Notwendigen an Essen und Kleidung zufrieden wären, dann könnten wir diese Worte viel williger im wörtlichen Sinne auffassen. Die Aussage Jesu setzt voraus, dass derjenige, der um Hilfe bittet, wirklich in Not ist. Da es jedoch unmöglich ist, dies in jedem Fall wirklich zu wissen, ist es besser, wie jemand einmal sagte, »einer Menge betrügerischer Bettler zu helfen, als es zu riskieren, einem wirklich Not Leidenden den Rücken zu kehren«.
Menschlich gesprochen ist ein Verhalten, wie es der Herr hier verlangt, unmöglich. Nur wenn ein Mensch vom Heiligen Geist geleitet wird, kann er ein aufopferungsvolles Leben führen. Nur wenn der Heiland sein Leben im Gläubigen ausleben darf, kann dieser Beleidigung (V. 39), Ungerechtigkeit  (V. 40)  und  Unbequemlichkeit (V. 41) mit Liebe beantworten. Das ist »das Evangelium der zweiten Meile«. I. Liebt eure Feinde (5,43-48)
5,43 Das letzte Beispiel unseres Herrn für die höhere Gerechtigkeit, die sein Reich verlangt, betrifft den Umgang mit den Feinden – ein Thema, das sich auf natürliche Weise aus dem vorangegangenen Abschnitt ergibt. Das Gesetz lehrte die Israeliten, den Nächsten zu lieben (3. Mose 19,18). Obwohl nie ausdrücklich gesagt wird, dass sie ihre Feinde hassen sollen, fand sich dieser Geist doch oft in ihrer Unterweisung. Diese Haltung war eine Zusammenfassung der alttestamentlichen Haltung gegenüber denen, die das Volk Gottes verfolgten (s. Ps 139,21.22). Das war eine gerechte Feindschaft gegenüber denjenigen, die erklärte Feinde Gottes waren.
5,44-47 Aber nun verkündet Jesus, dass wir unsere Feinde lieben und für die beten sollen, die uns verfolgen. Die Tatsache, dass Liebe hier befohlen wird, zeigt uns, dass es hier um den Willen und nicht in erster Linie um ein Gefühl geht. Es hat nichts mit natürlicher Sympathie zu tun, weil es nicht natürlich ist, diejenigen zu lieben, die uns hassen und Böses antun. Es geht um eine übernatürliche Gnade, die nur bei denen Wirklichkeit werden kann, die Leben aus Gott haben. Es gibt keinen Lohn dafür, wenn wir diejenigen lieben, die uns lieben. Jesus sagt, dass sogar unbekehrte Zöllner6 dies täten. Für diese Liebe ist keine göttliche Macht nötig. Auch ist es keine Tugend, nur unsere Brüder7, d. h. unsere Verwandten und Freunde, zu grüßen. Auch die nicht Erretteten sind dazu imstande, deshalb ist es nichts spezifisch Christl iches. Wenn unsere Maßstäbe nicht höher als die Standards der Welt sind, dann werden wir auf sie nie Einfluss haben können. Jesus sagte, dass seine Nachfolger Böses mit Gutem vergelten sollten, damit sie Söhne ihres Vaters in den Himmeln sind. Er sagte damit nicht, dass dies der Weg sei, Söhne Gottes zu werden, sondern zu zeigen, dass wir Gottes Kinder sind. Da Gott weder den Guten noch den Bösen vorzieht (d. h. dass beide von Sonne und Regen Nutzen haben), so sollten wir mit allen freundlich und fair umgehen.
5,48 Jesus beschließt diesen Abschnitt mit der Ermahnung: »Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.« Das Wort »vollkommen« ist hier nur im Zusammenhang zu verstehen. Es bedeutet nicht sünd- oder fehlerlos. Die vorhergehenden Verse erklären, dass Vollkommenheit bedeutet, diejenigen zu lieben, die uns hassen, für die zu beten, die uns verfolgen, und sowohl Freunden als auch Feinden gegenüber freundlich zu sein. Vollkommenheit ist hier die geistliche Reife, die einen Christen befähigt, Gott nachzuahmen, der jedem seinen Segen ohne Unterschied zukommen lässt.
J. Aufrichtiges Geben (6,1-4)
6,1 In der ersten Hälfte dieses Kapitels beschäftigt Jesus sich mit drei besonderen Gebieten der praktischen Gerechtigkeit im Leben eines Menschen: Wohltätigkeit (V. 1-4), Gebet (V. 5-15) und Fasten (V. 16-18). Der Name »Vater« wird in diesen 18 Versen zehnmal verwendet und ist das Schlüsselwort dieses Abschnittes. Praktische Werke der Gerechtigkeit sollten getan werden, um Gottes Wohlgefallen zu erlangen, und nicht, um von Menschen geehrt zu werden.
Jesus beginnt diesen Teil seiner Predigt mit einer Warnung vor der Versuchung, unsere Frömmigkeit durch Almosengeben (Anmerkung Elberfelder Bibel) nicht zur Schau zu stellen, indem wir darauf achten, dass es von anderen gesehen wird. Hier wird nicht die Tat an sich verurteilt, sondern die Haltung, die dahintersteht. Wenn öffentliche Anerkennung die Motivation ist, dann bleibt diese Anerkennung auch der einzige Lohn, denn Gott belohnt Heuchelei nicht.
6,2 Es scheint fast unglaublich zu sein, dass es Heuchler gab, die lautstark die Aufmerksamkeit auf sich zogen, wenn sie in der Synagoge ein Opfer oder auf der Straße einem Bettler ein Almosen gaben. Der Herr lehnt ihr Verhalten mit dem knappen Kommentar ab: »Sie haben ihren Lohn dahin« (d. h. ihr einziger Lohn ist der Ruf, den sie sich damit auf Erden erwerben).
6,3.4 Wenn ein Nachfolger Christi ein Almosen gibt, dann sollte das im Verborgenen geschehen. Es sollte so geheim geschehen, dass Jesus seinen Jüngern sagte: »Wenn du aber Almosen gibst, so soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut.« Jesus benutzt diesen bildlichen Ausdruck, um zu zeigen, dass unsere Almosen für den Vater bestimmt sind und nicht dazu dienen sollen, den Geber groß herauszustellen.
Dieser Abschnitt sollte nicht dazu missbraucht werden, jede Gabe zu verhindern, die andere sehen könnten, da es fast unmöglich ist, alle unsere Gaben anonym zu geben. Hier handelt es sich lediglich um die Verurteilung von Almosengeben, um eigene Ehre zu erlangen. K. Aufrichtiges Beten (6,5-8)
6,5 Als Nächstes warnt Jesus seine Jünger vor Heuchelei beim Beten. Sie sollten sich nicht mit Absicht auf öffentliche Plätze stellen, sodass andere sie beten sehen und von ihrer Frömmigkeit beeindruckt sind. Wenn die Ruhmsucht das einzige Motiv des Gebets ist, dann wird der Ruhm nach den Worten Jesu die einzige Belohnung sein.
6,6 In den Versen 5 und 7 steht im Griechischen das Personalpronomen in der Mehrzahl (ihr). Aber in Vers 6 steht es in der Einzahl, um den privaten Charakter des Umganges mit Gott zu betonen. Der Schlüssel zu erhörten Gebeten ist, im Verborgenen zu beten (»geh in deine Kammer, und nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater …«). Wenn unser wahres Motiv ist, mit unseren Bitten Gott zu erreichen, dann will er hören und antworten.
Wir lesen zu viel in diese Stelle hinein, wenn wir sie gebrauchen, um öffentliches Gebet zu verbieten. Die erste Gemeinde kam zum gemeinsamen Gebet zusammen (Apg 2,42; 12,12; 13,3; 14,23; 20,36). Es geht nicht darum, wo wir beten, sondern warum wir beten – um von Menschen gesehen oder von Gott gehört zu werden.
6,7 Gebet sollte nicht aus vergeblichen Wiederholungen, d. h. aus vorformulierten Sätzen oder leeren Phrasen, bestehen. Nicht errettete Menschen beten so, aber Gott lässt sich nicht dadurch beeindrucken, dass wir viel reden. Er möchte ein von Herzen kommendes Gebet hören.
6,8 Unser Vater weiß, was wir be nötigen – und das sogar schon, ehe wir ihn bitten. Deshalb kann man die berechtigte Frage stellen: »Warum sollen wir denn dann überhaupt beten?« Der Grund ist, dass wir im Gebet unsere Bedürftigkeit und Abhängigkeit von ihm anerkennen. Gebet ist die Grundlage des Gespräches mit Gott. Auch tut Gott gewisse Dinge als Antwort auf das Gebet, die er anderenfalls nicht getan hätte (Jak 4,2d). L. Jesus gibt uns ein Vorbild für unser Gebet (6,9-15)
6,9 In den Versen 9-13 haben wir das sogenannte »Gebet des Herrn«. Wenn wir diesen Titel dafür gebrauchen, sollten wir im Gedächtnis behalten, dass er selbst es nie gesprochen hat. Er gibt es seinen Jüngern als ein Vorbild, nach dem sie ihre Gebete gestalten können. Es ist nicht eine Vorschrift, genau diese Worte zu gebrauchen. Vers 7 scheint dieses auszuschließen, weil viele Worte leere Phrasen werden, wenn man sie auswendig dahersagt. »Unser Vater, der du bist in den Himmeln.« Gebete sollten an Gott den Vater gerichtet sein, indem man seine souveräne Herrschaft über das Universum anerkennt.
»Geheiligt werde dein Name.« Wir sollten unsere Gebete mit Anbetung beginnen, indem wir dem Ehre und Lob geben, der beides so sehr verdient hat.
6,10 »Dein Reich komme.« Nachdem wir angebetet haben, sollten wir für den Fortgang der Sache Gottes beten und so seine Anliegen an die erste Stelle setzen. Insbesondere sollten wir für den Tag beten, an dem unser Rettergott, der Herr Jesus Christus, sein Reich auf Erden aufrichten und in Gerechtigkeit regieren wird.
»Dein Wille geschehe.« Durch diese Bitte erkennen wir an, dass Gott weiß, was am besten ist, und unterstellen unseren Willen dem seinen. Sie drückt auch unsere Sehnsucht aus, dass sein Wille in der ganzen Welt anerkannt wird. »Wie im Himmel so auch auf Erden.« Dieser Teil bezieht sich auf alle drei vorhergegangenen Bitten. Die Anbetung Gottes, seine souveräne Herrschaft und die Ausführung seines Willens sind im Himmel schon verwirklicht. Dies ist das Gebet darum, dass diese Bedingungen in derselben Weise nun auch für die Erde gelten sollen.
6,11 »Unser tägliches Brot gib uns heute.« Nachdem wir Gottes Anliegen an die erste Stelle gesetzt haben, dürfen wir nun auch unsere eigenen Nöte vor ihn bringen. Mit dieser Bitte erkennen wir unsere Abhängigkeit von Gott an, dass er uns unser tägliches Brot gibt, sei es in geistlicher oder materieller Hinsicht.
6,12 »Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben.« Dieser Satz bezieht sich nicht auf die Vergebung von Schuld, die wir durch Übertretung des Gesetzes auf uns geladen haben (diese Vergebung wird uns durch den Glauben an den Sohn Gottes gewährt). Vielmehr nimmt er Bezug auf die väterliche Vergebung, die zur Aufrechterhaltung der Beziehung mit unserem Vater notwendig ist. Wenn die Gläubigen nicht willens sind, denen zu vergeben, die ihnen Unrecht tun, wie können sie dann erwarten, mit ihren Vater Gemeinschaft zu haben, der ihnen großz ügig ihre eigenen Sünden verg eben hat?
6,13 »Und führe uns nicht in Versuchung.« Diese Bitte scheint Jakobus 1,13 zu widersprechen, in der es heißt, dass Gott niemanden versucht. Dennoch erlaubt es Gott, dass sein Volk erprobt wird. Diese Bitte drückt ein gesundes Misstrauen gegenüber der eigenen Fähigkeit aus, den Versuchungen zu widerstehen oder in der Anfechtung standfest zu bleiben. Sie drückt die Anerkennung der völligen Abhängigkeit vom Herrn in Bezug auf Bewahrung aus.
»Sondern errette uns von dem Bösen.« Das ist das Gebet aller, die sich danach sehnen, durch die Kraft Gottes von der Sünde abgehalten zu werden. Es ist der Schrei des Herzens nach täglicher Heiligung von der Macht der Sünde und Satans im persönlichen Leben. »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.« Der letzte Satz dieses Gebetes wird in den römisch-katholischen und in den meisten evangelischen Bibelübersetzungen weggelassen, weil er in vielen alten Handschriften fehlt. Dennoch ist ein solcher Lobpreis der vollkommene Schluss für das Gebet, der auch im Textus Receptus enthalten ist.8 Er sollte, wie Johannes Calvin schreibt, »nicht nur unsere Herzen erwärmen, damit sie allein auf die Herrlichkeit Gottes hin ausgerichtet sind, sondern uns auch sagen, dass all unsere Gebete keine andere Grundlage als nur Gott haben«.
6,14.15 Diese Verse sind eine erklärende Anmerkung zu Vers 12. Sie gehören nicht zu dem Gebet, aber sind hier angefügt, um zu betonen, dass die väterliche Vergebung wie in Vers 12 unbedingt notwendig ist.
M. Jesus lehrt, wie man fasten soll (6,16-18)
6,16 Die dritte Form von religiöser Heuchelei, die Jesus hier kritisierte, ist der bewusste Versuch, als Fastender zu erscheinen. Die Heuchler verstellten ihre Gesichter, wenn sie fasteten, damit sie abgezehrt, ausgemergelt und trübselig aussahen. Doch Jesus sagt, dass der Versuch, heilig erscheinen zu wollen, lächerlich ist.
6,17.18 Wahre Gläubige sollten im Verborgenen fasten, und nicht nach außen hin so scheinen, als ob sie fasten würden. Das Haupt zu salben und das Gesicht zu waschen, waren Mittel, um normal auszusehen. Es reicht, wenn der Vater davon weiß. Sein Lohn wird besser sein als die Anerkennung durch Menschen.
Exkurs zum Fasten
Fasten heißt, dass man jeden Versuch unterlässt, den normalen Appetit zu befriedigen. Fasten kann freiwillig sein, wie in diesem Abschnitt, oder unfreiwillig (z. B. in Apg 27,33 oder 2. Kor 11,27). Im NT wird das Fasten im Zusammenhang mit Trauer (Matth 9,14.15) und Gebet (Lk 2,37; Apg 14,23) gesehen. In diesen Abschnitten begleitet das Fasten das Gebet als Zeichen der eigenen Ernsthaftigkeit, den Willen Gottes zu erkennen. Fasten hat keinen Wert für die Errettung des Menschen, auch gibt es dem Christen keinen besonderen Status vor Gott. Ein Pharisäer rühmte sich einst, dass er zweimal die Woche fastete, dennoch erlangte er damit nicht die Rechtfertigung, die er suchte (Lk 18,12.14). Aber wenn ein Christ im Verborgenen als geistliche Übung fastet, dann sieht Gott das und belohnt es. Fasten wird im NT zwar nicht befohlen, doch werden wir durch das Versprechen der Belohnung dazu ermutigt. Fasten kann im Gebetsleben helfen, indem es Lustlosigkeit und Schläfrigkeit nimmt. Es ist in Krisenzeiten sehr wertvoll, wenn man den Willen Gottes zu erfahren sucht. Und es ist von Wert, um sich in der Selbstdisziplin zu üben. Fasten ist eine Angelegenheit zwischen einem einzelnen Gläubigen und Gott und sollte nur aus dem Wunsch heraus durchgeführt werden, Gott zu gefallen. Es verliert seinen Wert, wenn es von außen auferlegt wird oder aus einem falschen Motiv heraus »vorgezeigt« wird.
N. Sammelt euch Schätze im Himmel (6,19-21) Dieser Abschnitt enthält einige der revolutionärsten – und der am meisten missachteten – Lehren unseres Herrn. Das Thema des zweiten Teils dieses Kapitels ist, wie man für die Zukunft vorsorgt.
6,19.20 In den Versen 19-21 widerspricht Jesus allem menschlichen Rat, wie man sich eine finanziell gesicherte Zukunft schafft. Wenn er sagt: »Sammelt euch nicht Schätze auf Erden«, dann will er damit sagen, dass Materielles niemals Sicherheit geben kann. Jede Art von materiellen Schätzen auf der Erde kann entweder von den Naturgewalten zerstört werden (Motte und Rost) oder von Dieben gestohlen werden. Jesus sagt, dass die einzigen Investitionen, die nie verloren gehen können, Schätze im Himmel sind.
6,21 Diese radikale Haltung gegenüber dem Geld beruht auf dem Grundsatz, dass dort, »wo dein Schatz ist, auch dein Herz sein wird«. Wenn Ihr Geld in einem Tresor liegt, dann sind Ihr Herz und Ihr Verlangen auch dort. Wenn Ihre Schätze jedoch im Himmel sind, dann werden sich Ihre Interessen auch um den Himmel drehen. Diese Lehre Jesu stellt uns vor die Entscheidung, ob er wirklich meinte, was er sagte. Wenn er es wirklich meinte, dann haben wir uns die Frage zu stellen: »Was sollen wir dann mit unseren irdischen Schätzen tun?« Wenn er es nicht so gemeint hat, dann sollten wir uns fragen: »Was machen wir hier mit der Bibel?« O. Die Lampe des Leibes (6,22.23)
6,22.23 Jesus war sich im Klaren darüber, dass es seinen Nachfolgern schwerfallen würde, die praktische Umsetzbarkeit seiner ungewöhnlichen Lehre über wahre Sicherh eit in der Zukunft zu erkennen. So benutzte er die Analogie des menschlichen Auges, um eine Lektion über geistliches Sehvermögen zu lehren. Er sagte, dass das Auge die Lampe des Leibes ist. Nur durch das Auge kann der Leib sehen und Licht aufnehmen. Wenn das Auge klar ist, dann wird der ganze Leib mit Licht durchf lutet. Aber wenn das Auge böse ist, dann ist die Sehkraft eingeschränkt. Statt Licht herrscht dann Finsternis. Die Anwendung ist folgende: Das gute Auge gehört dem Menschen, dessen Motive rein sind, der nur das Verlangen hat, Gottes Absichten zu dienen, und der gewillt ist, die Lehren Christi wörtlich zu nehmen. Sein ganzes Leben wird von Licht erfüllt sein. Er glaubt den Worten Jesu, gibt alle irdischen Reichtümer auf und sammelt sich einen Schatz im Himmel, und er weiß, dass dies die einzige wirkliche Sicherheit bietet. Auf der anderen Seite gehört das böse Auge einem Menschen, der versucht, für zwei Welten zu leben. Er will seine irdischen Reichtümer nicht loslassen, doch möchte er auch Schätze im Himmel haben. Die Lehre Jesu scheint in seinen Augen für die Praxis ungeeignet und nicht umsetzbar zu sein. Ihm fehlt deutliche Führung, weil er in der Dunkelheit ist.
Jesus fügt noch die Aussage hinzu: »Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß die Finsternis!« Mit anderen Worten, wenn Sie wissen, dass Christus Ihnen verbietet, Ihre Sicherheit auf irdische Reichtümer zu bauen, und es dennoch tun, dann wird die Lehre, der Sie nicht gehorcht haben, Finsternis – eine sehr starke Form geistlicher Blindheit. Sie können Reichtum dann nicht mehr in seiner wahren Bedeutung erkennen. P. Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon (6,24)
6,24 Die Unmöglichkeit, gleichzeitig für Gott und für das Geld zu leben, wird hier durch das Verhältnis von Herr und Sklave gesehen. »Niemand kann zwei Herren dienen.« Einer wird immer der sein, dem man mehr Gehorsam entgegenbringt. Genauso ist es mit Gott und dem Mammon. Sie stellen unterschiedliche Anforderungen, und wir haben uns zu entscheiden. Entweder müssen wir Gott an die erste Stelle setzen und die Herrschaft des Materialismus ablehnen, oder wir müssen für Zeitliches leben und Gottes Anspruch auf unser Leben ablehnen.
Q. Sorgt euch nicht (6,25-34)
6,25 In diesem Abschnitt zielt Jesus auf unsere Neigung, Essen und Kleidung zum Mittelpunkt unseres Lebens zu machen und so am wirklichen Sinn des Lebens vorbeizugehen. Das Problem dabei ist meist nicht so sehr, was wir heute essen und womit wir uns heute kleiden, sondern was wir in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren essen und womit wir uns dann kleiden werden. Solche Zukunftssorgen sind Sünde, weil sie die Liebe, Weisheit und Macht Gottes verneinen. Wir leugnen Gottes Liebe, indem wir zu verstehen geben, dass wir meinen, er sorge nicht für uns. Wir leugnen seine Weisheit, indem wir sagen, dass er nicht weiß, was er tut. Und wir stellen seine Macht infrage, indem wir erkennen lassen, dass er nicht imstande ist, für uns zu sorgen. Diese Art von Sorgen veranlasst uns, unsere besten Energien damit zu verschwenden, uns so abzusichern, dass wir genug zum Leben haben. Ehe wir uns aber darüber bewusst werden, ist unser Leben schon vergangen, und wir sind der wichtigsten Zweckbestimmung, für die wir geschaffen worden sind, nicht gerecht geworden. Als Gott uns nach seinem Bild erschuf, ging unsere Bestimmung weit darüber hinaus, nur leibliche Nahrung zu uns zu nehmen. Wir sind hier, um ihn zu lieben, ihn anzubeten, ihm zu dienen und seine Interessen auf dieser Erde zu vertreten. Unsere Leiber sollen unsere Knechte sein, nicht unsere Herren.
6,26 Die Vögel des Himmels zeigen Gottes Fürsorge für seine Geschöpfe. Sie sollen uns predigen, wie unnütz es ist, sich Sorgen zu machen. Sie säen nicht, noch ernten sie, und doch ernährt Gott sie. Da wir in Gottes Schöpfungshierarchie vorzüglicher als die Vögel sind, können wir sicherlich erwarten, dass Gott sich unserer Bedürfnisse annimmt. Aber wir sollten davon nicht ableiten, dass wir nicht arbeiten brauchten, um unsere gegenwärtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Paulus erinnert uns: »Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen« (2. Thess 3,10). Auch sollten wir daraus nicht schließen, dass es für einen Bauern falsch ist, zu säen, zu schneiden und zu ernten. Diese Tätigkeiten sind ein notwendiger Teil der Erfüllung seiner gegenwärtigen Bedürfnisse. Jesus verbietet hier, viele Scheunen zu bauen, um sich eine sichere Zukunft unabhängig von Gott aufzubauen (eine Praxis, die er in seiner Geschichte vom reichen Kornbauern in Lukas 12,16-24 verurteilt). In den Anmerkungen des Bibellesebundes wird Vers 26 treffend zusammengefasst: Die Begründung lautet, dass Gott, der niedere Kreaturen ohne ihre wissentliche Beteiligung erhält, umso mehr diejenigen durch ihre aktive Mithilfe erhält, um derentwillen er die Schöpfung gemacht hat.
6,27 Zukunftssorgen verunehren Gott nicht nur – sie sind auch unnötig. Der Herr zeigt das durch die Frage: »Wer aber unter euch kann mit Sorgen seiner Größe (Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel) eine Elle zusetzen?« Ein kleiner Mensch kann sich selbst nicht 30 cm größer machen, indem er sich sorgt. Und in gewisser Hinsicht wäre es sicherlich einfacher, dies durch Sorgen zu erreichen, als alles, was man für die Zukunft braucht, herbeizusorgen.
6,28-30 Als Nächstes beschäftigt sich der Herr mit der Unvernunft der Sorge, dass wir in Zukunft nicht genug anzuziehen haben. Die Lilien des Feldes (wahrscheinlich ist hier eine wilde Anemonenart gemeint) »mühen sich nicht, auch spinnen sie nicht«. Dennoch übersteigt ihre Schönheit die Anmut der königlichen Kleider Salomos. Wenn Gott für eine wilde Blume ein solch elegantes Kleid schaffen kann, die doch nicht lange lebt und die man schließlich im Ofen verbrennt, damit man Brot backen kann, dann wird er sicherlich für sein Volk sorgen, das ihn anbetet und ihm dient.
6,31.32 Die Schlussfolgerung lautet, dass wir unser Leben nicht in ängstlichem Sorgen für zukünftiges Essen, Trinken und Kleidung verbringen sollen. Die unbekehrten Heiden leben für die verrückte Anhäufung von materiellen Gütern, als ob Essen und Kleidung das ganze Leben wären. Aber so sollte es bei Christen nicht sein, deren himmlischer Vater ihre Grundbedürfnisse kennt. Wenn Christen sich zum Ziel setzen würden, für alle ihre zukünftigen Bedürfnisse im Voraus zu sorgen, dann würde ihre ganze Zeit und Energie der Anhäufung von Finanzreserven dienen müssen. Sie können nie sicher sein, dass sie genug gespart haben, weil es immer die Gefahr einer Wirtschaftskrise, der Inflation, einer Katastrophe, einer langen Krankheit oder eines Unfalls gibt, der sie als körperlich Versehrte zurücklässt. Dies bedeutet, dass die Angehörigen des Volkes Gottes ihm den Dienst vorenthalten würden, dem sie ihm schuldig sind. Das wirkliche Ziel, wofür sie geschaffen und bekehrt wurden, würde verfehlt werden. Männer und Frauen, die sich durch Gottesebenbildlichkeit auszeichnen, würden für eine unsichere Zukunft auf dieser Erde leben, während sie doch so leben sollten, dass sie die Werte der Ewigkeit im Blick haben.
6,33 Der Herr schließt deshalb mit seinen Nachfolgern einen Bund. Er sagt im Grunde: »Wenn du Gottes Interessen an die erste Stelle in deinem Leben stellst, dann werde ich für die Erfüllung deiner zukünftigen Bedürfnisse sorgen. Wenn du zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachtest, dann werde ich darauf achten, dass es dir nie an dem fehlt, was zum Leben notwendig ist.«
6,34 Das ist Gottes »Sozialversicherung«. Die Verantwortung des Gläubigen besteht darin, für den Herrn zu leben und in Bezug auf die Zukunft in dem unerschütterlichen Vertrauen auf Gott zu leben, dass er alles Nötige geben wird. Unsere Aufgabe ist es, einfach für unsere gegenwärtigen Bedürfnisse zu sorgen, alles andere sollte in das Werk des Herrn investiert werden. Wir werden aufgerufen, nur für den heutigen Tag zu leben: »Der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.«
R. Richtet nicht (7,1-6) Dieser Abschnitt über das Richten folgt direkt auf Jesu provokante Lehren über den Reichtum. Die Verbindung dieser beiden Themen ist wichtig. Es ist leicht für den Christen, der alles aufgegeben hat, reiche Christen zu kritisieren. Andererseits gibt es Christen, die ihre Pflicht, für die zukünftigen Bedürfnisse ihrer Familie vorzusorgen, ernst nehmen und dazu neigen, den wörtlichen Gehorsam derer herunterzuspielen, denen diese letzten Worte Jesu sehr am Herzen liegen. Da aber niemand völlig aus dem Glauben lebt, ist solche Kritik nicht angebracht. Dieses Gebot, nicht zu richten, beinhaltet die folgenden Bereiche: Wir sollten nicht über die Motivation and erer richten, denn nur Gott kennt sie; wir sollten nicht nach dem Äußeren richten (Joh 7,24; Jak 2,1-4); wir sollten diejenigen nicht richten, die sich aus Dingen ein Gewissen machen, die an sich weder gut noch böse sind (Röm 14,1-5); wir sollten nicht den Dienst anderer Christen richten (1. Kor 5,1-5); und wir sollten unsere Mitchristen nicht richten, indem wir schlecht über sie sprechen (Jak 4,11.12).
7,1 Manchmal werden diese Worte von Menschen missverstanden, die aus ihnen herauslesen, dass alle Formen des Richtens verkehrt seien. Ganz gleich, was geschieht, sie sagen in ihrer Frömmigkeit: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« Aber Jesus lehrt nicht, dass wir nicht mehr unterscheiden sollen. Er wollte nie, dass wir unsere Fähigkeit, Dinge kritisch zu durchdenken und zu unterscheiden, aufgeben sollten. Das NT kennt viele Fälle von gerechtfertigtem Gericht über den Zustand, das Verhalten oder die Lehre anderer. Außerdem gibt es verschiedene Gebiete, auf denen dem Christ sogar geboten ist, eine Entscheidung zu treffen, zwischen Gut und Böse oder zwischen dem Guten und dem Besten zu unterscheiden. Dazu gehören: 1. Wenn sich Streitfragen unter Gläubigen ergeben, dann sollten sie in der Gemeinde vor Gliedern geklärt werden, die in diesem Fall entscheiden können (1. Kor 6,1-8). 2. Die Ortsgemeinde soll schwere Sünden ihrer Glieder richten und entsprechende Maßnahmen ergreifen (Matth 18,17; 1. Kor 5,9-13). 3. Gläubige sollen die Lehre von Predigern und Lehrern am Wort Gottes messen  (Matth  7,15-20;  1. Kor  14,29; 1. Joh 4,1). 4. Christen müssen herausfinden, ob andere wirklich gläubig sind, damit sie dem Gebot von Paulus in 2. Korinther 6,14 gehorchen können. 5. Die Gemeindeglieder sollen erkennen, welche Männer die notwendigen Eigenschaften haben, um Älteste und Diakone zu werden (1. Tim 3,1-13). 6. Wir haben zu entscheiden, welche Menschen unordentlich, kleinmütig oder schwach sind, um mit ihnen entsprechend den Anweisungen der Bibel zu verfahren (1. Thess 5,14).
7,2 Jesus warnte, dass ungerechtes Gericht auf gleiche Weise zurückgezahlt würde: »Denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.« Dieses Prinzip, demzufolge man erntet, was man sät, findet sich in allen menschlichen Angelegenheiten und im ganzen Leben wieder. Markus wendet das Prinzip auf unsere Aneignung des Wortes Gottes (Mk 4,24) und Lukas auf unsere Bereitschaft zum Geben an (Lk 6,38).
7,3-5 Jesus stellte unsere Neigung heraus, den kleinsten Fehler bei anderen zu entdecken, während wir den gleichen Fehler bei uns übersehen. Er überspitzte die Situation absichtlich (er benutzte eine sprachliche Ausdrucksweise, die man Übertreibung nennt), um die Sache auf den Punkt zu bringen. Jemand, der selbst einen Balken im Auge hat, nimmt oft Anstoß an dem Splitter im Auge eines anderen und verkennt dabei seine eigene Situation. Es ist Heuchelei zu meinen, wir könnten jemandem bei einem Fehler helfen, wenn wir selbst einen noch größeren Fehler haben. Wir müssen unsere eigenen Fehler beseitigen, ehe wir sie an anderen kritisieren können.
7,6 Vers 6 zeigt, dass Jesus nicht jede Form des Richtens verurteilt. Er warnte seine Jünger davor, Heiliges den Hunden zu geben und Perlen vor die Schweine zu werfen. Im Rahmen des mosaischen Gesetzes waren Hunde und Schweine unreine Tiere. Diese Ausdrücke werden hier benutzt, um böse Menschen zu bezeichnen. Wenn wir schlechten Menschen begegnen, die göttliche Wahrheiten ausgesprochen verachtungsvoll mit Füßen treten und auf unsere Predigt über die Ansprüche Christi mit Schmähungen oder sogar Gewalt reagieren, sind wir nicht mehr verpflichtet, ihnen noch weiter das Evangelium zu bringen. Wenn wir hier weitermachen, bringen wir nur noch schlimmere Verdammnis über diese Menschen.
Man braucht hier sicher nicht zu betonen, dass man geistliche Unterscheidungsgabe benötigt, um diese Menschen herauszufinden. Vielleicht beschäftigen sich deshalb die nächsten Verse mit dem Gebet, in dem wir z. B. um Weisheit bitten können.
S. Anhaltend bitten, suchen und anklopfen (7,7-12)
7,7.8 Wenn wir denken, dass wir die Lehren der Bergpredigt durch unsere eigene Kraft ausleben können, dann haben wir das übernatürliche Wesen des Lebens, zu dem uns der Heiland aufruft, nicht verstanden. Die Weisheit oder Kraft für ein solches Leben muss uns von oben gegeben werden. So werden wir hier eingeladen, zu bitten und immer wieder zu bitten, zu suchen und immer wieder zu suchen und zu klopfen und immer wieder zu klopfen. Weisheit und Kraft für das christliche Leben werden denen gegeben, die ernsthaft und anhaltend dafür beten. Wenn wir die Verse 7 und 8 aus ihrem Kontext reißen, dann könnte man meinen, dass wir hier einen Blankoscheck für Gläubige haben, als ob sie alles bekommen, worum sie bitten. Aber das ist schlicht und einfach falsch. Die Verse müssen in ihrem unmittelbaren Zusammenhang und im Licht der ganzen biblischen Lehre vom Gebet gesehen werden. Deshalb wird das, was hier als unbegrenzte Zusage erscheint, durch andere Stellen beschränkt. In Psalm 66,18 erfahren wir zum Beispiel, dass im Leben des Beters keine Sünde sein darf, die er Gott nicht bekannt hat. Der Christ muss im Glauben (Jak 1,6-8) und in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes beten (1. Joh 5,14). Das Gebet muss ausdauernd (Lk 18,1-8) und aufrichtig sein (Hebr 10,22a).
7,9.10 Wenn die Bedingungen für Gebet erfüllt sind, dann kann der Christ die völlige Gewissheit haben, dass Gott hört und antwortet. Diese Verheißung hat ihren Grund in Gottes Eigenschaften, der unser Vater ist. Auf rein menschlicher Ebene wissen wir: Wenn ein Sohn um Brot bittet, gibt sein Vater ihm keinen Stein. Er würde ihm auch keine Schlange geben, wenn er um einen Fisch gebeten hat. Ein irdischer Vater würde seinen hungrigen Sohn weder betrügen noch ihm irgendetwas geben, das ihm Schmerzen bereitet.
7,11 Der Herr schließt hier vom Geringeren auf das Höhere. Wenn menschliche Eltern die Bitten ihrer Kinder mit dem beantworten, was für sie am besten ist, wie viel mehr wird unser Vater, der in den Himmeln ist, so handeln!
7,12-16 als eine Lehre, die die Scheidung erlaubt, wenn ein Gläubiger von einem ungläubigen Ehepartner verlassen wird. Paulus sagt, dass der übrig gebliebene Partner in diesem Fall »nicht gebunden« ist, d. h. er oder sie ist frei, eine Scheidung zu erlangen. Nach Meinung des Autors dieses Kommentars ist hier der gleiche Fall wie in Matthäus 5 und 19 gemeint ist, dass nämlich der Ungläubige weggeht, um mit jemand anders zusammenzuleben. Deshalb kann dem Gläubigen eine Scheidung nur dann gewährt werden, wenn der andere Partner Ehebruch begeht. Es wird oft behauptet, dass Scheidung im NT zwar erlaubt sei, aber die Wiederheirat nicht erwähnt wird. Dennoch geht das Argument an der Fragestellung vorbei. Wiederheirat des unschuldigen Teiles wird im NT nicht verurteilt – nur bei dem, der den Anlass zur Scheidung gegeben hat. Außerdem ist einer der Hauptgründe für schriftgemäße Scheidung die Möglichkeit zur Wiederheirat, sonst würde ja eine einfache Trennung ausreichen. In jeder Diskussion dieses Themas kommt unausweichlich die Frage auf: »Was ist mit den Menschen, die sich scheiden ließen, ehe sie gläubig wurden?« Es sollte keine Frage sein, dass ungesetzliche Scheidungen und Wiederverheiratungen vor der Bekehrung Sünden sind, die vollständig vergeben worden sind (so nennt z. B. Paulus in 1. Kor 6,11 den Ehebruch unter denjenigen Sünden, die die Korinther in ihrem früheren Leben begangen haben). Sünden vor der Bekehrung sollten den Gläubigen nicht von einer vollen Teilnahme am Gem eindel eben ausschließen.
Eine schwierigere Frage betrifft Christen, die sich aus schriftwidrigen Gründen scheiden lassen und dann wieder heiraten. Können sie wieder in die Gemeinschaft der Gemeinde aufgenommen werden? Die Antwort beruht darauf, ob ein Fehltritt in Form eines einmaligen Ehebruchs oder ein weiterhin bestehendes ehebrecherisches Verhältnis vorliegt. Wenn dieses Paar im Ehebruch lebt, dann müssten sie nicht nur ihre Sünde bekennen, sondern auch ihren gegenwärtigen Partner verlassen. Aber Gottes Lösung für ein Problem besteht nie darin, schwierigere Probleme als vorher aufzuwerfen. Wenn Menschen, um einen ehelichen Konflikt zu entwirren, in Sünde getrieben oder Frau und Kinder ohne Geld und Obdach zurückgelassen würden, dann wäre die Heilung schlimmer als die Krankheit. Nach der Meinung des Autors können Christen, die sich unschriftgemäß haben scheiden lassen und dann wieder geheiratet haben, echte Buße von ihrer Sünde tun und wieder in die Gemeinschaft des Herrn und der Gemeinde aufgenommen werden. In Scheidungsfragen liegt fast jeder Fall anders. Deshalb müssen die Ältesten einer Gemeinde jeden Fall einzeln untersuchen und ihn gemäß dem Wort Gottes beurteilen. Wenn einmal Gemeindezucht geübt werden muss, dann sollten sich alle Beteiligten der Entscheidung der Ältesten unterordnen.
G. Jesus verurteilt das Schwören (5,33-37)
7,12 Die Verbindung des vorhergehenden Verses mit diesem Vers scheint folgende zu sein: Weil unser Vater der Geber guter Gaben an uns ist, sollten wir ihn nachahmen, indem auch wir zu anderen freundlich sind. Durch die Frage, ob wir etwas selbst möchten, wenn es jemand anders für uns täte, können wir herausfinden, ob es anderen guttun würde. Die »goldene Regel« wurde in negativer Form schon mindestens hundert Jahre vor Christus durch Rabbi Hillel aufgestellt. Doch indem Jesus diesen Satz positiv fasste, ging er über ihn hinaus, indem er passive Zurückhaltung durch aktives Wohlwollen ersetzt. Christentum bedeutet nicht, sich nur der Sünde zu enthalten, es bedeutet aktives gutes Handeln. Dieser Ausspruch Jesu enthält »das Ge setz und die Propheten«, das heißt, er fasst die moralischen Lehren des Ges etzes Mose und die Schiften der Prop heten Is raels zusammen. Die Gerechtigkeit, die vom AT gefordert wurde, wird durch be kehrte Gläubige erfüllt, die auf diese Weis e im Geist wandeln (Röm 8,4). Würde dies er Vers überall befolgt werden, dann würd e er alle Gebiete internationaler Beziehungen, der Politik eines Volkes sowie des Familien- und Gemeindel ebens verändern. T. Der schmale Weg (7,13.14)
7,13.14 Der Herr warnt uns hier, dass die Pforte der christlichen Jüngerschaft eng und der Weg schwer ist.9 Aber diejenigen, die seiner Lehre treu folgen, werden überfließendes Leben finden. Andererseits gibt es die weite Pforte – ein selbstund vergnügungssüchtiges Leben. Das Ende eines solchen Lebens ist das Verderben. Hier wird nicht davon geredet, dass man seine Seele verlieren könnte, sondern dass man es versäumt, dem Plan Gottes entsprechend zu leben.
Diese Verse haben auch eine Anwendung auf das Evangelium, indem sie die zwei Wege und Schicksale der Menschheit bildlich darstellen. Die weite Pforte und der breite Weg führen zum Verderben (Spr 16,25). Die enge Pforte und der schmale Weg führen zum Leben. Jesus ist Tür (Joh 10,9) und Weg (Joh 14,6). Aber diese Deutung ist eine zwar mögliche Anwendung des Abschnittes, die eigentliche Auslegung bezieht sich jedoch auf Gläubige. Jesus sagt, dass in seiner Nachfolge Glauben, Disziplin und Ausdauer erforderlich sind. Aber dieses schwierige Leben ist als einziges Dasein wirklich lebenswert. Wenn man den einfachen Weg einschlägt, dann wird man in großer Gesellschaft sein, doch dann wird Gott auch seine besten Absichten mit uns nicht verwirklichen können.
U. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen (7,15-20)
7,15 Wo immer die harten Anforderungen wahrer Jüngerschaft gelehrt werden, gibt es falsche Propheten, die die weite Pforte und den breiten Pfad propagieren. Sie verwässern die Wahrheit, bis »nicht mehr genug übrig bleibt, um eine Suppe für einen kranken Grashüpfer zuzubereiten«, wie Spurgeon sich ausdrückte. Diese Menschen, die angeblich im Namen Gottes reden, kommen in Schafskleidern und erwecken den Anschein, wahre Gläubige zu sein. Aber innerlich sind sie reißende Wölfe, d. h. sie sind Ungläubige, die die Unreifen, Ungefestigten und die Verführbaren »erbeuten« wollen.
7,16-18 Die Verse 16-18 befassen sich mit der Enttarnung falscher Propheten: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.« Ihr lasterhaftes Leben und ihre zerstörerischen Lehren verraten sie. Dornen können keine Trauben bringen und Disteln keine Feigen. Ein guter Baum bringt gute Frucht, während ein schlechter Baum schlechte Frucht hervorbringt. Dieses Prinzip gilt in der materiellen wie in der geistlichen Welt. Das Leben und die Lehre derer, die von sich behaupten, für Gott zu sprechen, sollten am Wort Gottes gemessen werden: »Wenn sie nicht nach diesem Wort sprechen, dann gibt es für sie keine Morgenröte« (Jes 8,20).
7,19.20 Die Bestimmung dieser falschen Propheten wird darin bestehen, ins Feuer geworfen zu werden. Die Zukunft falscher Lehrer und Propheten wird »schnelles  Verderben  sein«  (2. Petr  2,1). Sie können an ihren Früchten erkannt werden.
V. Ich habe euch niemals gekannt (7,21-23)
7,21 Der Herr Jesus warnt vor Menschen, die fälschlicherweise bekennen, ihn als Retter anzuerkennen, sich jedoch nie bekehrt haben. Nicht jeder, der Jesus »Herr, Herr« nennt, »wird in das Reich der Himmel hineinkommen«. Nur diejenigen, die den Willen Gottes tun, werden in das Reich kommen. Der erste Schritt, den Willen Gottes zu tun, ist der Glaube an den Herrn Jesus (Joh 6,27).
7,22.23 Am Tag des Gerichtes, wenn viele Ungläubige vor Jesus stehen werden (Offb 20,11-15), werden viele ihn daran erinnern, dass sie geweissagt, Dämonen ausgetrieben oder viele Wunderwerke getan haben – und zwar in seinem Namen. Aber ihre Einsprüche werden vergeblich sein. Jesus wird ihnen erklären müssen, dass er sie nie gekannt oder als sein Eigentum anerkannt hat. Aus diesen Versen können wir lernen, dass nicht alle Wunder göttlicher Natur sein müssen und nicht alle Wundertäter göttliche Vollmacht haben. Ein Wunder bedeutet nur, dass übernatürliche Kräfte am Werk sind. Die Mächte können göttlichen oder satanischen Ursprungs sein. Satan kann seine Anhänger dazu ermächtigen, Dämonen zeitweilig auszutreiben, um die Illusion zu erwecken, dass das Wunder göttlich ist. Er entzweit sich in diesem Fall nicht mit sich selbst, sondern plant für die Zukunft eine noch schlimmere Besessenheit durch Dämonen. W. Baut auf den Fels (7,24-29)
7,24.25 Jesus schließt seine Predigt mit einem Gleichnis, das die Bedeutung des Gehorsams betonen soll. Es ist nicht genug, diese Worte zu hören, wir müssen sie in die Praxis umsetzen. Der Jünger, der hört und Jesu Gebote erfüllt, ist wie ein weiser Mann, der sein Haus auf Felsen baut. Sein Haus (Leben) hat ein festes Fundament, das auch dann nicht fallen wird, wenn es von Wind und Regen umtost wird.
7,26.27 Derjenige, der Jesu Worte hört, sie aber nicht tut, ist wie ein törichter Mann, der sein Haus auf den Sand baut. Dieser Mensch wird den Stürmen des Lebens nicht trotzen können: »Und der Platzregen fiel herab, … und die Winde wehten und stießen an jenes Haus; und es fiel, und sein Fall war groß.« Wenn ein Mensch gemäß den Prinzipien der Bergpredigt lebt, dann nennt die Welt ihn einen Narren, aber Jesus nennt ihn einen weisen Menschen. Die Welt meint, dass ein weiser Mensch jemand ist, der für das Sichtbare, für die Gegenwart und für sich selbst lebt, doch Jesus nennt einen solchen Menschen einen Narren. Es ist legitim, den weisen und den törichten Baumeister zu benutzen, um das Evangelium zu verdeutlichen. Der Weise setzt all sein Vertrauen auf den Felsen, Jesus Christus, den Herrn und Heiland. Der törichte Mann will sich nicht bekehren und lehnt Jesus, die einzige Hoffnung auf Errettung, ab. Aber die Sinndeutung des Gleichnisses reicht weit über die Rettung hinaus und bezieht sich auf die praktische Verwirklichung im christlichen Leben.
7,28.29 Als unser Herr seine Predigt vollendet hatte, waren die Menschen sehr erstaunt. Wenn wir die Bergpredigt lesen und nicht über ihr revolutionäres Wesen staunen, dann haben wir irgendetwas nicht verstanden.
Die Menschen erkannten, dass ein Unterschied zwischen der Lehre Jesu und den Worten der Schriftgelehrten bestand. Er sprach mit Vollmacht, ihre Worte waren machtlos. Er hatte eine Stimme, sie waren nur ein Echo. Jamieson, Fausset und Brown kommentieren das so: Das Bewusstsein göttlicher Autorität als Gesetzgeber, Ausleger und Richter bestimmte seine Predigt so sehr, dass die Lehre der Pharisäer in diesem Licht nur noch als Geschwätz erscheinen musste.10
V. Die Machttaten und Gnadenwunder des Messias. Die verschiedenen Reaktionen darauf (8,1 – 9,34) In den Kapiteln 8 – 12 beweist der Herr Jesus dem Volk Israel, dass er wirklich der Messias ist, von dem die Propheten geschrieben haben. Jesaja hatte zum Beispiel vorhergesagt, dass der Messias die Augen der Blinden sowie die Ohren der Tauben öffnen und die Stummen zum Jauchzen bringen werde (Jes 35,5.6). Jesus bewies, dass er der Messias ist, indem er alle diese Prophezeiungen erfüllte. Die Angehörigen des Volkes Israel hätten keinerlei Schwierigkeiten haben sollen, ihn als Christus zu erkennen, weil sie ihn in den Schriften angekündigt finden konnten. Doch niemand ist so blind wie derjenige, der nicht sehen will. Die Ereignisse, die in diesen Kapiteln aufgezeichnet sind, sind eher thematisch als in einer streng chronologischen Reihenfolge geordnet. Wir haben es nicht mit einem vollständigen Bericht des Dienstes des Herrn zu tun, sondern mit einer Anzahl von Ereignissen, die der Heilige Geist ausgewählt hat, um bestimmte Motive im Leben unseres Retters wiederzugeben. Wir finden in dieser Auswahl Folgendes:
1. Christi absolute Herrschaft über Krankheit, Dämonen, Tod und die Naturgewalten.
2. Sein Anspruch auf absolute Herrschaft im Leben derer, die ihm folgen wollen.
3. Die steigende Ablehnung Jesu durch das Volk Israel, insbesondere durch seine religiösen Führer. 4. Die bereitwillige Annahme des Heilands durch einzelne Heiden. A. Macht über den Aussatz (8,1-4)
8,1 Obwohl die Lehre Jesu radikal war und alle bisherigen lehrmäßigen Horizonte sprengte, hatte sie doch eine so große Anziehungskraft, dass ihm »große Volksmengen« folgten. Die Wahrheit bestätigt sich selbst, und Menschen können sie nie wieder vergessen, auch wenn sie diese nicht mögen.
8,2 Ein Aussätziger kniete vor Jesus nieder und bat ihn verzweifelt um seine Heilung. Dieser Aussätzige hatte den Glauben, dass der Herr ihn heilen könne, und wahrer Glaube wird nie enttäuscht. Aussatz ist ein gutes Bild für die Sünde, denn er ist abstoßend, zerstörerisch, ansteckend und, in einigen Formen, menschlich gesprochen unheilbar.11
8,3 Aussätzige waren Unberührbare. Direkter Kontakt mit ihnen konnte ansteckend sein. Im Falle der Juden machte eine solche Berührung den Betreffenden zeremoniell unrein, das heißt unf ähig zum Gottesdienst in der Gemeinde Israels. Aber als Jesus den Aussätzigen berührte und die Worte im Blick auf Heilung sprach, verschwand der Aussatz sofort. Unser Herr hat die Macht, von Sünde zu reinigen und den Gereinigten so zum Gottesdienst und zur Anbetung zu befähigen.
8,4 Hier wird zum ersten Mal im Matthäusevangelium erwähnt, dass Jesus befahl, ein Wunder sollte nicht weitererzählt werden (s. a. Kap. 9,30; 12,16; 17,9; Mk 5,43; 7,36; 8,26). Das geschah sicher, weil der Herr sich bewusst war, dass viele Menschen, die nur daran interessiert waren, vom Joch der Römerherrschaft befreit zu werden, ihn zum König machen wollten. Aber er wusste, dass Israel noch immer unbußfertig war, das Volk seine geistliche Führerschaft ablehnen würde und er zuerst ans Kreuz gehen musste. Unter dem Gesetz des Mose war der Priester auch Arzt. Wenn ein Aussätziger gereinigt war, musste er ein Opfer bringen und vor dem Priester erscheinen, um  rein  gesprochen  zu  werden  (3. Mo   se 14,4-6). Jesus befahl dem Aussätzigen in diesem Fall, dem Gesetz zu gehorchen. Es war ohne Zweifel ein seltener Fall, dass ein Aussätziger gereinigt wurde. Dies war ein so außergewöhnl iches Geschehen, dass es den Priester zu einer Unters uchung im Blick darauf, ob nicht doch der Messias gekommen sei, hätte ver anlassen müssen.
Die geistliche Deutung dieses Wunders ist klar: Der Messias war mit seiner Heilungsmacht nach Israel gekommen, um das Volk zu heilen. Er wies dieses Wunder als einen seiner »Ausweise« vor. Aber das Volk war noch nicht bereit, seinen Retter anzunehmen.
B. Macht über Lähmung (8,5-13)
8,5.6 Der Glaube eines heidnischen Hauptmannes wird als erschütternder Kontrast zur mangelnden Bereitschaft Israels dargestellt, seinen Heiland anzunehmen. Wenn Israel nicht gewillt war, seinen König anzuerkennen, dann würden es eben die verachteten Heiden tun. Der Hauptmann war ein römischer Militärbeamter, der über etwa hundert Mann zu befehlen hatte. Seine Einheit war in oder bei Kapernaum stationiert. Er trat zu Jesus, um Heilung für seinen Diener zu erbitten, der unter einer schweren und schmerzhaften Lähmung litt. Dies war ein seltener Beweis von Mitleid – die meisten Beamten hätten niemals so viel Fürsorge für einen Diener übrig gehabt.
8,7-9 Als der Herr Jesus anbot, den kranken Diener zu besuchen, zeigte der Hauptmann die Echtheit und Tiefe seines Glaubens. Er sagte im Grunde: »Ich bin nicht würdig, dass du in mein Haus kommst. Aber es ist sowieso nicht nötig, weil du ihn ganz einfach heilen kannst, indem du ein Wort sprichst. Ich weiß, was Befehlsgewalt ist. Ich nehme Befehle von meinen Vorgesetzten an und gebe sie an meine Untergebenen weiter. Meine Befehle werden genau aus geführt. Wie viel mehr Macht würden deine Worte bei der Krankheit meines Knechtes haben!«
8,10-12 Jesus wunderte sich über den Glauben dieses Heiden. Es kommt nur zweimal vor, dass Jesus sich über etwas wundert; hier ist das erste Mal, das andere Mal wundert er sich über den Unglauben der Juden (Mk 6,6). Er hatte solch großen Glauben selbst in Israel nicht gefunden. Deshalb kündigte er nun an, dass in seinem zukünftigen Reich Heiden aus der ganzen Welt die Gemeinschaft mit den jüdischen Patriarchen genießen würden, während die Söhne des Reiches in die äußere Finsternis hinausgeworfen werden würden, wo sie heulen und mit den Zähnen knirschen würden. Die Söhne des Reiches sind diejenigen, die durch Geburt Juden waren. Sie bekannten, dass sie Gott als König anerkennen würden, hatten sich jedoch niemals wirklich bekehrt. Das Prinzip gilt auch noch heute. Viele Kinder, die das Privileg haben, in christlichen Familien geboren zu werden und dort aufzuwachsen, werden trotzdem nicht vor der Hölle bewahrt bleiben, weil sie Jesus abgelehnt haben, während Wilde aus dem Urwald die ewige Herrlichkeit des Himmels genießen dürfen, weil sie der Botschaft des Evangeliums geglaubt haben.
8,13 »Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin, dir geschehe, wie du geglaubt hast.« Glaube wird nach Maßgabe des Vertrauens auf die Eigenschaften Gottes belohnt. Der Diener wurde sofort geheilt, obwohl Jesus weit entfernt war. Wir können darin ein Bild für den gegenwärtigen Dienst Christi sehen, der die nicht bevorzugten Heiden von der Lähmung der Sünde heilt, obwohl er selbst nicht mehr körperlich anwesend ist. C. Macht über das Fieber (8,14.15)
8,14.15 Als er in das Haus des Petrus kommt, findet er die Schwiegermutter von Petrus fieberkrank daniederliegen. »Er rührte ihre Hand an, und das Fieber« verschwand. Normalerweise ist ein Mensch sehr geschwächt, wenn das Fieber ihn verlässt, aber diese Heilung war so direkt und so vollständig, dass sie in der Lage war, aufzustehen und ihm zu dienen – ein passender Ausdruck ihrer Dankbarkeit dem Retter gegenüber. Wir sollten sie nachahmen, wann immer wir geheilt werden, und ihm mit neuer Hingabe und neuem Eifer dienen. D. Macht über Dämonen und verschiedene Krankheiten (8,16.17)
8,16.17 Am Abend, als der Sabbat vorbei war (s. Mk 1,21-34), brachten die Leute viele Besessene zu ihm. Diese bedauernswerten Menschen wurden von bösen Geistern beherrscht und kontrolliert. Oft ließen sie übersinnliches Wissen und Kräfte erkennen, andere wiederum wurden gequält. Ihr Verhalten ähnelte manchmal dem Gebaren von Geisteskranken, aber die Ursache war hier dämonisch und nicht körperlich oder geistig. Jesus »trieb die Geister aus mit seinem Wort«. Auch heilte er alle Leidenden und erf üllte damit die Prophezeiung von Jes aj a 53,4: »Er selbst nahm unsere Schwachh eiten und trug unsere Krankheiten.« Vers 17 wird oft von sogenannten »Glaubensheilern« benutzt, um zu zeigen, dass Heilung zum Sühnungswerk Jesu gehörte und körperliche Heilung deshalb vom Gläubigen durch den Glauben in Anspruch genommen werden kann. Aber hier wendet der Geist Gottes die Prophezeiung nur auf den Heilungsdienst Jesu auf Erden und nicht auf seinen Kreuzestod an.
In diesem Kapitel haben wir die vier folgenden Wunder gesehen: 1. Heilung des jüdischen Aussätzigen, Jesus ist anwesend.
2. Heilung des Dieners des Hauptmanns, Jesus ist nicht am Ort des Geschehens.
3. Heilung der Schwiegermutter des Petrus, Jesus ist im Haus. 4. Heilung aller Kranken und Besessenen in der Anwesenheit Jesu. Gaebelein meint, dass diese vier Wunder Phasen im Dienst unseres Herrn bedeuten:
1. Christi erstes Kommen, sein Dienst an seinem Volk Israel.
2. Die Haushaltung der Nationen (Heiden), Jesus ist abwesend. 3. Seine Wiederkunft, wenn er das »Haus« betreten, seine Beziehung zu Israel wiederherstellen und die kranke Tochter Zion heilen wird. 4. Das Tausendjährige Reich, in dem alle Besessenen und Kranken geheilt werden.12
Das ist eine faszinierende Gliederung der fortschreitenden Unterweisung anhand der Wunder und sollte uns ermutigen, die verborgenen Tiefen der Bedeutung in der Heiligen Schrift zu erforschen. Wir sollten uns jedoch davor warnen lassen, diese Methode zu extrem zu be treiben, indem wir Bedeutungen, die einfach lächerlich sind, in irgendetwas hineinlesen.
E. Das Wunder der menschlichen Ablehnung (8,18-22)
Wir haben gesehen, wie Christus seine Macht über Krankheit und Dämonen ausübte. Nur wenn er Männern und Frauen begegnet, stößt er auf Widerstand – das Wunder der menschlichen Ablehnung.
8,18-20 Als Jesus sich bereit machte, den See Genezareth von Kapernaum aus ostwärts zu überqueren, kam ein selbstbewusster Schriftgelehrter auf ihn zu und versprach ihm, sein Jünger zu sein, indem er zu ihm sagte: »Ich will dir nachfolgen, wohin du auch gehst.« In seiner Antwort forderte der Herr ihn auf, die Kosten, nämlich ein Leben in Selbstverleugnung, zu überschlagen. »Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege.« Während seines öffentlichen Dienstes hatte Jesus kein eigenes Haus, doch gab es Häuser, in denen er ein willkommener Gast war und oft übernachtete. Die eigentliche Bedeutung seiner Worte scheint jedoch geistlich zu sein: Diese Welt konnte ihm keinen wirklichen, dauernden Ruheort bieten. Er hatte sein Werk zu vollbringen und konnte nicht ruhen, bis es vollendet war. Dasselbe gilt für seine Nachfolger: Diese Welt ist kein Ruheort für sie – sie sollte es zumindest nicht sein!
8,21 Ein anderer wohlmeinender Nachfolger drückte seinen Willen zur Nachfolge aus, hatte jedoch noch etwas Wichtigeres zu erledigen: »Herr, erlaube mir, vorher hinzugehen und meinen Vater zu begraben.« Es ist nicht so entscheidend, ob der Vater bereits gestorben ist oder nicht. Das Grundproblem wird in der Widersprüchlichkeit der Worte: »Herr, … mir vorher« (oder »ich zuerst«) deutlich. Er stellte seine eigenen Interessen vor die Angelegenheiten Christi. Es ist zwar völlig in Ordnung, für seinen Vater ein ordentliches Begräbnis zu organisieren, doch es wird falsch, wenn solch eine ehrenwerte Handlung die Priorität über den Ruf des Heilands erhält.
8,22 Jesus antwortete ihm im Grunde: »Deine erste Pflicht ist es, mir nachzufolgen. Lass die geistlich Toten die körperlich Toten begraben. Auch ein unerretteter Mensch kann das erledigen. Aber es gibt Aufgaben, die nur du allein ausführen kannst. Opfere deine beste Kraft für Ewiges. Verschwende sie nicht für Nebensächliches.« Uns wird hier nicht erzählt, wie diese beiden Jünger reagierten. Aber sehr wahrscheinlich verließen sie Christus, um sich einen bequemeren Platz in der Welt zu sichern und ihr Leben damit zu verbringen, untergeordnete Dinge zu tun. Aber ehe wir sie verurteilen, sollten wir uns selbst prüfen, wie wir auf die beiden Forderungen an die Jüngerschaft reagieren, die Jesus in diesem Abschnitt betont hat.
F. Macht über die Naturgewalten (8,23-27)
8,23-27 Der See Genezareth ist für plötzliche starke Stürme bekannt, die das Gewässer in einen aufgewühlten See verwandeln. Die Winde kommen von Norden das Jordantal herunter und werden durch die Tatsache beschleunigt, dass die Ufer zum See hin steil abfallen. Wenn sie den See erreichen, wird dieser für Schiffe und Boote äußerst unsicher. In dieser Begebenheit fuhr Jesus vom West- zum Ostufer. Als der Sturm losbrach, schlief er im Boot. Die erschrockenen Jünger weckten ihn mit ihren Hilferufen. Man sollte ihnen zugutehalten, dass sie sich immerhin an den Richtigen wandten. Nachdem Jesus ihren Kleinglauben getadelt hatte, bedrohte er die Winde und den See. Als eine große Stille entstand, wunderten sich die Männer, dass ihrem demütigen Mitfahrer sogar die Elemente gehorchten. Wie wenig hatten sie verstanden, dass der Schöpfer und Erhalter des Universums an diesem Tag in ihrem Boot war!
Alle Jünger geraten früher oder später in Stürme. Manchmal scheint es, dass wir von den Wellen weggespült werden. Welch ein Trost zu wissen, dass Jesus mit uns im Boot ist. »Kein Wasser kann das Boot verschlingen, in dem der Herr des Meeres, der Erde und des Himmels liegt.« Niemand kann wie der Herr Jesus unsere Lebensstürme stillen.
G. Jesus heilt zwei von Dämonen besessene Männer (8,28-34)
8,28 Am Ostufer des Sees Genezareth liegt das Land der Gerasener oder Gadarener.13 Als Jesus ankommt, begegnen ihm zwei ungewöhnliche Fälle dämonischer Besessenheit. Diese Besessenen lebten in höhlenartigen Gräbern und waren so bösartig, dass es gefährlich war, durch diese Gegend zu reisen.
8,29-31 Als Jesus sich näherte, schrien die Dämonen »und sagten: Was haben wir mit dir zu schaffen, Sohn Gottes? Bist du hierher gekommen, uns vor der Zeit zu quälen?« Sie wussten, wer Jesus war, und kannten die Tatsache, dass er sie schließlich vernichten würde. In dieser Hinsicht war ihre Theologie exakter als diejenige der meisten heutigen liberalen Theologen. Sie merkten, dass Jesus sie austreiben wollte, und fragten, ob sie nicht in eine Herde Schweine fahren dürften, die in der Nähe weidete.
8,32 Seltsamerweise erfüllte Jesus ihren Wunsch. Warum sollte der unumschränkte Herr in eine Bitte von Dämonen einwilligen? Um das zu verstehen, müssen wir uns zweierlei vergegenwärtigen: Erstens scheuen Dämonen den entkörperlichten Zustand; sie wollen ent weder in Menschen oder, wenn das nicht möglich ist, in anderen Kreaturen wohnen. Zweitens ist das Wirken aller Dämonen auf Zerstörung ausgerichtet. Wenn Jesus sie aus den Männern ausgetrieben hätte, ohne sie in die Schweine fahren zu lassen, hätten sie sich auf die anderen Menschen des Gebietes gestürzt. Indem er ihnen erlaubte, in die Schweine zu fahren, verhinderte er, dass sie Männer sowie Frauen anfielen, und beschränkte so ihre zerstörerische Macht auf Tiere. Der Zeitpunkt ihrer endgültigen Ver nichtung durch den Herrn war noch nicht gekommen. Sobald der Herr die Dämonen aus getrieben hatte, stürzten sich die betreffenden Schweine den Abhang hinab und ertranken in dem See.
Dieses Ereignis zeigt, dass Dämonen letztlich verderben wollen, und unterstreicht die schreckliche Möglichkeit, dass zwei Männer von so vielen Dämonen besessen sein können, wie nötig sind, um 2000 Schweine zu töten (Mk 5,13).
8,33.34 Die Hirten rannten in die Stadt und berichteten dort, was geschehen war. Das Ergebnis war eine aufgeschreckte Einwohnerschaft, die zu Jesus hinausging und ihn bat, das Gebiet zu verlassen. Seitdem wurde Jesus immer wieder vorgeworfen, unnötigerweise Schweine vernichtet zu haben. Weil er dadurch Menschenleben höher achtete als das Leben von Tieren, wurde er gebeten, das Gebiet zu verlassen. Wenn diese Gadarener Juden gewesen wären, dann wäre es sogar ungesetzlich gewesen, Schweine zu züchten. Aber ob sie Juden waren oder nicht, sie haben sich ihr Urteil selbst gesprochen, weil sie eine Herde Schweine für wertvoller hielten als zwei arme Besessene.
H. Macht der Sündenvergebung (9,1-8)
9,1 Von den Gadarenern abgelehnt, überquerte der Heiland den See Genezareth nochmals und kehrte nach Kapernaum zurück, das »seine eigene Stadt« geworden war, nachdem die Menschen in Nazareth versucht hatten, ihn umzubringen (Lk 4,29-31). Hier vollbrachte er einige seiner machtvollsten Wunder.
9,2 Vier Männer kamen zu ihm und brachten einen Gelähmten, der auf einem primitiven Bett oder einer Matte lag. Der Bericht des Markus erzählt uns, dass sie wegen der Menge das Dach abdecken mussten und den Mann vor Jesus hinabließen (Mk 2,1-12). »Als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei guten Mutes, mein Kind, deine Sünden sind vergeben.« Man beachte, dass er ihren Glauben sah. Der Glaube führte diese Männer dazu, den Gelähmten zu Jesus zu bringen, der ihn heilen sollte, und der Glaube des Gelähmten streckte sich auch nach Jesus um Heilung aus. Unser Herr belohnte diesen Glauben zuerst, indem er dem Mann seine Sünden vergab. Der große Arzt heilte die Ursache, ehe er die Symptome behandelte; er gab zuerst den größeren Segen. Das wirft die Frage auf, ob der Herr Jesus jemals einen Menschen geheilt hat, ohne ihm auch die Rettung zuzueignen.
9,3-5 Als einige Schriftgelehrte hörten, wie Jesus diesem Mann die Sünden vergab, klagten sie ihn »bei sich selbst« der Gotteslästerung an. Schließlich konnte nur Gott Sünden vergeben – und sie würden ihn gewiss nicht als Gott annehmen. Der allwissende Herr Jesus las ihre Gedanken, tadelte sie wegen des Argen in ihren ungläubigen Herzen und fragte sie dann, was leichter zu sagen wäre: »Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher?« Eigentlich ist es ebenso einfach, das eine wie das andere zu sagen, doch was ist leichter zu tun? Beides ist menschlich gesehen unmöglich, aber die Ergebnisse der ersten Aussage waren nicht sichtbar, während die Auswirkung des zweiten Gebots sofort wahrnehmbar war.
9,6.7 Um den Schriftgelehrten zu zeigen, dass er die Autorität hatte, »auf der Erde Sünden zu vergeben« (und deshalb als Gott geehrt werden sollte), ließ sich Jesus herab, ihnen ein Wunder zu zeigen, das sie sehen konnten. Er wandte sich dem Gelähmten zu und sagte: »Steh auf, nimm dein Bett auf, und geh in dein Haus!«
9,8 Als die Menge sah, wie er mit seiner Matte davonging, wurde sie von zwei verschiedenen Gefühlen bewegt: Furcht und Verwunderung. Sie hatten Angst vor der Gegenwart einer so offensichtlich übernatürlichen Heimsuchung. Sie »verherrlichten Gott, der solche Vollmacht den Menschen gegeben hat«. Doch wurde ihnen nicht die Bedeutung des Wunders klar. Die sichtbare Heilung des Gel ähmten geschah, um zu bestätigen, dass dem Mann die Sünden vergeben waren, was ein unsichtbares Wunder ist. Daraus hätten sie schließen müssen, dass sie nicht Zeuge davon gewesen waren, wie Gott seine Vollmacht Menschen zueignet, sondern davon, dass Gott unter ihnen in der Person des Herrn Jesus Christus gegenwärtig war. Doch das verstanden sie nicht.
Was die Schriftgelehrten angeht, so wissen wir durch spätere Ereignisse, dass sie in ihrem Unglauben und Hass nur verhärtet wurden.
I. Jesus beruft Matthäus, den Zöllner (9,9-13)
9,9 Die gespannte Atmosphäre, die sich um unseren Heiland aufbaut, wird zeitweilig dadurch entspannt, dass Matthäus einfach und in aller Demut seine eigene Berufung schildert. Er war ein Zöllner. Die Angehörigen dieser Berufsgruppe waren bei den Juden sehr verhasst, und zwar wegen ihrer Unehrlichkeit, wegen der ungerechterweise überhöhten Steuern und Zolleinnahmen und vor allem, weil sie den Interessen des Römis chen Reiches dienten, das Israel be herrschte. Als Jesus am Zollhaus vorbeik am, sagte er zu Matthäus: »Folge mir nach!« Die Reaktion kam sofort: Er erhob sich und folgte Jesus nach. Er verließ damit seinen traditionell unehrlichen Beruf, um sofort ein Jünger Jesu zu werden. Es hat einmal jemand dazu gesagt: »Er verlor einen bequemen Job, aber er fand seine Bestimmung. Er verlor ein gutes Einkommen, aber er fand Ehre. Er verlor seine ang enehme Sicherheit, aber er fand ein atemberaubendes Leben, das er sich nie hätte träumen lassen.« Sein Lohn war nicht zuletzt, dass er einer der Zwölf wurde und die Ehre erhielt, das Evangelium zu schreiben, das nach ihm benannt ist.
9,10 Das beschriebene Essen wurde von Matthäus zu Ehren Jesu gegeben (Lk 5,29). Das war seine Art, Jesus öffentlich zu bekennen und seine Gefährten mit dem Heiland bekannt zu machen. Deshalb waren natürlich seine Gäste Zöllner und andere, die als Sünder bekannt waren.
9,11 Es war in dieser Zeit üblich, zu essen, indem man auf einer Art Couch mit dem Gesicht zum Tisch lag. Als die Pharisäer sahen, dass Jesus sich auf diese Weise mit dem sozialen Abschaum zusammentat, gingen sie zu seinen Jüngern, und klagten ihn an, dass er durch seine Gemeins chaft gewissermaßen mitschuldig geworden sei, denn ein echter Prophet würde niemals zusammen mit Sündern essen!
9,12 Das hatte Jesus gehört und antwortete: »Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken.« Die Pharisäer meinten, dass sie gesund seien, und waren nicht bereit zu bekennen, dass sie Jesus brauchten. (In Wahrheit waren sie geistlich sogar sehr krank und hätten Heilung dringend notwendig gehabt.) Die Zöllner und Sünder waren dagegen eher gewillt, ihren wahren Zustand zuzugeben und Christi rettende Gnade zu suchen. So war die Anklage also wahr! Jesus aß wirklich mit Sündern. Wenn er mit den Pharisäern gegessen hätte, wäre diese Behauptung noch immer wahr gewesen, und vielleicht noch mehr! Wenn Jesus nicht mit Sündern in unserer Welt zusammen gegessen hätte, dann hätte er immer allein essen müssen. Aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass er, wenn er mit Sündern aß, nie ihre Sünden billigte oder sein Zeugnis abschwächte. Er gebrauchte die Situation, um alle Menschen zur Wahrheit und zur Heiligung aufzurufen.
9,13 Das Problem der Pharisäer war, dass ihre Herzen, obwohl sie den Gebräuchen des Judentums mit großer Genauigkeit folgten, kalt, hart und gnadenlos waren. So schickte Jesus sie mit der Aufforderung weg, die Bedeutung der Worte Jahwes zu lernen: »Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer« (ein Zitat aus Hosea 6,6). Obwohl Gott den Opferdienst eingeführt hatte, wollte er nicht, dass bloße Rituale zum Ersatz für innere Gerechtigkeit würden. Gott gefallen Rit uale ohne persönliche Frömmigkeit nicht – genau so verhielten sich die Pharisäer nämlich. Sie beachteten jeden Buchstaben des Gesetzes, hatten jedoch mit denen, die geistliche Hilfe brauchten, kein Erbarmen. Sie hatten nur mit anderen ähnlich Selbstgerechten Gemeinschaft. Dagegen sagte Jesus ihnen ausdrücklich: »Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.« Er erfüllte Gottes Forderung nach Opfern ebenso vollkommen wie die Forderung nach Barmherzigkeit. In einer Hinsicht gibt es keine gerechten Menschen auf der Erde, deshalb kam er, um alle Menschen zur Umkehr zu rufen. Aber hier wird der Gedanke zum Ausdruck gebracht, dass sein Ruf nur für diejenigen eine Bedeutung hat, die anerkennen, dass sie selbst Sünder sind. Jesus kann niemanden heilen, der stolz, selbstgerecht und unbußfertig ist – wie die Pharisäer. J. Jesus wird zum Fasten befragt (9,14-17)
9,14 Zu dieser Zeit war Johannes der Täufer wahrscheinlich schon im Gefängnis. Seine Jünger kamen zu Jesus und fragten: »Warum fasten wir und die Pharisäer oft, deine Jünger aber fasten nicht?«
9,15 Der Herr antwortete mit einem Bild. Er ist der Bräutigam, und die Jünger sind die Hochzeitsgäste. Solange der Bräutigam bei ihnen ist, gibt es keinen Grund, als Zeichen der Trauer zu fasten. Wenn er von ihnen weggenommen werden würde, dann würden auch seine Jünger fasten. Er wurde von ihnen genommen – in Tod und Grablegung, und seit seiner Himmelfahrt ist er nicht mehr körperlich bei seinen Jüngern. Die Worte Jesu befehlen zwar das Fasten nicht, billigen es aber sicherlich als eine gute Übung für alle, die auf die Rückkehr des Bräutigams warten (s. Exkurs Kap. 6,16-18).
9,16 Die Johannesjünger stellten eine Frage, auf die hin Jesus herausstellte, dass Johannes am Ende eines Zeitalters stehe und das neue Zeitalter der Gnade verkündigt habe. Er zeigt, dass ihre Prinzipien nicht vermengt werden dürfen. Wenn wir Gesetz und Gnade mischen wollten, so wäre das, als ob wir »einen Flicken von neuem Tuch auf ein altes Gewand« setzen würden. Wenn beides gewaschen wird, dann läuft das neue Tuch ein und löst sich von dem alten Tuch. Dieses Abreißen macht alles nur noch schlimmer. Gaebelein merkt hierzu richtig an: Ein judaistisches Christentum, das zwar die Gnade und das Evangelium bekennt, aber auch noch versucht, das Gesetz zu halten, und eine gesetzliche Gerechtigkeit fördert, ist in den Augen Gottes ein größerer Gräuel als das Israel der Vergangenheit, das seinen Gott zwar bekannte, aber noch Götzendienst trieb.14
9,17 Diese Mischung konnte auch damit verglichen werden, neuen Wein in alte Weinschläuche zu füllen. Der Druck, der durch die Gärung des neuen Weins entsteht, würde die alten Schläuche zerreißen, weil sie nicht mehr elastisch sind. Das Leben und die Freiheit des neuen Lebens verderben die alten Schläuche des von Riten bestimmten Gottesdienstes. Die Einführung des christlichen Zeitalters würde unausweichlich Spannungen zur Folge haben. Die Freude, die Christus brachte, konnte in den alten Formen und Riten des AT keinen Ausdruck mehr finden. Alles musste ganz neu geordnet werden. Pettingill macht das deutlich:
So warnt der König seine Jünger vor der Vermischung von Alt und Neu. Und doch wurde gerade das in der Christenheit sehr oft getan. Das Judentum ist geflickt und überall von den Kirchen aufgenommen worden, und das alte Kleid wird dann »Christentum« genannt. Das Ergebnis ist eine verwirrende Mischung, die weder Judentum noch Christentum ist, sondern eine von Riten geprägte, aus toten Werken bestehende Ersatzreligion statt Vertrauen auf den lebendigen Gott. Der neue Wein der Errettung aus Gnade wurde in die alten Schläuche der Gesetzlichkeit geschüttet, und was ist dabei herausgekommen? Nun, die Schläuche sind geplatzt und wertlos geworden. Der Wein ist verschüttet, und das meiste des kostbaren Leben spendenden Getränkes ging verloren. Das Gesetz hat seinen Schrecken verloren, weil es mit der Gnade vermischt worden ist, und die Gnade hat ihre Schönheit und ihr Wesen als solche verloren, weil sie mit Gesetzeswerken vermischt worden ist.15
K. Macht zur Heilung Unheilbarer und zur Totenauferweckung (9,18-26)
9,18.19 Jesu Ausführungen über den Wechsel der Zeitalter wurde von einem verzweifelten Vorsteher der Synagoge unterbrochen, dessen Tochter soeben gestorben war. Er kniete vor dem Herrn nieder und bat ihn, zu kommen und sie wieder zum Leben zu erwecken. Es war außergewöhnlich, dass dieser Vorsteher bei Jesus Hilfe suchte, denn die meisten jüdischen Führer würden den Zorn und die Verachtung der anderen Vorsteher über eine solche Handlung gefürchtet haben. Jesus belohnte diesen Glauben, indem er sich mit seinen Jünger zum Hause des Vorstehers aufmachte.
9,20 Schon wieder eine Unterbrechung! Diesmal handelte es sich um eine Frau, die zwölf Jahre lang an einer hämorrhoidenähnlichen Krankheit gelitten hatte. Jesus ärgerte sich niemals über solche Unterbrechungen, er war immer gelassen, für jedermann erreichbar und zugänglich.
9,21.22 Medizinische Hilfe war bei dieser Frau unwirksam geblieben, ihr Zus tand hatte sich sogar verschlechtert (Mk 5,26). Als es am schlimmsten mit ihr stand, begegnete sie Jesus – zumindest sah sie ihn von der Menge umgeben. Da sie glaubte, dass er in der Lage und willens war, sie zu heilen, drängte sie sich durch die Menge und berührte die Quaste seines Kleides. Wahrer Glaube bleibt bei Jesus niemals unbemerkt. Er drehte sich um und erklärte, dass sie geheilt war. Sie wurde nach zwölf Jahren sofort wieder gesund.
9,23.24 Die Erzählung kehrt nun zu dem Vorsteher zurück, dessen Tochter gestorben war. Als Jesus das Haus erreichte, jammerten und weinten eigens dafür bestellte Klagefrauen, deren Trauer jemand einmal »gekünstelte Trauer« genannt hat. Jesus befahl, dass alle Besucher den Raum verlassen sollten, und erklärte gleichzeitig, dass das Mädchen nicht gestorben sei, sondern schlafe. Die meisten Ausleger, zu denen wir gehören, glauben, dass der Herr hier den Ausdruck »schlafen« im übertragenen Sinne verwendete, um damit den Tod zu bezeichnen. Andere allerdings glauben, das Mädchen lag im Koma. Diese Deutung verneint nicht, dass es Jesus möglich gewesen wäre, sie vom Tode zu erwecken, sondern will betonen, dass Jesus zu ehrlich war, sich für eine Totenauferweckung loben zu lassen, obwohl das Mädchen nicht tatsächlich gestorben war. Sir Robert Anderson zum Beispiel war dieser Meinung. Er wies darauf hin, dass der Vater und alle anderen gesagt hatten, sie sei gestorben, dass Jesus aber sagte, sie sei nicht gestorben.
9,25.26 Jedenfalls nahm der Herr das Mädchen bei der Hand, und das Wunder geschah – sie stand auf. Es dauerte nicht lange, da hatte sich die Nachricht von dem Wunder in der ganzen Gegend ausgebreitet.
L. Macht, das Augenlicht wiederzugeben (9,27-31)
9,27.28 Als Jesus aus der Umgebung des Vorstehers »weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrien und sprachen: Erbarme dich unser, Sohn Davids!« Obwohl diese Männer kein natürliches Sehvermögen besaßen, hatten sie doch eine sehr deutliche geistliche Sicht. Indem sie Jesus als »Sohn Davids« anredeten, erkannten sie ihn als den lange erwarteten Messias und rechtmäßigen König Israels an. Und sie wussten, wenn der Messias käme, wäre es ein Prüfstein für ihn, dass er Blinde sehend machen würde (Jes 35,5; 42,7). Jesus prüfte ihren Glauben, indem er fragte, ob sie denn glaubten, dass er dazu imstande sei (nämlich ihnen das Augenlicht wiederzugeben). Da antworteten sie ohne Zögern: »Ja, Herr.«
9,29.30 Da rührte der große Arzt ihre Augen an und versicherte ihnen, sie würden sehen, weil sie geglaubt hatten. Sofort wurden ihre Augen vollständig gesund. Der Mensch sagt: »Erst sehen, dann glauben.« Aber Gott sagt: »Erst glauben, dann sehen.« Jesus sagte zu Marta: »Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?« (Joh 11,40). Der Schreiber des Hebräerbriefes sagt »Durch Glauben verstehen wir …« (Hebr 11,3). Der Apostel Johannes schrieb: »Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, … die ihr an den Namen des Sohnes Gottes glaubt« (1. Joh  5,13).  Gott  ist  über  Glauben,  der erst ein Wunder fordert, nicht erfreut. Er will, dass wir ihm allein deshalb glauben, weil er Gott ist.
Warum bedrohte Jesus die geheilten Männer so ernsthaft, dass sie niemand von dem Wunder weitersagen sollten? In den Anmerkungen zu 8,4 deuteten wir an, dass er eventuell verhindern wollte, vorzeitig auf den Königsthron erhoben zu werden. Die Leute hatten noch nicht Buße getan; und er konnte nicht über sie regieren, ehe sie nicht wiedergeboren waren. Auch würde ein Umsturz um Jesu willen schreckliche Strafaktionen der Römer gegen die jüdische Bevölkerung nach sich ziehen. Außerdem musste Jesus zuerst ans Kreuz geschlagen werden, ehe er als König regieren konnte. Alles, was seinen Weg nach Golgatha verhindern wollte, stand dem vorherbestimmten Plan Gottes entgegen.
9,31 In der großen Freude über ihr Augenlicht verbreiteten die Männer die Nachricht ihrer wunderbaren Heilung überall. Während wir versucht sind, mit ihnen zu fühlen und sie sogar für ihr überschwängliches Zeugnis zu bewundern, bleibt die nüchterne Tatsache bestehen, dass sie äußerst ungehorsam waren und unausweichlich mehr Schlechtes als Gutes für Jesus taten, indem sie eher oberflächliche Neugier als geistgeleitetes Intere sse erregten. Nicht einmal Dankbarkeit ist eine gültige Ausrede für Ungehorsam. M. Macht, die Sprache zurückzugeben (9,32-34)
9,32 Erst gab Jesus einer Toten Leben, dann den Blinden Augenlicht und nun einem Stummen die Sprache. Hier scheint eine geistliche Anordnung der Wunder vorzuliegen: erst Leben, dann Verständnis und schließlich Zeugnis. Ein böser Geist hatte diesen Mann mit Taubheit geschlagen. Mehrere Menschen kümmerten sich um ihn, indem sie den Besessenen zu Jesus brachten. Gott segne die Menge der Ungenannten, die er dazu benutzen konnte, andere zu Jesus zu bringen!
9,33 Sobald der Dämon ausgetrieben war, redete der Stumme. Sicherlich können wir annehmen, dass er seine wiederhergestellte Sprechfähigkeit benutzte und den anbetete, der ihn so gnädig geheilt hatte, um ihn zu bezeugen. Die einfachen Leute bekannten, dass Israel Zeuge von nie da gewesenen Wundern wurde.
9,34 Aber die Pharisäer missachteten das, indem sie sagten, Jesus triebe die Dämonen durch den Obersten der Dämonen aus. Diese Behauptung bezeichnete Jesus später als die unvergebbare Sünde (12,32). Wer ein Wunder, das er durch den Heiligen Geist vollbrachte, der Macht Satans zuschrieb, lästerte den Heiligen Geist. Während andere durch die heilende Berührung Christi gesegnet wurden, blieben die Pharisäer geistlich tot, blind und taub.
VI. Die Apostel des Messiaskönigs wer den nach Israel gesandt wenn sie umkehren und ihn anerkennen würden. Zu dieser Zeit galt dem Volk Israel das ernst gemeinte Angebot des Reiches. Was wäre geschehen, wenn Israel darauf eingegangen wäre? Die Bibel beantwortet uns diese Frage nicht. Wir wissen, dass Christus noch immer hätte sterben müssen, um eine gerechte Basis zu schaffen, auf der Gott die Sünder aller Zeitalter rechtfertigen kann. Während Christus lehrte und predigte, heilte er auch alle Arten von Krankheiten. So wie Wunder das erste Kommen Christi in Niedrigkeit begleiteten, werden sie mit dem zweiten Kommen in Macht und Herrlichkeit einhergehen (vgl. Hebr 6,5: »die Kräfte des zukünftigen Zeitalters«).
9,36 Als er die Menge der Israeliten betrachtete, die erschöpft und hilflos waren, da sah er sie als Schafe ohne Hirten. Er hatte großes Mitleid mit ihnen. Ach, dass wir uns dieses Streben nach dem geistlichen Wohlergehen der Verlorenen und Sterbenden zu eigen machten! Wie nötig haben wir es, ständig zu beten: Mög’ ich die Menge seh’n, wie es der Retter tat,
der voller Mitleid sich
ihr zugewendet hat.
Ich will die Schafe seh’n mit liebevollem Blick
und bitt’: O bring sie, Herr, zu dir, dem Hirt, zurück!
9,37 Eine große geistliche Ernte war einzubringen, doch die Arbeiter waren wenige. Dieses Problem besteht auch heute noch, wie es scheint. Die Not ist immer größer als die Arbeitskraft.
9,38 Der Herr Jesus befahl den Jüngern, den Herrn der Ernte zu bitten, dass er Arbeiter aussende in seine Ernte. Man beachte hierbei, dass die Not nicht unbedingt als Ruf zu verstehen ist. Arbeiter sollten erst gehen, wenn sie gesandt sind. Mein Heiland Jesus Christus, er selbst hat mich gesandt, zu geh’n ins Land des Dunkels und seinem Wink zu folgen mit der durchgrab’nen Hand. Frances Bevan (nach einer Textvorlage von Gerhard Tersteegen) Jesus sagte nicht, wer der Herr der Ernte ist. Einige meinen, dass der Heilige Geist gemeint ist. In Kapitel 10,5 sendet Jesus selbst die Jünger aus. So scheint er derjenige zu sein, zu dem wir in dieser Angelegenheit der Weltmission beten sollen.
B. Die Berufung der zwölf Jünger (10,1-4)
10,1 Im letzten Vers von Kapitel 9 weist der Herr seine Jünger an, für mehr Arbeiter zu bitten. Um diese Bitte ehrlich vortragen zu können, müssen die Gläubigen gewillt sein, selbst zu gehen. Deshalb sehen wir jetzt, wie der Herr seine zwölf Jünger beruft. Er hatte sie schon vorher ausgewählt, doch nun beruft er sie zu einem besonderen evangelistischen Einsatz im Volk Israel. Mit der Berufung erhielten sie die Vollmacht, Dämonen auszutreiben und alle Arten von Krankheiten zu heilen. Wir können hier die Einzigartigkeit Jesu sehen. Auch vor ihm gab es Männer, die Wunder getan hatten, aber niemand hatte diese Fähigkeit je auf andere übertragen.
10,2-4 Die zwölf Apostel waren: 1. »Simon, der Petrus genannt wird.« Als impulsiver, großzügiger und liebevoller Mann war er der geborene Anführer.
2. »Andreas, sein Bruder.« Er wurde Jesus durch Johannes den Täufer vorgestellt (Joh 1,36.40) und brachte dann seinen Bruder Petrus zu ihm. Er machte es danach zu seiner Aufgabe, auch andere Menschen zu Jesus zu führen. 3. »Jakobus, der Sohn des Zebedäus.« Er wurde später von Herodes umgebracht (Apg 12,2) – er war der erste der Zwölf, der als Märtyrer starb. 4. »Johannes, sein Bruder.« Auch er war ein Sohn des Zebedäus. Er war der Jünger, den Jesus lieb hatte. Wir verdanken ihm das vierte Evangelium, drei Briefe und die Offenbarung. 5. »Philippus.« Er kam aus Betsaida und brachte Nathanael zu Jesus. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Evangelisten Philippus in der Apostelgeschichte.
6. »Bartholomäus.« Man nimmt an, dass er mit Nathanael identisch ist, dem Israeliten, in dem Jesus keinen Trug fand (Joh 1,47).
7. »Thomas«, auch genannt »Zwilling«. Er ist allgemein als der »ungläubige Thomas« bekannt, doch an die Stelle seines Unglaubens trat ein wunderbares Zeugnis für Christus (Joh 20,28). 8. »Matthäus.« Der frühere Zöllner, der dieses Evangelium geschrieben hat. 9. »Jakobus, der Sohn des Alphäus.« Von ihm ist sonst kaum etwas bekannt. 10. »Lebbäus, mit dem Zunamen Thaddäus« (LU 1912). Er ist auch als Judas, Sohn des Jakobus, bekannt (Lk 6,16). Sein einziger überlieferter Satz findet sich in Johannes 14,22.
11. »Simon, der Kananäer«, den Lukas als »Eiferer« bezeichnet (Lk 6,15). 12. »Judas, der Iskariot«, der den Herrn verraten hat.
Die Jünger waren zu dieser Zeit wahrscheinlich Anfang zwanzig. Aus verschiedenen Lebensumständen kommend und sicherlich nur durchschnittlich begabt, lag ihre Größe in ihrer Verbindung zu Jesus. C. Die Sendung nach Israel (10,5-33)
10,5.6 Der Rest des Kapitels enthält Jesu Anweisungen für eine besondere Predigtrundreise, die dem Hause Israel galt. Wir dürfen dies nicht mit der Aussendung der siebzig Jünger verwechseln, die später stattfand (Lk 10,1), oder mit dem Missionsbefehl (Matth 28,19.20). Hier haben wir einen zeitweiligen Auftrag, dessen besonderes Ziel es war, die Nähe des Reiches der Himmel zu verkündigen. Einige der Anweisungen sind von bleibendem Wert für die Jünger aller Zeitalter. Manche wurden vom Herrn allerdings später wieder aufgehoben, was beweist, dass sie nicht für immer gedacht waren (Lk 22,35.36). Als Erstes wird die Route angegeben. Sie sollten weder zu den Nationen noch zu den Samaritern gehen, den Angehörigen einer Mischrasse, die von den Juden verachtet wurden. Diesmal war ihr Dienst auf die »verlorenen Schafe des Hauses Israel« begrenzt.
10,7 Die Botschaft war die Verkündigung, dass das Reich der Himmel nahe gekommen war. Wenn die Israeliten es ablehnten, dann würden sie keine Entschuldigung haben, weil es eigens für sie eine offizielle Ankündigung gegeben hatte. Das Reich hatte sich in der Person des Königs genähert. Israel musste sich entscheiden, ob es ihn anerkennen oder verwerfen wollte.
10,8 Die Jünger erhielten Gaben, die sie vor den Menschen zur Bestätigung der Botschaft ausweisen sollten: Sie sollten »Kranke heilen, Tote auferwecken16, Aussätzige reinigen und Dämonen austreiben«. Die Juden verlangten Zeichen (1. Kor 1,22), deshalb ließ Gott sich großzügig herab, ihnen diese Zeichen zu geben.
Die Vertreter des Herrn sollten keinen Lohn für ihren Dienst nehmen. Sie hatten ihre Segnungen kostenlos erhalten und sollten sie ebenso weitergeben.
10,9.10 Sie sollten keinerlei Vorsorge für die Reise treffen. Sie waren doch Israeliten, die ihrem eigenen Volk predigten, und es war unter den Juden ein anerkanntes Prinzip, dass der Arbeiter seiner Nahrung wert ist. Deshalb war es für sie nicht nötig, Gold, Silber, Kupfer, eine Vorratstasche, zwei Untergewänder, Sandalen oder einen Stab mitzunehmen. Das kann bedeuten, keine zusätzlichen Sandalen und keinen zusätzlichen Stab mitzunehmen. Wenn sie schon einen hatten, dann durften sie ihn mitnehmen (Mk 6,8). Der dahinterstehende Gedanke ist, dass Tag für Tag für sie gesorgt werden würde.
10,11 Wie sollten sie für Unterkunft sorgen? Wenn sie in eine Stadt kamen, sollten sie sich nach einem würdigen Gastgeber umsehen – jemand, der sie als Jünger des Herrn empfangen würde und für ihre Botschaft offen wäre. Wenn sie einmal einen solchen Gastgeber gefunden hatten, dann sollten sie so lange bei ihm bleiben, wie sie sich in der Stadt aufhielten, statt Ausschau nach einer bequemeren Unterkunft zu halten.
10,12-14 Wenn ein Haus sie empfing, sollten sie die betreffende Familie segnen und ihr Freundlichkeit und Dankbarkeit für diese Gastfreundschaft erweisen. Wenn andererseits sich ein Haus weigerte, die Botschafter des Herrn aufzunehmen, waren sie nicht verpflichtet, Gottes Frieden auf dieses Haus herabzuwünschen, das heißt, sie brauchten es nicht zu segnen. Nicht nur das, sondern sie sollten das Missfallen Gottes verdeutlichen, indem sie den Staub von ihren Füßen schütteln sollten. Wenn eine Familie seine Jünger ablehnte, dann lehnte sie Christus selbst ab.
10,15 Jesus warnte davor, dass eine solche Ablehnung am Tag des Gerichts eine schwere Bestrafung nach sich ziehen würde, schlimmer als die Strafe für die Verderbtheiten in Sodom und Gomorra. Das beweist, dass es verschiedene Grade der Bestrafung in der Hölle geben muss, wie sollte es sonst einigen »erträglicher« als anderen ergehen?
10,16 In diesem Abschnitt berät Jesus die Jünger in Bezug auf ihr Verhalten in der Verfolgung. Sie würden »wie Schafe mitten unter Wölfen« sein, umgeben von hinterhältigen Menschen, die darauf aus sind, sie zu vernichten. Sie sollten so klug wie die Schlangen sein, indem sie unnötigen Anstoß vermieden und sich nicht in bloßstellende Situationen hineinziehen ließen. Und sie sollten einfältig wie die Tauben sein, nur geschützt durch die Rüstung eines gerechten Charakters und ungetrübten Glaubens.
10,17 Sie sollten vor ungläubigen Juden auf der Hut sein, die sie vor Gericht ziehen und in ihren Synagogen geißeln würden. Der Angriff würde mit öffentlichen und religiösen Mitteln geführt werden.
10,18 Sie würden um Christi willen vor Könige und Statthalter gezerrt werden. Aber Gottes Sache würde über das Böse des Menschen triumphieren. »Der Mensch geht den Weg der Bosheit, doch der Herr geht seinen Weg.« In der Stunde ihrer scheinbaren Niederlage würden die Jünger das unvergleichliche Vorrecht haben, vor Herrschern und Nationen Zeugnis zu geben. Gott würde alle Dinge zum Guten dienen lassen. Das Christentum hat von offiziellen Behörden viel zu leiden gehabt, doch es wurde »ihnen … zum Zeugnis«.
10,19.20 Sie brauchten nicht im Voraus zu üben, was sie in einer Verhandlung sagen sollten. Wenn die Zeit gekommen war, würde der Geist Gottes ihnen göttliche Weisheit geben, so zu antworten, dass sie Christus verherrlichen, ihre Ankläger verwirren und aufhalten konnten. Man sollte zwei Extreme bei der Auslegung von Vers 19 vermeiden: Das erste Extrem besteht in der Meinung, dass ein Christ niemals eine Botschaft vorbereiten müsse. Das zweite Extrem ist die Ansicht, dass dieser Vers für uns nicht mehr gelte. Es ist für einen Prediger richtig und wünschenswert, im Gebet auf Gott zu harren, dass er ihm das richtige Wort für eine bestimmte Situation im Voraus gibt. Aber es ist auch wahr, dass in Krisen alle Gläubigen die Verheißung Gottes in Anspruch nehmen dürfen, mit göttlicher Eingebung zu sprechen. Sie werden dabei Sprachrohr des Geistes ihres Vaters sein.
10,21 Jesus warnte seine Jünger, dass sie mit Verrat konfrontiert werden würden. Der Bruder würde den Bruder anklagen, der Vater sein Kind verraten, und die Kinder würden ihre Eltern anzeigen, sodass diese schließlich getötet würden. J. C. Macaulay drückte das gut aus: Wir befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir den Hass der Welt ertragen müssen … Der Diener darf nicht erwarten, dass er in der Hand des Feindes besser behandelt wird als der Herr selbst. Wenn die Welt nichts Besseres als das Kreuz für Jesus hatte, dann wird sie für seine Nachfolger keine königliche Kutsche bereitstellen: Wenn es nur Dornen für ihn gibt, dann wird man uns keine Kränze winden … Lasst uns nur darauf achten, dass der Hass der Welt wirklich »um Jesu willen« auf uns liegt und nicht wegen etwas Hassenswertem oder infolge eines Sachverhalts, der unwürdig des gnadenreichen Herrn ist, den wir vertreten.17
10,22.23 Die Jünger würden »von allen gehasst werden« – nicht von allen ohne Ausnahme, doch in allen Kulturen, Nationen, Klassen usw. »Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden.« Wenn man diesen Satz isoliert betrachtet, könnte man daraus schließen, dass man die Errettung durch beständiges Ausharren verdienen könne. Wir wissen, dass dieser Satz nicht so gedeutet werden kann, weil in der Schrift die Errettung immer als großzügiges Geschenk der Gnade Gottes durch den Glauben dargestellt wird (Eph 2,8.9). Auch kann dieser Vers nicht die Bewahrung vor dem leiblichen Tod für diejenigen bedeuten, die Christus treu sind, denn die vorhergehenden Verse sagen den Tod einiger treuer Jünger voraus. Die einfachste Erklärung lautet, dass Ausharren ein wichtiges Kennzeichen des wahren Gläubigen ist. Wir finden in Matthäus 24,13 dieselbe Aussage, wo es sich auf den treuen Überrest der Juden während der Trübsal bezieht, der sich weigert, in Bezug auf seine Treue zu Jesus Kompromisse einzugehen. Das Ausharren weist diese Menschen als echte Jünger aus.
In Bibelabschnitten, die sich mit der Zukunft beschäftigen, wechselt der Heilige Geist oft von der unmittelbaren zur fernen Zukunft. Eine Prophezeiung kann eine teilweise und sofortige Bedeutung und auch eine vollständige und weiter entfernte Erfüllung haben. Zum Beispiel können die beiden Kommen Christi ohne Erklärung in einem einzigen Atemzug genannt sein (Jes 52,14.15; Micha 5,1-3). In den Versen 22 und 23 redet der Herr Jesus auch in einem solch unmittelbaren Übergang. Er warnt die zwölf Jünger davor, dass sie um seinetwillen leiden müssen, dann scheint er sie als Vorbild seiner hingegebenen jüdischen Nachfolger während der Großen Trübsal zu sehen. Er geht von der Verfolgung der ersten Christen direkt zu den Drangsalen der Gläubigen unmittelbar vor seiner Wiederkunft über.
Der erste Teil von Vers 23 könnte sich auf die Jünger beziehen: »Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt …« Sie waren nicht verpflichtet, unter der Tyrannei ihrer Feinde auszuhalten, wenn es eine ehrliche Fluchtmöglichkeit gab. »Es ist falsch, vor der Pflicht, nicht aber vor der Gefahr zu fliehen.«
Der zweite Teil von Vers 23 bringt uns in die Tage vor der Herrschaft Christi über die Erde: »… Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen sein wird.« Das kann sich nicht auf die Aussendung der zwölf Jünger beziehen, weil der Sohn des Menschen zu ihrer Zeit schon gekommen war. Einige Ausleger verstehen diesen Satz als einen Hinweis auf die Zerstörung  Jerusalems  im  Jahre  70  n. Chr. Dennoch ist es schwierig, wie man von diesem Holocaust als dem »Kommen des Menschensohnes« sprechen kann. Es scheint weitaus annehmbarer zu sein, hier einen Hinweis auf sein zweites Kommen zu sehen. Während der Großen Trübsal werden die von Christi erkauften Angehörigen des gläubigen jüdischen Überrests das Evangelium vom Reich weiterverbreiten. Sie werden dabei hart verfolgt werden. Ehe sie alle Städte Israels erreichen können, wird der Herr Jesus wiederkommen, um seine Feinde zu richten und sein Reich zu errichten. In  V. 23  liegt  ein  scheinbarer  Widerspruch zu Matthäus 24,14 vor. Hier lesen wir, dass nicht alle Städte Israels erreicht werden, ehe der Sohn des Menschen gekommen sein wird. Dort heißt es, dass das Evangelium vom Reich in aller Welt gepredigt werden wird, ehe Jesus wiederkommt. Dennoch haben wir hier keinen Widerspruch. Das Evangelium wird allen Völkern verkündigt werden, wenn auch nicht notwendigerweise jedem einzelnen Menschen. Aber dieser Botschaft wird viel Widerstand begegnen, und die Boten werden in Israel hart verfolgt und behindert werden. Deshalb werden nicht alle Städte Israels erreicht werden.
10,24.25 Die Jünger des Herrn würden oft Gelegenheit haben, sich zu fragen, warum sie eine solch schlechte Behandlung erfahren und ertragen müssen. Wenn Jesus doch der Messias war, erhob sich die Frage: Wieso sollten seine Nachfolger leiden, statt mitzuregieren? In den Versen 24 und 25 nimmt der Herr Jesus ihre Verwirrung vorweg und beantwortet die entsprechende Frage, indem er sie an ihre Beziehung zu ihm erinnert. Sie waren die Jünger, und er war der Lehrer. Sie waren Sklaven, er war ihr Herr. Sie waren Hausgenossen, er war der Herr des Hauses. Wenn die Menschen den ehrwürdigen Hausherrn »Beelzebul« nennen würden (»Herr der Fliegen«, eine ekronitische Gottheit, deren Name von den Juden für Satan verwendet wurde), würden sie seine Hausgenossen noch schlimmer beleidigen. Jüngerschaft beinhaltet Teilhabe an der Ablehnung, die der Meister erfahren hat.
10,26.27 Dreimal sagte der Herr seinen Nachfolgern, sie sollten sich nicht fürchten  (V. 26.28.31).  Erstens  sollten  sie sich nicht vor dem scheinbaren Sieg ihrer Feinde fürchten. Jesus würde einst in Herrlichkeit gerechtfertigt werden. Bisher war das Evangelium relativ »verdeckt«, und seine Lehre war vergleichsweise verborgen. Aber bald sollten die Jünger die christliche Botschaft mutig verkündigen, die ihnen bis zu diesem Zeitpunkt im Verborgenen, das heißt nicht öffentlich, gelehrt wurde.
10,28 Zweitens sollten die Jünger nicht die mörderische Wut der Menschen fürchten. Das Schlimmste, was Menschen zu tun vermögen, besteht darin, den Leib zu töten. Der körperliche Tod ist für einen Christen nicht die größte Tragödie. Sterben heißt, bei Christus zu sein und deshalb etwas Besseres zu erreichen. Sterben bedeutet Befreiung von Sünde, Kummer, Krankheit, Leiden und Tod; es ist nur ein Übergang in die ewige Herrlichkeit. So ist das Schlimmste, was Menschen tun können, in Wirklichkeit das Beste, was einem Kind Gottes geschehen kann. Die Jünger sollten nicht Menschen fürchten, sondern Ehrfurcht vor Gott haben, der sowohl Seele als auch Leib zu verderben vermag in der Hölle. Das ist der größte Verlust – ewige Trennung von Gott, von Christus und von der Hoffnung. Geistlicher Tod ist ein Verlust, der nicht zu ermessen ist, und ein Verhängnis, das man um jeden Preis vermeiden muss.
Die Worte Jesu in Vers 28 erinnern an die Worte des Gottesmannes John Knox (1514 – 1572),  dessen  Grabspruch  lautet: »Hier liegt einer, der Gott so sehr fürchtet e, dass er nie einen Menschen fürchtete.«
10,29 Inmitten der schrecklichsten Anfechtungen sollten sich die Jünger der Fürsorge Gottes sicher sein. Der Herr Jesus verdeutlicht das an den überall vorhandenen Sperlingen. Man konnte zwei dieser unbedeutenden Vögel für ein Kupferstück erwerben. Doch keiner von ihnen stirbt, ohne dass der Vater es will, es weiß oder dabei ist. Jemand sagte einmal dazu: »Gott ist sogar beim Begräbnis eines Sperlings dabei.«
10,30.31 Derselbe Gott, der sich persönlich für den kleinen Sperling interessiert, zählt die Haare auf dem Haupt seiner Kinder genau. Eine Haarsträhne ist sicherlich wesentlich weniger wert als ein Sperling. Das zeigt, dass seine Kinder Gott noch viel wichtiger sind als viele Sperlinge. Wovor sollten sie sich also fürchten?
10,32 Angesichts der eben geführten Überlegungen stellt sich die Frage: Was kann vernünftiger sein, als dass die Jünger Christi ihn ohne Furcht vor den Menschen bekennen sollten? Jeder Spott oder jeder Tadel, den sie ertragen müssen, wird ihnen im Himmel reichlich belohnt, wenn Jesus sie vor seinem Vater bekennt. Das Bekenntnis zu Christus beinhaltet hier auch Hingabe an ihn als den Herrn und Retter und die daraus resultierende Ane rkennung seiner Herrschaft durch das Leben und durch das mündliche Zeugnis. Bei fast allen zwölf Jüngern führte das Bekenntnis zum Herrn ins Martyrium.
10,33 Verleugnung Christi auf Erden wird die Verleugnung durch Christus vor dem Vater, der in den Himmeln ist, nach sich ziehen. Christus in diesem Sinne zu verleugnen, bedeutet, dass man sich weigert, Jesu Anspruch auf das eigene Leben anzuerkennen. Derjenige, dessen Leben im Grunde zum Ausdruck bringt: »Ich habe dich nie gekannt«, wird schließlich von ihm zu hören bekommen: »Ich habe dich nie gekannt.« Der Herr bezieht sich nicht auf eine zeitweilige Verleugnung seiner Person unter Druck, wie im Falle des Petrus, sondern auf die Art der Verleugnung, die sich endgültig in einer Gewohnheit ausdrückt.
D. Nicht Frieden, sondern das Schwert (10,34-39)
10,34 Die Worte unseres Herrn müssen als sprachliches Bild verstanden werden, in dem die sichtbaren Ergebnisse seines Kommens als offensichtliches Ziel seiner Ankunft dargestellt werden. Er sagt, dass er nicht gekommen sei, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. In Wahrheit kam er jedoch, um Frieden zu machen (Eph 2,14-17). Er kam, damit die Welt durch ihn gerettet würde (Joh 3,17).
10,35-37 Hier wird dagegen betont, dass, wann immer Menschen seine Nachfolger würden, ihre Familien sich gegen sie wenden würden. Einem bekehrten Vater würde von seinem Sohn Widerstand entgegengebracht werden, einer frommen Mutter von ihrer unerretteten Tochter. Eine wiedergeborene Schwiegermutter würde von ihrer nicht wiedergeborenen Schwiegertochter gehasst werden. So stehen Christen oftmals vor der Wahl zwischen Christus und der Familie. Keine natürlichen Bande dürfen den Jünger von der absoluten Treue zum Herrn abhalten. Der Retter muss wichtiger sein als Vater, Mutter, Sohn oder Tochter. Ein Preis der Jüngerschaft ist die Erfahrung von Spannung, Streit und Entfremdung in der eigenen Familie. Diese Feindschaft ist oftmals erbitterter als in anderen Lebensbereichen.
10,38 Aber es gibt etwas, das noch eher als die Familie Christus den rechtmäßigen Platz im Leben eines Menschen rauben kann – das ist die Liebe zum eigenen Leben. Deshalb setzt Jesus hier hinzu: »Und wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig.« Das Kreuz war natürlich ein Hinrichtungswerkzeug. Das Kreuz auf sich zu nehmen und Christus nachzufolgen, bedeutet, so hingegeben zu leben, dass sogar der Tod als solcher kein zu hoher Preis dafür ist. Nicht alle Jünger müssen ihr Leben für ihren Herrn opfern, aber alle sind aufgerufen, ihn so hoch zu schätzen, dass ihr eigenes Leben für sie nicht mehr wertvoll ist.
10,39 Die Liebe zu Christus muss den Selbsterhaltungstrieb beherrschen können. »Wer sein Leben findet, wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden.« Die Versuchung besteht darin, das eigene Leben zu lieben, indem man die Schmerzen und die Verluste eines völlig hingegebenen Lebens umgehen will. Aber dies ist die größte Lebensverschwendung – es in der Selbstsucht zu leben. Der großartigste Einsatz eines Lebens besteht darin, es im Dienst für Christus aufzuopfern. Wer sein Leben in der Hingabe an ihn verliert, wird dessen wahre Fülle erfahren. E. Der Becher kalten Wassers (10,40-42)
10,40 Nicht jeder wird die Botschaft der Jünger ablehnen. Einige werden die Jünger als die Repräsentanten des Messias anerkennen und sie freundlich aufnehmen. Die Jünger werden sicher nicht die Mittel haben, solche Freundlichkeit zu belohnen, aber das ist kein Grund zur Traurigkeit. Alles, was für sie getan werden wird, wird so belohnt, als ob es für den Herrn getan worden wäre. Wer einen Jünger aufnimmt, handelt so, als würde er Christus selbst aufnehmen, und wer Christus aufnimmt, nimmt den Vater auf, der ihn gesandt hat. Wer einen Botschafter empfängt, der die Regierung vertritt, die ihn sendet, der genießt diplomatische Beziehungen mit diesem Land.
10,41 Jeder, der einen Propheten aufnimmt, weil er ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten empfangen. A. T. Pierson kommentiert dazu: Die Juden hielten den Lohn eines Propheten für den größten, weil der König zwar das Land im Namen des Herrn regiert und der Priester im Namen des Herrn dient, der Prophet jedoch vom Herrn gesandt ist, um beide zu belehren. Christus sagt sinngemäß: Schon wenn du nicht mehr tust, als einen Propheten in seiner Eigenschaft als Propheten aufzunehmen, wird dir derselbe Lohn wie dem Propheten gegeben, wenn du ihm hilfst. Man sollte daran denken, wenn man geneigt ist, einen Prediger zu kritisieren. Wenn du ihm hilfst, für Gott zu sprechen, und ihn ermutigst, dann wirst du einen Teil seines Lohnes erhalten. Aber wenn du es ihm erschwerst, seinen Dienst zu tun, dann wirst du diesen Lohn verlieren. Es ist eine großartige Sache, einem Mann zu helfen, der Gutes tun will. Du solltest nicht seine Kleidung, seine Manieren, sein Auftreten oder seine Stimme beachten, sondern hinter diese Dinge sehen und dich fragen: »Ist das eine Botschaft Gottes für mich? Ist dieser Mann für meine Seele ein Prophet Gottes?« Und wenn er das ist, dann nimm ihn auf, bestärke ihn in seinem Wort und Werk und erhalte dann Anteil an seinem Lohn.18
Wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, der soll eines Gerechten Lohn empfangen. Diejenigen, die nach äußerlicher Attraktivität oder materiellem Reichtum urteilen, erkennen oft nicht, dass wirklicher moralischer Wert oft sehr bescheiden auftritt. Die Art, wie jemand einen überaus schlichten Jünger behandelt, entspricht der Art, wie er mit Christus umgeht.
10,42 Keine Handreichung, die einem Nachfolger Jesu getan wird, wird unbeachtet bleiben. Sogar ein Becher kalten Wassers wird großzügig belohnt werden, wenn er einem Jünger gegeben wird, weil er ein Nachfolger des Herrn ist. So beschließt der Herr seine spezielle Rede an die Zwölf, indem er ihnen wirkliche Würde beilegt. Wenn es auch zutraf, dass sie verfolgt, verachtet, verhaftet, versucht, ins Gefängnis geworfen und womöglich getötet würden, so sollten sie doch nie vergessen, dass sie Vertreter des Königs waren und ihr herrliches Vorrecht darin bestand, für ihn zu reden und zu handeln.
VII. Wachsender Widerstand und zunehmende Ablehnung (Kap. 11 und 12)
A. Johannes der Täufer wird ins Gefängnis geworfen (11,1-19)
11,1 Nachdem er seine zwölf Jünger zu ihrer besonderen zeitweiligen Aufgabe am Hause Israel ausgesandt hatte, »ging Jesus von dort weg«, um in den Städten Galiläas zu lehren und zu predigen, wo die Jünger vormals gelebt hatten.
11,2.3 Zu dieser Zeit war Johannes schon durch Herodes gefangen genommen worden. Als Entmutigter und Einsamer begann er, sich Gedanken zu machen. Wenn Jesus wirklich der Messias war, warum erlaubte er es dann, dass sein Vorläufer im Gefängnis schmachten musste? Wie viele große Männer Gottes litt Johannes zeitweilig an mangelndem Vertrauen. Deshalb sandte er zwei seiner Jünger, um zu fragen, ob Jesus wirklich derjenige war, den die Propheten vorhergesagt hatten, oder ob sie noch immer nach dem Gesalbten Ausschau halten sollten.
11,4.5 Jesus antwortete, indem er Johannes daran erinnerte, dass er die Wunder tat, die der vorhergesagte Messias auch tun sollte: »Blinde werden sehend« (Jes 35,5), »Lahme gehen« (Jes 35,6), »Aussätzige werden gereinigt« (Jes 53,4; vgl. Matth 8,16.17), »Taube hören« (Jes 35,5) »und Tote werden auferweckt« (nicht als Machttat des Messias prophezeit – dies war ein größeres als die vorhergesagten Wunder). Jesus erinnerte Johannes auch daran, dass als Erfüllung der messianischen Prophezeiung in Jesaja 61,1 das Evangelium den Armen gepredigt werden würde. Gewöhnliche religiöse Führer konzentrieren ihre Aufmerksamkeit meist auf die Reichen und Adligen. Der Messias dagegen brachte die Gute Nachricht zu den Armen.
11,6 Dann fügte der Heiland hinzu: »Und glückselig ist, wer sich nicht an mir ärgern wird!« Aus dem Munde eines anderen wäre dies die Angeberei eines Egoisten. Auf den Lippen Jesu ist dies jedoch ein berechtigter Ausdruck seiner persönlichen Vollkommenheit. Statt als glänzender General zu erscheinen, war der Messias als einfacher Zimmermann gekommen. Seine Freundlichkeit, seine Einfachheit und Demut entsprachen nicht dem allgemeinen Bild des streitbaren Messias. Menschen, die sich vom Fleisch leiten ließen, hätten ruhig sein Königtum anzweifeln können. Aber Gottes Segen würde auf denen ruhen, die durch geistliche Einsicht Jesus von Nazareth als den verheißenen Messias erkannten. Vers 6 sollte nicht als Tadel für Johannes den Täufer verstanden werden. Der Glaube eines jeden muss von Zeit zu Zeit gestärkt und bestätigt werden. Eine Sache ist es, zeitweilig das Vertrauen zu verlieren, eine andere dagegen, sich dauernd der wahren Identität des Herrn Jesus unsicher zu sein. Ein einziges Kapitel kann nie die ganze Geschichte eines Menschen erzählen. Wenn wir das Leben des Johannes als Ganzes nehmen, dann finden wir viele Aufzeichnungen über seine Treue und Standhaftigkeit.
11,7.8 Sobald die Jünger des Johannes mit Jesu aufrichtender Nachricht zurückgekehrt waren, wandte sich der Herr an die Volksmengen und pries den Täufer. Dieselbe Menge war in die Wüste geströmt, als Johannes dort predigte. Warum? Um ein schwaches, schwankendes Rohr zu sehen, das vom Wind jeder menschlichen Meinung hin und her bewegt wird? Sicherlich nicht! Johannes war ein furchtloser Prediger, das lebendig gewordene Gewissen, einer, der eher leiden als schweigen, eher sterben als lügen würde. Waren sie gekommen, einen wohlgekleideten Höfling zu sehen, der es sich in seinem Luxus gut gehen lässt? Gewiss nicht! Johannes war ein einfacher Mann Gottes, dessen aufrechtes Leben ein Tadel für die enorme Verweltlichung des Volkes war.
11,9 Waren sie gekommen, einen Propheten zu sehen? Nun, Johannes war ein Prophet – ja, sogar der größte der Propheten. Der Herr meinte hier nicht, dass Johannes in Bezug auf seinen Charakter größer war, in seiner Beredsamkeit oder seiner Überzeugungskraft; er war größer, weil er der Vorläufer des Messiaskönigs war.
11,10 Es wird in Vers 10 deutlich gesagt: Johannes war die Erfüllung der Prophezeiung Maleachis (Mal 3,1) – der Bote, der vor dem Herrn hergehen und das Volk für sein Kommen vorbereiten sollte. Andere Männer hatten das Kommen Christi vorhergesagt, aber Johannes war der Erwählte, der sein tatsächliches Kommen ankündigen durfte. Das wurde sehr schön einmal so formuliert: »Johannes ebnete den Weg für Christus, und dann trat er für Christus aus dem Weg.
11,11 Die Aussage Jesu, dass der Kleinste im Reich der Himmel größer als Johannes ist, beweist, dass Jesus von den Vorrechten des Johannes, nicht aber von seinem Charakter spricht. Ein Mensch, der der Kleinste im Reich der Himmel ist, hat nicht unbedingt einen besseren Charakter als Johannes, aber er hat größere Vorrechte. Ein Bürger des Reiches zu sein, ist herrlicher, als es nur anzukündigen. Das Vorrecht des Johannes, dem Herrn den Weg zu bereiten, war großartig, aber er lebte nicht, um in den Genuss der Segnungen des Reiches zu kommen.
11,12 Vom Beginn des Dienstes des Johannes an bis zu seiner Gefangennahme hatte das Reich der Himmel unter Gewalt zu leiden. Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren strikt gegen dieses Reich. Der König Herodes hatte sein Teil dazugetan, das Reich zu bekämpfen, indem er den Herold dieses Reiches ergriff. »… und Gewalttuende reißen es an sich.« Diese Aussage kann man in zweierlei Hinsicht auslegen. Erstens haben die Feinde des Reiches alles getan, um es an sich zu reißen und zu zerstören. Dass sie Johannes ablehnten, war nur eine Vorausschattung der Verwerfung des Königs selbst und damit des Reiches. Aber diese Aussage kann auch bedeuten, dass solche, die für die Ankunft des Königs bereit waren, voller Leidenschaft auf die Ankündigung reagierten und alle Anstrengungen unternahmen, um hineinzukommen. Das ist die Bedeutung von Lukas 16,16: »Das Gesetz und die Propheten gehen bis auf Johannes; von da an wird die gute Botschaft vom Reich Gottes verkündigt, und jeder dringt mit Gewalt hinein.« Hier wird das Reich als belagerte Stadt dargestellt, die alle möglichen Menschen von allen Seiten umringen und deren Befestigungsanlagen sie überwinden wollen, um in sie hineinzukommen. Eine gewisse geistliche Gewaltanwendung ist nötig.
Welche Bedeutung man auch bevorzugt, der Gedanke ist, dass die Predigt des Johannes eine gewaltsame Reaktion hervorgerufen hat, die weitreichende und tief greifende Folgen hatte.
11,13 »Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes.« Die ganze Bibel vom ersten Buch Mose bis zu Maleachi sagte das Kommen des Messias voraus. Als Johannes auf dem Schauplatz der Geschichte erschien, bestand seine einzigartige Rolle nicht einfach darin, neue Prophezeiungen zu verkündigen, sondern darin, die Erfüllung aller Prophezeiungen des ersten Kommens Christi anzukündigen.
11,14 Maleachi hatte vorausgesagt, dass Elia als Vorläufer vor dem Messias erscheinen würde (Mal 3,23.24). Wenn die Menschen willig gewesen wären, Jesus als den Messias anzunehmen, dann hätte Johannes die Rolle Elias erfüllen können. Johannes war kein wiederauferstandener Elia – er bestritt in Johannes 1,21 sogar, Elia zu sein. Aber er ging vor Christus her im Geist und in der Kraft Elias (Lk 1,17).
11,15 Nicht alle schätzten Johannes den Täufer oder verstanden die tiefe Bedeutung seines Dienstes. Deshalb fügte der Herr hinzu: »Wer Ohren hat, der höre!« Mit anderen Worten: »Passt auf! Täuscht euch nicht über die Bedeutung dessen, was ihr gehört habt.« Wenn Johannes die Prophezeiungen über Elia erfüllte, dann war Jesus der verheißene Messias! Indem er so Johannes den Täufer anerkannte, bestätigte Jesus seinen Anspruch, der Christus Gottes zu sein. Die Annahme des einen würde auch zur Annahme des anderen führen.
11,16.17 Aber das Geschlecht, zu dem Jesus hier sprach, war nicht daran interessiert, auch nur einen von ihnen anzunehmen. Die Juden, die das Vorrecht hatten, die Ankunft ihres Messiaskönigs zu erleben, mochten weder ihn noch seinen Vorläufer. Beide waren für sie wie ein Rätsel. Jesus verglich sie mit mürrischen Kindern auf den Märkten, die sich weigerten, irgendwie aufeinander zuzugehen. Wenn ihre Freunde pfeifen wollten, damit sie tanzen könnten, dann wollten sie nicht. Wenn ihre Freunde eine Trauerfeier in Szene setzten, dann wollten sie nicht wehklagen.
11,18.19 Johannes kam als Asket, und die Juden klagten ihn an, besessen zu sein. Der Sohn des Menschen aß und trank andererseits ganz normal. Wenn das Asketentum des Johannes sie aufschreckte, dann wären sie vielleicht mit Jesu Essensgewohnheiten zufriedener. Aber nein! Sie nannten ihn einen Fresser, einen Weinsäufer, einen Freund der Zöllner und Sünder. Natürlich hat sich Jesus nie übersättigt oder zu viel getrunken. Ihre Anklage war völlig aus der Luft gegriffen. Es stimmte, dass er ein Freund der Zöllner und Sünder war, aber nicht in dem Sinne, wie sie es auffassten. Er schloss mit den Sündern Freundschaft, damit er sie von ihren Sünden erretten konnte, aber er teilte ihre Sünden nie, noch hieß er sie gut. »Und die Weisheit ist gerechtfertigt worden aus ihren Werken.« Der Herr Jesus ist natürlich die Weisheit in Person (1. Kor  1,30).  Obwohl  ungläubige  Menschen ihn verleumdeten, ist er in den Taten und dem Leben seiner Nachfolger gerechtfertigt. Mochte die Masse der Juden sich auch weigern, ihn als Messiaskönig anzuerkennen, so wurden seine Ansprüche vollständig durch seine Wunder und die geistliche Veränderung seiner hingegebenen Jünger bestätigt. B. Weherufe über die unbußfertigen Städte Galiläas (11,20-24)
11,20 Große Vorrechte bringen große Verantwortung mit sich. Keine Stadt war je so begünstigt wie Chorazin, Betsaida und Kapernaum. Der menschgewordene Sohn Gottes war in ihren staubigen Gassen umhergegangen, hatte ihre bevorzugten Bewohner gelehrt und die meisten seiner Wunderwerke innerhalb ihrer Mauern getan. Angesichts dieser überwältigenden Beweislast hatten sie sich starrsinnig geweigert, Buße zu tun. Kein Wunder, dass der Herr ihnen dann ein sehr ernstes Schicksal voraussagen musste.
11,21 Er begann mit Chorazin und Betsaida. Diese Städte hatten die gnädigen flehentlichen Bitten ihres Rettergottes gehört, hatten ihn jedoch bewusst abgewiesen. Er erinnerte sich der Städte Tyrus und Sidon, die wegen ihres Götzendienstes und ihrer Bosheit unter das Gericht Gottes gefallen waren. Wenn sie das Vorrecht gehabt hätten, die Wunder Jesu zu sehen, hätten sie sich in tiefster Buße gedemütigt. Am Tag des Gerichtes würden Tyrus und Sidon deshalb weit besser dastehen als Chorazin und Betsaida.
11,22 Diese Worte (»es [wird ihnen] erträglicher ergehen am Tag des Gerichts«) zeigen, dass es Unterschiede in der Bestrafung in der Hölle geben wird, so wie es verschiedene Belohnungen im Himmel geben wird (1. Kor 3,12-15). Die eine Sünde, die Menschen in die Hölle bringt, ist die Weigerung, sich Jesus zu unterstellen (Joh 3,36b). Das Leidensmaß in der Hölle wird durch die zurückgewiesen Vorrechte und die Sünden, die man begangen hat, bestimmt.
11,23.24 Wenige Städte waren so bevorzugt wie Kapernaum. Nachdem die Menschen Jesus in Nazareth abgelehnt hatten (Kap. 9,1; vgl. Mk 2,1-12) hatte er sich dort niedergelassen. Einige seiner erstaunlichsten Wunder – nicht zurückweisbare Beweise seiner Messianität – hatte er dort vollbracht. Wäre das verdorbene Sodom, die Hauptstadt der Homosexuellen, so bevorzugt worden, dann hätte es Buße getan und wäre verschont geblieben. Aber das Vorrecht Kapernaums war größer. Seine Menschen hätten Buße tun und sich froh zum Herrn bekennen sollen. Aber Kapernaum verpasste den Tag, an dem es dazu Gelegenheit gehabt hätte. Die Sünde der Perversion in Sodom war schrecklich. Aber es gibt keine größere Sünde als die, welche Kapernaum mit der Ablehnung des heiligen Sohnes Gottes auf sich geladen hatte. Deshalb wird Sodom am Tag des Gerichtes nicht so schwer bestraft werden wie Kapernaum. Kapernaum war durch sein Privileg bis in den Himmel erhöht worden, doch am Tag des Gerichtes wird es bis zum Hades hinabgestoßen werden. Wenn das für Kapernaum gilt, wie viel mehr wird es für Orte gelten, in denen es eine Vielzahl von Bibeln gibt, in denen die Botschaft durch die Medien verbreitet wird und in denen nur wenige Menschen – wenn überhaupt welche! – ohne Entschuldigung sind! In den Tagen unseres Herrn gab es vier große Städte in Galiläa: Chorazin, Betsaida, Kapernaum und Tiberias. Jesus sprach gegen die drei ersten Städte Weherufe aus, aber nicht über Tiberias. Was ist das Ergebnis? Die Zerstörung von Chorazin und Betsaida war so gründlich, dass man heute nicht mehr genau weiß, wo sie gelegen haben. Die Lage von Kapernaum ist auch nicht sicher. Tiberias gibt es noch heute. Dies ist eine bemerkenswerte Erfüllung der Prophezeiung, die einmal mehr einen Beweis für die Allwissenheit unseres Heilands und die Inspiration der Bibel gibt.
C. Die Reaktion Jesu auf die Ablehnung (11,25-30)
11,25.26 Die drei Städte Galiläas hatten weder Augen, den Christus Gottes zu sehen, noch Ohren, ihn zu hören. Jesus wusste, dass ihre Haltung nur ein Vorgeschmack der Ablehnung durch weitere Bevölkerungsteile war. Wie reagierte er auf ihre Unbußfertigkeit? Weder mit Bitterkeit oder Zynismus noch mit Rachsucht. Stattdessen erhob er seine Stimme, um Gott zu danken, dass nichts seinen souveränen Willen zunichtemachen kann. »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen geoffenbart hast.« Wir sollten hier zwei möglichen Miss verständnissen vorbeugen: Erstens hat Jesus hier nicht Gefallen an der Zerstörung galiläischer Städte geäußert. Zweitens meinte er mit seiner Äußerung nicht, dass Gott das Licht den Weisen und Klugen in überheblicher Weise vorenthält. Die Städte hatten jede nur denkbare Chance erhalten, den Herrn Jesus anzunehmen. Sie hatten sich willentlich geweigert, sich ihm zu unterstellen. Da sie das Licht ablehnten, enthielt Gott es ihnen nun vor. Aber Gottes Pläne können nicht durchkreuzt werden. Wenn die Intelligenz nicht glauben will, dann wird Gott sich den demütigen Herzen offenbaren. »Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und Reiche leer fortgeschickt« (Lk 1,53). Diejenigen, die meinen, sie seien klug und weise und hätten Christus daher nicht nötig, werden mit Blindheit in ihrem Beurteilungsvermögen bestraft. Aber diejenigen, die ihren Mangel an Weisheit eingestehen, erhalten eine Offenbarung von ihm, »in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind« (Kol 2,3). Jesus dankte dem Vater, der es so eingerichtet hatte, dass einige ihn zwar ablehnten, andere ihn dagegen annahmen. Angesichts großer Widerstände fand er Trost in dem allumfassenden Plan und Ziel Gottes.
11,27 Jesus betonte, dass ihm alle Dinge von seinem Vater übergeben worden sind. Das wäre für jeden anderen eine überhebliche Behauptung gewesen, aber für den Herrn Jesus ist es eine einfache, wahre Aussage. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Widerstand seinen Höhepunkt erreicht, und es war überhaupt nicht erkennbar, dass Jesus alles unter seiner Kontrolle hatte. Dennoch war er jederzeit Herr der Lage. Sein Lebensprogramm näherte sich unausweichlich dem endgültigen herrlichen Sieg. »Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater.« Es gibt um die Person Christi ein undurchdringbares Geheimnis. Die Einheit der Gottheit und Menschheit in einer Person wirft Probleme auf, die den menschlichen Geist völlig verwirren. Da ist zum Beispiel das Problem des Todes: Gott kann nicht sterben. Dennoch ist Jesus gestorben, obwohl er Gott ist. Und andererseits sind seine göttliche und menschliche Natur untrennbar miteinander verbunden. Obwohl wir ihn also kennen und lieben und ihm vertrauen können, versteht ihn in gewisser Hinsicht nur der Vater wirklich. Ja, wie so groß ist das Geheimnis, das Menschen können nicht versteh’n; der Sohn nur kann es wirklich fassen, lässt alles in Erfüllung geh’n, was Vaterlieb’ dereinst beschlossen, was Sündern nun zum Heile ist, vor dir, dem Lamme wird sich beugen einst jedes Knie, Herr Jesus Christ! Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals »… noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn, und der, dem der Sohn ihn offenbaren will.« Auch der Vater ist letztlich unergründlich. Denn nur Gott allein ist groß genug, um Gott zu verstehen. Man kann ihn nicht durch eigene Anstrengung oder eigenen Verstand erkennen. Aber der Herr Jesus kann und wird den Vater denen offenbaren, die er dazu erwählt hat. Wer immer den Sohn kennenlernt, wird auch den Vater kennenlernen (Joh 14,7).
Dennoch müssen wir, nachdem all das gesagt ist, bekennen, dass wir es bei der Erklärung von Vers 27 mit Wahrheiten zu tun haben, die für uns zu hoch sind. Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich. Nicht einmal in der Ewigkeit wird unser begrenzter Verstand ganz in der Lage sein, die Größe Gottes auszuloten oder das Geheimnis der Fleischwerdung zu verstehen. Wenn wir lesen, dass der Vater nur denen offenbart wird, die der Sohn dazu erwählt, könnten wir versucht sein zu denken, dies als eine zufällige Auswahl einiger bevorzugter weniger zu deuten. Der nächste Vers verbietet eine solche Auslegung. Der Herr Jesus spricht hier eine allumfassende Einladung an alle aus, die müde oder schwer beladen zu ihm kommen, um bei ihm Ruhe zu finden. Mit anderen Worten, diejenigen, die er erwählt, um ihnen den Vater zu offenbaren, sind jene, die auf ihn als ihren Retter vertrauen. Wenn wir diese unendlich liebevolle Einladung untersuchen, sollten wir uns daran erinnern, dass sie nach der unverhohlenen Ablehnung Jesu durch die bevorzugten Städte Galiläas erfolgt. Der Hass und die Widerspenstigkeit des Menschen konnten seine Liebe und Gnade nicht zugrunde richten. A. J. McClain hat gesagt: Obwohl das Volk Israel sich auf das Gottesurteil des göttlichen Gerichtes zubewegt, öffnet der König in seinen abschließenden Worten denen die Tür weit, die persönliche Errettung suchen. Und so beweist er, dass er ein Gott der Gnade ist, sogar noch auf der Schwelle des Gerichtes.19
11,28 Kommen heißt glauben (Apg 16,31), aufnehmen (Joh 1,12), essen (Joh 6,35), trinken (Joh 7,37), sehen (Jes  45,22),  bekennen  (1. Joh  4,2),  hören (Joh 5,24.25), durch eine Tür gehen (Joh 10,9), eine Tür öffnen (Offb 3,20), den Saum seines Gewandes berühren (Matth 9,20.21) und die Gabe des ewigen Lebens durch Christus, unseren Herrn, annehmen (Röm 6,23).
»Zu mir.« Der Gegenstand des Glaubens ist nicht die Gemeinde, ein Glaubensbekenntnis oder ein Geistlicher, sondern der lebendige Christus. Rettung liegt in einer Person. Wer Jesus hat, ist gerettet – im göttlich vollkommenen Sinne. »Alle ihr Mühseligen und Beladenen.« Um wirklich zu Jesus kommen zu können, muss man zugeben, dass man mit der Last der Sünde beschwert ist. Nur diejenigen, die anerkennen, dass sie verloren sind, können gerettet werden. Ehe man an den Herrn Jesus Christus glauben kann, muss man vor Gott Buße tun. »Und ich werde euch Ruhe geben.« Man beachte, dass Ruhe hier ein Geschenk ist, das weder verdient noch erworben werden kann. Sie ist die Ruhe der Erlösung, die aus der Erkenntnis entspringt, dass Jesus das Werk der Erlösung am Kreuz von Golgatha vollendet hat. Sie ist die Ruhe des Gewissens, die der Erkenntnis folgt, dass die Strafe für die Sünden ein für alle Mal gezahlt ist und Gott sich nicht zweimal bezahlen lässt.
11,29 In den Versen 29 und 30 wechselt Jesus das Thema: Sprach er erst von der Einladung zur Errettung, folgt nun die Einladung zum Dienst. »Nehmt auf euch mein Joch.« Das bedeutet, sich seinem Willen zu unterwerfen und die Herrschaft über das eigene Leben an Jesus abzugeben (Röm 12,1). »Und lernt von mir.« Wenn wir seine Herrschaft auf jedem Gebiet unseres Lebens anerkennen, dann wird er uns seine Wege lehren.
»Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.« Im Gegensatz zu den Pharisäern, die hart und stolz waren, ist der wahre Lehrer sanft und demütig. Wer sein Joch auf sich nimmt, wird es lernen, den untersten Weg zu gehen. »Und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen.« Das ist nicht die Ruhe des Gewissens, sondern die Ruhe des Herzens, die man findet, wenn man vor Gott und den Menschen den niedrigsten Platz einnimmt. Es ist auch die Ruhe, die man im Dienst Christi erfahren kann, wenn man nicht mehr versucht, groß zu sein.
11,30 »Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.« Wieder sehen wir den starken Gegensatz zu den Pharisäern. Jesus sagte von ihnen: »Sie binden aber schwere und schwer zu tragende Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen, sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem Finger bewegen« (Matth 23,4). Das Joch Jesu ist leicht, es scheuert uns nicht wund. Jemand hat einmal gesagt: »Wenn vor Jesu Zimmermannswerkstatt ein Schild gehangen hätte, dann würde darauf gestanden haben: ›Meine Joche passen.‹« »Und meine Last ist leicht.« Das heißt nicht, dass es keine Probleme, Versuchungen, Arbeit oder Kummer im Leben des Christen gibt. Aber es bedeutet, dass wir sie nicht alleine zu tragen haben. Wir sind mit dem zusammengejocht, der uns in jeder Situation die Gnade gibt, die ausreicht, um sie durchzustehen. Ihm zu dienen, ist keine Knechtschaft, sondern Ausdruck vollkommener Freiheit. J. H. Jowett sagt:
Der schlimmste Fehler, den ein Gläubiger machen kann, besteht in dem Versuch, die Last des Lebens unter einem Einzelgeschirr zu tragen. Gott wollte nie, dass jemand seine Last alleine tragen muss. Deshalb handelt Jesus nur mit Jochen! Ein Joch ist ein Geschirr für zwei, und der Herr selbst möchte einer von beiden sein. Er möchte die Arbeit jedes schweren Auftrages mit uns teilen. Das Geheimnis für Sieg und Frieden im christlichen Leben findet man, indem man das Einzelgeschirr des »Selbst« ablegt und das befreiende Joch des Herrn annimmt.20 D. Jesus ist der Herr des Sabbats (12,1-8)
12,1 Dieses Kapitel berichtet den Höhepunkt der Ablehnung. Die wachsende Bosheit und Feindschaft der Pharisäer kennt nun keinen Halt mehr. Das Ereignis, das die Schleusen öffnet, ist die Sabbatfrage.
An diesem Sabbat geht Jesus mit seinen Jüngern durch die Saaten. Seine Jünger fingen an, Ähren zu pflücken und sie zu essen. Das Gesetz erlaubte es ihnen, sich im Feld des Nächsten zu bedienen, solange sie nicht mit einer Sichel mähten (5. Mose 23,25).
12,2 Aber die Pharisäer, gesetzliche Kleinkrämer, behaupteten, dass dadurch das Sabbatgebot gebrochen worden sei. Obwohl ihre genaue Anklage nicht aufgezeichnet ist, haben sie wahrscheinlich die Jünger folgender Verbrechen ang eklagt: 1. ernten (Ähren pflücken), 2. dreschen (die Körner in der Hand zerreiben),
3. worfeln (die Körner von der Spreu trennen).
12,3.4 Jesus antwortete auf ihre lächerliche Anklage, indem er sie an ein Ereignis aus dem Leben Davids erinnerte. Als David einst ins Exil gehen musste, kamen er und seine Männer auf dem Weg in die Wüste nach Nob, wo sie von den Schaubroten aßen – den zwölf Erinnerungsbroten, die niemand außer den Priestern essen durfte. Weder David noch seine Leute waren Priester, doch Gott hat sich nie über diese Tat beklagt. Warum nicht? Der Grund ist, dass Gottes Gesetz niemals Not über seine Getreuen bringen will. Es war nicht Davids Fehler, dass er im Exil leben musste. Ein sündiges Volk hatte ihn abgelehnt. Wäre ihm sein rechtmäßiger Platz gewährt worden, hätten er und seine Leute nicht von den Schaubroten essen müssen. Weil in Israel Sünde zu finden war, erlaubte Gott eine Tat, die anderenfalls verboten gewesen wäre. Die Analogie ist deutlich. Der Herr Jesus war der rechtmäßige König Israels, aber das Volk wollte ihn nicht als seinen Herrscher anerkennen. Wenn der ihm gebührende Platz ihm gewährt worden wäre, dann hätten seine Nachfolger es nicht nötig gehabt, auf diese Weise am Sabbat oder einem anderen Tag ihr Essen zu suchen. Sie taten nichts, wofür der Herr sie hätte ermahnen müssen.
12,5 Jesus erinnerte die Pharisäer daran, dass die Priester den Sabbat entheiligen, indem sie Tiere töten und opfern und viele andere niedrige Arbeiten verrichten (4. Mose 28,9.10), aber dennoch schuldlos bleiben, weil sie im Dienst Gottes beschäftigt sind.
12,6 Die Pharisäer wussten, dass die Priester am jedem Sabbat im Tempel arbeiteten, ohne ihn zu entheiligen. Warum sollten sie dann die Jünger dafür tadeln dürfen, die doch in der Anwesenheit des König handelten? »Größeres als der Tempel ist hier.« Das Wort »Größeres« bedeutet hier das Reich Gottes, das in der Person des Königs anwesend ist, der selbst natürlich auch weit größer als der Tempel ist.
12,7 Die Pharisäer haben Gottes Herz nie verstanden. »Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer.« Mit diesen Worten zitiert Jesus sinngemäß Hos 6,6. Gott stellt Barmherzigkeit über den Ritus. Er wollte lieber seine Leute sonntags Ähren pflücken sehen, damit sie ihren Hunger stillen konnten, als dass sie aufgrund der allzu strengen Einhaltung des Sabbatgebots körperliche Not ertragen mussten. Wenn die Pharisäer das nur erkannt hätten, hätten sie die Jünger nicht verurteilt. Aber die Pharisäer werteten äußerliche Genauigkeit höher als menschliches Wohlergehen.
12,8 Dann fügte der Herr hinzu: »Denn der Sohn des Menschen ist Herr des Sabbats.« Er hatte dieses Gesetz zu Anfang gegeben und war deshalb derjenige, der am ehesten das Recht besaß, seine wirkliche Bedeutung herauszustellen. E. W. Rogers schreibt dazu: Es scheint, als ob Matthäus, durch den Geist geleitet, hier in schneller Folge die Namen und Dienstämter des Herrn Jesus durchgeht: Er ist der Sohn des Menschen, der Herr des Sabbats, der Knecht des Herrn, der Geliebte des Vaters, der Sohn Davids, größer als der Tempel, größer als Jona und größer als Salomo. Das tut er, um zu zeigen, wie schrecklich die Sünde ist, ihn abzulehnen und ihm seine Rechte zu verweigern.21 Ehe wir zum nächsten Vorfall – der Heilung der verdorrten Hand am Sabbat – übergehen, wollen wir unterb rechen und kurz die biblische Sabbatlehre betrachten.
Exkurs zum Sabbat
Der Sabbat war der siebte Tag der Woche (Samstag), und er wird es auch immer bleiben. Gott ruhte am siebten Tag, nachdem er die Erde in sechs Tagen geschaffen hatte (1. Mose 2,2). Er befahl das Halten des Sabbats zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Vielleicht war es seine Absicht, dass man an einem der sieben Wochentage ruhen sollte.
Dem Volk Israel war befohlen worden, den Sabbat zu halten, als ihm die Zehn Geb   ote  gegeben  wurden  (2. Mose  20,811). Das Gesetz des Sabbats war anders als die anderen neun Gebote, es war ein Zeremonialgesetz, während die anderen Gebote ethische Gesetze waren. Der einzige Grund, warum es falsch war, am Sabbat zu arbeiten, bestand darin, dass Gott es gesagt hatte. Die anderen Gebote hatten es mit Handlungen zu tun, die an sich schlecht waren.
Das Verbot der Sabbatarbeit sollte sich nach Gottes Absicht nie beziehen auf: 1. den Dienst für Gott (Matth 12,5), 2. notwendiges Handeln (Matth 12,3.4) oder
3. barmherzige Taten (Matth 12,11.12). Neun der Zehn Gebote werden im NT wiederholt, nicht als Gesetz, sondern als Anweisungen für Christen, die unter der Gnade leben. Das einzige Gebot, das nirgends wiederholt wird, ist das Sabbatgebot. Stattdessen lehrt Paulus, dass ein Christ nicht verurteilt werden kann, wenn er ihn nicht hält (Kol 2,16). Der wichtigere Tag für die Christen ist der erste Tag der Woche. Der Herr Jesus stand an diesem Tag aus den Toten (Joh 20,1) auf, ein Beweis dafür, dass sein Erlösungswerk vollendet und göttlich anerkannt war. An den nächsten zwei »Tagen des Herrn« traf er sich mit den Jüngern (Joh 20,19.26). Auch der Heilige Geist wurde an einem solchen Tag ausgegossen  (Apg  2,1;  vgl.  3. Mose  23,15. 16). Die ersten Jünger trafen sich an diesem Tag, um das Brot zu brechen und damit den Tod des Herrn zu verkündigen (Apg 20,7). Der erste Tag (Sonntag) ist der Tag, den Gott dazu bestimmte, dass Christen an ihm Geld für das Werk des Herrn sammeln sollen (1. Kor 16,1.2). Der Sabbat oder der siebte Tag war das Ende einer arbeitsreichen Woche; mit dem Tag des Herrn oder dem Sonntag beginnt die Woche mit dem Ruhe spendenden Bewusstsein, dass das Werk der Erlösung vollendet ist. Der Sabbat erinnerte an die erste Schöpfung, der Tag des Herrn ist dagegen mit der neuen Schöpfung verbunden. Der Sabbat war der Tag der Verantwortung, der Sonntag ist ein Tag des Vorrechtes.
Christen »halten« den Tag des Herrn nicht, um sich die Errettung zu verdienen oder »heiliger« zu werden, auch fürchten sie sich nicht vor Bestrafung. Sie sondern diesen Tag aus liebevoller Hingabe an den Einen aus, der sich selbst für sie hingegeben hat. Weil sie von den routinemäßigen, weltlichen Dingen des Lebens an diesem Tag befreit sind, können sie ihn auf besondere Weise zur Anbetung und zum Dienst für Christus nutzen. Es ist nicht richtig zu behaupten, dass der Sabbat zum Tag des Herrn geworden ist. Der Sabbat ist der Samstag, der Tag des Herrn dagegen ist der Sonntag. Der Sabbat war nur ein Schatten, Christus dagegen ist der Körper selbst (Kol 2,16.17). Die Auferstehung Jesu kennzeichnete einen Neuanfang, und der Tag des Herrn ist ein Bild für diesen Anfang. Als gläubiger Jude, der unter dem Gesetz lebte, hielt Jesus den Sabbat (trotz der Anklagen der Pharisäer, die das Gegenteil behaupteten). Als Herr des Sabbats befreite er ihn von falschen Regeln und Vorschriften, die sich immer mehr verfestigt hatten.
E. Jesus heilt am Sabbat (12,9-14)
12,9 Von den Feldern ging Jesus in eine Synagoge. Lukas erzählt, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer ihn beobachteten, damit sie eine Anklage gegen ihn finden könnten (Lk 6,6.7).
12,10 In der Synagoge war ein Mensch mit einer verdorrten Hand – ein stummes Zeugnis der Machtlosigkeit der Pharisäer, die ihm nicht helfen konnten. Bis jetzt hatten sie ihn mit kühler Nichtbeachtung behandelt. Aber plötzlich war er für sie brauchbar, damit sie Jesus in eine Falle führen konnten. Sie wussten, dass der Heiland immer dazu geneigt war, menschliches Leiden zu lindern. Wenn er am Sabbat heilen würden, dann hätten sie ihn bei einer strafwürdigen Tat ertappt, so dachten sie. Deshalb begannen sie mit einer Streiterei über das Gesetz: »Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen?«
12,11 Der Heiland antwortete mit einer Gegenfrage: Würden sie nicht ein Schaf aus einer Grube ziehen, wenn es am Sabbat hineinfallen würde? Natürlich würden sie das tun! Und warum? Vielleicht war ihr Vorwand, dass dies ein Akt der Barmherzigkeit wäre – aber eine andere Überlegung sagte ihnen, dass das Schaf ja etwas wert war und sie sich selbst am Sabbat diesen finanziellen Verlust nicht leisten wollten.
12,12 Unser Herr erinnerte sie daran, dass ein Mensch mehr wert ist als ein Schaf. Wenn es richtig ist, einem Tier Barmherzigkeit zu erweisen, wie viel mehr ist es gerechtfertigt, am Sabbat einem Menschen Gutes zu tun!
12,13.14 Nachdem Jesus die jüdischen Lehrer in ihrer eigenen Hinterhältigkeit gefangen hatte, heilte er die verdorrte Hand. Indem er dem Mann sagte, er solle seine Hand ausstrecken, wurden der Glaube und der menschliche Wille angesprochen. Der Gehorsam wurde mit der Heilung belohnt. Die Hand wurde durch den wunderbaren Schöpfer wiederhergestellt, so gesund wie die andere. Man könnte meinen, die Pharisäer hätten sich jetzt freuen können, dass der Mann, dem sie weder durch ihre Macht noch durch ihren Willen hatten helfen können, jetzt geheilt war. Stattdessen wurden sie auf Jesus wütend und hielten Rat, ihn zu töten. Wenn sie selbst eine verdorrte Hand gehabt hätten, wären sie froh gewesen, geheilt zu werden, ganz gleich, an welchem Wochentag.
F. Heilung für alle (12,15-21)
12,15.16 Als Jesus die Gedanken seiner Feinde erkannte, entwich er. Doch wo immer er hinging, versammelte sich die Menge, und wo immer sich die Kranken versammelten, da heilte er sie alle. Aber er ermahnte sie, dass sie seine Wunderheilungen nicht bekannt machen sollten, nicht, damit er selbst nicht gefährdet werden würde, sondern um jede unüberlegte Bewegung zu verhindern, die ihn zu einem populären Revolutionshelden machen konnte. Der göttliche Zeitplan musste eingehalten werden. Seine Revolution würde kommen, aber nicht, indem das Blut der Römer, sondern sein eigenes Blut vergossen werden würde.
12,17.18 Sein gnadenreicher Dienst war eine Erfüllung der Prophezeiung aus Jesaja 41,9 und 42,1-4. Der Prophet hatte den Messias als den sanften Eroberer vorausgesehen. Er stellte Jesus als den Knecht dar, den Gott erwählt hatte, den Geliebten, an dem Gottes Seele Wohlgefallen hatte. Gott würde ihm seinen Geist geben – eine Prophezeiung, die sich bei der Taufe Jesu erfüllte. Und sein Dienst würde sich über die Grenzen Israels hinaus erstrecken, er würde den Nationen das Recht verkünden. Die letzte Ankündigung wird immer wichtiger, je lauter das »Nein« Israels wird.
12,19 Jesaja sagte weiter voraus, dass der Messias weder streiten noch schreien und seine Stimme auf den Straßen nicht gehört werden würde. Mit anderen Worten, er würde kein politischer Volksverhetzer sein, der das Volk aufwiegelt. McClain schreibt dazu:
Dieser König, der Gottes Knecht ist, wird seinen rechtmäßigen hoch angesehenen Platz nicht durch die normalen Mittel fleischlicher Gewaltanwendung oder berechnender Volksverführung an sich reißen und auch nicht durch die übernatürlichen Mächte, die ihm zur Verfügung standen, einnehmen.22
12,20 Er würde kein geknicktes Rohr abbrechen noch einen glimmenden Docht auslöschen. Er würde nicht die Entr echteten und Benachteiligten missbrauchen, um seine Ziele zu erreichen. Er würde die Unterdrückten, die zerbrochenen Herzens sind, ermutigen und stärken. Er würde jeden noch so kleinen Funken des Glaubens zur Flamme anfachen. Sein Dienst würde so lange weitergehen, bis er das Gericht zum Sieg hinausführen würde. Seine demütige, liebevolle Fürsorge für andere würde sich durch den Hass und die Undankbarkeit der Menschen nicht auslöschen lassen.
12,21 »Und auf seinen Namen werden die Nationen hoffen.« Bei Jesaja heißt es in der entsprechenden Stelle folgendermaßen: »Und die Inseln warten auf seine Weisung« (42,4), doch hier wird die gleiche Bedeutung nur mit anderen Worten ausgedrückt. Mit »den Inseln« sind die Länder der heidnischen Völker gemeint. Sie werden dargestellt, wie sie auf sein Reich warten, damit sie seine treuen Untertanen werden können. Kleist und Lilly preisen dieses Jesajazitat als … einen der Edelsteine des Evangeliums, ein Bild Christi von wunderbarer Schönheit …
Jesaja zeigt Christi Einheit mit dem Vater, seine Aufgabe, die Völker zu lehren, seine Sanftheit, womit er die leidende Menschheit behandelt, und seinen endgültigen Sieg: Es gibt für die Welt keine Hoffnung außer seinen Namen. Christus – Retter der Welt – wird hier nicht in trockenen, gelehrten Worten dargestellt, sondern in der reichhaltigen orientalischen Bildersprache.23 G. Die Sünde, die nicht vergeben werden kann (12,22-32)
12,22-24 Als Jesus einen Besessenen heilte, der blind und stumm war, dachten die einfachen Leute ernsthaft darüber nach, ob er nicht der Sohn Davids, der Messias Israels, sein könnte. Das brachte die Pharisäer auf. Da sie keinerlei Sympathiebezeugung für Jesus ertragen konnten, brachten sie ihre Anklage vor, dass das Wunder durch die Macht Beelzebuls, den Obersten der Dämonen, vollbracht worden sei. Diese seltsame Anschuldigung war die erste offene Anklage, der zufolge der Herr Jesus besessen sei.
12,25.26 Als Jesus ihre Gedanken erkannt hatte, ging er daran, ihre Torheit herauszustellen. Er zeigte auf, dass alle Reiche, Städte und Häuser, die mit sich selbst entzweit sind, nicht bestehen. Wenn er die Dämonen Satans mit der Macht Satans austreiben würde, dann würde Satan gegen sich selbst arbeiten. Das aber wäre absurd.
12,27 Unser Herr hatte noch eine zweite vernichtende Antwort für die Pharisäer bereit. Einige ihrer jüdischen Landsleute, die als Dämonenaustreiber wirkten, behaupteten, die Macht zur Austreibung von Dämonen zu haben. Jesus bestritt ihre Behauptung nicht, noch bestätigte er sie. Vielmehr benutzte er diese Tatsache, um zu zeigen, dass in diesem Fall  die  Söhne  der  Pharisäer  (d. h.  jene Dämonenaustreiber) ebenso wie er selbst die Dämonen durch Beelzebul austreiben würden. Die Pharisäer wollten dies jedoch nicht zugeben, aber sie konnten der Logik dieses Argumentes nicht mehr ausweichen. Ihre eigenen Landsleute würden sie sonst anklagen, weil sie den Eindruck erwecken würden, dass sie als Handlanger Satans Dämonen austreiben würden. Scofield sagte dazu:
Soweit sie und ihre Söhne betroffen waren, fanden sich die Pharisäer schnell bereit, jede Andeutung, dass hier satanische Mächte im Spiel waren, abzuwehren. Aber mit der Einstellung, die sie angenommen hatten, d. h. dass Christus die Dämonen durch Beelzebul austreibe, würden ihre Söhne sie zu Recht als inkonsequent beurteilen. Denn wenn die Macht zur Dämonenaustreibung satanisch wäre, dann wäre jeder, der diese Macht hat, gleichzeitig mit dem Ursprung dieser Macht verbunden.24
Sie dachten einfach unlogisch, wenn sie die gleichen Folgen unterschiedlichen Ursachen zuschreiben wollten.
12,28 Die Wahrheit war natürlich, dass Jesus die Dämonen durch den Geist Gottes austrieb. Sein ganzes Leben als Mensch auf der Erde lebte er in der Macht des Heiligen Geistes. Er war der geisterfüllte Messias, den Jesaja angekündigt hatte (Jes 11,2; 42,1; 61,1-3). Deshalb sagte er zu den Pharisäern: »Wenn ich aber durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen.« Diese Ankündigung muss ein schwerer Schlag für sie gewesen sein. Sie waren stolz auf ihr theologisches Wissen, doch hatten sie nicht gemerkt, dass das Reich schon gekommen war, weil der König unter ihnen lebte.
12,29 Weit davon entfernt, mit Satan im Bund zu sein, war der Herr Jesus der Sieger über Satan. Das zeigt er durch die Geschichte vom Starken. Der Starke ist Satan. Sein Haus ist der Bereich, in dem er die Herrschaft hat. Sein Hausrat sind die Dämonen. Jesus ist derjenige, der den Starken bindet, in sein Haus eindringt und seinen Hausrat plündert. Es ist nun so, dass die Bindung Satans in mehreren Phasen erfolgte. Es begann mit Jesu öffentlichem Dienst. Durch den Tod und die Auferstehung Jesu wurde diese Bindung endgültig festgemacht. Während des Tausendjährigen Reiches wird sie in noch weiterem Ausmaß gelten (Offb 20,2). Schließlich wird die Gebundenheit Satans für ewig festgeschrieben, wenn er in den Feuersee geworfen wird (Offb 20,10). Gegenwärtig scheint es so zu sein, dass Satan noch nicht gebunden ist, denn er hat noch bemerkenswerte Macht. Aber sein Schicksal ist vorherbestimmt und seine Zeit kurz bemessen.
12,30 Dann sagte Jesus: »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut.« Ihre gotteslästerliche Haltung zeigte, dass die Pharisäer nicht für den Herrn waren, deshalb waren sie gegen ihn. Indem sie sich weigerten, mit ihm zu ernten, verstreuten sie das Korn. Sie hatten Jesus angeklagt, in der Macht Satans Dämonen auszutreiben, während in Wirklichkeit sie selbst Knechte Satans waren, indem sie Jesus von seinem göttlichen Werk abhalten wollten. In Markus 9,40 sagte Jesus: »Denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns.« Dies scheint die genaue Umkehrung seiner Worte hier in Matthäus 12,30 zu sein. Das Problem wird gelöst, wenn wir sehen, dass es in Matthäus um die Errettung geht. Ein Mensch kann nur für oder gegen Christus sein, es gibt keine neutrale Zone. In Markus geht es um den Dienst. Es gibt sehr viele Unterschiede zwischen den Jüngern Jesu – Unterschiede zwischen den Ortsgemeinden, in den Methoden und in der Auslegung der Lehre. Aber hier ist die Regel, dass jemand für den Herrn ist und entsprechend respektiert werden muss, wenn er nicht gegen den Herrn ist.
12,31.32 Hier sehen wir die gestörte Beziehung zwischen Jesus und den Führern Israels zum Höhepunkt kommen. Jesus klagt sie an, die Sünde, die nicht vergeben werden kann, begangen zu haben, indem sie den Heiligen lästerten. Sie behaupteten nämlich, dass Jesus seine Wunder durch die Macht Satans und nicht durch die Macht des Heiligen Geistes wirkte. Letztlich nannten sie damit den Heiligen Geist Beelzebul, den Herrn der Dämonen. Für alle anderen Formen der Sünde und der Gotteslästerung ist Vergebung möglich. Es wird einem Menschen sogar vergeben, wenn er gegen den Sohn des Menschen redet. Aber wer den Heiligen Geist lästert, der hat eine Sünde begangen, die weder »in diesem Zeitalter noch in dem zukünftigen« Tausendjährigen Reich vergeben wird. Wenn Jesus von »diesem Zeitalter« sprach, dann meinte er damit die Zeit seines öffentlichen Dienstes auf Erden. Es ist ernsthaft zu bezweifeln, ob es heute überhaupt noch möglich ist, die Sünde zu begehen, die nicht vergeben werden kann, da Jesus heute nicht mehr in leiblicher Gestalt auf Erden ist und Wunder tut.
Die Sünde, die nicht vergeben werden kann, ist im Wesentlichen dieselbe wie die Ablehnung des Evangeliums. Ein Mensch kann den Heiland jahrelang ablehnen, dann Buße tun, glauben und gerettet werden. (Wenn er jedoch im Unglauben stirbt, ist ihm natürlich nicht vergeben.) Auch ist die Sünde, die nicht vergeben werden kann, nicht mit dem »Zurückgehen« zu verwechseln. Ein Gläub iger mag sich vom Herrn weit entfernen, doch kann er in die Gemeinschaft der Familie Gottes wiederaufgenommen werden.
Viele Menschen fragen sich ängstlich, ob sie die Sünde begangen haben, die nicht vergeben werden kann. Sogar wenn diese Sünde heute begangen werden könnte, wäre die Tatsache, dass jemand sich darüber Gedanken macht, ein Zeichen dafür, dass er sie nicht begangen hat. Diejenigen, die sich dieser Sünde schuldig gemacht hatten, waren in ihrem Widerstand gegen Jesus verhärtet und uneinsichtig. Sie hatten keine Gewissensbisse, ob sie etwa seinen Heiligen Geist beleidigen könnten, und zögerten nicht, die Ermordung des Sohnes Gottes zu planen. Sie zeigten weder Reue noch Buße. H. Man erkennt einen Baum an der Frucht (12,33-37)
12,33 Sogar die Pharisäer hätten anerkennen müssen, dass der Herr durch die Austreibung der Dämonen Gutes getan hatte. Doch klagten sie ihn an, dass er schlecht sei. Er enthüllt ihre Inkonsequenz und sagt letztlich: »Entscheidet euch. Wenn ein Baum gut ist, ist auch die Frucht gut und umgekehrt.« Früchte zeigen die Qualität des Baumes, der sie hervorgebracht hat. Die Frucht seines Dienstes war gut gewesen. Er hatte die Kranken, die Blinden, die Tauben und die Stummen geheilt, hatte Dämonen ausgetrieben und Tote auferweckt. Hätte ein fauler Baum solch gute Frucht hervorbringen können? Unmöglich! Doch warum weigerten sie sich dann so starrsinnig, ihn anzuerkennen?
12,34.35 Der Grund dafür war, dass sie »Otternbrut« waren. Ihre Bosheit gegenüber dem Sohn Gottes, die sich in ihren gehässigen Worten zeigte, war eine Folge ihres verdorbenen Herzens.25 Ein Herz voller Güte erweist sich in freundlichen und gerechten Worten. Ein böses Herz zeigt sich durch Gotteslästerung, Bitterkeit und Beschimpfungen.
12,36 Jesus warnte sie (und uns) ernsthaft, dass jeder von jedem unnützen Wort, das er redet, Rechenschaft ablegen muss. Weil die Worte, die jemand spricht, ein genaues Bild seines Lebens erkennen lassen, werden sie eine ausreichende Basis für die Verurteilung oder den Freispruch bilden. Wie groß wird die Verdammung der Pharisäer für die bösen und verachtenden Worte sein, die sie gegen den heiligen Sohn Gottes geredet haben!
12,37 »Denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.« Im Falle der Gläubigen ist die Strafe für achtloses Reden durch den Tod Christi bezahlt worden, dennoch wird unser achtloses Reden, das nicht bekannt und vergeben worden ist, sich durch einen Verlust an Lohn vor dem Richterstuhl Christi auswirken.
I. Das Zeichen des Propheten Jona (12,38-42)
12,38 Trotz aller Wunder, die Jesus gewirkt hatte, besaßen die Schriftgelehrten und Pharisäer die Frechheit, ihn nach einem Zeichen zu fragen. Sie deuteten damit an, dass sie glauben wollten, wenn er sich als Messias ausweisen könnte! Aber ihre Heuchelei war leicht zu durchschauen. Wenn sie nach so vielen Wundern immer noch nicht glauben wollten, wie konnten sie durch weitere Wunder überzeugt werden? Die Haltung, die Wunder und Zeichen als Bedingung für den Glauben verlangt, gefällt Gott nicht. Jesus sagte einst zu Thomas: »Glücks elig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben« (Joh 20,29). Nach Gottes Plan folgt das Sehen dem Glauben.
12,39 Der Herr sprach sie als »böses und ehebrecherisches Geschlecht« an. Sie waren böse, weil sie absichtlich für ihren Messias blind waren, und eheb recherisch, weil sie geistlich ihrem Gott untreu geworden waren. Ihr Schöpfer-Gott, eine einzigartige Person, die in sich die absolute Gottheit und das vollkommene Menschsein verkörperte, stand in ihrer Mitte und sprach zu ihnen, und sie wagten es, ihn nach einem Zeichen zu fragen!
12,40 Zusammenfassend sagte er ihnen, dass sie kein Zeichen erhalten würden als das Zeichen des Propheten Jona. Damit bezog sich Jesus auf seinen Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung. Jonas Erlebnis, als er von dem Fisch verschlungen und wieder ausgespien wurde (Jona 1,17; 2,10) war ein Hinweis auf das Leiden und die Auferstehung des Herrn. Jesu Auferstehung aus den Toten ist allerdings das endgültige, größte Zeichen seines Dienstes am Volk Israel. So wie Jona drei Tage im Bauch des großen Fisches war, würde unser Herr nach seiner eigenen Voraussage drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. Diese Aussage wirft ein Problem auf. Wenn, wie normalerweise angenommen wird, Jesus am Freitagnachmittag begraben worden und am dritten Tag auferstanden ist, wie kann man dann sagen, dass er drei Tage und drei Nächte im Grab verbrachte? Die Antwort lautet folgendermaßen: Nach der jüdischen Zeitrechnung zählt jeder Teil eines Tages und einer Nacht als ein vollständiger Zeitraum. »Ein Tag und eine Nacht sind ein onah, und ein Teil des onah ist wie das Ganze« (jüdisches Sprichwort).
12,41 Jesus stellte die Schuld der jüdischen Führer durch zwei Gegensätze dar. Erstens waren die Heiden in Ninive weitaus weniger bevorzugt, doch als sie die Predigt des ungehorsamen Propheten Jona hörten, taten sie Buße. Sie werden im Gericht aufstehen, um die Menschen zu verdammen, die in den Tagen Jesu den nicht annahmen, der größer war als Jona: den fleischgewordenen Sohn Gottes.
12,42 Zweitens führt Jesus die Königin von Saba an, eine Heidin, die außerhalb der jüdischen Vorrechte lebte. Sie kam »von den Enden der Erde« gereist, und zwar unter großem Aufwand und mit erheblichen Kosten, um ein Gespräch mit Salomo zu führen. Die Juden in den Tagen Jesu mussten noch nicht einmal eine Reise machen, um ihn zu sehen, er war vom Himmel in ihr Umfeld gekommen, um ihr Messiaskönig zu sein. Doch sie hatten in ihrem Leben keinen Platz für ihn – der doch unendlich größer als Salomo ist. Eine heidnische Königin wird sie am Tag des Gerichtes für diese mutwillige Unachtsamkeit verurteilen. In diesem Kapitel ist gezeigt worden, dass unser Herr größer als der Tempel  (V. 6), größer als Jona (V. 41) und größer als Salomo ist. Er ist »größer als das Größte und weit besser als das Beste«. J. Ein unreiner Geist kehrt zurück (12,43-45)
12,43.44 Nun gibt Jesus uns in symbolischer Form eine Zusammenfassung der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des ungläubigen Israel. Der Mann ist die jüdische Nation, der unreine Geist ist der Götzendienst, der für das Volk seit der Knechtschaft in Ägypten bis zur Babylonischen Gefangenschaft charakteristisch war. Diese Gefangenschaft hatte Israel zeitweilig von seinem Götzendienst geheilt. Es war, als ob ein unreiner Geist aus einem Menschen ausgefahren wäre. Vom Ende der Gefangenschaft bis heute haben die Angehörigen des jüdischen Volkes keinen Götzendienst mehr betrieben. Sie sind wie ein Haus, das leer, gekehrt und geschmückt ist. Vor über 1900 Jahren versuchte unser Herr, in dieses leere Haus zu gelangen. Er war der rechtmäßige Besitzer des Hauses, aber die Menschen weigerten sich hartnäckig, ihn einzulassen. Obwohl sie nicht länger Götzen anbeteten, weigerten sie sich doch, den wahren Gott anzubeten. Das leere Haus spricht von einem geistlichen Vakuum – einem gefährl ichen Zustand, wie die Folge zeigt. Verbesserung reicht nicht aus. Der Herr muss wirklich angenommen werden.
12,45 In der Zukunft wird der Geist des Götzendienstes sich entschließen, zum Haus zurückzukehren, und zwar in Gemeinschaft mit sieben anderen Geistern, die schlimmer sind als er selbst. Da die Zahl Sieben die Zahl der Vollkommenheit ist, bedeutet dies, dass es sich hier um Götzendienst in seiner ausgereiftesten Form handelt. Dies ist eine Vorausschau auf die Große Trübsal, in deren Verlauf das abtrünnige Volk den Antichristen verehren wird. Sich vor dem Menschen der Sünde niederzuwerfen und ihn als Gott anzubeten, ist eine schrecklichere Form des Götzendienstes als jene Abgötterei, der sich das Volk in seiner Vergangenheit schuldig gemacht hat. Und so wird »das Ende jenes Menschen … schlimmer als der Anfang«. Das ungläubige Israel wird die schrecklichen Gerichte der Trübsal zu erleiden haben, und sein Leiden wird die Not in der Zeit der Gefangenschaft weit übersteigen. Der dem Götzendienst verfallene Teil des Volkes wird schließlich bei Christi Wiederkunft vernichtet werden. »So wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen.« Dasselbe abtrünnige, Christus ablehnende Geschlecht, das den Sohn Gottes bei seinem ersten Kommen abgelehnt hat, wird bei seiner Wiederkunft ein hartes Gericht über sich ergehen lassen müssen.
K. Die Mutter und die Brüder Jesu (12,46-50)
12,46-50 Diese Verse beschreiben ein scheinbar nebensächliches Ereignis, bei dem die Familienangehörigen Jesu kommen und ihn sprechen wollen. Warum waren sie gekommen? Markus gibt uns einen Hinweis. Einige Freunde Jesu nahmen an, dass er verrückt geworden sei (Mk 3,21.31-35), und vielleicht kam seine Familie, um ihn in aller Stille abzuholen (s. a. Joh 7,5). Als ihm gesagt wurde, dass seine Mutter und seine Brüder draußen warteten, um mit ihm zu sprechen, antwortete der Herr mit der Frage: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?« Dann wies er auf seine Jünger und sagte: »Wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.«
Diese aufregende Ankündigung ist voller geistlicher Bedeutung und markiert einen Wendepunkt im Handeln Jesu an Israel. Maria und ihr Sohn vertraten das Volk Israel, die Blutsverwandten Jesu. Bisher hatte er seinen Dienst im Großen und Ganzen auf die verlorenen Schafe des Hauses Israel beschränkt. Aber es wurde nun immer deutlicher, dass sein eigenes Volk ihn nicht wollte. Statt sich vor ihrem Messias zu beugen, hatten die Pharisäer ihn angeklagt, dass er von Satan geleitet werde.
Deshalb kündigt Jesus nun eine neue Ordnung an. Von nun an würden die Bande seiner Volkszugehörigkeit zu Israel nicht mehr der ausschlaggebende Faktor für sein Wirken sein. Obwohl sein mitleidiges Herz sich noch immer zu seinem natürlichen Volk bekennen würde, zeigt das 12. Kapitel einen unmissverständlichen Bruch mit Israel. Das Ergebnis ist nun deutlich geworden. Israel will ihn nicht haben, deshalb wendet er sich jetzt denen zu, die ihn annehmen wollen. Blutsverwandtschaft wird nun durch geistliche Verbundenheit ersetzt. Gehorsam gegenüber Gott wird Männer und Frauen (ungeachtet dessen, ob sie Juden oder Heiden waren) in eine lebendige Beziehung zu ihm bringen.
Ehe wir dieses Ereignis hinter uns lassen, sollten wir noch zwei wichtige Punkte festhalten, die die Mutter Jesu betreffen. Erstens wird deutlich, dass Maria keine bevorzugte Stellung innehat, wenn es darum geht, in seine Gegenwart zu treten.
Zweitens widerlegt die Erwähnung der Brüder Jesu die These, dass Maria zeit ihres Lebens Jungfrau geblieben ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass hier wirkliche Söhne Marias und damit Halbb rüder Jesu gemeint sind. Diese Sicht wird durch andere Schriftstellen gestützt, wie etwa Ps 69,9; Matth 13,55; Mk 3,31.32; 6,3; Joh 7,3.5; Apg 1,14; 1. Kor 9,5; Gal 1,19. VIII. Der König verkündigt das Reich in seiner neuen zwischen zeitlichen Gestalt, weil Israel ihn verworfen hat (Kap. 13)
Die Gleichnisse über das Reich der Himmel
Wir sind an einen Wendepunkt im Evangelium des Matthäus gelangt. Der Herr hat angedeutet, dass irdische Beziehungen nun durch geistliche Bande ersetzt worden sind und nicht länger die jüdische Geburt ausschlaggebend ist, sondern der Gehorsam gegenüber Gott dem Vater. Indem die Pharisäer den König verwarfen, haben sie zwangsläufig auch das Reich der Himmel abgelehnt. Nun gibt uns der Herr durch eine Reihe von Gleichnissen einen Ausblick auf die neue Gestalt, die das Reich in der Zeit zwischen seiner Verwerfung und seiner endgültigen Einsetzung als König der Könige und Herr der Herren annehmen wird. Sechs dieser Gleichnisse beginnen mit den Worten: »Mit dem Reich der Himmel ist es wie …« Um diese Gleichnisse richtig sehen zu können, sollten wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, was wir in Kapitel 3 über das Reich gesagt haben. Das Reich der Himmel ist ein Gebiet, in dem die Herrschaft Gottes akzeptiert wird. Es hat zwei Bereiche:
1. das äußerliche Bekenntnis, das alle umfasst, die von sich behaupten, Gottes Herrschaft anzuerkennen, und 2. eine innere Realität, die nur diejenigen umfasst, die durch Bekehrung in das Reich gelangen.
Das Reich hat 5 verschiedene Phasen: 1. Die Phase des AT, in der es nur vorhergesagt wurde,
2. die Phase, in der es in der Person des Königs »anwesend« oder »nahe« war, 3. die Zwischenzeit nach der Ablehnung des Königs und seiner Rückkehr in den Himmel, in der das Reich aus denen besteht, die auf Erden bekennen, seine Untertanen zu sein, 4. die Offenbarwerdung des Königreiches im Tausendjährigen Reich und 5. das endgültige, ewige Reich. Jede Bibels telle, die das Reich erwähnt, bezieht sich auf eine dieser fünf Phasen. In Kapitel 13 wird nun die Zwischenzeit besprochen. In dieser Phase von Pfingsten bis zur Entrückung besteht das Reich Gottes gemäß seiner inneren Realität (den echten Gläubigen) aus denselben Menschen wie die Gemeinde. Das ist der einzige Aspekt, worin Reich und Gemeinde gleich sind. Sonst sind sie sehr unterschiedlich.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wollen wir nun die Gleichnisse auslegen.
A. Das Gleichnis vom Sämann (13,1-9)
13,1 Jesus verließ das Haus, in dem er den Besessenen geheilt hatte, und »setzte sich an den See« Genezareth. Viele Ausleger glauben, in dem Haus das Volk Israel und in dem See die Heiden sehen zu können. Dabei symbolisiert das Weggehen des Herrn den Bruch mit Israel. Während der Zwischenzeit wird das Reich den Nationen gepredigt.
13,2 Als sich eine große Volksmenge am Strand zusammenfindet, steigt er in ein Boot und lehrt die Menge in Gleichnissen. Ein Gleichnis ist eine Geschichte mit einer zugrunde liegenden geistlichen oder moralischen Lehre, die nicht immer sofort sichtbar ist. Die folgenden sieben Gleichnisse sagen uns, wie das Reich in der Zeit zwischen Jesu erstem und zweitem Kommen aussieht.
Die ersten vier Gleichnisse erzählte Jesus vor der Menge, die drei letzten hörten nur die Jünger. Der Herr erklärte die ersten beiden und das siebte seinen Jüngern und überließ es ihnen (und uns), die anderen mit der Hilfe, die er uns bereits gegeben hat, auszulegen.
13,3 Das erste Gleichnis beschäftigt sich mit einem Sämann, der seine Saat auf vier verschiedenen Böden sät. Wie zu erwarten ist, unterscheiden sich die Ergebnisse in jedem Fall voneinander. 13,4-8 Boden Ergebnisse
1. Harter, fest- 1. Die Saat wird von gestampfter Weg Vögeln gefressen. 2. Dünne Erdschicht 2. Die Saat geht schnell auf, über einem hat aber keine Wurzeln. Felsgrund Sie wird von der Sonne verbrannt und verdorrt.
3. Erde von Dornen 3. Die Saat geht auf, aber überwuchert wegen der Dornen ist Wachstum unmöglich.
4. Gute Erde 4. Die Saat geht auf, wächst und bringt Ernte ein.
Einige Stängel tragen
hundertfach, andere
sechzigfach, wieder
andere dreißigfach.
13,9 Jesus schloss das Gleichnis mit der kurzen Ermahnung ab: »Wer Ohren hat, der höre!« In dem Gleichnis teilte er der Menge eine wichtige Botschaft mit, eine andere den Jüngern. Keiner sollte die Bedeutung seiner Worte missverstehen. Da der Herr selbst das Gleichnis in den Versen 18-23 auslegt, werden wir unsere Neugier bis dahin zügeln. B. Der Zweck der Gleichnisse (13,10-17)
13,10 Die Jünger waren verwirrt, dass der Herr in der verhüllten Sprache der Gleichnisse sprach. So baten sie ihn, seine Rede näher zu erklären.
13,11 In seiner Antwort unterscheidet Jesus zwischen der ungläubigen Menge und den gläubigen Jüngern. Die Angehörigen der Menge, ein Querschnitt durch die Bevölkerung, lehnten ihn offensichtlich ab, obwohl ihre Ablehnung erst vollendet sein würde, als sie seinen Kreuzestod forderten. Ihnen würde nicht gestattet sein, die »Geheimnisse des Reiches der Himmel« zu kennen, während seine echten Nachfolger eine Hilfe zum Verständnis erhalten sollten.
Ein Geheimnis ist im NT eine Tatsache, die die Menschen vorher nicht kannten und die man ohne göttliche Offenbarung nicht erkennen kann, aber die nun offenbart worden ist. Die Geheimnisse des Reiches sind bis dahin unbekannte Wahrheiten über das Reich in seiner zwischenzeitlichen Gestalt. Allein die Tatsache, dass das Reich überhaupt eine Zwischenform hat, war bis dahin ein Geheimnis. Die Gleichnisse beschreiben einige Eigenschaften des Reiches während der Zeit, in deren Verlauf der König abwesend ist. Einige Menschen nennen das deshalb »die verborgene Gestalt des Reiches« – nicht, dass es irgendetwas Geheimnisvolles um dieses Reich gäbe, sondern nur, weil diese Tatsachen vorher nie bekannt waren.
13,12 Es hat den Anschein, dass diese Geheimnisse zufällig der Menge vorenthalten und den Jüngern offenbart wurden. Doch Jesus gibt hier den Grund an: »Denn wer da hat, dem wird gegeben und überreichlich gewährt werden; wer aber nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, genommen werden.« Die Jünger glaubten an den Herrn Jesus, deshalb würde ihnen mehr gegeben werden. Sie hatten das Licht angenommen, also würden sie mehr Licht erhalten. Die Angehörigen des jüdischen Volkes dagegen hatten das Licht der Welt abgelehnt, deshalb wurden sie jetzt nicht nur davon ausgeschlossen, mehr Licht zu erhalten, sondern sie würden das wenige Licht, das sie schon hatten, auch noch verlieren. Wer das Licht ablehnt, dem wird es vorenthalten.
13,13 Matthew Henry vergleicht die Gleichnisse mit der Feuer- und Wolkensäule, die Israel erleuchtete, die Ägypter dagegen verwirrte. Die Gleichnisse sollten denen offenbart werden, die ehrlich interessiert waren, würden sich aber »für diejenigen, die Jesus feindlich gesinnt waren, als Ärgernis erweisen«. So war es nicht eine Frage der Laune des Herrn, sondern nur das Wirken eines Prinzips, das im ganzen Leben gültig ist – auf absichtliche Blindheit folgt als Gerichtshandeln die wirkliche Blindheit. Deshalb sprach Jesus zu den Juden in Gleichnissen. H. C. Woodring drückte das so aus: »Weil sie die Wahrheit nicht liebten, sollten sie das Licht der Wahrheit nicht empfangen.«26 Sie bekannten, sehen zu können, das heißt, mit den göttlichen Wahrheiten vertraut zu sein. Sie lehnten jedoch die fleischgewordene Wahrheit, die vor ihnen stand, entschlossen ab. Sie beteuerten, auf Gottes Wort zu hören, aber gehorchten dem lebendigen Wort Gottes nicht, das sich in ihrer Mitte befand. Sie wollten die wunderbare Tatsache der Fleischwerdung nicht verstehen, deshalb wurde ihnen das Verständnis entzogen.
13,14.15 Sie waren eine lebendige Erfüllung der Prophezeiung in Jesaja 6,9.10. Das Herz Israels war taub geworden, und ihre Ohren waren für Gottes Stimme nicht mehr empfänglich. Sie weigerten sich hartnäckig, mit ihren Augen zu sehen. Sie wussten, dass Gott sie heilen würde, wenn sie sehen, hören, verstehen und Buße tun würden. Aber trotz ihrer Krankheit und Not lehnten sie jede Hilfe ab. Deshalb bestand ihre Strafe dari n, dass sie hörend nicht verstehen und sehend nicht sehen konnten.
13,16.17 Die Jünger hatten das große Vorrecht zu sehen, was keiner vor ihnen sehen durfte. Die Propheten und andere gerechte Männer des AT hatten sich danach gesehnt, die Ankunft des Messias erleben zu dürfen, aber ihr Wunsch war nicht erfüllt worden. Die Jünger hatten das Vorrecht, an diesem Wendepunkt der Geschichte zu leben, den Messias zu sehen, Zeugen seiner Wunder zu werden und die unvergleichliche Lehre aus seinem Mund zu vernehmen.
C. Erklärung des Gleichnisses vom Sämann (13,18-23)
13,18 Nachdem der Herr erklärt hatte, warum er in Gleichnissen sprach, fährt er nun fort, um das Gleichnis von den vier verschiedenen Böden auszulegen. Er sagt uns nicht, wer der Sämann ist, doch wir können uns sicher sein, dass es entweder Jesus selbst (V. 37) oder aber derjenige ist, der die Botschaft des Reiches predigt. Er erklärt, dass die Saat das Wort vom Reich ist  (V. 19).  Die  verschiedenen  Arten  des Bodens sind diejenigen, welche die Botschaft hören.
13,19 Der festgetretene Weg spricht von Menschen, die sich weigern, die Botschaft anzunehmen. Sie hören zwar das Evangelium, verstehen es aber nicht – und zwar nicht, weil sie dazu außerstande wären, sondern weil sie nicht wollen. Die Vögel sind ein Bild Satans, er reißt die Saat aus den Herzen dieser Hörer heraus. Er arbeitet mit ihnen gemeinsam an ihrer selbstgewählten Unfruchtbarkeit. Die Pharisäer waren solche Hörer mit festgetretener Erde.
13,20.21 Als Jesus über das Steinige sprach, dachte er an eine dünne Schicht Erdreich über einem Felsgrund. Das ist ein Bild für die Menschen, die das Wort hören und mit Freude reagieren. Zu Anfang mag der Sämann erfreut sein, dass seine Predigt so erfolgreich ist. Aber bald lernt er die tiefgründigere Lektion, dass es nicht gut ist, wenn die Botschaft mit Lächeln und Beifall angenommen wird. Wichtig ist, erst von der Sünde überführt zu sein, Buße zu tun und umzukehren. Es ist weitaus vielversprechender, einen Suchenden weinend den Weg nach Golgatha gehen zu sehen, als zu beobachten, wie er unbeschwert und überschwänglich zum Altar tritt, um dem Ruf des Predigers zu folgen. Die nur oberflächliche Erdschicht bringt nur oberflächliches Bekenntnis, es fehlen tiefe Wurzeln. Aber wenn das Bekenntnis durch die brennende Sonne der Drangsal oder Verfolgung erprobt wird, dann entscheidet sich ein solcher Gläubiger oft, dass es den Einsatz nicht wert ist, und er gibt jedes Bekenntnis der Herrschaft Christi über sein Leben auf.
13,22 Die mit Dornen überwucherte Erde steht für eine andere Gruppe, die das Wort nur oberflächlich hört. Diese Menschen scheinen nach außen hin echte Bürger des Reiches zu sein, aber nach einiger Zeit wird ihr Interesse daran durch die »Sorge der Zeit« und durch ihr Streben nach Reichtum erstickt. Es gibt keine geistliche Frucht in ihrem Leben. G. H. Lang veranschaulicht dies durch den Sohn eines geldliebenden Vaters mit einem großen Geschäft. Dieser Sohn hatte das Wort in seiner Jugendzeit gehört, ließ sich aber schnell von dem Geschäft vereinnahmen.
Er musste sich bald entscheiden, ob er seinem Herrn oder seinem Vater gefallen wollte. Deshalb war die Erde, auf die der Same gesät wurde und worin er keimte, schon mit Dornen bewachsen. Die Sorge der Zeit und der Betrug des Reichtums waren also schon da. Er entschied sich für die Wünsche seines Vaters, arbeitete nur noch für das Geschäft, stieg bis zur Konzernführung auf, und als es ihm gut ging, musste er erkennen, dass er seine himmlischen Angelegenheiten vernachlässigt hatte. Er wollte sich bald zur Ruhe setzen und sagte, er wolle sich nun mehr um geistliche Angelegenheiten kümmern. Doch Gott lässt sich nicht spotten. Der Mann setzte sich zur Ruhe und starb nur wenige Monate später. Er hinterließ 90 000 £ und ein geistlich verschwendetes Leben. Die Dornen hatten das Wort erstickt, deshalb brachte er keine Frucht.27
13,23 Die gute Erde steht für den wahren Gläubigen. Er hört das Wort, nimmt es auf und versteht es, indem er dem Gehörten Gehorsam leistet. Obwohl diese Gläubigen nicht alle die gleiche Frucht bringen, zeigen sie alle durch ihre Frucht, dass sie Leben aus Gott haben. Frucht bedeutet hier wahrscheinlich eher die Entwicklung eines christlichen Charakters. Es geht weniger um Menschen, die man für Christus gewonnen hat. Wenn das Wort Frucht im Neuen Testament benutzt wird, ist damit meist die Frucht des Geistes gemeint (Gal 5,22.23). Was sollte dieses Gleichnis der Menge sagen? Offensichtlich warnte es vor der Gefahr, das Wort zu hören, ohne ihm gehorsam zu sein. Das Gleichnis sollte auch Einzelne ermutigen, das Wort ehrlich anzunehmen und dann ihre Echtheit zu beweisen, indem sie für Gott Frucht brächten. Die Jünger und spätere Gläubige wurden durch dieses Gleichnis auf die anderenfalls sehr entmutigende Tatsache vorbereitet, dass relativ wenige Menschen, die die Botschaft hören, auch wirklich gerettet werden. Es bewahrt die treuen Untertanen Christi vor der Illusion, dass die ganze Welt durch die Verbreitung des Evangeliums bekehrt werden wird. Die Jünger wurden durch dieses Gleichnis auch vor drei großen Gegenspielern des Evangeliums gewarnt: 1. Satan (die Vögel – der Böse), 2. das Fleisch (die sengende Sonne – Drangsal oder Verfolgung) und 3. die Welt (die Dornen – die Sorge der Zeit und der Betrug des Reichtums). Schließlich erhielten die Jünger eine Vorstellung von den großen Erträgen, wenn man in Menschen investiert. Dreißigfach  bedeutet  3000%igen  Gewinn, sechzigfach  bedeutet  6000%igen  Gewinn, und hundertfach bedeutet sogar 10 000%igen Gewinn. Es ist wirklich unmöglich, die Bedeutung von nur einer einzigen wirklichen Bekehrung zu ermessen. Irgendein Sonntagsschullehrer hat in D. L. Moody investiert. Moody hat wieder andere gewonnen, die wieder andere gewannen. Der Sonntagsschullehrer hat eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die nie mehr aufhören wird.
D. Das Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut (13,24-30)
Das vorige Gleichnis war ein lebendiges Beispiel für die Tatsache, dass das Reich der Himmel sowohl aus denen besteht, die sich nur mit ihren Worten zu dem König bekennen, als auch aus echten Jüngern. Die ersten drei Bodenarten zeigen das Reich in seinem weitesten Umkreis – das äußere Bekenntnis. Der vierte Boden zeigt das Reich im engeren Sinne – diejenigen, die wirklich bekehrt sind.
13,24-26 Das zweite Gleichnis – vom Weizen und vom Unkraut – zeigt das Reich auch in diesen beiden Bereichen. Der Weizen steht für die wahren Gläubigen; das Unkraut sind Menschen, die nur Lippenbekenntnisse ablegen. Jesus vergleicht das Reich mit »einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Während aber die Menschen schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen«. Unger schreibt, dass es sich bei dem häufigsten Unkraut in einem Kornfeld um den Taumellolch (Lolium temulentum) handelt, »ein giftiges Gras, das sich vom Weizen während des Wachstums fast nicht unterscheidet. Wenn sie jedoch Ähren ansetzen und reifen, dann können sie ohne Schwierigkeit voneinander getrennt werden.«28
13,27.28 Als die Knechte sahen, dass der Weizen mit Unkraut vermischt war, fragen sie den Hausherrn, wie das gekommen sei. Er erkannte das sofort als Werk eines Feindes. Die Knechte waren bereit, das Unkraut sofort zu jäten.
13,29.30 Aber der Bauer gab die Anweisung, bis zur Ernte zu warten. Dann würden die Schnitter beides voneinander trennen. Das Korn würde in die Scheunen gesammelt, der Lolch jedoch verbrannt werden.
Warum ordnete der Bauer hier nun an, dass man mit der Trennung warten soll? In der Natur sind die Wurzeln von Weizen und Lolch so verfilzt, dass es fast unmöglich ist, nur eines von beiden auszurupfen.
Dieses Gleichnis wird von unserem Herrn in den Versen 37-43 erklärt, deshalb werden wir es hier nicht weiter kommentieren.
E. Das Gleichnis vom Senfkorn (13,31.32)
13,31.32 Als Nächstes verglich der Herr das Reich mit einem Senfkorn, das er als das kleinste aller Samen bezeichnete, das heißt, das kleinste, das seine Zuh örer kannten. Wenn man eines dieser Senfkörner aussäte, dann wurde es zu einem Baum. Ein wahrhaft wunderbares Wachstum! Die normale Senfpflanze ist eher ein Strauch als ein Baum – immerhin groß genug, dass Vögel in seinen Zweigen nisten können.
Das Samenkorn steht für den bescheidenen Anfang des Reiches. Zu Beginn wurde das Reich durch die Verfolgung relativ klein und rein erhalten. Aber als es durch den Staat geschützt und gefördert wurde, wuchs es übermäßig. Deshalb konnten nun Vögel kommen und sich dort niederlassen. Hier wird das gleiche Wort für Vögel verwendet wie in Vers 4, wo Jesus sagt, dass die Vögel den Bösen  symbolisieren  (V. 19).  Das  Reich wurde zu einem Nistplatz Satans und seiner Handlanger. Heute finden sich unter dem Dach des Christentums solche christusleugnenden Lehren wie Unitarismus (theologische Richtung, welche die Dreieinheit Gottes ablehnt; Anm. d. Übers.), Christliche Wissenschaft, Mormonentum, Zeugen Jehovas und Vereinigungskirche (Mun-Sekte).
Deshalb warnte der Herr hier die Jünger vorab, dass während seiner Abwesenheit das Reich gewaltig wachsen würde. Sie sollten sich jedoch dadurch nicht täuschen lassen oder Wachstum mit Erfolg gleichsetzen. Obwohl das kleine Senfkorn zu einem unnormal großen Baum wüchse, würde es in seiner Größe »eine Behausung von Dämonen (werden) und ein Gefängnis jedes unreinen Geistes und ein Gefängnis jedes unreinen und gehassten Vogels« (Offb 18,2). F. Das Gleichnis vom Sauerteig (13,33)
13,33 Als Nächstes vergleicht der Herr Jesus das Reich mit »einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Maß Mehl mengte«. Schließlich war das ganze Mehl »durchsäuert«. Viele legen dies so aus, dass das Mehl die Welt und der Sauerteig das Evangelium ist, das in der ganzen Welt gepredigt wird, bis jeder gerettet ist. Diese Ansicht wird jedoch von der Schrift, der Geschichte und den gegenwärtigen Ereignissen nicht bestätigt. Sauerteig ist in der Bibel immer ein Bild des Bösen. Als Gott den Angehörigen seines Volkes befahl, den Sauerteig aus ihren Häusern zu entfernen (2. Mose 12,15), verstanden sie das. Wenn jemand in der Zeit zwischen dem ersten und dem siebten Tag des Festes der ungesäuerten Brote irgendetwas Gesäuertes aß, wurde er aus dem Volk Israel ausgerottet. Jesus warnte vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer (Matth 16,6.12) und vor dem Sauert eig des Herodes (Mk 8,15). In 1. Korinther 5,6-8 wird Sauert eig als Böses und Schlechtes definiert, und der Zusammenhang in Galater 5,9 zeigt uns, dass sich das Wort dort auf Irrlehre bezieht. Im Allgemeinen bedeutet Sauerteig entw eder falsche Lehre oder böses Verhalten. So warnt der Herr in diesem Gleichnis vor der durchdringenden Kraft des Bösen, das im Reich der Himmel am Werk ist. Das Gleichnis vom Senfkorn zeigt das Böse im Äußeren des Reiches, dieses Gleichnis zeigt die innere Sphäre des Reiches.
Wir glauben, dass in diesem Gleichnis das Mehl die Speise des Volkes Gottes bedeutet, wie wir sie in der Bibel finden. Der Sauerteig ist die Irrlehre. Die Frau ist die falsche Prophetin, die lehrt und verführt (Offb 2,20). Ist es nicht bezeichnend, dass Frauen oft Gründerinnen von Sekten waren, die Irrlehren verbreiteten? Ihnen wird von der Bibel verboten, in der Gemeinde zu lehren (1. Kor 14,34; 1. Tim 2,12), doch haben sich einige trotzig lehrmäßige Autorität angemaßt und die Speise des Volkes Gottes mit zerstörerischen Irrlehren vermengt. J. H. Brookes schreibt:
Wenn der Einwand erhoben wird, dass Christus das Reich nicht mit etwas Bösem vergleichen würde, dann ist es eine ausreichende Antwort, wenn wir sagen, dass er das Reich mit Weizen und Unkraut sowie mit guten und schlechten Fischen vergleicht, dass es im Reich der Himmel einen bösen Knecht gibt (Matth 18,23-32) und dass dort ein Mann zu finden war, der kein Hochzeitsgewand hatte und verloren war (Matth 22,1-13).29 G. Die Verwendung der Gleichnisse erfüllt Prophezeiungen (13,34.35)
13,34.35 Jesus sprach die ersten vier Gleichnisse zu der Menge. Die Verwendung dieser Lehrmethode war eine Erfüllung von Psalm 78,2. Dort wird gesagt, dass der Messias in Gleichnissen reden und aussprechen würde, was – wie es hier heißt – »von Grundlegung der Welt an verborgen war«. Diese Eigenschaften des Reiches in seiner zwischenzeitlichen Gestalt, die bis zu dieser Zeit verborgen gewesen waren, wurden nun bekannt gemacht.
H. Erklärung des Gleichnisses vom Unkraut und Weizen (13,36-43)
13,36 Den Rest der Ansprache hielt unser Herr nur vor den Jüngern – in einem Haus. Hier könnten die Jünger für den gläubigen Überrest des Volkes Israel stehen. Die neuerliche Erwähnung eines Hauses erinnert uns daran, dass Gott sein Volk, das er erkannt hat, nicht für immer verstößt (Röm 11,2).
13,37 In seiner Auslegung des Gleichnisses vom Weizen und vom Unkraut zeigt Jesus, dass er selbst der Sämann ist. Er säte direkt während seines Dienstes auf Erden, und durch seine Knechte hat er in den folgenden Zeiten weitergesät.
13,38 Das Feld ist die Welt. Es ist wichtig zu betonen, dass das Feld die Welt, nicht die Gemeinde ist. Der gute Same sind die Söhne des Reiches. Es mag bizarr und unpassend klingen, wenn man von Menschen sagt, dass sie in den Boden gesät werden. Aber hier wird der Punkt betont, dass die Söhne des Reiches in die Welt gesät worden sind. Während der Jahre seines öffentlichen Dienstes besäte Jesus die Welt mit Jüngern, die treue Untertanen des Reiches waren. Das Unkraut sind die Söhne des Bösen. Satan hat ein Gegenbild für jede göttliche Realität geschaffen. Er sät solche in die Welt, die aussehen, sprechen und bis zu einem gewissen Grade leben wie Jünger. Aber sie sind keine echten Nachfolger des Königs.
13,39 Der Feind ist Satan, der Feind Gottes und der Feind des Volkes Gottes. »Die Ernte aber ist die Vollendung des Zeitalters«, das Ende des Zeitalters des Reiches in seiner zwischenzeitlichen Gestalt. Es wird aufgerichtet werden, wenn Jesus in Macht und Herrlichkeit wiederkommt, um als König zu herrschen. Der Herr bezieht sich hier nicht auf das Ende des Zeitalters der Gemeinde. Es führt nur zu Verwirrungen, wenn man hier die Gemeinde mit ins Spiel bringt.
13,40-42 Die Schnitter sind die Engel (s. Offb 14,14-20). Während der gegenwärtigen Phase des Reiches werden Weizen und Lolch nicht voneinander ge trennt. Sie dürfen zusammen aufwachsen. Aber bei der Wiederkunft Christi werden die Engel alle Ärgernisse und alle, die Böses getan haben, sammeln und sie in den Feuerofen werfen, wo sie weinen und mit ihren Zähnen knirschen werden.
13,43 Die gerechten Untertanen des Reiches, die während der Drangsal auf der Erde leben, werden in das Reich ihres Vater eingehen, um sich an der tausendjährigen Herrschaft Christi zu erfreuen. Sie werden leuchten wie die Sonne, das heißt, sie werden überaus herrlich sein. Jesus fügt hier wieder die sprichwörtliche Ermahnung an: »Wer Ohren hat, der höre!«
Dieses Gleichnis rechtfertigt nicht, wie manche irrtümlicherweise annehmen, die Tolerierung gottloser Menschen in der christlichen Ortsgemeinde. Man bedenke dabei, dass das Feld die Welt ist, nicht die Gemeinde. Die Ortsgemeinde wird ausdrücklich aufgefordert, aus ihrer Gemeinschaft alle auszuschließen, die sich bestimmter schwerer Sünden in verschiedener Form schuldig gemacht haben (1. Kor 5,9-13). Das Gleichnis lehrt lediglich, dass das Reich der Himmel in seiner verborgenen Gestalt das Echte und die Nachahmung umfasst, das Original und die Nachbildung, und dass dieser Zustand bis an das Ende des Zeitalters bestehen bleibt. Dann werden Gottes Boten die Falschen aussortieren, die ins Gericht kommen werden. Die Echten werden dagegen die Herrschaft Christi über diese Erde in Herrlichkeit miterleben dürfen. I. Das Gleichnis vom verborgenen Schatz (13,44)
13,44 Bisher haben alle Gleichnisse gelehrt, dass es im Reich gute und böse, gerechte und ungerechte Untertanen gibt. Die nächsten beiden Gleichnisse zeigen, dass es zwei Arten von gerechten Untertanen geben wird:
1. Die gläubigen Juden in der Zeit vor und nach dem Zeitalter der Gemeinde, und
2. die gläubigen Juden und Heiden des gegenwärtigen Zeitalters. Im Gleichnis vom Schatz vergleicht Jesus das Reich mit einem Schatz, der in einem Acker verborgen liegt. Ein Mensch findet ihn, verbirgt ihn, und verkauft dann freudig alles, was er besitzt, um den Acker zu kaufen.
Wir sind der Meinung, dass der Mensch der Herr Jesus selbst ist (er war auch der Mensch, der im Gleichnis vom  Weizen  und  Unkraut  säte;  V. 37). Der Schatz ist der gottesfürchtige Überrest gläubiger Juden, wie er zur Zeit des Dienstes Jesu auf Erden zu finden war und auch wieder nach der Entrückung der Gemeinde existieren wird (s. Ps 135,4 [wo Israel in der KJV als Gottes wertvoller Schatz bezeichnet wird]). Sie sind in einem Acker verborgen, indem sie über die Welt verstreut leben und niemandem außer Gott bekannt sind. Jesus wird dargestellt, wie er diesen Schatz entdeckt, dann ans Kreuz geht und alles hingibt, was er besitzt, um die Welt zu erkaufen  (2. Kor  5,19; 1. Joh  2,2), in  der dieser Schatz verborgen liegt. Das erlöste Israel wird aus seinem Versteck geholt werden, wenn der Erlöser aus Zion kommt und das lang erwartete messianische Reich aufrichtet.
Das Gleichnis wird manchmal auch auf einen Sünder angewendet, der alles aufgibt, um Christus, den größten Schatz, zu finden. Aber diese Auslegung verletzt die Lehre von der Gnade, die aussagt, dass die Errettung ohne Bezahlung erlangt wird (Jes 55,1; Eph 2,8.9). J. Das Gleichnis von der kostbaren Perle (13,45.46)
13,45.46 Das Reich wird auch mit »einem Kaufmann« verglichen, »der schöne Perlen suchte«. Als er eine Perle von ungewöhnlich hohem Wert fand, opferte er seinen ganzen Besitz, um sie zu erwerben. In einem Lied (»Ich habe die kostbarste Perle gefunden«) findet der Sünder den Erlöser, den Herrn Jesus. Aber wir müssen hier wieder einwenden, dass ein Sünder nicht alles verkaufen und sich Christus damit erkaufen muss. Wir glauben eher, dass der Kaufmann für den Herrn Jesus steht. Die kostbare Perle ist die Gemeinde. Auf Golgatha verkaufte Jesus alles, um diese Perle zu erwerben. Eine Perle wird in einer Muschel durch Leiden gebildet, das durch einen Reiz ausgelöst wird. Ebenso entstand die Gemeinde dadurch, dass der Leib unseres Heilands durchbohrt und zerschlagen wurde.
Es ist interessant, dass in dem Gleichnis vom Schatz das Reich mit dem Schatz selbst verglichen wird. Hier wird jedoch das Reich nicht mit der Perle, sondern mit dem Kaufmann verglichen. Warum dieser Unterschied?
Im vorhergehenden Gleichnis liegt die Betonung auf dem Schatz, dem erlösten Israel. Das Reich ist eng mit dem Volk Israel verbunden. Es wurde ursprünglich diesem Volk angeboten, und in seiner zukünftigen Form wird ein Großteil seiner Untertanen aus Juden bestehen. Wie wir bereits erwähnten, ist die Gemeinde nicht dasselbe wie das Reich. Alle, die zur Gemeinde gehören, gehören zum Reich, aber nicht alle, die zum Reich gehören, sind Glieder der Gemeinde. Die Gemeinde wird nicht zum Reich in seiner zukünftigen Form gehören, sondern wird zusammen mit Christus über die erneuerte Erde herrschen. Die Betonung liegt im zweiten Gleichnis auf dem König selbst und dem enormen Preis, den er bezahlte, um seine Braut zu werben und sie zu gewinnen, die seine Herrlichkeit am Tag seiner Offenbarung mit ihm teilen wird. Wie die Perle ihren Ursprung im Meer hat, so stammt auch die Gemeinde, die manchmal die heidnische Braut Christi genannt wird, hauptsächlich aus den Nationen. Das schließt die bekehrten Juden nicht aus, sondern weist nur auf ein Hauptmerkmal der Gemeinde hin, als eines Volkes, das aus den Nationen für seinen Namen berufen ist. In Apostelgeschichte 15,14 bestätigt Jakobus dies als das große Ziel Gottes im gegenwärtigen Zeitalter.
K. Das Gleichnis vom Fischnetz (13,47-50)
13,47.48 Das letzte dieser Gleichnisse vergleicht das Reich mit »einem Netz, das ins Meer geworfen wurde und von jeder Art zusammenbrachte«. Die Fischer sortierten die Fische dann aus, indem sie die Guten in Gefäße warfen und die Faulen wegwarfen.
13,49.50 Unser Herr legt das Gleichnis selbst aus. Das wird bei der »Vollendung  des  Zeitalters«  geschehen,  d. h. am Ende der Drangsalszeit. Zu dieser Zeit wird Christus wiederkommen. Die Fischer stehen für die Engel. Die guten Fische sind die Gerechten, das heißt die Erretteten aus Juden und Heiden. Die faulen Fische sind die Ungerechten, nämlich die Ungläubigen aus allen Völkern. Hier wird nun getrennt, wie wir es schon im Gleichnis vom Weizen und Unkraut gesehen haben (V. 30.39-43). Die Gerechten kommen in das Reich ihres Vaters, während die Ungerechten in den Feuerofen geworfen werden, wo »das Weinen und das Zähneknirschen sein« wird. Das ist nicht das endgültige Gericht, dieses Gericht wird zu Anfang des Tausendjährigen Reiches vollzogen. Das endgültige Gericht wird nach diesen tausend Jahren sein (Offb 20,7-15).
Gaebelein kommentiert dieses Gleichnis folgendermaßen:
Das Netz wird ins Meer gelassen, das – wie wir schon gesehen haben – für die Nationen steht. Das Gleichnis bezieht sich auf die Predigt des ewigen Evangeliums, das während der großen Drangsal verkündigt wird (Offb 14,6.7). Die Trennung zwischen Gut und Böse wird von den Engeln vollz ogen. All dies kann sich weder auf die heutige Zeit noch auf die Gemeinde beziehen, sondern nur auf die Zeit, zu der das Reich aufgerichtet werden wird. Die Engel werden hier zu dienen haben, wie wir es so deutlich in der Offenbarung dargestellt finden. Die Bösen werden in den Feuerofen geworfen, die Gerechten dagegen werden für die Zeit des Tausendjährigen Reiches auf der Erde bleiben.30 L. Der Schatz der Wahrheit (13,51.52)
13,51 Als der Meister seine Gleichnisse beendet hatte, fragte er seine Jünger, ob sie ihn verstanden hätten. Sie antworteten: »Ja.« Das mag uns erstaunen oder sogar ein wenig neidisch auf sie machen. Vielleicht können wir nicht so voller Selbstvertrauen mit »Ja« antworten.
13,52 Weil sie verstanden hatten, waren sie verpflichtet, dies anderen mitzuteilen. Jünger sollen Kanäle des Segens, nicht seine Sammelpunkte sein. Die Zwölf waren nun Schriftgelehrte, die auf das Reich der Himmel vorbereitet waren, d. h. Lehrer und Ausleger der Wahrheit. Sie waren »gleich einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorbringt«. Im AT hatten sie eine reiche Quelle dessen, was man vielleicht »alte Wahrheit« nennen könnte. In den Gleichnisreden Jesu hatten sie soeben etwas ganz Neues erhalten. Aus dieser reichen Quelle des Wissens sollten sie nun schöpfen, um anderen die wunderbaren Wahrheiten weiterzugeben.
M. Jesus wird in Nazareth abgelehnt (13,53-58)
13,53-56 Nachdem Jesus diese Gleichnisse vollendet hatte, verließ er das Ufer des Sees Genezareth und ging zum letzten Mal nach Nazareth. Als er hier in der Synagoge lehrte, waren die Menschen zwar über seine Weisheit und die Wunder erstaunt, von denen andere ihnen berichteten. Aber für sie war er nur »der Sohn des Zimmermanns«. Sie wussten, dass Maria seine Mutter war, seine Brüder Jakobus, Josef, Simon sowie Judas hießen und er Schwestern hatte, die noch in Nazareth lebten. Wie konnte nur einer der Ihren solches sagen und das tun, was ihn überall so bekannt machte? Das erstaunte sie, und es war für sie einfacher, an ihrer Borniertheit festzuhalten, als die Wahrheit anzuerkennen.
13,57.58 Sie ärgerten sich an ihm. Deshalb betonte der Herr, dass ein echter Prophet fern von seiner Heimat meist mehr geschätzt wird als zu Hause. Seine eigenen Nachbarn und Verwandten ließen es zu, dass ihre Bekanntheit mit ihm zur Verachtung führte. Es war hauptsächlich der Unglaube, der Jesu Wirken in Nazareth verhinderte. Er heilte dort nur einige wenige Kranke (vgl. Mk 6,5). Es ging nicht darum, dass er hier nicht hätte wirken können, denn die Bosheit des Menschen kann die Macht Gottes nicht begrenzen. Aber er segnet keine Menschen, die seinen Segen nicht wollen. Er erfüllt keine Bedürfnisse, welche die Menschen nicht haben, und er heilt niemanden, der sich beschweren würde, wenn man ihn krank nennt.
IX. Die unermüdliche Gnade des Messias wird mit wachsender Feindseligkeit beantwortet rück. Wir können sicher sein, dass er nicht floh, denn er wusste, ihm konnte nichts geschehen, ehe seine Zeit gekommen war. Den Beweggrund für sein Weggehen wissen wir nicht genau, aber sicher war einer der weniger wichtigen Gründe, dass die Jünger gerade von ihrer Predigtreise zurückgekehrt waren (Mk 6,30; Lk 9,10) und eine Zeit der Erholung sowie Ruhe nötig hatten.
Dennoch kamen die Volksmengen aus den Städten ihm zu Fuß nach. Als er an Land ging, warteten sie schon auf ihn. Weit davon entfernt, sich durch diese Unterbrechung irritieren zu lassen, machte sich unser barmherziger Herr sofort ans Werk und heilte ihre Kranken. 14,15 Als es Abend wurde (d. h. nach 15.00 Uhr), merkten seine Jünger, dass sich die Situation zuspitzte. Hier waren so viele Menschen, die nichts zu essen hatten. Sie baten Jesus, die Menge in die Dörfer zu schicken, damit sie sich dort etwas zu essen kaufen könnten. Wie wenig verstanden sie das Herz Christi, und wie wenig kannten sie seine Macht.
14,16-18 Der Herr versicherte ihnen, dass es nicht nötig sei, sie wegzuschicken. Warum sollten die Menschen den Einen verlassen, der seine Hand auftut und alles Lebendige nach seinem Wohlgefallen sättigt (Ps 145,16)? Dann brachte er seine Jünger in Verlegenheit, indem er sie aufforderte: »Gebt ihr ihnen zu essen!« Sie waren fassungslos: Wie sollten sie den Menschen etwas zu essen geben? »Wir haben nichts hier als nur fünf Brote und zwei Fische.« Sie hatten ganz vergessen, dass sie auch noch Jesus hatten. Geduldig sagte der Heiland: »Bringt sie mir her!« Das war ihre Aufgabe.
14,19-21 Wir können uns den Herrn gut vorstellen, wie er der Menge befahl, sich im Gras zu lagern. Er »nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte auf zum Himmel und dankte«. Dann »brach er die Brote und gab sie den Jüngern«, damit sie diese verteilen konnten. Es war genug für alle da. Als alle gesättigt waren, sammelten die Jünger noch zwölf Körbe mit Resten auf. Es war schließlich mehr übrig geblieben, als Jesus vorher zur Verfügung gehabt hatte. Ironischerweise war für jeden der ungläubigen Jünger ein Korb da. Eine Menge von zehn- bis fünfzehntausend Menschen war versorgt worden (5000 Männer mit ihren Frauen und Kindern).
Das Wunder ist eine geistliche Lektion für die Jünger jeder Generation. Die hungrige Menge ist immer da. Und es sind auch immer nur wenige Jünger mit scheinbar bemitleidenswerten Vorräten da. Und stets ist der mitfühlende Heiland da. Wenn die Jünger gewillt sind, das wenige, das sie haben, ganz hinzugeben, dann vermehrt er ihr Kapital, sodass alle satt werden. Wir sollten allerdings den Unterschied festhalten, dass der Hunger dieser »fünftausend Männer« in Galiläa nur für kurze Zeit gestillt war. Diejenigen jedoch, die sich heute von dem lebendigen Christus nähren, sind für immer gesättigt (s. Joh 6,35).
C. Jesus geht auf dem See (14,22-33) Das vorhergehende Wunder sollte die Jünger in der Gewissheit bestärken, dass sie dem Einen folgten, der für ihre Bedürfnisse sorgen würde. Nun lernten sie, dass dieser sie auch beschützen und mit Kraft ausstatten kann.
14,22.23 Während Jesus die Menge entließ, befahl er den Jüngern, in das Boot zu steigen, um an das andere Ufer zu fahren. Dann stieg er auf einen Berg, um zu beten. Als es Abend wurde, das heißt nach Sonnenuntergang, war er dort allein. (In der jüdischen Zeitrechnung gab es zwei »Abende«; s. 2. Mose 12,6; Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel. Der eine, auf den sich Vers 15 bezieht, begann nach 15.00 Uhr, der andere, auf den hier Bezug genommen wird, nach Sonnenuntergang.)
14,24-27 In der Zwischenzeit war das Boot schon weit weg und kämpfte gegen den Wind, »denn der Wind war ihnen ent gegen«. Als die Wellen das Boot hin und her warfen, sah Jesus, wie die Jünger in Not waren. »In der vierten Nachtwache« (zwischen 3.00 und 6.00 Uhr morgens) »kam er zu ihnen, indem er auf dem See einherging.« Die Jünger meinten, einen Geist zu sehen und gerieten in Panik. Aber sofort hörten sie die tröstliche Stimme ihres Meisters und Freundes: »Seid guten Mutes! Ich bin es. Fürchtet euch nicht!«
Wie oft bewahrheitet sich dies in unserem Leben! Wie oft werden wir vom Sturm hin und her geworfen, sind verwirrt und verzweifelt. Der Herr scheint weit weg zu sein. Doch die ganze Zeit betet er für uns. Gerade dann, wenn die Nacht am dunkelsten zu sein scheint, ist er nahe. Doch wir sehen ihn dann oft nicht und geraten in Panik. Aber dann hören wir seine tröstliche Stimme und erinnern uns daran, dass die Wellen, die uns solche Angst eingejagt hatten, unter seinen Füßen sind.
14,28 Als Petrus die wohlbekannte, viel geliebte Stimme hörte, sprudelte er vor Zuneigung und Begeisterung über. »Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!« Statt den Begriff des Petrus (»wenn«) als Ausdruck eines schwachen Glaubens herunterzuspielen, sollten wir seine mutige Forderung als Zeichen großen Vertrauens werten. Petrus erkannte, dass die Befehle Jesu gleichzeitig die Befähigung zu allem in sich schließen, was immer er auch gebietet.
14,29-33 Sobald Jesus sagte »Komm!«, sprang Petrus aus dem Boot und begann, auf ihn zuzugehen. Solange er auf Jesus sah, war er in der Lage, das Unmögl iche zu tun. Aber sobald er sich mit dem Wind beschäftigte, begann er zu sinken. Verzweifelt schrie er: »Herr, rette mich!« Der Herr nahm ihn bei der Hand, tadelte sanft seinen Kleinglauben und brachte ihn ins Boot zurück. Sobald Jesus an Bord war, »legte sich der Wind«. Die Jünger in dem Boot beteten nun Jesus an, indem sie zu ihm sagten: »Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!«
Das christliche Leben ist menschlich unmöglich – so wie es unmöglich ist, auf dem Wasser zu gehen. Es kann nur in der Kraft des Heiligen Geistes geführt werden. Solange wir von den anderen Dingen weg nur auf Jesus schauen (Hebr 12,2), können wir Übernatürliches in unserem Leben erfahren. Doch sobald wir uns mit uns selbst oder unseren Umständen beschäftigen, fangen wir an zu sinken. Dann müssen wir Jesus anrufen und um Wiederherstellung sowie göttliche Befähigung bitten. D. Jesus heilt im Land Genezareth (14,34-36)
14,34-36 Das Boot legte in Genezareth an, am Nordwestufer des Sees Genezareth. Als die Menschen Jesus sahen, durchstreiften sie die ganze Gegend nach Kranken und brachten sie zu ihm, dass die Kranken »nur die Quaste seines Kleides anrühren dürften, und alle, die ihn anrührten, wurden völlig geheilt«. Und so hatten die Ärzte in diesem Gebiet Ferien. Für einige Zeit gab es dort sicher keine Kranken mehr. Menschen in der ganzen Gegend wurden gesund und geheilt, weil der große Arzt sie aufsuchte. E. Verunreinigung kommt von innen (15,1-20) Es wird oft darauf hingewiesen, dass Matthäus in seinen ersten Kapiteln nicht chronologisch vorgeht. Aber vom Anfang des 14. Kapitels bis zum Ende sind die Ereignisse größtenteils in der Reihenfolge berichtet, in der sie auch geschahen. In Kapitel 15 ergibt sich auch eine Ordnung nach den Heilszeiten. Erstens sehen wir den durch die Pharisäer und Schriftgelehrten verursachten Streit und Zank, der für die Ablehnung des Messias durch Israel steht (V. 1-20). Zweitens weist der Glaube der Kanaanäerin auf die Verbreitung des Evangeliums in unserem Zeitalter hin (V. 21-28). Und die Heilung vieler Menschen (V. 29-31) sowie die Speisung  der  Viertausend  (V. 32-39)  deuten auf das zukünftige Tausendjährige Reich, in dem die Menschen gesund sein werden und allgemeines Wohlergehen herrschen wird.
15,1.2 Die Schriftgelehrten und Pharisäer waren in ihrem Versuch, Jesus eine Falle zu stellen, nicht zu bremsen. Eine Abordnung von ihnen kam von Jerusalem und klagte seine Jünger der Unreinheit an, weil sie mit ungewaschenen Händen essen und deshalb die »Überlieferung der Ältesten« übertreten würden. Um diesen Vorfall recht zu verstehen, müssen wir begreifen, was »rein« und »unrein« bedeutet und was die Pharisäer mit »waschen« meinten. Die ganzen Bestimmungen in Bezug auf »rein« und »unrein« gehen auf das AT zurück. Die Unreinheit, derer sich die Jünger angeblich schuldig gemacht hatten, war eine ausschließlich zeremonielle Unreinheit. Wenn jemand etwa einen Toten berührte oder bestimmte Dinge aß, zog er sich diese zeremonielle Unreinheit zu, das heißt, er durfte nicht mehr am Gottesdienst teilnehmen. Ehe er sich Gott wieder nähern durfte, musste er sich nach dem Gesetz einer Reinigungszeremonie unterziehen.
Aber die Ältesten hatten ihre Tradition zu den Reinigungszeremonien hinzugefügt. Sie bestanden zum Beispiel darauf, dass ein Jude, bevor er essen durfte, seine Hände einer ausgedehnten Reinigungszeremonie zu unterziehen hatte, bei der er nicht nur die Hände, sondern auch die Arme bis zu den Ellenbogen zu waschen hatte. Wenn er auf dem Marktplatz gewesen war, dann sollte er sogar ein zeremonielles Bad nehmen. Deshalb kritisierten die Pharisäer die Jünger, weil sie die Feinheiten des Reinheitsgesetzes der jüdischen Tradition nicht beachtet hatten.
15,3-6 Der Herr Jesus erinnerte seine Kritiker daran, dass sie das Gesetz Gottes übertreten würden, nicht nur die Überlieferung der Ältesten. Das Gesetz befahl den Menschen, ihre Eltern zu ehren, wozu gehörte, dass sie die Eltern mit Geld versorgen sollten, wenn das nötig wäre. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer (und viele andere) wollten kein Geld für den Unterhalt ihrer alt gewordenen Eltern ausgeben. So erfanden sie eine Tradition, wodurch sie ihrer Verpflichtung entgehen konnten. Wenn ihre Eltern sie um Hilfe baten, brauchten sie nur etwa folgende Worte zu äußern: »Alles Geld, das ich habe und für eure Unterstützung verwenden könnte, habe ich Gott geweiht, und deshalb kann ich es euch nicht geben.« Wenn sie diese Formel gesprochen hatten, waren sie von der finanziellen Verantwortung ihren Eltern gegenüber befreit. Indem sie nun dieser betrügerischen Tradition folgten, hatten sie »das Gebot Gottes ungültig gemacht«, das ihnen befahl, für ihre Eltern zu sorgen.
15,7-9 Durch ihre geschickte Wortverdreherei hatten sie die Prophezeiung Jesajas erfüllt (Jes 29,13). Sie behaupteten, Gott mit den Lippen zu ehren, »aber ihr Herz ist weit entfernt« von ihm. Ihr Gottesdienst war wertlos, weil sie der Überlieferung von Menschen mehr Bedeutung zumaßen als dem Wort Gottes.
15,10.11 Als Jesus sich nun an die Volksmenge wandte, gab er eine Erklärung von überragender Bedeutung ab. Er erklärte, dass nicht das, »was in den Mund hineingeht«, den Menschen verunreinigt, sondern dasjenige, »was aus dem Mund herausgeht«. Wir können die Bedeutung dieser revolutionären Aussage kaum verstehen. Im Rahmen des levitischen Gesetzes war es so, dass das, was in den Mund hineinging, den Menschen verunreinigte. Den Juden war es verboten, das Fleisch von Tieren zu essen, die keine Wiederkäuer oder Paarhufer waren. Sie durften keinen Fisch essen, der keine Schuppen oder Gräten hatte. Gott hatte ganz genaue Anweisungen gegeben, welche Speisen rein und welche unrein waren. Nun bereitete der Gesetzgeber den Weg für die Abschaffung der ganzen Ordnung zeremonieller Unreinheit. Er sagte, dass die Speise, die seine Jünger mit ungereinigten Händen aßen, sie nicht verunreinigt hatte. Aber die Pharisäer und Schriftgelehrten waren durch ihre Heuchelei wirklich unrein.
15,12-14 Als seine Jünger Jesus benachrichtigten, dass die Pharisäer sich an seinem Wort ärgerten, antwortete Jesus ihnen, indem er die Pharisäer mit Pflanzen verglich, die nicht von Gott gepflanzt worden sind. Sie waren kein Weizen, sondern Unkraut, und sie würden mit ihren Lehren schließlich ausgerissen werden, das heißt zugrunde gerichtet werden. Dann fügte er hinzu: »Lasst sie! Sie sind blinde Leiter der Blinden.« Obwohl sie von sich behaupteten, Autoritäten auf geistlichem Gebiet zu sein, waren sie und die Menschen, die sie führten, für die geistlichen Realitäten blind. Es war unausweichlich, dass Führer und Verführte beide in eine Grube fallen würden.
15,15 Die Jünger waren zweifellos durch diese völlige Umkehrung von allem, was sie über reine und unreine Speisen gelernt hatten, verwirrt. Es war für sie wie ein Gleichnis, das heißt eine verborgene, verhüllte Erzählung. Petrus gab ihrer Verwirrung Ausdruck, als er um eine Erklärung bat.
15,16.17 Der Herr drückte zuerst seine Verwunderung aus, dass sie so schwer begriffen, und erklärte dann, dass wirkliche Verunreinigung moralisch und nicht äußerlich ist. Essbares kann an sich weder rein noch unrein sein. In der Tat ist nichts Materielles an sich schlecht, nur der Missbrauch einer Sache ist schlecht. Die Nahrung, die ein Mensch zu sich nimmt, geht durch den Mund in den Bauch und wird dort verdaut, die unverwertbaren Überreste aber werden ausgeschieden. Sein moralischer Zustand wird dadurch keinesfalls beeinträchtigt – nur sein Leib ist betroffen. Heute wissen wir, dass »jedes Geschöpf Gottes gut ist und nichts verwerflich, wenn es mit Danksagung genommen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet« (1. Tim  4,4.5).  Der  Abschnitt  redet  natürlich nicht von Giftpflanzen, sondern von Speisen, die von Gott zum Verzehr durch den Menschen bestimmt sind. Alle sind gut und sollten mit Dankbarkeit gegessen werden. Wenn jemand gegen ein Nahrungsmittel eine Allergie hat oder es nicht verträgt, dann sollte er sich dessen enthalten, doch im Allgemeinen können wir alles mit dem Bewusstsein essen, dass Gott die Nahrung gebraucht, um uns körperlich zu ernähren.
15,18 Wenn man sich nicht durch Essen verunreinigt, wodurch dann? Jesus antwortete: »Was aber aus dem Mund hera usgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen.« Hier ist mit »Herz« nicht das Organ genannt, das Blut durch unseren Körper pumpt, sondern die verdorbene Quelle menschlicher Ziele und Wünsche. Dieser Teil der sterblichen Natur des Menschen zeigt sich durch unreine Gedanken, durch verdorbene Reden und zuletzt durch böse Handlungen.
15,19.20 Einige der Dinge, die den Menschen verunreinigen, sind »böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugnisse, Lästerungen« (dieses griechische Wort umfasst auch die Verleumdung anderer Menschen). Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren äußerst sorgfältig darauf bedacht, die Waschungszeremonien betont auffällig und peinlich genau zu beachten. Aber ihr inneres Leben war verunreinigt. Nebensächlichkeiten spielten bei ihnen eine große Rolle. Dabei übersahen sie die wirklich wichtigen Anliegen. Sie konnten die Jünger dafür kritisieren, dass diese die uninspirierten Traditionen nicht hielten, und gleichzeitig planen, den Sohn Gottes zu töten. Damit machten sie sich des ganzen Sündenkatalogs schuldig, der in Vers 19 aufgeführt ist.
F. Eine Heidin wird um ihres Glaubens willen gesegnet (15,21-28)
15,21.22 »Jesus ging von dort weg und zog sich in die Gegenden von Tyrus und Sidon zurück«, die an der Mittelmeerküste liegt. Soweit wir wissen, war das das einzige Mal während seines öffentlichen Dienstes, dass er sich außerhalb des jüdischen Gebietes bewegte. Hier in Phönizien bat ihn eine kanaanäische Frau, ihre Tochter zu heilen, die besessen war. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Frau keine Jüdin, sondern eine Heidin war. Sie stammte von den Kanaanitern ab, dieser unmoralisch lebenden Volksgruppe, die Gott zur Ausrottung bestimmt hatte. Durch den Ungehorsam Israels hatten einige die Einnahme Kanaans unter Josua überlebt, und diese Frau stammte von diesen Überlebenden ab. Als Heidin genoss sie natürlich nicht die Vorrechte des erwählten irdischen Gottesvolkes. Sie war eine Fremde, die keine Hoffnung hatte. Von ihrer Stellung her hatte sie keinen Anspruch auf Gott oder den Messias.
Sie redet Jesus als »Herrn, Sohn Davids«, an – ein Titel, den die Juden benutzten, wenn sie vom Messias redeten. Obwohl Jesus der Sohn Davids war, hatte eine Heidin kein Recht, ihn auf dieser Basis anzusprechen, deshalb antwortete er ihr zunächst nicht.
15,23 »Seine Jünger traten hinzu und baten ihn und sprachen: Entlass sie«, weil sie ihnen lästig war. Für Jesus war sie jedoch ein willkommenes Vorbild des Glaubens und ein Gefäß, in dem seine Gnade leuchten konnte. Aber er musste ihren Glauben zunächst prüfen und dessen Bewährung herausstellen.
15,24.25 Er erinnerte sie daran, dass er nur »zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« gesandt sei, nicht zu den Heiden und erst recht nicht zu den Kanaanitern. Aber sie ließ sich von dieser scheinbaren Absage nicht entmutigen. Sie ließ den Titel Sohn Davids nun aus und verehrte ihn, indem sie sagte: »Herr, hilf mir!« Wenn sie zu ihm nicht als eine Jüdin zu ihrem Messias kommen konnte, dann wollte sie sich als Geschöpf an ihren Schöpfer wenden.
15,26 Um die Echtheit ihres Glaubens zu erproben, sagte Jesus, dass es nicht gut für ihn wäre, sich von der Ernährung der jüdischen Kinder wegzuwenden, um das Brot den heidnischen »Hunden« zu geben. Wenn uns das sehr hart erscheint, dann sollten wir uns daran erinnern, dass dies dazu bestimmt war, zu heilen und nicht zu verletzen, wie das Skalpell eines Chirurgen. Sie war eine Heidin. Die Juden sahen die Heiden als streunende Hunde an, die die Straßen durchstreifen, um Essensreste zu finden. Dennoch verwandte Jesus an dieser Stelle das Wort für Schoßhunde. Die Frage war: Würde sie ihre Unwürdigkeit eingestehen, um auch nur die kleinste seiner Gnaden zu erhalten?
15,27 Ihre Antwort war wunderbar. Sie stimmte seiner Beschreibung voll zu, nahm den Platz einer unwürdigen Heidin ein und warf sich auf seine Gnade, Liebe und Barmherzigkeit. Damit sagte sie im Grunde: »Du hast recht! Ich bin nichts anderes als ein kleiner Hund unter dem Tisch. Aber ich weiß, dass manchmal Krumen vom Tisch auf den Boden fallen. Warum darf ich nicht wenigstens einige Krümel haben? Ich bin es nicht wert, dass du meine Tochter heilst, aber ich bitte dich inständig, es für eine deiner unwürdigen Kreaturen zu tun.«
15,28 Jesus lobte sie für ihren großen Glauben. Während die ungläubigen Kinder das Brot nicht wollten, war hier ein »Hündchen«, das danach schrie. Der Glaube wurde belohnt, denn ihre Tochter wurde sofort geheilt. Die Tatsache, dass der Herr diese heidnische Tochter heilte, spiegelt seinen gegenwärtigen Dienst zur Rechten Gottes wider, den Heiden im Laufe dieses Zeitalters geistliche Heilung zu gewähren, während sein irdisches Volk beiseitegesetzt ist. G. Jesus heilt eine große Menge (15,29-31)
15,29-31 In Markus 7,31 erfahren wir, dass der Herr Tyrus verließ, nordwärts nach Sidon reiste, danach ostwärts über den Jordan, dann nach Süden in das Gebiet der Zehn Städte. Dort, in der Nähe des Sees Genezareth, heilte er »Lahme, Blinde, Krüppel, Stumme und viele andere«. Die erstaunte Menge verherrlichte den Gott Israels. Man muss annehmen, dass dieses Gebiet heidnisch war. Die Menschen, die Jesus und seine Jünger mit Israel in Verbindung brachten, schlossen richtig, dass der Gott Israels in ihrer Mitte am Werk war.
H. Die Speisung der Viertausend (15,32-39)
15,32 Oberflächliche (oder kritische) Leser, die dieses Ereignis mit der Speisung der Fünftausend verwechseln, haben die Bibel der Wiederholung, des Widerspruchs oder der falschen Berechnungen angeklagt. Tatsache ist jedoch, dass die beiden Ereignisse sehr unterschiedlich sind und einander eher ergänzen als wider sprechen.
Nachdem die Menge drei Tage bei Jesus gewesen war, hatte sie kein Essen mehr. Er wollte die Menschen nicht hungrig gehen lassen, weil sie auf dem Weg zusammenbrechen könnten.
15,33.34 Wieder verzweifelten die Jünger bei der Aufgabe, eine solche Menschenmasse zu speisen, diesmal hatten sie nur sieben Brote und »wenige kleine Fische«.
15,35.36 Wie schon bei der Speisung der 5000 forderte Jesus die Menge auf, sich zu lagern, nahm das Brot und die Fische, »dankte und brach und gab sie seinen Jüngern« zum Verteilen. Er erwartet, dass seine Jünger das in ihrer Macht Stehende tun, dann greift er ein und tut, was ihnen nicht möglich ist.
15,37-39 Nachdem die Menschen gesättigt waren, gab es noch sieben Körbe voll von Essensresten. 4000 Männer neben Frauen und Kindern waren satt geworden.
Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass die Statistiken der zwei Speisungen wichtig sind (16,8-12). Jede Einzelheit des biblischen Berichtes ist von Bedeutung. Nachdem unser Herr die Menge entlassen hatte, fuhr er mit dem Boot nach Magdala an der Westseite des Sees Genezareth.
I. Der Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer (16,1-12)
16,1 Die Pharisäer und Sadduzäer, die traditionell Gegner in theologischer Hinsicht waren, repräsentieren zwei lehrmäßige Extreme. Aber ihre Feindschaft wich der Zusammenarbeit, als sie sich mit dem gemeinsamen Ziel zusammentaten, den Heiland in eine Falle zu führen. Um ihn zu versuchen, baten sie ihn, ein Zeichen vom Himmel zu zeigen. Auf eine für uns heute nicht mehr nachvollziehbare Weise versuchten sie, ihn bloßzustellen. Indem sie um ein »Zeichen aus dem Himmel« baten, wollten sie vielleicht andeuten, dass seine bisherigen Wunder aus der entgegengesetzten Quelle entsprangen. Oder sie wollten vielleicht ein übernatürliches Zeichen am Himmel sehen. Alle Wunder Jesu waren auf der Erde vollbracht worden. Ob er wohl auch himmlische Wunder tun konnte?
16,2.3 Er antwortete, indem er das Thema des Himmels aufgriff. Wenn sie abends sahen, dass der Himmel feuerrot war, dann sagten sie für den nächsten Tag schönes Wetter voraus. Sie wussten auch, dass ein roter und trüber Himmel am Morgen Stürme bedeutete.32 Sie wussten, wie sie die Himmelserscheinungen deuten mussten, doch die Zeichen der Zeiten konnten sie nicht beurteilen. Was waren das für Zeichen? Der Prophet, der die Ankunft des Messias ankündigen sollte, war in der Person Johannes’ des Täufers erschienen. Die Wunder des Messias, die vorhergesagt waren – Wunder, die sonst kein Mensch vor ihm getan hatte –, hatte er in ihrer Anwesenheit getan. Ein weiteres Zeichen der Zeit war die offensichtliche Ablehnung des Messias durch die Juden und die Gabe des Evangeliums an die Heiden – alles Erfüllungen von Prophezeiungen. Doch trotz dieser zwingenden Beweise hatten sie keinen Sinn für die historische Stunde, noch erkannten sie die erfüllten Prophezeiungen.
16,4 Indem sie ein Zeichen verlangten, während Jesus in ihrer Mitte stand, entlarvten sich die Pharisäer und Sadduzäer selbst als »böses und ehebrecherisches Geschlecht«. Ihnen würde »kein Zeichen … gegeben werden als nur das Zeichen Jonas«. Wie in den Anmerkungen zu Kapitel 12,40 ausgeführt, war dieses Zeichen die Auferstehung Christi am dritten Tag. »Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht« würde seinen Messias kreuzigen, doch Gott würde ihn aus den Toten auferwecken. Das sollte ein Zeichen der Verdammnis aller sein, die sich weigern, sich vor ihm als dem rechtmäßigen Herrscher zu beugen.
Der Abschnitt endet mit den verhängnisvollen Worten: »Und er verließ sie und ging weg.« Die geistliche Anwendung dieser Worte sollte eigentlich für jeden erkennbar sein.
16,5.6 Als seine Jünger wieder mit dem Herrn an der Ostseite des Sees zusammentrafen, hatten sie vergessen, etwas zu essen mitzunehmen. Als Jesus sie deshalb mit der Warnung vor dem »Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer« begrüßt, dachten sie, dass er damit sagen wollte: »Geht nicht zu diesen jüdischen Führern, um euch Nahrung zu holen!« Ihre Beschäftigung mit dem Essen ließ sie dort nach einer wörtlichen, natürlichen Erklärung suchen, wo eine geistliche Lehre gemeint war.
16,7-10 Immer noch machten sie sich Sorgen darüber, dass sie nicht genügend zu essen haben könnten, obwohl doch Jesus bei ihnen war, der die 5000 und die 4000 gesättigt hatte. So ging Jesus noch einmal die beiden wunderbaren Speisungen durch. Die daraus folgende Lektion betraf die göttliche Mathematik und die göttlichen unbegrenzten Mittel, denn je weniger Jesus hatte, desto mehr Menschen hatte er gespeist, und desto mehr war übrig geblieben. Als er nur fünf Brote und zwei Fische hatte, speiste er über 5000 Männer, und 12 Körbe waren übrig geblieben. Mit mehr Broten und Fischen hatte er nur 4000 Männer gespeist, und nur sieben Körbe voll waren übrig geblieben. Wenn wir ihm unsere begrenzten Mittel hinlegen, kann er sie im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Größe vermehren. »Wenig ist viel, wenn Gott dabei ist.« Hier wird ein anderes Wort für die Körbe33 gebraucht als im Bericht von der Speisung der 5000. Die sieben Körbe in dieser Begebenheit waren möglicherweise größer als die zwölf Körbe bei der ersten Speisung. Aber die Lehre dieses Abschnittes bleibt: Warum sollen wir uns sorgen, dass wir hungern oder Mangel leiden könnten, wenn wir mit dem Einen verbunden sind, der unendliche Macht und Mittel hat?
16,11.12 Als der Herr vom »Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer« gesprochen hatte, meinte er nicht Brot, sondern falsche Lehre und böses Betragen. In Lukas 12,1 wird der Sauerteig der Pharisäer genannt: Es handelt sich um die Heuchelei. Sie behaupteten, dem Wort Gottes bis ins kleinste Detail zu gehorchen, doch war ihr Gehorsam äußerlich und oberflächlich. Innen waren sie böse und verdorben.
Der Sauerteig der Sadduzäer war der Rationalismus. Als Freidenker ihrer Zeit hatten sie, wie heute die liberalen Theologen, ein System von Zweifel und Leugnung aufgebaut. Sie bestritten die Existenz der Engel und Geister, die Auferstehung des Leibes, die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Gericht. Dieser Sauerteig des Skeptizismus würde sich wie Sauerteig im Mehl ausbreiten, wenn man ihn duldete.
X. Der König bereitet seine Jünger vor hatte Petrus noch etwas Wichtiges zu sagen. So fügte Jesus noch hinzu: »Aber auch ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesem Felsen werde ich meine Gemeinde bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen.« Wir wissen alle, dass es über diesen Vers wohl mehr Streit gegeben hat als über alle anderen. Die Frage ist: Wer oder was ist der Fels? Ein Teil des Problems entsteht durch die Tatsache, dass die griechischen Worte für Petrus und Fels ähnlich sind, aber verschiedene Bedeutung haben. Das erste Wort, petros, bedeutet »Stein« oder »loser Felsbrocken«. Das zweite, petra, bedeutet Fels (z. B. im Sinne von »gewachsener Fels«). So sagte Jesus eigentlich: »Du bist Petrus (Stein), und auf diesem Felsen werde ich meine Gemeinde bauen.« Er sagte nicht, dass er seine Gemeinde auf einen Stein, sondern auf einen Felsen bauen würde. Wenn Petrus nun nicht der Fels ist, wer ist es dann? Bei der Betrachtung des Zusammenhangs lautet die offensichtliche Antwort, dass der Fels das Bekenntnis des Petrus ist – eine Wahrheit, worauf die Gemeinde gegründet ist. In seiner Antwort bekennt Petrus, dass Jesus der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist. Epheser 2,20 lehrt uns, dass die Gemeinde auf Jesus Christus erbaut ist, dem Eckstein. Diese Aussage, dass wir auf dem Grund der Apostel und Propheten aufgebaut sind, bezieht sich nicht auf sie, sondern auf die Grundlage, die durch ihre Lehren über den Herrn Jesus Christus gelegt ist.
Christus wird in 1. Korinther 10,4 »Fels« genannt. In dieser Beziehung erinnert uns Morgan an eine hilfreiche Tatsache:
Man beachte, dass er zu Juden sprach. Wenn wir die bildliche Bedeutung des Wortes »Fels« durch die hebräischen Schriften hindurch verfolgen, dann sehen wir, dass dieses Wort niemals ein Symbol für einen Menschen, sondern immer für Gott ist. So wird hier in Cäsarea Philippi die Gemeinde nicht auf Petrus gebaut. Jesus spielte nicht mit fest gefügten Sprachbildern. Er nahm das alte hebrä ische Bild, den Felsen, der immer ein Zeichen der Gottheit ist, und sagte: »Auf Gott selbst – auf Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes – werde ich meine Gemeinde bauen.«34
Petrus sprach nie von sich als dem Grundstein der Gemeinde. Zweimal wies er auf Christus als Stein hin (Apg 4,11.12; 1. Petr  2,4-8),  aber  dann  ist  das  Bild  anders, der Stein ist der Schlussstein eines Gewölbes, nicht der Grundstein. »Ich (werde) meine Gemeinde bauen.« Hier haben wir die erste Erwähnung der Gemeinde in der Bibel. Diese gab es im AT nicht. Die Gemeinde, die zu der Zeit, als Jesus sprach, noch Zukunft war, wurde am Pfingsttag gegründet und setzt sich aus allen echten Christusgläubigen zusammen, sowohl aus Juden als auch aus Heiden. Als eigenständige Gemeinschaft, die auch unter dem Namen Leib Christi oder Braut Christi bekannt ist, hat sie eine einzigartige himmlische Berufung und Bestimmung.
Wir würden kaum erwarten, dass im Evangelium des Matthäus die Gemeinde eingeführt wird, wo doch Israel und das Reich die Hauptthemen des Buches sind. Als Folge der Verwerfung Christi durch Israel wird jedoch eine Zwischenzeit – das Gemeindezeitalter – eingeschoben, das bis zur Entrückung andauern wird. Danach wird Gott sein Handeln mit Israel als Volk wiederaufnehmen. So ist es nur naheliegend, dass Gott hier die Gemeinde als den nächsten Schritt nach der Ablehnung durch Israel in seinem Heilszeitplan einführt.
»Des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen.« Diesen Satz kann man auf zwei Arten verstehen. Als Erstes werden die Pforten der Hölle in einem erfolglosen Angriff gegen die Gemeinde dargestellt – die Gemeinde wird alle Angriffe überstehen. Oder die Gemeinde geht in die Offensive und erweist sich im Kampf als Sieger. In jedem Fall wird die Macht des Todes durch die Verwandlung der lebenden Gläubigen und durch die Auferstehung der Toten in Christus besiegt werden.
16,19 »Ich werde dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben« bedeutet nicht, dass Petrus die Vollmacht gegeben worden wäre, Menschen den Zugang zum Himmel zu ermöglichen. Es handelt sich hier um das Reich der Himmel auf Erden. Dieser Bereich umfasst alle, die bekennen, eine Beziehung zum König zu haben – alle, die von sich behaupten, Christen zu sein. Die Schlüssel sprechen vom Eintritt oder Zugang. Auf die Schlüssel für die Tür zu diesem Bekenntnisbereich wird im Missionsbefehl hingewiesen (Matth 28,19) – zu Jüngern machen, taufen und lehren. (Die Taufe ist für die ewige Errettung nicht notwendig, umfasst aber den äußeren Akt, wodurch sich der Betreffende öffentlich zum König bekennt.) Petrus benutzte diese Schlüssel zum ersten Mal zu Pfingsten. Sie waren ihm nicht alleine gegeben, sondern er stand gewissermaßen stellvertretend für alle Jünger (s. Matth 18,18 [wo dieselbe Verheißung an alle Jünger gerichtet ist]).
»Was immer du auf der Erde binden wirst, wird in den Himmeln gebunden sein, und was immer du auf der Erde lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst sein.« Dieser Vers und die Parallelstelle in Johannes 20,23 werden manchmal zum Beweis für die Lehre angeführt, dass Petrus und seinen vermeintlichen Nachfolgern die Autorität der Sündenvergebung gegeben sei. Wir wissen, dass dies nicht sein kann, da nur Gott Sünden vergeben kann.
Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Vers zu verstehen: Erstens kann er bedeuten, dass die Apostel eine Macht hatten, zu lösen und zu binden, die wir heute nicht mehr besitzen. Zum Beispiel hat Petrus die Sünden von Hananias und Saphira auf sie gebunden, sodass sie mit sofortigem Tod bestraft wurden (Apg 5,1-10), während Paulus den in die Gemeindezucht genommenen Mann in Korinth von den Konsequenzen seiner Sünde löste, weil dieser bereut hatte (2. Kor 2,10). Andererseits könnte der Vers bedeuten, dass alles, was die Apostel auf Erden binden oder lösen, im Himmel schon gebunden oder gelöst worden sein musste. Deshalb sagt Ryrie: »Der Himmel veranlasst im Unterschied zu den Aposteln das Binden oder Lösen. Die Apostel machen diese geistlichen Vorgänge nur bekannt.«35 Dieser Vers hat für uns heute nur noch eine erklärende Bedeutung. Wenn ein Sünder wirklich seine Sünden bereut und Jesus Christus als seinen Herrn sowie Heiland annimmt, dann kann ein Christ die Sünden für vergeben erklären. Wenn ein Sünder den Retter ablehnt, dann kann ein Mitarbeiter im Werk des Herrn dessen Sünden für unvergeben erklären. William Kelly schreibt: »Wann immer die Gemeinde im Namen des Herrn handelt und wirklich seinen Willen tut, ist das Siegel Gottes auf ihren Taten.«
16,20 Wieder sehen wir, wie der Herr Jesus seinen Jüngern befiehlt, niemandem zu sagen, dass er der Messias ist. Wegen Israels Unglauben konnte aus einer solchen Verkündigung nichts Gutes entstehen. Und es würde sogar ausgesprochenen Schaden anrichten, wenn es eine Volksbewegung geben würde, die ihn zum König krönen wollte. Eine solche zeitlich fehlgeleitete Bewegung würde von den Römern unbarmherzig niedergeschlagen werden.
Stewart, der diesen Abschnitt den Wendepunkt des Dienstes Christi nennt, schreibt:
Der Tag in Cäsarea Philippi ist die Wasserscheide der Evangelien. Von diesem Punkt an fließen die Bäche in eine andere Richtung. Die Popularität, die Jesus in der Anfangszeit seines Dienstes auf einen Thron zu heben schien, liegt nun hinter ihm. Alles läuft auf das Kreuz zu … In Cäsarea stand Jesus an einer Trennungslinie. Es war wie auf einer Bergspitze, von der aus er sowohl den hinter ihm liegenden Weg sehen als auch den vor ihm liegenden dunklen, bedrohlichen Weg betrachten konnte. Er warf einen Blick zurück auf das noch glühende Abendrot der glücklichen Tage, bevor er sich umwandte und auf die Schatten zustrebte. Sein Ziel war nun Golgatha.36
B. Die Vorbereitung der Jünger auf Jesu Tod und Auferstehung (16,21-23)
16,21 Nun hatten die Jünger erkannt, dass Jesus der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes, ist. Damit waren sie darauf vorbereitet, seine erste direkte Voraussage über seinen Tod und seine Auferstehung zu hören. Sie wussten nun, dass sein Anliegen niemals scheitern konnte, sie auf der Seite des Siegers standen und der Sieg sicher war – ganz gleich, was auch geschehen mochte. So eröffnete der Herr seine Nachricht vorbereiteten Herzen. Er sagte, »dass er nach Jerusalem hingehen müsse und von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden und getötet und am dritten Tag auferweckt werden müsse«. Diese Neuigkeit genügte, um den Ausgang jedes weiteren Bestrebens anzudeuten. Davon ausgenommen war freilich das zuletzt genannte »Muss« (dass er am dritten Tag auferweckt werden müsse). Darin lag der entscheidende Unterschied!
16,22 Petrus fand den Gedanken an eine solche Behandlung seines Meisters schrecklich. Er nahm ihn beiseite, als wollte er ihm den Weg versperren, und wandte ein: »Gott behüte dich, Herr! Dies wird dir keinesfalls widerfahren.«
16,23 Das erforderte einen Tadel des Herrn Jesus. Er war in diese Welt gekommen, um für die Sünder zu sterben. Alles, was ihn daran hindern wollte, stand außerhalb des Willens Gottes. So sagte er zu Petrus: »Geh hinter mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis, denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist.« Indem er Petrus »Satan« nannte, wollte Jesus nicht andeuten, dass der Apostel von Dämonen besessen oder von Satan beherrscht war. Er meinte einfach, dass die Taten und Worte von Petrus so waren, wie man sie von Satan (dieser Name bedeutet Widersacher) erwarten konnte. Indem Petrus sich gegen Golgatha auflehnte, wurde er für den Heiland zum Hindernis.
Jeder Christ ist aufgerufen, sein Kreuz auf sich zu nehmen und dem Herrn Jesus zu folgen, doch wenn wir das Kreuz vor uns sehen, dann sagt eine Stimme in uns: »Bloß nicht! Bring dich lieber in Sicherheit!« Oder vielleicht versuchen die Stimmen unserer Lieben, uns vom Pfad des Gehorsams abzubringen. In solchen Zeiten müssen auch wir sagen: »Geh hinter mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis.« C. Vorbereitung auf die wahre Jüngerschaft (16,24-28)
16,24 Jetzt sagt der Herr Jesus uns offen, was es bedeutet, sein Jünger zu sein: sich selbst verleugnen, das Kreuz tragen und ihm nachfolgen. Sich selbst zu verleugnen, entspricht nicht der Selbstverleugnung, wie sie im heutigen Sprachgebrauch verwendet wird. Vielmehr ist damit gemeint, sich der Herrschaft Christi so zu unterstellen, dass das eigene Ich keinerlei Rechte mehr hat. Das Kreuz auf sich zu nehmen, bedeutet die Bereitschaft, um Jesu willen Spott und Leiden zu erdulden, vielleicht sogar den Märtyrertod. Es bedeutet auch, der Sünde, dem Ich und der Welt zu sterben. Christusnachfolge bedeutet, so zu leben, wie er gelebt hat, und zwar in jeder Hinsicht, was auch Demut, Armut, Mitleid, Liebe, Barmherzigkeit und jede andere Tugend einschließt.
16,25 Der Herr sieht zwei Hindernisse der Jüngerschaft voraus. Das erste ist die natürliche Versuchung, sich selbst vor Unbequemlichkeit, Schmerzen, Einsamkeit oder Verlusten zu schützen. Das andere Hindernis ist Reichtum. In Bezug auf das erste warnte uns Jesus, dass man keinerlei Erfüllung finden wird, wenn man aus selbstsüchtigen Gründen am Leben festhält. Wenn man sich dagegen Jesus rückhaltlos ausliefert, ohne die Kosten zu berechnen, wird man den Sinn des Lebens finden.
16,26 Die zweite Versuchung, nämlich reich zu werden, ist völlig irrational. Jesus sagte: »Stellt euch einen Menschen vor, der so geschäftstüchtig und erfolgreich ist, dass er schließlich die ganze Welt besitzt. Diese verrückte Jagd nach Reichtum würde so viel von seiner Zeit und Energie kosten, dass er das eigentliche Ziel seines Lebens verfehlen würde. Was wäre es nütze, so viel Geld zu verdienen, dann zu sterben und die Ewigkeit mit leeren Händen zu verbringen?« Der Mensch ist auf der Erde, um Größeres zu vollbringen, als ein Vermögen zusammenzuraffen. Er ist berufen, die Interessen seines Königs zu vertreten. Wenn er dieses Ziel verfehlt, ist sein ganzes Leben umsonst. In Vers 24 hatte Jesus den Jüngern das Schlimmste vorhergesagt. Das ist ein Kennzeichen des Christentums: Du weißt am Anfang genau, was im schlimmsten Fall auf dich zukommt. Aber du wirst nie damit zu Ende kommen, die Schätze und Verheißungen zu entdecken. Barnhouse hat das schön ausgedrückt: Wenn man alles Unerfreuliche der Schrift gesehen hat, dann gibt es nichts, was einen noch erstaunen könnte. Alles Neue, das wir in diesem Leben oder im nächsten Leben entdecken werden, wird für uns eine Freude sein.37
16,27 Nun erinnert der Herr die Seinen an die Herrlichkeit, die auf das Leiden folgen wird. Er weist auf seine Wiederkunft hin, wenn er »mit seinen Engeln« in der himmlischen »Herrlichkeit seines Vaters« auf die Erde zurückkehren wird. Dann wird er die belohnen, die für ihn leben. Man kann nur ein gelungenes Leben führen, indem man an dieses wunderbare Ereignis denkt, über die Dinge nachsinnt, die dann noch wichtig sein werden, und sich anschließend mit aller Kraft um diese bemüht.
16,28 Als Nächstes machte er die verwirrende Aussage, dass einige, die dort mit ihm standen, »den Tod keinesfalls schmecken« würden, ehe sie ihn »haben kommen sehen in seinem Reich«. Natürlich ergibt sich hier das Problem, dass all diese Jünger gestorben sind und Christus bis jetzt noch nicht in Macht und Herrlichkeit gekommen ist, um sein Reich aufzurichten. Das Problem löst sich, wenn wir die Kapiteleinteilung einmal übersehen und die ersten acht Verse des nächsten Kapitels als Erklärung für diese rätselhafte Aussage betrachten. Diese Verse beschreiben die Vorgänge auf dem Berg der Verklärung. Petrus, Jakobus und Johannes sahen dort den verklärten Christus. Sie hatten tatsächlich das Privileg, Jesus schon jetzt in der Herrlichkeit seines Reiches zu sehen.
Es ist gerechtfertigt, Jesu Verklärung als ein Vorbild seines kommenden Reiches zu sehen. Petrus beschreibt das Ereignis als »die Macht und Ankunft unseres  Herrn  Jesus  Christus«  (2. Petr  1,16). Die Macht und Ankunft des Herrn Jesus Christus ist seine Wiederkunft. Und Johannes spricht von dem Erlebnis auf dem Berg als von einer Zeit, als »wir … seine Herrlichkeit angeschaut (haben), eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater« (Joh 1,14). Das erste Kommen Christi fand in Demut statt, sein zweites Kommen wird in Herrlichkeit erfolgen. So wurde die Vorhersage von Vers 28 auf dem Berg der Verklärung erfüllt. Petrus, Jakobus und Johannes sahen den Menschensohn, und zwar nicht länger als den demütigen Nazarener, sondern als den verherrlichten König.
D. Die Vorbereitung der Jünger auf die Herrlichkeit: Die Verklärung (17,1-8)
17,1.2 Sechs Tage nach dem Ereignis in Cäsarea Philippi führt Jesus Petrus, Jakobus und Johannes auf einen hohen Berg irgendwo in Galiläa. Viele Kommentare betonen, dass diese sechs Tage eine Bedeutung haben. Gaebelein sagt z. B.: »Sechs ist die Zahl des Menschen – die Zahl, die die Werktage symbolisiert. Nach sechs Tagen, d. h. nachdem die Arbeit und der Tag des Menschen vollendet sind, wird der Tag des Herrn kommen, das Reich der Himmel.«
Wenn Lukas sagt, dass die Verklärung »etwa acht Tage« später geschah Schechina im AT die Gegenwart Gottes symbolisierte. Die Szene war eine Vorausschau auf die Erscheinung des Herrn, wenn er wiederkommen wird, um sein Reich zu bauen. Er wird dann nicht länger als das Opferlamm erscheinen, sondern als der Löwe aus Juda. Alle, die ihn sehen, werden ihn sofort als den Sohn Gottes, den König der Könige und Herrn der Herren, erkennen.
17,3 Dann erschienen Mose und Elia auf dem Berg und besprachen Jesu bevorstehenden Tod in Jerusalem (Lk 9,30.31). Mose und Elia vertreten eventuell die Heiligen des AT. Oder, wenn wir Mose als Vertreter des Gesetzes und Elia als Vertreter der Propheten nehmen, weisen beide Teile des AT auf die zukünftigen Leiden des Christus und die nachfolgende Herrlichkeit hin. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass Mose, der durch den Tod in den Himmel kam, all diejenigen vertritt, die aus den Toten auferstehen werden, um ins Tausendjährige Reich zu kommen, während Elia, der in den Himmel entrückt wurde, ein Bild für jene ist, die ebenfalls entrückt werden und in das Reich kommen.
Die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes könnten für die neutestamentlichen Heiligen im Allgemeinen stehen. Sie könnten auch für den gläubigen jüdischen Überrest stehen, der bei der Wiederkunft Christi noch leben und das Reich mit ihm erlangen wird. Die Menge am Fuße des Berges (V. 14; vgl. Lk 9,37) ist mit den heidnischen Nationen verglichen worden, die auch an den Segnungen der tausendjährigen Herrschaft Christi teilhaben werden.
17,4.5 Petrus war von dem Ereignis sehr ergriffen; er erkannte dessen historische Bedeutung. Er wollte diese Herrlichkeit festhalten und schlug in seinem Überschwang vor, drei Erinnerungshütten zu bauen, für Jesus eine »und Mose eine und Elia eine«. Es war richtig, dass er Jesus an die erste Stelle setzte, aber er tat unrecht, als er ihm keine überragende Stellung einräumte. Christus ist nicht einer unter Gleichen, sondern der Herr über alle. Um die drei Jünger das zu lehren, bedeckte sie Gott der Vater mit einer »lichten Wolke« und verkündigte dann: »Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe. Ihn hört!« Im Reich der Himmel wird Christus derjenige sein, der ohne Herrscher ist, der oberste Monarch, dessen Wort endgültige Autorität haben wird. So sollte es auch heute schon im Herzen seiner Nachfolger sein.
17,6-8 Von der Herrlichkeitswolke und der Stimme Gottes aus der Fassung gebracht, fielen die Jünger auf ihr Angesicht. Aber Jesus forderte sie auf, aufzustehen und sich nicht zu fürchten. Als sie sich erhoben, »sahen sie niemand als ihn, Jesus allein«. So wird es auch im Reich sein – der Herr Jesus wird »all die Herrlichkeit im Reiche Emmanuels sein«. E. Über den Vorläufer (17,9-13)
17,9 »Als sie von dem Berg herabstiegen«, befahl Jesus den Jüngern, dass sie niemandem etwas von dem sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis er aus den Toten auferstanden wäre. Die Juden warteten sehnlichst auf einen Befreier vom römischen Joch und hätten Jesus sicherlich als denjenigen willkommen geheißen, der sie von Rom befreien würde, aber sie wollten ihn nicht als Befreier von der Sünde. Israel hatte seinen Messias im Grunde genommen abgelehnt, und es wäre sinnlos gewesen, den Juden von diesem Beweis der messianischen Herrlichkeit zu berichten. Aber nach der Auferstehung würde diese Botschaft auf der ganzen Welt verbreitet werden.
17,10-13 Die Jünger hatten gerade eben eine Vorausschau auf Christi Kommen in Macht und Herrlichkeit empfangen. Aber sein Vorläufer war noch nicht erschienen. Maleachi hatte vorausgesagt, »dass Elia zuerst kommen müsse«, ehe der Messias käme (s. Mal 3,23.24). Deshalb fragten Jesu Jünger danach. Der Herr wusste, dass Elia vor ihm kommen musste, doch er erklärte, dass »Elia schon gekommen ist«. Offensichtlich bezog er sich dabei auf  Johannes  den  Täufer  (V. 13).  Johannes war nicht Elia (Joh 1,21), aber er war »in dem Geist und der Kraft des Elia« gekommen (Lk 1,17). Hätte Israel Johannes und seine Botschaft angenommen, hätte er die Rolle erfüllt, die über Elia vorausgesagt war (Matth 11,14). Aber die Angehörigen des Volkes hatten die Bedeutung der Sendung von Johannes nicht erkannt und behandelten ihn, wie es ihnen gefiel. Der Tod des Johannes war nur ein Hinweis auf das, was sie mit dem Menschensohn tun würden. Sie lehnten den Vorläufer ab, und sie würden auch den König ablehnen. Als Jesus das erklärte, »verstanden die Jünger, dass er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach«. Es gibt allen Grund zu glauben, dass sich vor der Wiederkunft Christi ein Prophet erheben wird, um Israel auf den kommenden König vorzubereiten. Ob es Elia persönlich oder jemand mit einem gleichen Dienst sein wird, kann man jedoch unmöglich voraussagen. F. Vorbereitung auf den Dienst durch Beten und Fasten (17,14-21) Das Leben ist alles andere als ein »Gipfelerlebnis«. Nach Augenblicken des geistlichen Hochgefühls kommen Stunden und Tage der Mühe und Plage. Es kommt die Zeit, da wir den Berg verl assen müssen, um im Tal der menschlichen Not zu dienen.
17,14.15 Am Fuß des Berges wartete ein verzweifelter Vater auf den Retter. Er »fiel vor ihm auf die Knie« und breitete vor ihm seine von Herzen kommende Bitte aus, dass sein von Dämonen besessener Sohn geheilt werden möge. Der Sohn litt unter heftigen epileptischen Anfällen, die ihn manchmal ins Feuer oder ins Wasser fallen ließen; deshalb wurde sein Leiden durch Verbrennungen und dadurch noch verschlimmert, dass er fast ertrunken wäre. Er war ein klassisches Beispiel für Leiden, das durch Satan verursacht wird, den grausamsten aller Herren.
17,16 Der Vater war zu den Jüngern gekommen, um Hilfe zu erhalten, aber er lernte nur, dass es vergeblich ist, sich auf Menschen zu verlassen. Sie hatten keine Heilungsmacht.
17,17 Der Ausruf: »O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Bis wann soll ich bei euch sein?«, ist an die Jünger gerichtet. Sie hatten nicht den Glauben, den Epileptiker zu heilen, sondern waren in dieser Beziehung nicht besser als die anderen Juden ihrer Tage – glaubenslos und uneinsichtig.
17,18 Als der Epileptiker zu ihm gebracht wurde, bedrohte Jesus den Dämon, und sofort war der Junge geheilt.
17,19.20 Verwirrt durch ihre Machtlosigkeit, baten die Jünger den Herrn im kleinen Kreis um eine Erklärung, als sie allein mit ihm waren. Jesu Antwort war ebenso kurz wie ehrlich: Kleinglaube. Wenn sie Glauben »wie ein Senfkorn« gehabt hätten (das kleinste von allen Samenkörnern), dann hätten sie einem Berg befehlen können, sich ins Meer zu stürzen, und es wäre geschehen. Natürlich ist hier eingeschlossen, dass sich der echte Glaube immer auf einen Auftrag oder eine Verheißung Gottes gründen muss. Wenn man erwartet, einen spektakulären Stunt vollbringen zu können, um damit irgendeine persönliche Laune zu befriedigen, dann geht es nicht um Glauben, sondern um Anmaßung. Aber wenn Gott einen Gläubigen in eine bestimmte Richtung leitet oder ihm etwas befiehlt, dann kann der Christ das äußerste Vertrauen haben, dass Schwierigkeiten, die wie Berge aussehen, auf wunderbare Weise verschwinden werden. Nichts ist dem unmöglich, der glaubt.
17,21 Dieser Vers (»Diese Art fährt nicht aus außer durch Gebet und Fasten«) wird in einigen moderneren Bibelübersetzungen ausgelassen, weil er in vielen früh datierten Handschriften nicht enthalten ist. Dennoch findet man ihn in der Mehrheit der Handschriften, und er passt in den Kontext eines außerordentlich schwierigen Problems. G. Vorbereitung der Jünger auf seinen Verrat (17,22.23)
17,22.23 Ohne zu dramatisieren oder Aufsehen zu erregen, weist der Herr Jesus seine Jünger erneut nachdrücklich darauf hin, dass er getötet werden wird. Aber wieder war da das Wort der Rechtfertigung und des Sieges – er würde »am dritten Tag« auferweckt werden. Wenn er ihnen seinen Tod nicht angekündigt hätte, wären sie zweifellos völlig desillusioniert gewesen, sobald es geschehen wäre. Ein schmachvoller Tod unter Qualen entsprach nicht ihren Erwartungen vom Messias. Auch diesmal waren sie sehr verzweifelt, weil er von ihnen gehen und getötet werden würde. Sie hörten die Vorhersage seines Leidens, aber scheinbar überhörten sie die Verheißung seiner Auferstehung.
H. Petrus und sein Meister bezahlen ihre Steuern (17,24-27)
17,24.25 In Kapernaum fragten die Einnehmer der Tempelsteuer Petrus, ob sein Meister die Doppeldrachme für den kostspieligen Tempeldienst nicht zahle. Petrus antwortete: »Doch.« Vielleicht wollte der irregeleitete Jünger Jesus vor einer Verlegenheit bewahren.
Im Folgenden sehen wir die Allwissenheit des Herrn. Als Petrus heimkam, sprach ihn Jesus sofort an – ehe Petrus auch nur die Chance gehabt hatte, zu erzählen, was passiert war. »Was meinst du, Simon? Von wem erheben die Könige der Erde Zoll oder Steuer, von ihren Söhnen oder von den Fremden?« Die Frage muss vor dem damaligen geschichtlichen Hintergrund gesehen werden. Der Herrscher verlangte Steuern von seinen Untertanen, um sein Reich und seine Familie zu erhalten, aber er nahm natürlich von seiner Familie keine Steuern. Bei unserem Steuersystem werden alle besteuert, einschließlich des Herrschers und seiner Familie.
17,26 Petrus antwortete richtig, dass die Herrscher nur »von den Fremden« nehmen. Jesus wies dann darauf hin, dass die Söhne frei sind. Es ging darum, dass der Tempel das Haus Gottes war. Wenn also Jesus, der Sohn Gottes, Steuer für den Unterhalt dieses Tempels gegeben hätte, dann würde er gewissermaßen diese Steuer an sich selbst zahlen.
17,27 Dennoch willigte der Herr ein, die Steuer zu bezahlen, statt unnötig Anstoß zu erregen. Aber wie sollte er an Geld kommen? Es ist nicht überliefert, dass Jesus je Geld gehabt hätte. Er sandte Petrus zum See Genezareth und sagte ihm, er solle den ersten Fisch nehmen, den er fangen würde. Im Maul dieses Fisches würde er einen Stater finden, den er dann zum Bezahlen der Steuer verwenden konnte, die eine Hälfte für ihn und die andere für Jesus.
Dieses erstaunliche Wunder, das mit äußerster Zurückhaltung erzählt wird, zeigt ganz offensichtlich Jesu Allwissenheit. Er wusste, welcher von allen Fischen im See Genezareth einen Stater im Maul hatte. Er wusste, wo dieser Fisch war, und er wusste auch, dass es der erste sein würde, den Petrus fangen würde. Wäre es hier um ein göttliches Prinzip gegangen, dann hätte Jesus hier sicherlich nicht bezahlt. Aber da es für ihn ethisch belanglos war, wollte er eher zahlen, als Anstoß zu erregen. Wir sind als Gläubige frei vom Gesetz. Doch in Angelegenheiten, die nicht die Ethik betreffen, sollten wir das Gewissen der anderen respektieren und nichts tun, das einem anderen Anstoß sein könnte. XI. Der König unterweist seine Jünger (Kap. 18 – 20)
A. Über die Demut (18,1-6) Kapitel 18 wurde einmal »Rede über Größe und Vergebung« genannt. Sie zeigt die Richtlinien für das angemessene Verhalten derer auf, die von sich behaupten, Untertanen Christi, des Königs, zu sein.
18,1 Die Jünger hatten das Reich der Himmel immer als goldenes Zeitalter des Friedens und des Reichtums angesehen. Nun begannen sie, bevorzugte Stellungen in diesem Reich zu begehren. Ihr selbstsüchtiges Wesen drückte sich in der Frage aus: »Wer ist denn der Größte im Reich der Himmel?«
18,2.3 Jesus antwortete mit einem lebendigen Anschauungsobjekt. Er stellte ein Kind in ihre Mitte und sagte, dass die Menschen umkehren und wie die Kinder werden müssen, um in das Reich der Himmel hineinzukommen. Er meinte dabei das Reich in seiner inneren Wirklichkeit. Um ein echter Gläubiger zu sein, muss der Mensch die Gedanken an persönliche Größe ablegen und die niedrige Stellung eines Kindes einnehmen. Das beginnt, wenn er seine Sündhaftigkeit erkennt und einsieht, dass er von sich aus vor Gott kein Verdienst hat, und Jesus Christus als seine einzige Hoffnung annimmt. Diese Haltung sollte sich durch sein gesamtes Leben als Gläubiger ziehen. Jesus wollte damit nicht sagen, dass seine Jünger nicht errettet waren. Alle außer Judas glaubten an ihn und waren deshalb gerechtfertigt. Allerdings hatten sie noch nicht den Heiligen Geist empfangen und besaßen deshalb noch nicht die Kraft für echte Demut, die uns heute durch den in uns wohnenden Geist zur Verfügung steht (die wir allerdings nicht so nutzen, wie wir es sollten). Auch mussten sie sich in dem Sinne bekehren, dass sie all ihr falsches Denken verändern ließen, damit es dem Reich angemessen war.
18,4 Der größte Mensch im Reich der Himmel ist derjenige, der sich selbst wie ein kleines Kind erniedrigt. Offensichtlich sind die Maßstäbe und Werte im Reich der Himmel denen der Welt direkt entgegengesetzt. Unsere ganze Denkweise muss verändert werden, damit wir die Gedanken Christi »nachdenken« (s. Phil 2,5-8).
18,5 Hier wechselt der Herr fast übergangslos das Thema: Vom natürlichen Kind geht er zum geistlichen Kind über. Wer immer einen seiner demütigen Nachfolger in seinem Namen aufnimmt, wird belohnt, als ob er den Herrn selbst aufgenommen hätte. Was einem der Jünger getan wird, gilt als Werk, das seinem Herrn getan wurde.
18,6 Auf der anderen Seite zieht sich jeder, der einen Gläubigen zu einer Sünde verführt, ein schreckliches Urteil zu. »Für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.« (Der hier erwähnte große Mühlstein konnte nur von einem Tier gedreht werden; es gab auch kleinere, die von Hand gedreht werden konnten.) Es ist schlimm genug, selbst zu sündigen, aber einen Gläubigen zur Sünde zu veranlassen, bedeutet, dessen Unschuld zugrunde zu richten, seinen Geist zu verderben und seinen Ruf zu schädigen. Es ist besser, eines gewaltsamen Todes zu sterben, als mit der Reinheit eines and eren zu spielen! B. Über die Versuchungen (18,7-14)
18,7 Jesus fuhr fort, indem er erklärte, dass es unvermeidlich ist, Versuchungen zu begegnen. Die Welt, das Fleisch und der Teufel arbeiten zusammen, um zu verführen und auf Abwege zu bringen. Wenn aber ein Mensch ein Werkzeug der Mächte des Bösen wird, dann ist seine Schuld sehr groß. Deshalb ermahnte der Heiland die Menschen, sich lieber drastisch selbst zu disziplinieren, als ein Kind Gottes zu verführen.
18,8.9 Ob das sündige Glied eine Hand, ein Fuß oder ein Auge ist, spielt keine Rolle. Es zu opfern, ist besser, als das Werk Gottes in einem anderen Menschen zu zerstören. Es ist besser, ohne Gliedmaßen oder Augenlicht »in das Leben hineinzugehen«, als unversehrt in die Hölle geworfen zu werden. Unser Herr will damit nicht sagen, dass es im Himmel verstümmelte Leiber geben wird, sondern er beschreibt lediglich die körperliche Verfassung des Gläubigen zu dem Zeitpunkt, da er dieses Leben mit dem zukünftigen vertauscht. Es steht außer Frage, dass der Auferstehungsleib vollständig und vollkommen sein wird.
18,10 Als Nächstes warnte der Herr davor, eines seiner »Kleinen« zu verachten – ganz gleich, ob es ein Kind ist oder sonst jemand, der zum Reich gehört. Um die Bedeutung der »Kleinen« zu betonen, fügte er hinzu, dass ihre Engel ständig in der Gegenwart Gottes sind, wo sie sein Angesicht schauen. Mit Engeln sind hier sicherlich die bewahrenden Engel gemeint (s. a. Hebr 1,14).
18,11 Während dieser Vers über die Aufgabe des Retters in vielen Bibelausgaben nur in einer Fußnote vorkommt, ist er doch ein passender Höhepunkt dieses Abschnittes und wird durch viele Handschriften unterstützt.38
18,12.13 Um »diese Kleinen« geht es auch beim rettenden Dienst des mitfühlenden Hirten. Selbst wenn sich eines von hundert Schafen verirrt, verlässt der Hirte die neunundneunzig anderen, um nach dem verlorenen Schaf zu suchen, bis er es gefunden hat. Die Freude des Hirten über das Wiederfinden eines abgeirrten Schafes sollte uns lehren, seine »Kleinen« wertzuschätzen und zu respektieren.
18,14 Sie sind nicht nur den Engeln und dem Hirten wichtig, sondern auch Gott dem Vater. Es ist nicht »der Wille eures Vaters, dass eines dieser Kleinen verlorengehe«. Wenn sich sogar Engel, der Herr Jesus und Gott der Vater um sie kümmern, dann sollten wir sie keinesfalls verachten – ganz gleich, wie hässlich oder gering sie uns erscheinen mögen. C. Über Gemeindezucht (18,15-20) Der Schluss des Kapitels beschäftigt sich mit der Schlichtung von Streit unter Gemeindegliedern. Außerdem wird die Notwendigkeit unbegrenzter Vergebungsbereitschaft betont.
18,15 Hier lesen wir ausführliche Anweisungen bezüglich der Pflicht eines Christen, wenn ein anderer gegen ihn gesündigt hat. Als Erstes sollte die Angelegenheit privat geregelt werden. Wenn der Schuldige seine Schuld eingesteht, dann ist Versöhnung erreicht. Das Problem ist, dass wir meist nicht in dieser Weise handeln. Wir sprechen mit allen in der Gemeinde darüber – außer mit dem, den die Angelegenheit betrifft. Dann verbreitet sich die Angelegenheit wie ein Steppenbrand, und der Unfriede wird vergrößert. Wir sollten uns immer daran erinnern, dass der erste Schritt ist: »Geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein.«
18,16 Wenn der schuldige Bruder nicht hört, dann sollte derjenige, dem Unrecht geschehen ist, einen oder zwei andere mit sich nehmen, um zu einer Lösung zu finden. Das betont den wachsenden Ernst seiner Unbußfertigkeit. Aber nicht nur das – hier geht es um kompetente Zeugenschaft, wie sie von der Schrift gefordert wird: »Nur auf zweier Zeugen Aussage oder auf dreier Zeugen Aussage hin soll eine Sache gültig sein« (5. Mose  19,15). Niemand kann die Schwierigkeiten ermessen, die in der Gemeinde dadurch entstanden sind, dass die einfache Regel nicht befolgt wurde, eine Klage gegen einen Bruder oder eine Schwester von zwei oder drei Zeugen bestätigen zu lassen. In dieser Hinsicht handeln weltliche Gerichte oft gerechter als christliche Gemeinden.
18,17 Wenn sich der Angeklagte noch immer weigert, zu bekennen und sich zu entschuldigen, dann sollte die Angelegenheit vor die örtliche Gemeinde gebracht werden. Es ist sehr wichtig zu beachten, dass die Ortsgemeinde verantwortlich ist, sich mit dem Fall zu beschäftigen, nicht jedoch ein weltliches Gericht. Dem Christen ist es verboten, vor einem weltlichen Gericht gegen einen anderen Gläubigen zu klagen (1. Kor 6,1-8). Wenn der Beschuldigte sich weigert, seine Verfehlung vor der Gemeinde zuzugeben, dann »sei er dir wie der Heide und der Zöllner«. Die offensichtlichste Bedeutung dieses Ausdrucks ist, dass er nun nicht mehr als zur Gemeinde gehörig betrachtet werden kann. Obwohl er ein echter Gläubiger sein mag, lebt er doch nicht als solcher und sollte entsprechend behandelt werden. Auch wenn er immer noch der weltweiten Gemeinde angehört, sollten ihm die Privilegien als Glied der Ortsgemeinde verwehrt werden. Solche Zuchtmaßnahmen sind sehr ernst zu nehmen, sie liefern nämlich den Schuldigen zeitweilig der Macht Satans aus, und zwar »zum Verderben des Fleisches, damit der Geist errettet werde am Tage des Herrn«  (1. Kor  5,5).  Der  Zweck  besteht darin, ihn zur Besinnung und zum Bekenntnis seiner Schuld zu bringen. Ehe er diesen Punkt erreicht hat, sollte er zwar höflich behandelt werden, doch sollten ihm die Gläubigen durch ihre Haltung zeigen, dass sie seine Sünde nicht billigen und mit ihm keine Gemeinschaft als Bruder haben können. Die Gemeinde sollte ihn allerdings auch sofort wieder annehmen, wenn er Zeichen gottgemäßer Buße zeigt.
18,18 Vers 18 hängt eng mit dem vorher Gesagten zusammen. Wenn eine Gemeinde unter Gebet und im Gehorsam gegenüber Gottes Wort einen Gläubigen »bindet«,  d. h.  im  Sinne  der  Gemeindezucht an ihm handelt, wird dies im Himmel anerkannt. Wenn der unter Gemeindezucht stehende Gläubige Buße getan und seine Sünde bekannt hat und die Gemeinde ihn wieder in ihre Gemeinschaft aufnimmt, dann wird diese Lösung ebenfalls von Gott bestätigt (s. Joh 20,23).
18,19 Dabei stellt sich die Frage: »Wie groß muss eine Gemeinde sein, ehe sie wie oben beschrieben binden oder lösen kann?« Die Antwort lautet, dass bereits zwei Gläubige solche Angelegenheiten vor Gott bringen und sicher sein dürfen, dass sie gehört werden. Man kann zwar Vers 19 als ganz allgemeine Verheißung für die Erhörung von Gebeten nehmen, in diesem Zusammenhang geht es jedoch um das Gebet bezüglich der Gemeindezucht. Wenn dieser Vers im Zusammenhang mit gemeinsamem Gebet im Allgemeinen zitiert wird, sollte er im Licht aller anderen Lehren über das Gebet betrachtet werden. So muss z. B. für unser Gebet gelten: 1. In Übereinstimmung mit dem Willen Gottes (1. Joh 5,14.15). 2. Im Glauben (Jak 1,6-8). 3. In Aufrichtigkeit (Hebr 10,22a) etc.
18,20 Auch Vers 20 sollte in seinem Zusammenhang ausgelegt werden. Er bezieht sich weder in erster Linie auf die Zusammensetzung einer neutestamentlichen Gemeinde in ihrer einfachsten Form noch auf eine allgemeine Gebetsversammlung, sondern auf eine Zusammenkunft, in der die Gemeinde die Versöhnung zweier Christen anstrebt, die durch eine Sünde voneinander getrennt sind. Er könnte berechtigterweise auf alle Versammlungen von Gläubigen angewendet werden, in denen Christus im Mittelpunkt steht, aber hier ist eine bestimmte Art von Zusammenkünften gemeint. Sich »in seinem Namen« zu versammeln, bedeutet, unter Christi Leitung und Vollmacht zusammenzukommen – in Anerkennung all dessen, was er ist, und im Gehorsam gegenüber seinem Wort. Keine Gruppe kann für sich beanspruchen, der einzige Personenkreis zu sein, der sich in seinem Namen versammelt. Wenn dem so wäre, dann wäre seine Gegenwart nämlich auf einen kleinen Teil seines Leibes auf Erden beschränkt. Wo immer »zwei oder drei versammelt sind«, die ihn als Herrn und Retter anerkennen, ist er »in ihrer Mitte«. D. Über die unbegrenzte Vergebung (18,21-35)
18,21.22 An diesem Punkt bringt Petrus die Frage auf, wie oft er denn seinem Bruder vergeben solle, der gegen ihn gesündigt hat. Er dachte wahrscheinlich, dass er schon sehr gnädig sei, wenn er siebenmal als Grenze vorschlug. Jesus antwortete aber: »Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal sieben.« Er meinte damit nicht, dass wir darunter wörtlich 490-mal verstehen sollten, sondern dies steht symbolisch für »unbegrenzt«. Man könnte vielleicht fragen: »Warum soll man sich die Mühe machen, jedes Mal die oben erwähnten Schritte zu tun? Wieso erst allein zu dem sündigenden Bruder hingehen, dann mit ein oder zwei anderen und ihn dann vor die Gemeinde bitten? Weshalb nicht einfach vergeben und damit hat sich die Sache?« Die Antwort lautet, dass es folgende Stufen in der Handhabung der Vergebung gibt:
1. Wenn ein Bruder mir unrecht tut oder gegen mich sündigt, dann sollte ich ihm sofort in meinem Herzen vergeben (Eph 4,32). Das befreit mich von einem bitteren, nicht vergebungsbereiten Geist und gibt die Verantwortung dem anderen.
2. Während ich dem anderen in meinem Herzen vergeben habe, sage ich ihm dennoch nicht, dass ihm vergeben ist. Es wäre nicht gerecht, ihm öffentlich Vergebung auszusprechen, ehe er bereut hat. So bin ich verpflichtet, zu ihm zu gehen und ihn in Liebe zu ermahnen, in der Hoffnung, ihn zum Bekennen zu führen (Lk 17,3). 3. Sobald er sich entschuldigt und seine Sünde bekennt, kann ich ihm zusagen, dass ihm vergeben ist (Lk 17,4).
18,23 Jesus erzählt dann ein Gleichnis vom Reich der Himmel, um vor den Folgen mangelnder Vergebungsbereitschaft der Untertanen zu warnen, denen großzügig vergeben wurde.
18,24-27 In der Geschichte ging es um einen König, der seine Schulden eintreiben wollte. Ein Diener, »der zehntausend Talente schuldete«, war zahlungsunfähig, sodass sein Herr befahl, ihn und seine Familie als Sklaven zu verkaufen, um so die Schuld zurückzuzahlen. Der verzweifelte Knecht bat um Zeit und versprach, alles zu bezahlen, wenn er noch eine Chance bekäme.
Wie viele Schuldner war er unglaublich optimistisch bezüglich seiner Möglichkeiten, wenn er nur mehr Zeit hätte (V. 26). Das Steueraufkommen von ganz Galiläa betrug nur 300 Talente, und dieser Mann schuldete 10 000! Diese Einzelheit über die riesige Summe wird uns ganz absichtlich genannt. Sie dient dazu, die Zuhörer zu schockieren und so ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem sollte so die Größe der Schuld vor Gott dargestellt werden. Martin Luther pflegte zu sagen, dass wir nichts als Bettler vor Gott sind. Wir haben keine Hoffnung, jemals unsere Schulden bezahlen zu können. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
Als der Herr die reuige Haltung des Knechtes sah, erließ er ihm die ganzen 10 000  Talente.  Das  war  ein  Gnadenakt, keine Gerechtigkeit.
18,28-30 Nun hatte dieser Knecht einen Mitknecht, der ihm hundert Denare schuldete (einige hundert Euro). Statt sie ihm zu erlassen, »würgte (er) ihn« und verlangte sofortige Zahlung. Der unglückliche Schuldner bat um Aufschub, aber das nützte ihm nichts. Der Gläubiger »warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe« – eine im besten Fall schwierige Aufgabe, da er kein Geld verdienen konnte, solange er im Gefängnis war.
18,31-34 Die Mitknechte waren über dieses ungehörige Verhalten erzürnt und »berichteten ihrem Herrn alles«. Dieser wurde sehr zornig über den gnadenlosen Geldverleiher, dem eine so riesige Schuld erlassen worden war und der sich weigerte, seinerseits eine geringe Summe zu erlassen. So wurde er nun selbst den Folterknechten übergeben, »bis er alles bezahlt habe, was er ihm schuldig war«.
18,35 Die Anwendung ist eindeutig. Gott ist der König. Alle seine Knechte hatten riesige Schulden der Sünde aufgehäuft, die sie nie bezahlen konnten. In wunderbarer Gnade und Barmherzigkeit zahlte der Herr selbst die Schuld und gewährte volle und großzügige Vergebung. Nun stelle man sich vor, dass ein Christ einem anderen unrecht tut. Wenn er getadelt wird, entschuldigt er sich und bittet um Vergebung. Aber der, dem Unrecht geschehen ist, weigert sich, ihm zu vergeben. Ihm persönlich sind Millionen von Euro erlassen worden, aber er selbst will nicht ein paar Hundert erl assen. Wird der König ein solches Verhalten unbestraft durchgehen lassen? Natürlich nicht! Der Übeltäter wird in seinem Leben gezüchtigt werden und vor dem Richterstuhl Christi Schaden erleiden. E. Über Heirat, Scheidung und Ehelosigkeit (19,1-12)
19,1.2 Nachdem er seinen Dienst in Galiläa abgeschlossen hatte, wandte sich der Herr südwärts nach Jerusalem. Obwohl die genaue Reiseroute unbekannt ist, scheint es klar zu sein, dass er durch Peräa am Ostufer des Jordan reiste. Matthäus spricht etwas ungenau vom »Gebiet von Judäa, jenseits des Jordan«. Der Dienst in Peräa erstreckt sich entweder von Kapitel 19,1 bis Kapitel 20,16 oder bis Kapitel 20,28. Es wird uns nicht deutlich gesagt, wann er den Jordan nach Judäa überschritt.
19,3 Es waren wahrscheinlich die Volksmengen – die ihm nachfolgten, weil sie Heilung suchten –, die den Pharis äern sagten, wo sich der Herr aufhielt. Wie eine Horde wilder Hunde begannen sie ihn einzukreisen, indem sie hofften, ihn mit den eigenen Worten zu fangen. Sie fragten, ob Scheidung aus jedem Grund gesetzmäßig sei. Ganz gleich, wie er antworten würde, er würde auf jeden Fall einen Teil der Juden erzürnen. Eine Richtung hatte eine sehr liberale Einstellung zur Scheidung, die andere war dagegen sehr streng.
19,4-6 Unser Herr erklärte, es sei Gottes ursprüngliche Absicht gewesen, dass ein Mann nur eine Frau haben soll. Der Gott, der »Mann und Frau« geschaffen hatte, bestimmte, dass die Eheb eziehung wichtiger sei als die Beziehung zu den Eltern. Er sagte auch, die Ehe sei eine Vereinigung von zwei Personen. Gottes Ideal ist, dass diese göttlich angeordnete Gemeinschaft nicht durch irgendeine menschliche Handlung oder Bestimmung gebrochen werden soll.
19,7 Die Pharisäer dachten, sie hätten den Herrn nun bei einem Widerspruch zum AT entdeckt. Hatte nicht Mose Gesetze bezüglich der Scheidung erlassen? Ein Mann konnte seiner Frau einfach eine schriftliche Bescheinigung über die Scheidung ausstellen und sie dann aus seinem Haus verweisen (5. Mose 24,1-4).
19,8 Jesus stimmte zu, dass Mose die Scheidung erlaubt hat, allerdings war das nicht das Beste, was Gott mit der Menschheit vorhatte, sondern hatte seine Ursache in der abtrünnigen Haltung Israels: »Mose hat wegen eurer Herzenshärtigkeit euch gestattet, eure Frauen zu entlassen; von Anfang an aber ist es nicht so gewesen.« Gottes eigentliche Absicht war es, dass es keine Scheidung geben sollte. Aber Gott toleriert manchmal Umstände, die nicht seinem direkten Willen entsprechen.
19,9 Dann stellte der Herr in absoluter Autorität fest, dass die vergangene Nachsicht mit Scheidungen jetzt aufhörte. Von diesem Zeitpunkt an gab es nach seinen Worten nur noch einen zulässigen Grund zur Scheidung: Unzucht. Wenn jemand sich aus irgendeinem anderen Grund scheiden ließe und wieder heiraten würde, dann würde er sich des Ehebruchs schuldig machen.
Obwohl es hier nicht direkt gesagt ist, scheint unser Herr anzudeuten, dass der unschuldige Teil bei einer Scheidung aufgrund von Ehebruch frei ist, wieder zu heiraten. Anderenfalls würde eine Scheidung keinen Zweck erfüllen, der nicht auch durch eine Trennung zu erreichen wäre.
Normalerweise versteht man unter Ehebruch sexuell unmoralisches Verhalten oder Unzucht. Dennoch sind viele Exegeten der Auffassung, dass es sich hier nur um Unzucht vor der Ehe handelt, die nach der Ehe entdeckt wird (s. 5. Mose 22,13-21). Andere meinen, der Text beziehe sich nur auf jüdische Ehegebräuche, weil wir nur bei Matthäus die »Ausnahmeregelung« finden, dem einzigen jüdischen Evangelium. Eine ausführlichere Diskussion über Scheidung findet sich bei den Anmerkungen zu Kapitel 5,31.32.
19,10 Als die Jünger die Lehre des Herrn über Scheidung gehört hatten, zeigten sie, dass sie nur in Extremen denken konnten. Sie vertraten nämlich die absurde Meinung, dass es besser wäre, wenn man sich nur aus einem Grund scheiden lassen dürfe, gar nicht zu heiraten, um die Sünde als Verheiratete zu vermeiden. Aber das würde sie nicht davor bewahren, als Ledige zu sündigen.
19,11 So erinnerte sie der Herr daran, dass der Stand der Ehelosigkeit nicht die Regel sei. Nur diejenigen, denen in dieser Hinsicht eine besondere Gnadengabe gegeben sei, könnten sich der Ehe enthalten. Dieser Ausdruck (»Nicht alle fassen dieses Wort, sondern die, denen es gegeben ist«) bedeutet nicht, dass nicht alle das Folgende verstehen können, sondern dass sie kein enthaltsames Leben führen können, wenn sie nicht dazu berufen sind.
19,12 Der Herr Jesus erklärte, dass es drei Kategorien von »Verschnittenen« gibt. Einige Männer sind verschnitten, weil sie ohne Zeugungsfähigkeit geboren werden. Andere sind verschnitten, weil sie von anderen Menschen entmannt wurden. Aber Jesus hatte besonders diejenigen im Sinn, »die sich selbst verschnitten haben um des Reiches der Himmel willen«. Diese Männer können verheiratet sein und keinen körperlichen Mangel aufweisen. Doch in der Hingabe an den König und sein Reich verzichten sie willentlich auf die Ehe, um sich ganz der Sache Christi widmen zu können, ohne sich anderweitig ablenken zu lassen. Paulus schrieb später dazu: »Der Unverheiratete ist für die [Sache] des Herrn besorgt, wie er dem Herrn gefallen möge« (1. Kor  7,32).  Ihre  Ehelosigkeit  ist  nicht körperlich bedingt, sondern durch freiwillige Enthaltsamkeit.
Nicht alle Menschen können so leben, sondern nur diejenigen, die durch Gott die Kraft dazu erhalten: »Doch jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so« (1. Kor 7,7). F. Über Kinder (19,13-15)
19,13-15 Es ist interessant, dass es hier nur kurz nach der Rede über die Scheidung um Kinder geht (s. a. Mk 10,1-16). Oft sind sie es, die am meisten unter einer Scheidung zu leiden haben. Einige Eltern brachten ihre Kinder zu Jesus, damit sie von dem Lehrer und Hirten gesegnet würden. Die Jünger sahen dies als eine Störung an und »fuhren sie an«. Aber Jesus greift hier mit den Worten ein, die ihn jedem Kind in jedem Alter sympathisch machen: »Lasst die Kinder, und wehrt ihnen nicht, zu mir zu kommen, denn solchen gehört das Reich der Himmel.«
Wir können aus diesen Worten verschiedene wichtige Lehren ziehen. Erstens sollten sie jeden Diener des Herrn darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, auch die Kinder mit dem Wort Gottes zu erreichen, deren Geist noch höchst aufnahmefähig ist. Zweitens sollten Kinder, die ihren Glauben an den Herrn Jesus bezeugen wollen, immer ermutigt und nicht zu rückgehalten werden. Keiner kennt das Alter des jüngsten Menschen in der Hölle. Wenn ein Kind wirklich errettet werden möchte, dann sollte man ihm nicht sagen, es sei zu jung. Gleichzeitig sollte man Kinder jedoch nicht dazu bringen, ein falsches Zeugnis abzulegen. So sehr sie auf emotionale Appelle reagieren, sollten sie vor den »Hochdruckmethoden« mancher Evangelisten beschützt werden. Kinder müssen nicht erst erwachsen werden, um gerettet zu werden, sondern Erwachsene müssen wie Kinder werden (Kap. 18,3.4; Mk 10,15).
Drittens geben diese Worte unseres Herrn eine Antwort auf die Frage, was mit Kindern geschieht, die sterben, ehe sie für ihre Sünden zur Rechenschaft gezogen werden können. Jesus sagte: »Solcher ist das Reich der Himmel.« Das sollte als Verheißung für die Eltern genügen, die den Verlust eines ihrer Kleinen erleiden mussten.
Manchmal wird dieser Abschnitt da zu herangezogen, um die Taufe von Säuglingen zu rechtfertigen, die sie angeblich zu Gliedern Christi und Erben des Reiches macht. Wenn man genauer liest, dann brachten die Eltern ihre Kinder zu Jesus und nicht zur Taufe. Man wird außerdem feststellen, dass den Kindern das Reich Gottes schon gehört. Und man wird sehen, dass im ganzen Abschnitt nicht ein einziger Tropfen Wasser vorkommt. G. Über den Reichtum:
Der reiche Jüngling (19,16-26)
19,16 Dieser Vorfall bietet uns einen starken Gegensatz zum vorhergehenden. Nachdem wir soeben gesehen haben, dass das Reich der Himmel den Kindern gehört, werden wir nun sehen, wie schwer es für Erwachsene ist, hineinzukommen.
Ein reicher Mann unterbrach Jesus mit einer scheinbar ernsthaften Anfrage. Er sprach Jesus mit »Lehrer« an und wollte wissen, was er zu tun habe, um das ewige Leben zu erlangen. Diese Frage zeigte schon seine Unkenntnis über Jesus und den Weg der Errettung. Er nannte Jesus Lehrer – damit stellte er ihn auf eine Stufe mit anderen großen Männern. Und er sprach davon, dass er das ewige Leben wie eine Verpflichtung erwerben könne, statt es wie ein Geschenk zu empfangen.
19,17 Unser Herr erprobte ihn genau an diesen beiden Punkten. Indem er fragte: »Was fragst du mich über das Gute? Einer ist der Gute«, wollte er nicht seine eigene Göttlichkeit in Abrede stellen, sondern wollte dem Mann die Gelegenheit geben zu sagen: »Gerade deshalb nenne ich dich gut – weil du Gott bist.«
Um ihn bezüglich der Errettung zu prüfen, sagte Jesus: »Wenn du aber ins Leben hineinkommen willst, so halte die Gebote.« Damit meinte der Heiland natürlich nicht, dass man errettet werden kann, indem man die Gebote hält. Er benutzte vielmehr das Gesetz, um den Mann von der Sünde in seinem Herzen zu überführen. Der Mann litt immer noch unter der Illusion, er könne ins Reich aufgenommen werden, wenn er etwas Bestimmtes täte. Deshalb forderte Jesus ihn auf, dem Gesetz zu gehorchen, das ihm sagte, was er tun solle.
19,18-20 Unser Herr zitierte fünf Gebote, die sich vor allem mit unseren Mitmenschen beschäftigen, und als Höhepunkt zitierte er: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Blind in seiner Selbstsucht, prahlte der Mann damit, dass er diese Gebote immer gehalten habe.
19,21 Dann aber stellte der Herr heraus, dass dieser Mann es versäumt hatte, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, indem er ihn aufforderte, all seinen Besitz zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben. Daraufhin aber sollte er ihm nachfolgen.
Der Herr wollte hier nicht sagen, dass der Mann gerettet werden könnte, indem er seinen Besitz verkaufen und den Erlös für wohltätige Zwecke verwenden würde. Es gibt nur einen einzigen Heilsweg – Glaube an den Herrn. Aber um gerettet zu werden, muss jeder Mensch einsehen, dass er ein Sünder ist und Gottes heiligen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Die fehlende Bereitschaft des reichen Mannes, seinen Besitz zu teilen, zeigte, dass er seinen Nächsten nicht wie sich selbst liebte. Er hätte sagen sollen: »Herr, falls das erforderlich ist, dann bin ich ein Sünder. Ich kann mich nicht durch meine eigenen Anstrengungen erretten. Deshalb bitte ich dich, mich durch deine Gnade zu erretten.« Wenn er so auf die Lehre Jesu reagiert hätte, dann hätte er den Weg der Rettung gefunden.
19,22-24 Stattdessen »ging er betrübt weg«. Die Antwort des reichen Jünglings veranlasste Jesus zu der Äußerung, der zufolge es schwer ist, dass »ein Reicher in das Reich der Himmel« kommt. Reichtum wird leicht zum Götzen. Es ist schwer, Besitz zu haben, ohne darauf zu vertrauen. Der Herr erklärte, es sei leichter, »dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt«. Er benutzte hier eine Redewendung, die als »Übertreibung« bekannt ist. Dies ist eine Aussage in einer besonders betonten Form, um einen anschaulichen, unvergesslichen Eindruck hervorzurufen.
Es ist natürlich unmöglich, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht! Das »Nadelöhr« ist oft als ein kleines Tor in der Stadtmauer gedeutet worden. Ein Kamel konnte nur unter großen Schwierigkeiten hindurchkommen, indem es sich niederkniete. Jedoch bezeichnet das Wort, das im Parallelbericht von Lukas für »Nadel« gebraucht wird, im Griechischen die Nadel eines Chirurgen. Es scheint aus dem Zusammenhang deutlich zu sein, dass der Herr nicht über eine Schwierigkeit, sondern über eine Unmöglichkeit sprach. Menschlich gesprochen ist es einfach unmöglich, dass ein reicher Mann gerettet wird.
19,25 Die Jünger waren über diese Bemerkung sehr erstaunt. Als Juden lebten sie unter dem mosaischen Gesetz, in welchem Gott denjenigen, die ihm gehorchen würden, Wohlergehen und Reichtum versprach. Deshalb betrachteten sie Reichtümer richtigerweise als ein Zeichen des Segens Gottes. Wenn nun diejenigen, die unter dem Segen Gottes standen, nicht gerettet werden konnten, wer dann?
19,26 Der Herr antwortete: »Bei Menschen ist dies unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich.« Menschlich gesprochen ist es für jeden unmöglich, gerettet zu werden, nur Gott kann einen Menschen erretten. Aber es ist für einen reichen Menschen schwerer, seinen Willen Christus zu übergeben, als für einen Armen, was sich daran zeigt, dass nur wenige reiche Menschen bekehrt sind. Sie finden es fast unmöglich, ihr Vertrauen auf sichtbare Dinge gegen den Glauben an einen unsichtbaren Retter einzutauschen. Nur Gott kann eine solche Veränderung herbeiführen.
Immer wieder wenden Exegeten und Prediger hier ein, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ein Christ reich ist. Es ist merkwürdig, dass sie einen Abschnitt benutzen, worin der Herr den Reichtum als ein Hindernis für das ewige Wohlergehen des Menschen bezeichnet, um damit die Anhäufung von Reichtümern zu rechtfertigen. Und es ist schwierig zu sehen, wie ein Christ sich an Reichtümern festklammern kann, obwohl er die schreckl ichen Nöte überall sieht, um die Nähe der Wiederkunft Christi weiß und das deutliche Verbot unseres Herrn kennt, sich auf der Erde Schätze zu sammeln. Angehäufter Reichtum überführt uns der Sünde, unseren Nächsten nicht wie uns selbst zu lieben.
H. Über die Belohnung eines aufopferungsvollen Lebens (19,27-30)
19,27 Petrus erkannte die Absicht dieser Rede. Er erkannte, dass Jesus sagte: »Lass alles zurück und folge mir nach.« Petrus brüstete sich damit, dass er und die anderen Jünger genau das getan hätten, und fragte deshalb: »Was wird uns nun werden?« Wieder einmal zeigte sich das Ich des Petrus, die alte Natur verschaffte sich erneut Geltung. Das ist genau der Geist, vor dem jeder von uns auf der Hut sein muss. Er wollte mit dem Herrn handeln.
19,28.29 Der Herr gab Petrus die Zusicherung, dass alles, was man für ihn tun würde, auch entsprechend belohnt werden würde. Was die Stellung der Zwölf anging, so würden sie im Tausendjährigen Reich eine Herrschaftsstellung erhalten. Die Wiedergeburt, die Jesus hier erwähnt, bezieht sich auf die zukünftige Herrschaft Christi über die Erde. Der Ausdruck wird durch den entsprechenden Satz (»wenn der Sohn des Menschen auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen wird«) erklärt. Wir haben diese Phase des Reiches zuvor die Phase der Offenbarwerdung genannt. Zu dieser Zeit werden die Zwölf »auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten«. Lohn ist im Neuen Testament eng mit der Verwalterstellungen während des Tausendjährigen Reiches verbunden (s. Lk 19,17.19). Sie werden vor dem Richterstuhl Christi belohnt – geoffenbart wird diese Belohnung jedoch erst, wenn der Herr auf die Erde zurückkehrt, um dort zu regieren. Bezüglich der Gläubigen allgemein fügte Jesus hinzu, »jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben erben«. In diesem Leben werden sie die weltweite Gemeinschaft der Gläubigen genießen, die sie für die abgebrochenen irdischen Beziehungen mehr als entschädigt. Für das eine Haus, das sie verlassen, erhalten sie hundert christliche Häuser, in denen sie herzlich aufgenommen werden. Und für Land oder anderen Besitz, den sie aufgeben, erhalten sie geistliche Reichtümer über jede Erwartung hinaus.
Der zukünftige Lohn für alle Gläubigen ist das ewige Leben. Das bedeutet nicht, dass wir uns das ewige Leben verdienen können, indem wir alles verlassen und opfern. Ewiges Leben ist ein Geschenk und kann weder verdient noch erworben werden. Der Gedanke hier ist, dass diejenigen, die alles verlassen, mit einer größeren Fähigkeit ausgestattet werden, das ewige Leben im Himmel zu genießen. Alle Gläubigen werden dieses Leben haben, aber nicht alle werden in gleicher Weise Gefallen daran finden.
19,30 Der Herr schloss seine Ausführungen mit einer Warnung vor einer berechnenden Haltung. Er sagte im Prinzip zu Petrus: »Für alles, was du meinetwegen aufgibst, wirst du belohnt werden, aber sei vorsichtig, dass du dich nicht durch selbstsüchtige Betrachtungen lenken lässt. In diesem Fall werden ›viele Erste Letzte und Letzte Erste sein‹.« Das wird nun durch ein Gleichnis im nächsten Kapitel näher beleuchtet. Diese Aussage könnte auch eine Warnung sein, dass es nicht reicht, einen guten Start auf dem Weg der Jüngerschaft zu erleben. Es kommt darauf an, wie wir ankommen. Ehe wir diesen Abschnitt verlassen, sollten wir noch festhalten, dass die Ausdrücke »Reich der Himmel« und »Reich Gottes« in den Versen 23 und 24 wie Synonyme verwendet werden, sie bedeuten ein und dasselbe. I. Über den Lohn für die Arbeit im Weinberg (20,1-16)
20,1.2 Dieses Gleichnis ist eine Fortsetzung der Ausführungen über den Lohn am Ende von Kapitel 19 und illustriert die Wahrheit, dass zwar alle Jünger belohnt werden, aber die Reihenfolge der Belohnung vom Geist bestimmt wird, in dem der Jünger gedient hat.
Das Gleichnis beschreibt einen »Haus herrn, der ganz frühmorgens hin aus ging, um Arbeiter in seinen Weinberg einzustellen«. Diese Männer verpflichteten sich, für einen Denar am Tag für ihn zu arbeiten, was zu dieser Zeit ein vernünftiger Lohn war. Nehmen wir an, sie begannen um 6 Uhr früh mit der Arbeit.
20,3.4 Um 9 Uhr fand der Weinbergsbesitzer einige andere noch nicht beschäftigte Arbeiter auf dem Marktplatz. In diesem Fall wurde kein Lohn vereinbart. Sie gingen nur auf das Wort hin an die Arbeit, dass er ihnen geben würde, »was recht ist«.
20,5-7 Mittags und um 3 Uhr nachmittags stellte der Gutsbesitzer noch mehr Leute an und sagte auch ihnen, dass er ihnen einen gerechten Lohn geben würde. Um 5 Uhr nachmittags fand er weitere Männer, die nicht arbeiteten. Sie waren nicht faul, sie wollten gerne arbeiten, aber hatten bis dahin keine Arbeit gefunden. So sandte er sie einfach in den Weinberg, ohne Lohn auch nur zu erwähnen. Es ist wichtig festzuhalten, dass die ersten Männer eingestellt wurden, nachdem der entsprechende Lohn ausgehandelt worden war. Bei allen anderen war es dem Gutsbesitzer überlassen, was er ihnen zahlen wollte.
20,8 Als der Tag vorbei war, gab der Weinbergsbesitzer seinem Verwalter den Auftrag, die Männer zu bezahlen, »angefangen von den letzten bis zu den ersten«. Auf diese Weise sahen diejenigen, die zuerst angestellt worden waren, was sie anderen erhielten.
20,9-12 Alle erhielten den gleichen Lohn – einen Denar. Die Männer, die schon frühmorgens begonnen hatten, erwarteten nun, mehr zu erhalten, aber nein – auch sie erhielten einen Denar. Sie wurden bitter und verärgert, weil sie doch viel länger gearbeitet und »die Last des Tages und die Hitze getragen« hatten.
20,13.14 Die Antwort des Hausherrn, die er einem der Tagelöhner gab, zeigt uns die vielen Lehren, die wir aus dem Gleichnis ziehen können. Als Erstes sagte er: »Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? Nimm das Deine und geh hin! Ich will aber diesem letzten geben wie auch dir.« Die Ersten hatten einen Denar ausgehandelt und erhielten den Lohn, auf den man sich geeinigt hatte. Die anderen hatten sich der Gnade des Weinbergsbesitzers unterstellt und erlangten sie auch. Gnade ist besser als Gerechtigkeit. Es ist besser, unseren Lohn unserem Herrn zu überlassen, als mit ihm zu handeln.
20,15 Dann sagte der Hausherr: »Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinen zu tun, was ich will?« Wir sollten daraus die Lehre ziehen, dass Gott souverän ist. Er kann tun, was ihm gefällt. Und was ihm gefällt, ist immer richtig, gerecht und fair. Der Hausherr fügt noch hinzu: »Blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin?« Diese Frage enthüllt die Selbstsucht der menschlichen Natur. Die Männer, die um 6 Uhr morgens angefangen hatten, erhielten genau, was sie verdient hatten, doch waren sie neidisch, weil die anderen denselben Lohn für weniger Arbeit erhielten. Viele von uns müssen zugeben, dass das auch auf uns ein wenig ungerecht wirkt. Das beweist aber nur, dass wir im Reich der Himmel völlig anders denken lernen müssen. Wir müssen unser habsüchtiges, von Konkurrenzdenken geprägtes Wesen aufgeben und lernen, wie der Herr zu denken.
Der Hausherr wusste, dass alle diese Männer Geld nötig hatten, und so bezahlte er sie nach ihren Bedürfnissen und nicht nach der Geldgier. Keiner bekam weniger als er verdient hatte, aber alle erhielten, was sie für sich und ihre Familien benötigten. Die Lehre besteht nach James Stewart darin, »dass derjenige, der denkt, über den endgültigen Lohn einen Handel abschließen zu können, immer falsch liegt, und Gottes liebevolle Fürsorge stets das letzte, unanfechtbare Wort haben wird«.39 Je mehr wir das Gleichnis in diesem Licht betrachten, desto mehr erkennen wir, dass diese Geschichte nicht nur gerecht, sondern außerordentlich schön ist. Diejenigen, die um 6 Uhr angestellt wurden, hätten es als zusätzliches Vorrecht sehen sollen, dass sie den ganzen Tag einem so wunderbaren Herrn dienen konnten.
20,16 Jesus schloss das Gleichnis mit den Worten: »So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein« (s. 19,30). Es wird in Bezug auf den Lohn manche Überraschung geben. Einige, die dachten, sie würden die Ersten sein, werden die Letzen sein, weil ihr Dienst von Stolz und selbstsüchtigem Streben geprägt war. Andere, die aus Liebe und Dankbarkeit dienten, werden hoch belohnt werden. Wir haben nur ein Leben, wie schnell vergeht die Zeit! Nur, was wir für Gott taten, bleibt auch in Ewigkeit. Oft sind’s nicht große Werke, geseh’n von jedermann;
es sind oft kleine Dinge, ganz still für ihn getan. Verfasser unbekannt
J. Über Jesu Tod und Auferstehung (20,17-19)
20,17-19 Es ist offensichtlich, dass der Herr Peräa verließ, um über Jericho nach Jerusalem zu reisen (s. V. 29). Und wieder nahm er die Zwölf beiseite, um ihnen zu erklären, was geschehen würde, nachdem sie die Heilige Stadt erreichten. Er würde »den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert werden« – eine offensichtliche Anspielung auf den Verrat des Judas. Er würde von den jüdischen Führern zum Tode verurteilt werden. Weil sie nicht das Recht hatten, eine Todesstrafe zu vollziehen, würden sie »ihn den Nationen überliefern«, d. h. den Römern. Er würde verspottet, gegeißelt und gekreuzigt werden. Aber der Tod würde seine Beute nicht behalten dürfen – »am dritten Tag wird er auferweckt werden«. K. Über die Stellung im Reich (20,20-28) Hier sehen wir ein trauriges Beispiel für die menschliche Natur. Unmittelbar nach seiner dritten Leidensankündigung dachten die Jünger mehr an ihren eigenen Ruhm als an Jesu Leiden. Die erste Leidensankündigung veranlasste Petrus, einen Einwand zu erheben (Kap. 16,22). Auf die zweite folgte bald die Frage der Jünger: »Wer ist der Größte …?« Und hier finden wir die dritte Leidensankündigung, begleitet von der ehrgeizigen Bitte, die Jakobus und Johannes vorbringen. Sie verschlossen ihre Augen hartnäckig vor der Tatsache, dass der Herr nachdrücklich auf Schwierigkeiten hingewiesen hatte, und wollten nur die Herrlichkeitsverheißung sehen – damit erhielten sie aber eine falsche, materialistische Sicht des Reiches. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
20,20.21 Die Mutter von Jakobus und Johannes kam zum Herrn und bat ihn, dass ihre Söhne im Reich an seiner Seite sitzen dürften. Ihr Wunsch (ihre Söhne mögen in der Nähe Jesu sein) und ihre Hoffnung auf die künftige Herrschaft Jesu sprechen für sie. Aber sie hatte die Prinzipien nicht verstanden, nach denen im Reich Ehren verliehen werden würden. Markus sagt uns, dass ihre Söhne selbst kamen und fragten (Mk 10,35); vielleicht kamen sie auf die Aufforderung ihrer Mutter hin, vielleicht kamen die drei aber auch gemeinsam zum Herrn. Wir haben es hier nicht mit einem Widerspruch zu tun.
20,22 Jesus antwortete offen, dass sie gar nicht wüssten, worum sie bitten würden. Sie wollten die Krone ohne das Kreuz, einen Thron ohne den Opferaltar, die Herrlichkeit ohne die Leiden, die zu ihr führen. So fragte er sie unverblümt: »Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?« Wir werden nicht im Unklaren darüber gelassen, was er mit dem »Kelch« meinte, denn er hatte es in den Versen 18 und 19 eben erst beschrieben. Er würde leiden und sterben müssen. Jakobus und Johannes betonten, dass sie in der Lage seien, seine Leiden zu teilen, obwohl ihr Selbstvertrauen hier wohl mehr auf Eifer als auf Wissen beruhte.
20,23 Jesus versicherte ihnen nun, dass sie seinen Kelch wirklich trinken würden. Jakobus würde den Märtyrertod sterben, Johannes würde verfolgt und auf die Insel Patmos verbannt werden. Robert Little sagte: »Jakobus starb den Tod eines Märtyrers, Johannes lebte das Leben eines Märtyrers.«
Dann erklärte Jesus, dass er nicht einfach jemandem irgendeinen Ehrenplatz im Reich versprechen konnte, denn der Vater hatte schon ein besonderes Verfahren bestimmt, nach dem diese Plätze verteilt werden. Sie dachten, es ginge hier darum, sich die Gunst des Herrschers zu sichern. Sie meinten, dass sie, weil sie so eng mit Christus lebten, nun auch einen besonderen Anspruch auf bevorzugte Positionen hätten. Aber es geht hier nicht um eine Frage persönlicher Günstlingswirtschaft. In der Vorsehung Gottes werden die Plätze zur Rechten und Linken Jesus nach den Leiden für Jesus vergeben werden. Das bedeutet, die ersten Plätze werden nicht nur an Christen aus dem 1. Jahrhundert vergeben, es mag sein, dass einige der heute Lebenden sie erlangen – durch Leiden.
20,24 Den anderen Jüngern gefiel es gar nicht, dass die Söhne des Zebedäus ein solches Ansinnen an Jesus herangetragen hatten. Sie waren sicher unwillig, weil sie selbst die Größten sein wollten, und lehnten deshalb jeden Erstanspruch von Jakobus und Johannes ab!
20,25-27 Das gab Jesus die Gelegenheit, eine geradezu revolutionäre Aussage über »Größe« in seinem Reich zu machen. Die »Nationen« kennen Größe nur in Bezug auf Herrschaft. Im Reich Christi zeigt sich Größe durch Dienst. Wer immer groß sein will, muss ein Diener werden, und wer der Erste sein will, muss ein Sklave werden.
20,28 Der Menschensohn ist das vollkommene Beispiel für demütigen Dienst. Er kam in die Welt, nicht »um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele«. Den Zweck der Menschwerdung kann man in zwei Worten zusammenfassen: dienen und geben. Es ist unbegreiflich, wenn man bedenkt, wie der erhöhte Herr sich selbst so erniedrigte, dass er mit einer Krippe und mit einem Kreuz vorliebnahm. Seine Größe zeigte sich in der Tiefe seiner Demütigung. Und genauso soll es bei uns sein.
Er gab sein Leben als »Lösegeld für viele«. Sein Tod befriedigte alle gerechten Ansprüche Gottes gegenüber der Sünde. Das Lösegeld reichte aus, um alle Sünden der Welt wegzunehmen. Aber seine Zahlung wird nur für diejenigen wirksam, die Jesus als Herrn und Retter annehmen. Haben Sie das schon getan? L. Heilung zweier Blinder (20,29-34)
20,29.30 Jetzt hatte Jesus den Jordan von Peräa aus überquert und Jericho erreicht. Als er die Stadt verließ, riefen ihn zwei Blinde: »Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!« Indem sie den Titel »Sohn Davids« verwendeten, zeigte sich, dass sie zwar körperlich nicht sehen konnten, jedoch eine so scharfe geistliche Wahrnehmung besaßen, dass sie in Jesus den Messias erkennen konnten. Sie könnten für den gläubigen Überrest des verblendeten Israel stehen, der ihn als Christus anerkennt, wenn er wiederkommt, um zu regieren (Jes 35,5; 42,7; Röm 11,25.26; 2. Kor 3,16; Offb 1,7).
20,31-34 Die Menge versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, aber sie »schrien noch mehr«. Als Jesus fragte, was sie wollten, verloren sie sich nicht in Verallgemeinerungen, wie wir das oft im Gebet tun. Sie kamen sofort auf ihr Anliegen zu sprechen: »Herr, dass unsere Augen geöffnet werden.« Ihre eindeutige Bitte wurde eindeutig erhört. »Jesus aber, innerlich bewegt, rührte ihre Augen an; und sogleich wurden sie sehend, und sie folgten ihm nach.«
Gaebelein macht in Bezug auf die Berührung durch Jesus eine hilfreiche Beobachtung:
Wir haben bereits die typologische Bedeutung des Heilens durch Berührung in diesem Evangelium gesehen. Wann immer der Herr durch Berührung heilt, betrifft dies haushaltungsgemäß seine persönliche Gegenwart auf der Erde und sein gnadenreiches Handeln mit Israel. Wenn er durch sein Wort heilt und dabei persönlich nicht anwesend ist … oder wenn er selbst im Glauben angerührt wird, so bezieht sich das auf die Zeit, in der er nicht auf der Erde sein wird und die Nationen, die sich ihm im Glauben nahen, durch ihn geheilt werden.40
Es ist schwierig, den Bericht von Matthäus mit dem Vorfall in Markus 10,4652 sowie Lukas 18,35-43 und 19,1 zu vereinbaren. Hier haben wir zwei Blinde, in Markus und Lukas nur einen. Es ist vorgeschlagen worden, dass Markus und Lukas nur den einen erwähnen, der mit Namen (Bartimäus) bekannt war, und dass Matthäus, der sein Evangelium insbesondere für Juden geschrieben hat, zwei als Mindestzahl für ein gültiges Zeugnis nennt (2. Kor 13,1). In Matthäus und Markus wird erwähnt, dass das Ereignis stattfand, als Jesus Jericho verließ, bei Lukas heißt es, dass er sich gerade der Stadt näherte. Es gab allerdings zwei verschiedene Städte namens Jericho, das alte und das neue. Das Wunder fand wahrscheinlich statt, als Jesus die eine Stadt verließ und die andere gerade betreten wollte. XII. Vorstellung und Verwerfung des Königs (Kap 21 – 23)
A. Der Einzug in Jerusalem (21,1-11)
21,1-3 Auf dem Weg von Jericho herauf kam Jesus zur Ostseite des Ölberges, wo Betanien und Betfage lagen. Von dort aus führte die Straße am Südende des Ölbergs vorbei, verschwand im Tal Joschafat, überquerte den Bach Kidron und erreichte dann das höher gelegene Jerusalem. Er sandte zwei seiner Jünger nach Betanien, denn er wusste im Voraus, dass sie dort eine festgebundene Eselin und ihr Fohlen finden würden. Sie sollten sie losbinden und zu Jesus bringen. Wenn jemand sie zur Rede stellen würde, sollten sie nur sagen, dass der Herr sie brauche. Dann würde der Eigentümer einwilligen. Vielleicht kannte der Besitzer Jesus und hatte ihm schon vorher einmal Hilfe angeboten. Oder dieser Vorfall zeigt die Allwissenheit und die überragende Autorität des Herrn. Alles kam so, wie Jesus es vorausgesagt hatte.
21,4.5 Die Beanspruchung des Esels erfüllte eine der Prophezeiungen Jesajas und Sacharjas: »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers.«
21,6 Nachdem die Jünger ihre Kleider auf die Tiere gebreitet hatten, bestieg Jesus das Eselsfohlen (Mk 11,7) und ritt auf ihm nach Jerusalem. Das war ein historischer Augenblick. Die 69 Jahrwochen Daniels waren zu Ende (nach Sir Robert Anderson, s. seine Berechnungen in dem Buch The Coming Prince). Als Nächstes würde der Messias »ausgerottet« werden (Dan 9,26).
Indem Jesus auf diese Weise nach Jerusalem ritt, machte er bewusst und unverhüllt seinen Anspruch deutlich, dass er der Messias ist. Lange schreibt dazu: Er erfüllt absichtlich eine Prophezeiung, die zu seiner Zeit nur auf den Messias gedeutet wurde. Wenn er vorher die Verkündigung seiner Würde als gefährlich angesehen hatte, war es nun für ihn undenkbar, länger zu schweigen … Nach dieser Handlung war es nicht mehr möglich, ihn zu beschuldigen, dass er sich nie unmissverständlich aus gedrückt hatte. Als Jerusalem später beschuldigt wurde, dass es seinen Messias umgebracht habe, sollte es nicht sagen können, der Messias habe es versäumt, seinen Bewohnern ein Zeichen zu geben, das für alle verständlich gewesen sei.41
21,7.8 Der Herr ritt auf einem Teppich von Kleidern und Zweigen in die Stadt, und die Jubelrufe des Volkes schallten in seinen Ohren wider. Für einen Augenblick wenigstens wurde er als König anerkannt.
21,9 Die Menge rief: »Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!« Dieses Zitat stammt aus Psalm 118,25.26 und bezieht sich offensichtlich auf die Ankunft des Messias. »Hosanna« bedeutet ursprünglich: »Rette uns jetzt«; vielleicht meinten die Leute damit: »Rette uns von den römischen Unterdrückern.« Später wurde dieser Ausruf ein Lobpreis. Die Ausdrücke »Sohn Davids« und »gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn«, zeigen beide deutlich, dass Jesus als der Messias anerkannt wurde. Er ist der Gepriesene des Herrn, der in der Vollmacht Jahwes kommt, um Gottes Willen zu tun.
Markus berichtet, dass das Volk auch rief: »Gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters David!« (Mk 11,10). Das zeigt die Ansicht der versammelten Menschen, dass das Reich nun errichtet werden und Christus sich auf den Thron Davids setzen würde. Mit dem Ruf »Hosanna in der Höhe« forderten sie den Himmel auf, in das Lob des Messias auf Erden einzustimmen. Vielleicht baten sie damit auch den Messias, sie vom höchsten Himmel aus zu erretten. Markus 11,11 berichtet, dass Jesus sofort in den Tempel ging, sobald er in Jerusalem angekommen war – nicht direkt in den Tempel, sondern in den Vorhof. Sicherlich war dies das Haus Gottes, doch er konnte sich in diesem Tempel nicht heimisch fühlen, weil die Priester und das Volk sich weigerten, ihm seine rechtmäßige Stellung in diesem Tempel zukommen zu lassen. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, zog er sich mit den Zwölfen nach Betanien zurück. Es war Sonntagabend.
21,10.11 In der Zwischenzeit gab es in der Stadt Verwirrung, wer er sei. Die Fragenden erhielten nur die Antwort, er sei »Jesus, der Prophet, der von Nazareth in Galiläa«. Daraus lässt sich schließen, dass nur wenige verstanden, dass er der Messias war. In weniger als einer Woche würde die wankelmütige Menge fordern: »Kreuzige ihn, kreuzige ihn!« B. Die Tempelreinigung (21,12.13)
21,12 Zu Beginn seines öffentlichen Dienstes hatte Jesus die Geschäftemacher aus den Tempelanlagen vertrieben (Joh 2,13-16). Aber der Drang nach einem guten Verdienst hatte sich im Vorhof des Tempels schon wieder breitgemacht. Opfertiere und Vögel wurden mit riesigen Gewinnspannen verkauft. Geldwechsler tauschten fremde Währungen in das halbe Schekel, das die jüdischen Männer als Tempelsteuer entrichten mussten – natürlich gegen Wuchergebühren. Als sich nun der Dienst Jesu dem Ende zuneigte, trieb Jesus diejenigen aus dem Tempel, die an heiligen Einrichtungen und Bräuchen Geld verdienen wollten.
21,13 Indem er zwei Zitate von Jesaja und Jeremia miteinander verband, verurteilte er die Entheiligung, die Habsucht und den Luxus. Er zitierte Jesaja 56,7 und erinnerte die Menschen daran, dass Gott wollte, dass der Tempel ein »Bethaus« sei. Sie aber hatten es zu einer »Räuberhöhle« gemacht (Jer 7,11).
Diese Tempelreinigung war seine erste offizielle Handlung, nachdem er in Jerusalem angekommen war. Aber sie bekräftigte unmissverständlich seine Herrschaft über den Tempel.
Der Vorfall hat für heute eine zweifache Botschaft. Wir brauchen in uns erem Gemeindeleben seine reinigende Macht, um Basare, Bankette und eine ganze Reihe anderer Spielereien, die nur auf das Geldverdienen ausgerichtet sind, auszumerzen. In unserem persönlichen Leben brauchen wir den reinigenden Dienst unseres Herrn für unseren Körper, der ein Tempel des Heiligen Geistes ist. C. Die Verärgerung der Hohenpriester und Schriftgelehrten (21,14-17)
21,14 In der nächsten Szene sehen wir unseren Herrn, wie er die Blinden und Lahmen im Vorhof heilt. Wo immer Jesus hinging, zog er die Bedürftigen an, und er sandte sie nie weg, ohne dass er ihre Not gelindert hätte.
21,15.16 Aber wieder beobachteten ihn feindlich gesinnte Augen. Und als diese Hohenpriester und Schriftgelehrten hörten, wie die Kinder Jesus als den Sohn Davids priesen, da wurden sie wütend. Sie sagten: »Hörst du, was diese sagen?« Als wenn sie von Jesus erwarteten, dass er den Kindern verbieten würde, ihn den Messias zu nennen! Wenn Jesus nicht der Messias gewesen wäre, dann wäre das die rechte Zeit gewesen, das ein für alle Mal auszusprechen. Aber seine Antwort zeigt, dass die Kinder recht hatten. Er zitierte Psalm 8,3 nach der Septuaginta: »Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet!« Wenn die wahrscheinlich gebildeten Priester und Schriftgelehrten ihn nicht als den Gesalbten loben würden, dann würde der Herr von kleinen Kindern verehrt werden. Kinder haben oft geistliche Einsichten, die über ihr Alter hinausgehen, und ihre Worte des Glaubens und der Liebe verherrlichen den Namen Gottes auf ungewöhnliche Weise.
21,17 Er überließ es nun den religiösen Führern, über diese Wahrheit nachzudenken, und kehrte nach Betanien zurück, um dort die Nacht zu verbringen. D. Der verdorrende Feigenbaum (21,18-22)
21,18.19 Als Jesus am nächsten Morgen nach Jerusalem zurückkehrte, kam er zu einem Feigenbaum und hoffte, auf ihm Frucht zu finden, um seinen Hunger zu stillen. Aber er »fand nichts an ihm als nur Blätter«. Deshalb sagte er: »Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit! – Und sogleich verdorrte der Feigenbaum.« Im Bericht des Markus (11,12-14) wird die Anmerkung gemacht, dass es nicht die Jahreszeit für Feigen war. Deshalb lässt die Verurteilung des Baumes, weil er keine Frucht brachte, den Retter als unvernünftig und aufsässig erscheinen. Wir wissen wohl, dass das nicht stimmt. Doch wie können wir diese Schwierigkeit erklären?
Die Feigenbäume in den biblischen Ländern bringen eine frühe, essbare Frucht, ehe sie Blätter ansetzen. Sie ist ein Vorbote der eigentlichen Ernte. Wenn keine frühen Feigen erschienen, wie es in diesem Fall wohl zutraf, dann zeigte das, dass es auch später keine Ernte geben würde.
Dies ist das einzige Wunder, bei dem Jesus fluchte und nicht segnete – bei dem er zerstörte, statt Leben wiederherzustellen. Das ist als Schwierigkeit gewertet worden. Solche Kritik verrät Unkenntnis der Person Christi. Er ist Gott, der souveräne Herrscher des Universums. Einige seiner Handlungen mögen uns unverständlich erscheinen, aber wir müssen immer davon ausgehen, dass er immer richtig handelt. In diesem Fall wusste der Herr, dass dieser Feigenbaum nie Feigen bringen würde und er handelte, wie ein Bauer es tun würde, wenn er einen unfruchtbaren Baum in seinem Obstgarten fällt.
Sogar diejenigen, die unseren Herrn dafür kritisieren, dass er den Feigenbaum verfluchte, geben zu, dass dies eine symbolische Handlung war. Der Vorfall ist die Deutung des Herrn im Blick auf den lärmenden Empfang, den man ihm erst kürzlich in Jerusalem bereitet hatte. Wie der Weinstock und der Ölbaum ist der Feigenbaum ein Bild für das Volk Israel. Als Jesus zu diesem Volk kam, fand er Blätter, die von äußerlichem Bekenntnis sprechen, aber wo Frucht für Gott fehlt. Jesus hungerte nach Frucht aus diesem Volk.
Weil es keine frühe Frucht gab, würde es auch keine Ernte von diesem ungläubigen Volk geben; das wusste er, und deshalb verfluchte er den Baum. Dies sagte das Gericht voraus, dem das Volk im Jahr 70 n. Chr. verfallen würde. Wir müssen uns daran erinnern, dass das zwar ungläubige Israel für immer ohne Frucht bleiben, aber ein Überrest des Volkes sich nach der Entrückung zu seinem Messias bekehren wird. Dessen Angehörige werden ihm während der Drangsal und während seiner tausendjährigen Herrschaft Frucht bringen. Obwohl die wichtigste Deutung dieses Abschnittes sich auf das Volk Israel bezieht, kann er doch auf die Menschen aller Zeitalter bezogen werden, die hochfahrend reden, aber einen schlechten Lebenswandel führen.
21,20-22 Als die Jünger sich darüber wunderten, dass der Baum so schnell verdorrte, erklärte ihnen der Herr, dass sie noch größere Wunder tun könnten als dieses, wenn sie nur genügend Glauben hätten. Zum Beispiel könnten sie zu einem Berg sagen: »Hebe dich empor und wirf dich ins Meer«, und es würde geschehen. »Und alles, was immer ihr im Gebet glaubend begehrt, werdet ihr empfangen.«
Und wieder müssen wir erklären, dass dieses scheinbar uneingeschränkte Versprechen über das Gebet nur im Lichte der ganzen Lehre vom Gebet in der Bibel verstanden werden kann. Vers 22 be deutet nicht, dass jeder Christ alles entsprechend seinen Wünschen bitten und erwarten kann, es zu erhalten. Er muss in Übereinstimmung mit den in der Bibel festgelegten Grundsätzen beten. E. Die Autorität Jesu wird infrage gestellt (21,23-27)
21,23 Als Jesus in den Hof kam, der noch vor dem eigentlichen Tempelbereich lag, unterbrachen die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes sein Lehren, um ihn zu fragen, wer ihm die Vollmacht zum Lehren, zum Vollbringen von Wundern und zur Tempelreinigung gegeben habe. Sie hofften, ihm eine Falle stellen zu können, ganz gleich, wie er antworten würde. Wenn er beanspruchte, als Sohn Gottes diese Vollmacht in sich selbst zu haben, dann könnten sie ihn der Gotteslästerung anklagen. Würde er behaupten, dass er die Vollmacht von Menschen erhalten habe, dann würden sie ihn in Misskredit bringen. Wenn er behauptete, seine Vollmacht von Gott zu haben, dann würden sie ihn zum Beweis auffordern. Sie sahen sich als Hüter des Glaubens, als Leute, die sich berufsmäßig mit Religion beschäftigen und durch ihre Ausbildung sowie menschliche Ernennung berechtigt waren, das religiöse Leben der Menschen zu regeln. Jesus hatte keine theologische Ausbildung und sicherlich nicht das Vertrauen der Herrscher in Israel. Ihre Herausforderung spiegelt die uralte Verachtung wider, die berufsmäßig mit Religion beschäftigte Menschen gegenüber Männern mit der Kraft der göttlichen Salbung fühlen.
21,24.25 Der Herr bot ihnen an, den Ursprung seiner Vollmacht zu erk lären, wenn sie ihm die Frage beantworten könnten, ob die Taufe des Johannes »vom Himmel oder von Menschen« gewesen sei. Unter der »Taufe des Johannes« ist der Dienst des Johannes insgesamt zu verstehen. Deshalb lautete die Frage: »Aus welcher Vollmacht hat Johannes seinen Dienst getan? War seine Einsetzung göttlich oder menschlich? Welches Zeugnis hatte er von den Führern Israels erhalten?« Die Antwort war offensichtlich: Johannes war von Gott gesandt. Seine Macht entsprang göttlicher Bevollmächtigung, nicht menschlicher Billigung. Die Hohenpriester und Ältesten waren in einer Zwickmühle. Wenn sie zugaben, dass Johannes von Gott gesandt war, dann saßen sie in der Falle. Johannes hatte Menschen auf Jesus, den Messias, hing ewiesen. Wenn Johannes göttliche Vollmacht hatte, erhob sich die Frage: warum hatten sie selbst dann nicht Buße getan und an Christus geglaubt?
21,26 Hätten sie andererseits gesagt, dass Johannes nicht von Gott gesandt sei, dann legten sie sich auf eine Position fest, die von den meisten Leuten verlacht werden würde, denn die meisten waren der Meinung, dass Johannes ein von Gott beauftragter Prophet gewesen sei. Wenn sie richtig geantwortet hätten, dass Johannes von Gott gesandt war, dann hätten sie ihre Frage selbst so beantworten müssen: Jesus ist der Messias, dessen Vorläufer Johannes war.
21,27 Aber sie wollten sich nicht den Tatsachen stellen, und so schützten sie Unwissenheit vor. Sie konnten nicht sagen, aus welcher Quelle die Vollmacht des Johannes kam. Darauf sagte Jesus: »So sage auch ich euch nicht, in welcher Vollmacht ich diese Dinge tue.« Warum sollte er es ihnen sagen, wo sie doch ganz offensichtlich nicht gewillt waren, es anzunehmen?
F. Das Gleichnis von den zwei Söhnen (21,28-32)
21,28-30 Dieses Gleichnis ist eine scharfe Ermahnung an die Hohenpriester und Ältesten für ihren Ungehorsam gegenüber dem Bußruf des Johannes. Es handelt von einem Mann, dessen zwei Söhne im Weinberg arbeiten sollten. Einer weigerte sich, entschied sich dann jedoch anders und ging hin. Der andere war einverstanden, ging aber nie an die Arbeit.
21,31.32 Als sie gefragt wurden: »Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan?«, mussten sie widerwillig zugeben, dass es der Erste gewesen war. Der Herr legte nun das Gleichnis aus. Zöllner und Huren waren wie der erste Sohn. Sie behaupteten nicht von sich, Johannes dem Täufer zu gehorchen, aber schließlich taten viele von ihnen Buße und glaubten an Jesus. Die religiösen Führer waren wie der zweite Sohn. Sie behaupteten zwar, dass sie mit der Predigt von Johannes einverstanden waren, aber sie bekannten nie ihre Sünden, noch vertrauten sie sich dem Retter an. Deshalb würden die eigentlich ausg estoßenen Sünder das Reich Gottes erlangen, während die selbstzufriedenen relig iösen Führer draußen bleiben würden. Dasselbe gilt auch heute noch. Missetäter, die so manche Abgründe der Sünde kennen, nehmen das Evangelium viel bereitw illiger an als solche mit einem Anstrich falscher Frömmigkeit.
Der entsprechende Ausdruck (»denn Johannes kam zu euch im Weg der Gerechtigkeit«) bedeutet, er kam, um die Notwendigkeit der Gerechtigkeit durch Buße und Glauben zu predigen. G. Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (21,33-46)
21,33-39 Um weiter auf die Frage nach seiner Vollmacht einzugehen, erzählte Jesus das Gleichnis von einem Hausherrn, »der einen Weinberg pflanzte und einen Zaun darum setzte und eine Kelter darin grub und einen Turm baute; und er verpachtete ihn an Weingärtner und reiste außer Landes.« Als aber die Ernte nahte, sandte er seine Knechte, um seinen Anteil an der Ernte zu erhalten, aber die Weingärtner schlugen den einen, »einen anderen töteten sie, einen anderen steinigten sie«. Als er andere Knechte schickte, wurden sie genauso misshandelt. Dann sandte er seinen Sohn, denn er dachte, sie würden wenigstens diesen respektieren. Aber die Weingärtner wussten genau, dass er der Erbe war, und töteten ihn, weil sie sein Erbe an sich bringen wollten.
21,40.41 An diesem Punkt fragte der Herr die Hohenpriester und Ältesten, was der Herr mit diesen Weingärtnern tun würde. Sie antworteten: »Er wird jene Übeltäter übel umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten, die ihm die Früchte abgeben werden zu ihrer Zeit.«
Das Gleichnis ist einfach zu verstehen. Gott ist der Hausherr, Israel der Weinberg (s. Ps 80,8; Jes 5,1-7; Jer 2,21). Der Zaun ist das Gesetz des Mose, das Israel von den Heiden trennte und es als ein besonderes Volk des Herrn bewahrte. Das Bild der Kelter steht im übertragenen Sinne für die Frucht, die Israel für Gott bringen sollte. Der Turm zeigt Gottes wachsame Fürsorge für sein Volk. Die Weingärtner sind die Hohenpriester und Schriftgelehrten. Wiederholt sandte Gott seine Knechte, die Propheten, zum Volk Israel, um bei ihm die Früchte der Gemeinschaft, der Heiligung und der Liebe zu suchen. Aber das Volk verfolgte die Propheten und tötete sogar einige von ihnen. Schließlich sandte Gott seinen eigenen Sohn, weil er sich sagte: »Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen!« (V. 37). Die Hohenpriester und Schriftgelehrten aber sagten: »Dieser ist der Erbe« – ein schreckliches Eingeständnis. Untereinander waren sie der Meinung, dass Jesus der Sohn Gottes war, obwohl sie es öffentlich abstritten, und beantworteten so ihre eigene Frage nach seiner Vollmacht. Seine Vollmacht entsprang seiner Gottessohnschaft. Im Gleichnis sagten sie: »Dieser ist der Erbe. Kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen!« (V. 38). Im wirklichen Leben sagten sie: »Wenn wir ihn so lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und unsere Stadt wie auch unsere Nation wegnehmen« (Joh 11,48). Deshalb lehnten sie ihn ab, warfen ihn hinaus und kreuzigten ihn.
21,42 Als der Heiland gefragt wurde, was der Eigentümer des Weinberges tun würde, verurteilte sie ihre eigene Antwort, wie er in Vers 42 und 43 zeigt. Jesus zitierte die Worte aus Psalm 118,22.23: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen.« Als sich Christus, der Stein, den Bauleuten – den Führern Israels – zeigte, hatten sie keinen Platz für ihn in ihrem Bauplan. Sie warfen ihn als nutzlos beiseite. Aber nachdem er gestorben war, wurde er aus den Toten auferweckt und erhielt einen bevorzugten Platz bei Gott. Er wurde zum wichtigsten Stein in Gottes Bauwerk: »Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen verliehen, der über jeden Namen ist« (Phil 2,9).
21,43 Dann kündigte Jesus offen an, dass das Reich Gottes von Israel genommen und einem anderen Volk gegeben werden würde, das Früchte brächte. Und so geschah es. Israel wurde von Gott als erwähltes Volk beiseitegesetzt und ist durch aufgrund des richterlichen Handelns Gottes für seine Wahrheit blind. Das Geschlecht, das den Messias abgelehnt hat, ist verhärtet worden. Die Prophezeiung, dass das Reich Gottes einer Nation gegeben würde, »die seine Früchte bringen wird«, ist auf zweierlei Weise verstanden worden: 1. Sie bezieht sich auf die Gemeinde, die aus gläubigen Juden und Heiden besteht – »eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum« (1. Petr 2,9); oder 2. Sie bezieht sich auf die gläubigen Juden, die zur Zeit der Wiederkunft Jesu leben werden. Das erlöste Israel wird seine Frucht für Gott bringen.
21,44 »Und wer auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; aber auf wen er fallen wird, den wird er zermalmen.« Im ersten Teil des Verses liegt der Stein noch am Boden, im zweiten fällt er von oben herunter. Damit sind die beiden Kommen Christi gemeint. Als er das erste Mal kam, stolperten die jüdischen Führer über ihn und wurden zerschmettert. Wenn er wiederkommen wird, wird er zum Gericht kommen und seine Feinde wie Staub zerstreuen.
21,45.46 Die Hohenpriester und Pharisäer erkannten, dass diese Gleichnisse auf sie gemünzt waren, und zwar als Antwort darauf, dass sie Christi Vollmacht infrage gestellt hatten. Sie hätten ihn gerne sofort ergriffen, aber sie fürchteten die Masse, die noch immer der Meinung war, Jesus sei ein Prophet.
H. Das Gleichnis vom Hochzeitsmahl (22,1-14)
22,1-6 Jesus war aber mit den Hohenpriestern noch nicht fertig. In dem Gleichnis vom Hochzeitsmahl zeigte er nochmals, wie das bevorzugte Israel beiseiteg esetzt wird und die verachteten Heiden als Gäste am Tisch sitzen. Er verglich das Reich der Himmel »mit einem König, der seinem Sohn« die Hochzeit ausrichtete. Die Einladung erfolgte in zwei Stufen. Zuerst erhielten die Gäste eine Voreinladung, die durch Knechte persönlich überbracht wurde. Sie wurde einfach abgelehnt. Dann erhielten sie eine zweite Einladung, dass das Fest bereit sei. Einige lehnten verächtlich ab, weil sie zu sehr mit ihren Höfen und Geschäften beschäftigt waren. Andere wurden sogar gewalttätig, denn sie »misshandelten und töteten« die Knechte.
22,7-10 Der König wurde so zornig, dass er »jene Mörder« umbrachte und ihre Stadt verbrannte. Er zerriss die erste Gästeliste und äußerte nun eine allgemeine Einladung an alle, die gerne kommen wollten. Diesmal gab es keinen einzigen freien Platz im Hochzeitssaal.
22,11-13 Unter den Gästen war jedoch einer, der kein Hochzeitskleid anhatte. Als er wegen seines unpassenden Gewandes zur Rede gestellt wurde, war er sprachlos. Der König befahl, er solle in die Nacht hinausgeworfen werden, wo »das Weinen und das Zähneknirschen« sein wird. Die Diener in Vers 13 sind nicht dieselben wie die Knechte in Vers 3.
22,14 Unser Herr schloss das Gleichnis mit den Worten: »Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte.« Die Bedeutung des Gleichnisses ist folgende: Der König ist Gott, und sein Sohn ist der Herr Jesus. Das Hochzeitsmahl ist eine geeignete Beschreibung der Festfreude, wie sie für das Reich der Himmel charakteristisch sein wird. Wenn man die Gemeinde in diesem Gleichnis als die Braut Christi einführt, kompliziert man das Gleichnis unnötig. Es dreht sich in der Hauptsache darum, dass Israel beiseitegesetzt wird – nicht jedoch um den besonderen Ruf und die Vorsehung der Gemeinde.
Die erste Phase der Einladung zeigt Johannes den Täufer und die zwölf Jünger, wie sie freundlich Israel zur Hochzeitsfeier einluden. Aber das Volk weigerte sich, diese Einladung anzunehmen. Die Worte »sie wollten nicht kommen« (V. 3)  erreichten  bei  der  Kreuzigung  ihren Höhepunkt.
Die zweite Phase der Einladung bedeutet die erneute Verkündigung des Evangeliums an die Juden in der Apostelgeschichte. Einige behandelten die Botschaft mit Verachtung. Einige wandten gegen die Boten Gewalt an, daher wurden die meisten Apostel zu Märtyrern. Der König, der nun gerechterweise zornig auf Israel war, sandte daraufhin  »seine  Truppen«  (V. 7),  d. h.  Titus und seine römischen Legionen, um im Jahre  70  n. Chr.  Jerusalem  zu  zerstören und einen Großteil des Volkes umzubringen. Sie waren gewissermaßen »seine Truppen«, weil er sie als seine Werkzeuge zur Bestrafung Israels benutzte. Sie waren seine ernannten Truppen, auch wenn sie ihn nicht persönlich kannten. Nun ist Israel als Volk beiseitegesetzt, und das Evangelium wird allen Heiden gepredigt, den schlechten und guten, d. h. ganz gleich, wie anständig oder weniger anständig sie leben (Apg 13,45.46; 28,28). Aber die Echtheit des Glaubens eines jeden wird geprüft werden. Der Mann ohne Hochzeitskleid ist einer, der zwar bekennt, für das Reich Gottes bereit zu sein, aber der nie mit der Gerechtigkeit Gottes durch den Herrn Jesus Christus bekleidet worden ist (2. Kor 5,21). Und es gab (und gibt) keine Ausrede für den Mann ohne Hochzeitskleid. Ryrie merkt hier an, dass es damals Sitte war, den Gästen ein Hochzeitskleid zu stellen, wenn sie selbst keines hatten. Der Mann hatte diese Sitte ganz offensichtlich nicht in Anspruch genommen. Ohne Christus ist er sprachlos, als nach seinem Recht gefragt wird, in das Reich zu kommen (Röm 3,19). Seine Bestimmung im Gericht ist die äußere Finsternis, wo Weinen und Zähneknirschen sein wird. Das Weinen deutet das Leiden der Hölle an. Einige meinen, dass das Zähneknirschen den fortgesetzten Hass auf Gott und die Rebellion gegen ihn bedeutet. Wenn dem so ist, dann wäre hiermit bewiesen, dass die Vorstellung falsch ist, die Feuer der Hölle könnten irgendeine reinigende Wirkung haben. Vers 14 bezieht sich auf das ganze Gleichnis und nicht nur auf den Vorfall mit dem Mann ohne Hochzeitskleid. »Viele sind Berufene«, d. h. die Botschaft des Evangeliums erreicht viele Menschen. »Wenige aber sind Auserwählte.« Einige lehnen die Einladung ab, und sogar bei denen, die sie annehmen, werden einige als falsche Bekenner bloßgestellt werden. Alle, die auf das Evangelium wirklich hören, sind erwählt. Ob man erwählt ist, kann man nur dadurch wissen, dass man sich prüft, wie man mit dem Herrn Jesus Christus umgeht. Wie Jennings es ausgedrückt hat: Alle sind aufgerufen, das Festmahl zu feiern, aber nicht alle wollen dem Geber hinsichtlich eines passenden Hochzeitskleides vertrauen.
I. Pflichten gegenüber dem Kaiser und gegenüber Gott (22,15-22) Das Kapitel 22 behandelt Fragen, mit denen drei verschiedene Abordnungen der Juden versuchen, dem Herrn Jesus eine Falle zu stellen.
22,15.16 Diesmal haben wir einen Versuch der Pharisäer und Herodianer vor uns. Diese beiden Parteien waren zeitweilig erbitterte Feinde, die jedoch durch ihren gemeinsamen Hass gegen den Heiland zu Freunden wurden. Ihr Ziel war es, Christus zu einer gefährlichen politischen Aussage zu verleiten. Sie benutzten dazu eine Streitfrage unter den Juden, nämlich, wie man sich dem Kaiser gegenüber zu verhalten habe. Einige Juden weigerten sich, sich einem heidnischen Herrscher zu unterwerfen. Andere, wie die Herodianer, waren in dieser Beziehung etwas toleranter.
22,17 Erst schmeichelten sie ihm wegen seines reinen Charakters, seiner Ehrlichkeit und seines Mutes. Und dann stellten sie die schwierige Frage: »Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu geben, oder nicht?« Wenn Jesus mit »Nein« antworten sollte, dann würde er sich nicht nur gegen die Herodianer stellen, sondern würde auch der Rebellion gegen die römische Obrigkeit angeklagt. Die Pharisäer hätten ihn weggestoßen und ihn angeklagt. Würde er »Ja« sagen, dann würde er gegen den eingefleischten Nat ionalismus der Juden sprechen. Er würde beim einfachen Volk sehr viel Sympathie verlieren – eine Sympathie, die es bisher noch verhinderte, dass die Führer ihn beseitigten.
22,18.19 Jesus bezeichnete sie offen als Heuchler, die nur versuchten, ihn zu fangen. Dann bat er sie, ihm einen Denar zu geben, das Geldstück, mit dem man die Steuern an die Römer zu zahlen pflegte. Jedes Mal, wenn die Juden das Bild und den Titel des Kaisers auf der Münze sahen, wurden sie unangenehm daran erinnert, dass sie unter heidnischer Herrschaft und Besteuerung standen. Der Denar hätte sie daran erinnern sollen, dass ihre Unfreiheit eine Folge ihrer Sünde war. Wären sie Jahwe treu geblieben, dann hätte sich die Frage des Steuerzahlens an den Kaiser nie gestellt.
22,20.21 Jesus fragte sie nun: »Wessen Bild und Aufschrift ist das?« Sie antworteten gezwungenermaßen: »Des Kaisers.« Da sagte ihnen der Herr: »Gebt denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.«
Die Frage war wie ein Bumerang auf sie selbst zurückgefallen. Sie hatten gehofft, Jesus durch die Steuerfrage fangen zu können. Er aber entlarvte die Tatsache, dass sie Gott nicht das gaben, was ihm zusteht. So ärgerlich das war, sie zahlten dem Kaiser, was ihm gebührte, aber sie hatten die Ansprüche Gottes an ihr Leben vergessen. Und hier stand nun der Eine vor ihnen, der die »Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und Abdruck des Wesens Gottes« ist (Hebr 1,3), wobei sie ihm seine rechtmäßige Stellung verweigerten. Die Antwort Jesu zeigt, dass der Gläubige Bürger zweier Reiche ist. Er ist verantwortlich, der menschlichen Obrigkeit zu gehorchen und sie finanziell zu unterstützen. Es ist nicht seine Aufgabe, abfällig von seinen Obersten zu reden oder sogar die Regierung zu stürzen. Er soll für die Machthaber beten. Als Bürger des Himmels ist er verantwortlich, Gott zu gehorchen. Wenn es jemals einen Widerspruch zwischen beiden gibt, dann muss er zuerst Gott gehorchen (Apg 5,29). Wenn wir Vers 21 zitieren, dann betonen viele von uns den Teil über den Kaiser und übergehen leichtsinnig den Teil über Gott – das ist genau der Fehler, weswegen Jesus die Pharisäer tadelte.
22,22 Als die Pharisäer seine Antwort gehört hatten, wussten sie, dass sie gegen Jesus nicht bestehen konnten. Sie konnten nur noch verwundert weggehen. J. Die Sadduzäer und ihre Frage zur Auferstehung (22,23-33)
22,23.24 Wie schon weiter oben bemerkt, waren die Sadduzäer die liberalen Theologen ihrer Zeit, die die Auferstehung des Leibes, die Existenz der Engel und Wunder ablehnten. Ja, die von ihnen geleugneten Punkte waren zahlreicher als die Sachverhalte, woran sie festhielten. Ein paar von ihnen kamen mit einer erfundenen Geschichte zu Jesus, um die Idee der Auferstehung lächerlich zu machen. Sie erinnerten ihn an das Gesetz der Schwagerehe (5. Mose 25,5). Wenn ein Israelit ohne Kinder starb, so musste sein Bruder nach dem Gesetz die Witwe heiraten, um den Familiennamen in Israel und das Erbe in der Familie zu erhalten.
22,25-28 In ihrer Frage ging es um eine Frau, die ihren Ehemann verlor und dann einen seiner Brüder heiratete. Der zweite Bruder starb, deshalb heiratete sie den dritten – und so weiter bis zum siebten Bruder. Schließlich »starb auch die Frau«. Nun kam die Frage, die gestellt wurde, um den zu demütigen, der die Aufe rstehung ist (Joh 11,25): »Wessen Frau von den sieben wird sie nun in der Auferstehung sein? Denn alle hatten sie.«
22,29 Im Grunde argumentierten sie, die Idee der Auferstehung werfe unlösbare Probleme auf, weshalb sie nicht vernünftig und folglich auch nicht wahr sei. Jesus antwortete, dass die Schwierigkeit nicht bei der Lehre, sondern bei ihnen selbst lag, denn sie kannten weder die Schriften noch die Kraft Gottes. Erstens kannten sie die Schriften nicht. Nirgendwo sagt die Bibel etwas darüber, dass die eheliche Beziehung im Himmel fortgeführt wird. Zwar werden Männer noch Männer und Frauen noch Frauen sein, aber sie werden in der Beziehung wie die Engel sein, indem sie weder heiraten noch verheiratet werden. Zweitens kannten sie die »Kraft Gottes« nicht. Wenn er in der Lage war, Menschen aus Staub zu machen, konnte er dann nicht ebenso den Staub der Verstorbenen wieder zu Auferstehungsleibern formen?
22,30-32 Dann argumentiert der Herr Jesus von der Schrift her, um zu zeigen, dass die Auferstehung absolut notwendig  ist.  In  2. Mose  3,6  spricht  Gott  von sich als dem »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs«. Doch ist, wie Jesus nun herausstellte, Gott »nicht der Gott von Toten, sondern von Lebenden«. Gott machte einen Bund mit diesen Männern, aber sie starben, ehe dieser Bund wirklich erfüllt war. Wie kann sich Gott als der Gott von drei Männern bezeichnen, deren Leiber im Grab liegen? Wie kann derjenige, der immer seine Verheißungen erfüllt, sie denen erfüllen, die schon gestorben sind? Es gibt nur eine einzige Antwort: durch Auferstehung.
22,33 Kein Wunder, dass die Volksmengen über seine Lehre erstaunt waren; wir sind es auch!
K. Das größte Gebot (22,34-40)
22,34-36 »Als aber die Pharisäer hörten«, dass Jesus seine Feinde, die Sadduzäer, »zum Schweigen gebracht hatte«, kamen sie, um ihn selbst zu befragen. Ihr Sprecher, ein Gesetzesgelehrter, bat Jesus, das größte Gebot des Gesetzes zu nennen.
22,37.38 In meisterhafter Weise fasste der Herr Jesus die Verpflichtung des Menschen gegenüber Gott in dem größten und ersten Gebot zusammen: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.« Im Bericht des Markus steht zusätzlich noch der Ausdruck »und aus deiner ganzen Kraft«. Das bedeutet, dass es die erste Verpflichtung des Menschen ist, Gott mit der Gesamtheit seines Wesens zu lieben. Wie schon gesagt wurde: Das Herz spricht von der Gefühlswelt, die Seele vom Willen, der Geist von der Gedankenwelt und die Kraft vom Körper.
22,39.40 Dann fügte Jesus die zweite Verpflichtung des Menschen hinzu, nämlich das Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Barnes sagt: »Liebe zu Gott und den Menschen ist der ganze Inhalt der Frömmigkeit: Mose, die Propheten, der Heiland und die Apostel lebten danach. Unser Herr ist diesem Gebot vollständig gerecht geworden.« Wir sollten diese Worte öfter bedenken: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Wir sollten nachdenken, wie viel wir tun, um uns selbst zu lieben, wie viele unserer Handlungen sich um unsere eigene Bequemlichkeit drehen. Dann sollten wir versuchen, uns vorzustellen, wie es wäre, wenn wir diese Liebe unseren Nächsten weitergeben würden. Und dann sollten wir danach handeln. Solches Verhalten liegt uns nicht, es ist übernatürlich. Nur wenn wir von Neuem geboren sind, können wir so leben, und auch nur dann, wenn wir Christus gestatten, es durch uns zu tun.
L. Davids Sohn ist Davids Herr (22,41-46)
22,41.42 Während die Pharisäer noch wegen Jesu Antwort an den Gesetzeslehrer beeindruckt schwiegen, konfrontierte er sie mit einer provokanten Frage: »Was haltet ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er?«
Die meisten Pharisäer glaubten nicht, dass Jesus der Christus war, sie warteten noch immer auf ihren Messias. Deshalb fragt Jesus sie nicht: »Was haltet ihr von mir?« (obwohl das in seiner Frage enthalten war). Er fragte allgemeiner, wessen Sohn der Messias wäre, wenn er erscheinen würde.
Sie antworteten ganz richtig, dass der Messias ein Nachfahre Davids sein würde.
22,43.44 Dann zitierte der Herr Jesus Psalm 110,1. Dort sagt David: »Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege unter deine Füße.« Die erste Verwendung des Wortes »Herr« bezieht sich auf Gott den Vater, die zweite auf den Messias. So sprach David vom Messias als seinem Herrn.
22,45 Nun stellte Jesus die Frage: »Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er sein Sohn?« Die Antwort lautet, dass der Messias sowohl der Herr Davids als auch der Sohn Davids ist – sowohl Gott als auch Mensch. Als Gott ist er Davids Herr, als Mensch ist er Davids Sohn. Wären die Pharisäer nur belehrbar gewesen, hätten sie erkannt, dass Jesus der Messias war – der Sohn Davids durch die Erblinie Marias und Gottes Sohn, der sich durch seine Worte, Werke und Verhaltensweisen geoffenbart hat.
22,46 Aber sie weigerten sich zu sehen. Über seine Weisheit völlig erstaunt, ließen sie davon ab, ihn weiter mit Fragen zu versuchen. Jetzt würden sie eine andere Methode anwenden – Gewalt. M. Wenn Worte und Taten nicht übereinstimmen – eine Warnung (23,1-12)
23,1-4 In den ersten Versen des Kapitels warnt der Heiland die Menge und die Jünger vor den Schriftgelehrten und Pharisäern. Diese Führer saßen »auf Moses Lehrstuhl«,  d. h.  sie  lehrten  das  Gesetz des Mose. Im Allgemeinen war auf ihre Lehre Verlass, nicht aber auf ihr Verhalten. Ihr Glaubensbekenntnis war besser als ihr Verhalten. Sie redeten groß daher, aber ihr Wandel war nichts wert. Jesus sagte: »Alles nun, was sie euch sagen, tut und haltet; aber handelt nicht nach ihren Werken, denn sie sagen es und tun es nicht.«
Sie stellten hohe Ansprüche (die oft nur extreme Auslegungen des Buchstabens des Gesetzes waren) an das Volk, aber sie wollten keinem helfen, diese unerträgliche Last zu tragen.
23,5 Sie hielten sich an religiöse Vorschriften, um von Menschen gesehen zu werden, nicht aus innerem Antrieb. Ihr Gebrauch von Gebetsriemen war ein Beispiel dafür. Der Herr hatte gesagt, dass die Israeliten sein Wort als ein Zeichen an ihrer Hand und an ihrer Stirn zwischen den  Augen  tragen  sollten  (2. Mose  13,9; 5. Mose 6,8; 11,18). Doch Gott meinte damit, dass sie das Gesetz ständig vor Augen haben sollten, damit es sie in ihrem Leben leiten konnte. Die Pharisäer reduzierten nun dieses geistliche Gebot auf den wörtlichen, äußerlichen Sinn. Sie taten kleine Streifen mit Schriftabschnitten in Lederkapseln und banden sie an ihre Stirn oder an ihren Arm. Sie sorgten sich nicht darum, das Gesetz zu halten, solange sie supergeistlich erschienen, indem sie lächerlich große Gebetsriemen trugen. Das Gesetz befahl den Juden auch, Quasten mit blauen Bändern an den Zipfeln ihrer Gewänder zu tragen (4. Mose  15,37-41;  5. Mose  22,12).  Dieser besondere Schmuck sollte sie daran erinnern, dass sie ein abgesondertes Volk waren und sich in Absonderung von den Nationen halten sollten. Die Pharisäer übersahen die geistliche Lehre und waren zufrieden damit, die Quasten besonders groß und auffällig zu machen.
23,6.7 Sie zeigten ihre Selbstsucht, indem sie bei den Gastmählern und in den Synagogen nach den Ehrenplätzen strebten. Sie nährten ihr Ego durch Begrüßungen auf den Märkten und genossen es besonders, wenn die Menschen sie »Rabbi« nannten (das heißt »großer Meister« oder »Lehrer«).
23,8-10 Hier warnte der Herr seine Jünger davor, besondere Titel zu verwenden, die nur Gott vorbehalten sind. Wir sollten nicht jemandem den besonderen Titel Rabbi geben, denn wir haben einen Lehrer, nämlich Jesus. Wir sollten niemanden »Vater nennen, denn Gott ist unser Vater«. Weston schreibt dazu sehr weise:
Wir haben hier eine Erklärung hinsichtlich der grundlegenden Beziehungen des Menschen zu Gott. Dreierlei macht einen Christen aus – was er ist, was er glaubt und was er tut, das heißt Lehre, Erfahrung und Praxis. Der Mensch braucht zu seinem geistlichen Wohlergehen dreierlei: Leben, Unterweisung und Führung, eben das, was der Herr in den neun Worten des Evangeliums verkündigt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« … Man soll keinen Menschen als Vater anerkennen, denn kein Mensch kann geistliches Leben schenken oder erhalten. Kein Mensch soll als unfehlbarer Lehrer anerkannt werden, niemandem soll erlaubt werden, den Dienst eines geistlichen Leiters zu übernehmen, denn deine Beziehung zu Gott und zu Christus ist so eng wie die Beziehung jeder anderen Person.42 Die offensichtliche Bedeutung der Worte des Retters ist, dass im Reich der Himmel alle Gläubigen eine Bruderschaft von Gleichgestellten bilden, in der kein Platz für Titel ist, die den einen über den anderen stellen. Doch denken wir an die teilweise pompösen Titel, die wir in unserer heutigen Christenheit kennen: Herr Pastor, Herr Pfarrer, heiliger Vater, Hochwürden und viele, viele andere. Sogar der scheinbar harmlose lateinische Titel »Doktor« bedeutet »Lehrer«. (Diese Warnung bezieht sich natürlich auf geistliche und nicht auf natürliche oder akademische Bezeichnungen. Zum Beispiel wird hier weder verboten, dass ein Kind seinen Vater »Vater« nennt, noch dass ein Arzt vom Patienten mit »Herr Doktor« ang eredet wird.) So weit es um irdische Beziehungen geht, gilt die Regel: »Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre gebührt« (Röm 13,7).
23,11.12 Und wieder wird der revolutionäre Charakter des Reiches der Himmel dadurch deutlich, dass wahre Größe das genaue Gegenteil von dem ist, was die Menschen erwarten. Jesus sagt: »Der Größte aber unter euch soll euer Diener sein. Wer sich aber selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigen wird, wird erhöht werden.« Wahre Größe beugt sich zum Dienst. Die Pharisäer, die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden. Echte Jünger, die sich demütigen, werden zu ihrer Zeit erhöht werden.
N. Weherufe gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (23,13-36) Als Nächstes spricht der Herr Jesus acht Weherufe über die stolzen religiösen Heuchler seiner Zeit aus. Es sind keine »Verfluchungen«, sondern Ausdruck der Sorge über ihr Schicksal, etwa wie der Ausdruck: »Ach, wie bin ich bekümmert um dich!«
23,13 Das erste »Wehe« richtet sich gegen ihre Hartherzigkeit und ihre Quertreiberei. Sie wollten selbst nicht in das Reich und hinderten andere mit Gewalt, hineinzugehen. Seltsamerweise sind religiöse Führer oft die aktivsten Gegner des Evangeliums der Gnade. Sie können gegenüber allem außer der guten Nachricht von der Erlösung die größte Toleranz üben. Der natürliche Mensch möchte nicht das Objekt der Gnade Gottes sein und will auch nicht, dass Gott anderen seine Gnade erzeigt.
23,14 Das zweite »Wehe«43 verurteilt die unbefugte Aneignung von Häusern der Witwen und deren Vertuschung durch lange Gebete. Einige moderne Religionen benutzen ähnliche Techniken, indem sie ältere Witwen, manchmal unkritische Gläubige, dazu bringen, ihr Eigentum »der Kirche« oder der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu überschreiben. Solche frommen Heuchler werden ein »schwereres Gericht empfangen«.
23,15 Die dritte Anklage richtet sich gegen ihren fehlgeleiteten Eifer. Sie machten unglaubliche Reisen, um einen einzigen Proselyten zu gewinnen, aber nachdem sie ihn gewonnen hatten, machten sie ihn doppelt so schlimm, wie sie es waren. Damit vergleichbar ist heute der Eifer wahrheitsfeindlicher Religionen. Eine Gruppe ist bereit, an 700 Türen zu klopfen, um nur einen für ihr Anliegen zu gewinnen, aber das letztliche Ergebnis ist schlimm. Jemand sagte einmal dazu: »Die Bekehrtesten sind oft die Verdrehtesten.«
23,16-22 Als Viertes prangerte der Herr ihre Spitzfindigkeit an, ihre oftmals absichtlich unehrlichen Argumente. Sie hatten ein falsches Argumentationssystem aufgebaut, um die Erfüllung von Gelübden zu umgehen. So war laut ihrer Lehre jemand beispielsweise nicht verpflichtet, einen Schwur beim Tempel zu erfüllen. Schwor er jedoch beim Gold des Tempels, dann musste er das entsprechende Gelübde erfüllen. Sie behaupteten, dass ein Schwur bei der Gabe auf dem Altar gelte, aber nicht, wenn beim leeren Altar geschworen wurde. So war ihnen Gold mehr wert als Gott (der Tempel war das Haus Gottes) und die Gabe auf dem Altar (wieder eine Form des Reichtums) mehr als der Altar selbst. Sie waren mehr am Materiellen als am Geistlichen interessiert. Sie waren mehr daran interessiert, etwas zu erhalten (die Gabe), als daran, selbst zu geben (der Altar war der Ort für die Gaben).
Indem Jesus sie als »blinde Führer« bezeichnete, stellte er ihre Spitzfindigkeit bloß. Das Gold des Tempels hatte nur einen besonderen Wert, weil es mit Gottes Wohnung verbunden war. Außerdem gab der Altar der Gabe ihren Wert. Menschen, die denken, dass Gold an sich einen Wert besäße, sind blind. Es erhält seinen Wert nur, wenn es zur Ehre Gottes verwendet wird. Gaben, die aus fleischlichen Motiven heraus gegeben werden, sind wertlos. Was aber dem Herrn oder im Namen des Herrn gegeben wird, hat ewigen Wert. Tatsächlich war bei allem, das die Pharisäer in ihren Schwurformeln gebrauchten, Gott im Spiel. Daher waren sie verpflichtet, den entsprechenden Schwur zu halten. Der Mensch kann seinen Verpflichtungen nicht durch geschicktes Argumentieren ausweichen. Schwüre sind bindend und Versprechen müssen gehalten werden. Es ist nutzlos, sich auf irgendwelche Details zu berufen, um Verpflichtungen zu umgehen.
23,23.24 Das fünfte »Wehe« richtet sich gegen die Beachtung von Ritualen ohne geistliche Substanz. Die Schriftgelehrten und Pharisäer waren äußerst genau, wenn es darum ging, auch von den unbedeutendsten Küchenkräutern den Zehnten zu geben. Jesus verurteilte ihren Gehorsam bei diesen Kleinigkeiten nicht, kritisierte aber scharf ihre völlige Skrupellosigkeit, wenn es darum ging, anderen gegenüber »das Recht und die Barmherzigkeit und den Glauben« unter Beweis zu stellen. Er verwendete ein unübertroffenes ausdrucksstarkes Sprachbild, indem er sie beschrieb, wie sie zwar Mücken aussieben, aber Kamele verschlucken. Die Mücke, ein kleines Insekt, das manchmal in einen Becher süßen Weins fiel, wurde oft ausgesiebt, indem man den Wein beim Trinken durch die Zähne zog. Wie lächerlich, solchen Nebensächlichkeiten eine derartige Aufmerksamkeit zu schenken und dann das größte, in Israel bekannte unreine Tier zu verschlucken! Die Pharisäer waren unaufhörlich mit Kleinigkeiten beschäftigt, aber sie waren völlig blind gegenüber wirklich schlimmen Sünden wie Heuchelei, Unehrlichkeit, Grausamkeit und Habsucht. Sie hatten ihr Gefühl für Proportionen verloren.
23,25.26 Das sechste »Wehe« betrifft die Äußerlichkeit. Die Pharisäer, die sorgfältig darauf achteten, dass ein äußerer Schein der Religiosität und Sitte gewahrt blieb, hatten Herzen »voller Raub und Unenthaltsamkeit«.44 Sie sollten »zuerst das Inwendige des Bechers« reinigen,  d. h.  sichergehen,  dass  ihre  Herzen durch Buße und Glauben gereinigt waren. Dann, und nur dann, wäre ihr äußerliches Verhalten annehmbar. Es gibt einen Unterschied zwischen mir als Mensch und als Persönlichkeit. Wir sind zu oft dazu geneigt, die Persönlichkeit mehr zu betonen – das, was andere von uns glauben sollen. Aber Gott betont unser Wesen als Mensch – das, was wir wirklich sind. Er will, dass der Mensch von innen heraus ehrlich ist (Ps 51,8).
23,27.28 Das siebte »Wehe« wendet sich ebenfalls gegen Äußerlichkeiten. Der Unterschied zum sechsten »Wehe« ist, dass es dort um die Verheimlichung der Habsucht geht, während es im siebten um die Verheimlichung von Heuchelei und Gesetzlosigkeit geht. Gräber waren damals weiß getüncht, sodass Juden sie nicht unabsichtlich berührten und sich damit unrein machten. Jesus verglich die Schriftgelehrten und Pharisäer mit solchen »übertünchten Gräbern«, die von außen sehr sauber aussahen, aber innen voller Verfall waren. Die Menschen meinten, dass der Kontakt mit diesen religiösen Führern heiligen würde, aber in Wirklichkeit war das eine verunreinigende Erfahrung, weil sie voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit waren.
23,29.30 Das letzte »Wehe« könnte man mit »außen Verehrung, innen Mordgedanken« beschreiben. Die Schriftgelehrten und Pharisäer gaben vor, die Propheten des Alten Testamentes zu ehren, indem sie ihnen Grabmäler bauten und/oder diese instand hielten und sie dann mit Kränzen schmückten. Sie behaupteten in Gedenkreden, dass sie sich den Prophetenmördern in Gestalt ihrer Vorfahren nicht angeschlossen hätten, wenn sie zu jener Zeit gelebt hätten.
23,31 Jesus sagte ihnen: »So gebt ihr euch selbst Zeugnis, dass ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben.« Aber wie bezeugten sie das? Es scheint aus dem vorherigen Vers hervorzugehen, dass sie sich von ihren Vorfahren lossagen wollten, die die Propheten getötet hatten. Erstens gaben sie zu, dass ihre Väter, deren leibliche Söhne sie waren, das Blut der Propheten vergossen hatten. Aber Jesus benutzte das Wort so, dass es diejenigen meint, deren Charakter genauso ist. Er wusste, auch wenn sie die Gräber der Propheten schmückten, planten sie bereits seinen Tod. Zweitens sagten sie, indem sie den toten Propheten solche Ehre erwiesen: »Die einzigen guten Propheten sind tote Propheten.« In diesem Sinne waren sie also echte Söhne ihrer Vorfahren.
23,32 Dann fügte unser Herr hinzu: »Und ihr, macht nur das Maß eurer Väter voll!« Die Väter hatten sich das Maß des Mordes durch ihren Mord an den Propheten gefüllt. Die Schriftgelehrten und Pharisäer füllten es bis zum Rand, indem sie den Herrn Jesus sowie seine Nachfolger töteten und so zu einem schrecklichen Höhepunkt führten, was ihre Väter begonnen hatten.
23,33 An diesem Punkt spricht der Christus Gottes die donnernden Worte: »Schlangen! Otternbrut! Wie solltet ihr dem Gericht der Hölle entfliehen?« Kann die menschgewordene Liebe solche vernichtenden Worte äußern? Ja, weil wahre Liebe auch gerecht und heilig sein muss. Das populäre Bild von Jesus als Reformer, der keinem zu nahe treten wollte und dessen Gefühle nur auf Liebe beschränkt waren, ist unbiblisch. Liebe kann hart, aber sie muss immer gerecht sein. Wir müssen unbedingt beachten, dass diese verurteilenden Worte religiösen Führern gelten und nicht etwa Trunkenbolden oder Schurken. In einem Zeitalter der Ökumene, in dem einige evangelikale Christen sich mit den erklärten Feinden des Kreuzes Christi zusammentun, ist es gut, das Beispiel Jesu zu bedenken und sich der Worte Jehus an Joschafat zu erinnern: »Sollst du so dem Gottlosen helfen und die lieben, die den Herrn hassen?« (2. Chron 19,2).
23,34.35 Jesus sah nicht nur seinen eigenen Tod voraus, er sagte den Schriftgelehrten und Pharisäern auch offen, dass sie einige seiner Boten, die er senden würde, ermorden würden – »Propheten und Weise und Schriftgelehrte«. Einige, die dem Märtyrertod entgingen, würden in den Synagogen geschlagen und von Stadt zu Stadt verfolgt werden. So würden die religiösen Führer Israels die angesammelte Schuld der Geschichte des Märtyrertums auf sich laden. Auf sie würde »alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde, von dem Blut Abels, des Gerechten, bis zu dem Blut Secharjas« kommen, dessen gewaltsamer Tod in 2. Chronik 24,20.21 geschildert wird, dem letzten Buch des hebräischen AT.
23,36 Die Schuld der gesamten Vergangenheit sollte über das Geschlecht oder die Rasse kommen, zu der Christus sprach, als ob alles vorhergehende Vergießen unschuldigen Blutes irgendwie im Tod des sündlosen Retters zusammengefasst und zu seinem Höhepunkt geführt würde. Eine schreckliche Strafe würde über das Volk kommen, das seinen Messias ohne Grund hasste und ihn ans Verbrecherkreuz schlug.
O. Jesus klagt über Jerusalem (23,37-39)
23,37 Es ist von großer Bedeutung, dass das Kapitel, das sich mehr als jedes andere mit den Weherufen des Herrn Jesus beschäftigt, mit seinen Tränen endet! Nach seiner bitteren Anklage gegen die Pharisäer klagte er über die Stadt, die ihre Chance vertan hat. Die Wiederholung des Namens »Jerusalem, Jerusalem« ist sehr gefühlsgeladen. Jerusalem hatte seine Propheten getötet und Gottes Botschafter gesteinigt, und doch liebte der Herr die Stadt und hatte oft beschützend und liebevoll ihre Kinder zu sich versammelt, »wie eine Henne ihre Küken versammelt«, aber sie wollte nicht.
23,38 Der Herr Jesus beendete seine Klage mit den Worten: »Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen.« Zunächst ist mit dem Haus der Tempel gemeint, aber auch die Stadt Jerusalem und die Nation selbst könnten darin einbezogen sein. Es würde eine Zeitphase zwischen seinem Tod und seinem zweiten Kommen geben, in welcher das ungläubige Israel ihn nicht sehen würde (nach seiner Auferstehung ist der Herr nur noch von Gläubigen ges ehen worden).
23,39 Dieser Vers weist auf die Wiederkunft Christi hin, wenn ein kleiner gläubiger Teil Israels ihn als seinen Messiask önig annehmen wird. Diese Annahme zeigt sich durch die Worte: »Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!«
Es wird hiermit jedoch keinesfalls angedeutet, dass diejenigen, die Christus umgebracht haben, eine zweite Chance bekommen. Er sprach hier von Jerusalem und damit bildlich von ihren Einwohnern und von Israel im Allgemeinen. Der nächste Zeitpunkt, an dem die Einwohner Jerusalems Jesus sehen werden, ist die Zeit, wenn sie auf ihn schauen, den sie durchbohrt haben, und um ihn trauern werden wie um den einzigen Sohn (Sach 12,10). Nach jüdischer Ansicht ist keine Trauer so tief wie die um den einzigen Sohn.
XIII. Die Ölbergsrede des Königs (Kap. 24 und 25)
Die Kapitel 24 und 25 bilden eine Rede, die als Ölbergsrede bekannt ist. Sie wurde so genannt, weil diese wichtigen Aussagen auf dem Ölberg gemacht wurden. Die Rede ist vollständig prophetisch und zeigt uns die Drangsalszeit und die Wiederkunft Christi. Sie betrifft in erster Linie Israel, aber nicht ausschließlich. Ihr Ort ist offensichtlich das Land Palästina, wenn es beispielsweise heißt: »Dann sollen die in Judäa auf die Berge fliehen« (24,16). Sie ist im jüdischen Umfeld angesiedelt – z. B.: »Betet aber, dass eure Flucht nicht … geschehe … am Sabbat« (24,20). Der Hinweis auf die »Auserwählten« (24,22) bezieht sich auf die jüdischen Auserwählten Gottes, nicht auf die Gemeinde. Die Gemeinde wird weder in den Prophezeiungen noch in den Gleichnissen der Rede erwähnt. Im Folgenden werden wir versuchen, dies zu zeigen.
A. Jesus sagt die Zerstörung des Tempels voraus (24,1.2)
24,1.2 Die Rede wird durch die wichtige Aussage eingeleitet, dass Jesus hinaustrat und vom Tempel wegging. Dieser Aufbruch ist in Anbetracht der Worte, die er gerade geäußert hatte, besonders bedeutsam: »Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen« (23,38). Sie erinnert uns daran, wie bei Hesekiels Schilderung die Herrlichkeit den Tempel verlässt (Hes 9,3; 10,4; 11,23). Die Jünger wollten, dass der Herr mit ihnen die architektonische Schönheit des Tempels bewunderte. Sie beschäftigten sich mit dem Vergänglichen statt mit dem Ewigen, mit Schatten statt mit dem Eigentlichen. Jesus sagte voraus, dass dieses Gebäude so gründlich zerstört werden würde, dass »nicht ein Stein auf dem anderen gelassen« werden würde. Titus versuchte vergeblich, den Tempel zu retten, doch seine Soldaten hatten schon eine Fackel hineingeworfen, sodass die Prophezeiung Jesu Wirklichkeit wurde. Als das Feuer die Goldverzierungen schmolz, lief das Gold zwischen den Steinen entlang. Um dieses Gold zu erhalten, mussten die Soldaten jeden Stein wegnehmen, wie es unser Herr vorausgesagt hatte. Dieses Gericht erfüllte sich im Jahr 70 n. Chr., als die Römer unter Titus Jerusalem eroberten. B. Die erste Hälfte der Drangsalszeit (24,3-14)
24,3 Nachdem Jesus zum Ölberg hinübergegangen war, »traten seine Jünger für sich allein zu ihm« und stellten ihm drei Fragen:
1.  »Wann wird das sein«, d. h. wann soll der Tempel zerstört werden? 2. »Was ist das Zeichen seiner Wiederkunft«,  d. h.  welche  übernatürlichen Ereignisse würden seiner Wiederkunft auf die Erde und der Errichtung des Reiches vorausgehen? 3. Was ist das Zeichen für die »Vollendung  des  Zeitalters?«,  d. h.  was würde das Ende der Welt kurz vor seiner Herrschaft in Herrlichkeit anzeigen? (Die zweite und die dritte Frage sind im Wesentlichen gleich.) Wir müssen uns erinnern, dass das Denken dieser jüdischen Jünger sich mit dem herrlichen Zeitalter des Messias auf Erden beschäftigte. Sie dachten nicht an das Kommen Christi für die Gemeinde, denn sie wussten wenig, wenn überhaupt etwas, über diesen Abschnitt seiner Wiederkunft. Sie erwarteten sein Kommen in Macht und Herrlichkeit, wenn er seine Feinde vernichten und über die Welt herrschen würde.
Außerdem sollten wir uns klarmachen, dass sie nicht nach dem Ende der Welt fragten (wie die Lutherbibel schreibt), sondern nach dem Ende des »Zeitalters« (gr. aion). Ihre erste Frage wurde nicht direkt beantwortet. Es scheint, dass der Heiland hier die Eroberung Jerusalems im Jahr  70  n. Chr.  (s.  Lk  21,20-24)  mit  einer ähnlichen Eroberung in den letzten Tagen zusammen sieht. Wenn wir die Prophetie studieren, dann sehen wir oft, wie der Herr scheinbar ohne Übergang von einer frühen, teilweisen Erfüllung zur späteren, endgültigen Erfüllung übergeht. Die zweite und die dritte Frage werden in den Versen 4-44 von Kapitel 24 beantwortet. Die Verse beschreiben die siebenjährige Drangsalszeit, die Christi Wiederkunft in Herrlichkeit vorausgehen wird. Die ersten dreieinhalb Jahre werden in den Versen 4-14 beschrieben. Die zweiten dreieinhalb Jahre, die auch unter dem Namen »die Große Trübsal« und als »Zeit der Bedrängnis für Jakob« (Jer 30,7) bekannt sind, werden eine Zeit nie da gewesener Leiden für die Menschen auf Erden werden.
Viele der Bedingungen, die die erste Hälfte der Drangsalszeit bestimmen, hat es bis zu einem gewissen Maß in der gesamten menschlichen Geschichte gegeben, jedoch werden sie in der Drangsalszeit in vermehrter Weise erscheinen. Den Gliedern der Gemeinde ist Drangsal vorhergesagt (Joh 16,33), aber sie unterscheidet sich sehr von der Drangsal, die über eine Welt kommen wird, die den Sohn Gottes abgelehnt hat.
Wir glauben, dass die Gemeinde aus der Welt genommen wird (1. Thess 4,1318), ehe der Tag des Zornes Gottes beginnt  (1. Thess  1,10;  5,9;  2. Thess  2,1-12; Offb 3,10).
24,4.5 In der ersten Hälfte der Drangsal werden viele falsche Messiasse auftreten, denen es gelingen wird, die Massen zu verführen. Das gegenwärtige Entstehen von Sekten und Kulten mag ein Vorspiel dazu sein, ist aber noch keine Erfüllung. Diese falschen religiösen Führer werden Juden sein, die behaupten, »der Christus« zu sein.
24,6.7 Es wird Kriege und Kriegsgerüchte geben. »Denn es wird sich Nation gegen Nation erheben und Königreich gegen Königreich.« Man könnte leicht meinen, dass wir die Erfüllung dieser Prophetie heute erleben, aber was wir heute sehen, ist im Vergleich mit der Wiederkunft harmlos. Die nächste Station des Planes Gottes ist die Entrückung der Gemeinde (Joh 14,1-6; 1. Kor 15,51-57). Keine dieser Prophezeiungen wird sich vorher erfüllen. Wenn die Gemeinde weggenommen ist, dann wird Gottes prophetische Uhr schlagen, und diese Bedingungen werden sich schnell einstellen. In verschiedenen Teilen der Erde wird es »Hungersnöte und Erdbeben« geben. Auch Seuchen werden auftreten. Schon heute sind die Führer der Welt wegen der Gefahr von Hungersnöten als Folge der Bevölkerungsexplosion besorgt. Aber die Not wird durch die Auswirkungen von Kriegen noch größer werden. »Erdbeben« ziehen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich, und zwar nicht nur jene, die schon stattgefunden haben, sondern auch diejenigen, die erwartet werden. Aber wieder ist es nur Spreu im Wind, nicht jedoch die wirkliche Erfüllung der Worte unseres Heilands.
24,8 Vers 8 bezeichnet diese Zeit sehr genau als den »Anfang der Wehen« – der Beginn der Schmerzen einer Geburt, die eine neue Ordnung unter Israels Messiaskönig bringen wird.
24,9.10 Treue Gläubige werden während der Drangsal schwer erprobt werden. Die Nationen werden bittere Hasskampagnen gegen alle führen, die dem Herrn treu sind. Sie werden nicht nur vor zivile und religiöse Gerichte geführt werden (Mk 13,9), sondern viele werden den Märtyrertod sterben, weil sie sich weigern zu widerrufen. Es gab zwar solche Erprobungen schon zu allen Zeiten des Christentums, doch bezieht sich diese Erwähnung besonders auf die 144 000 jüdischen Gläubigen, die in dieser Zeit eine besondere Mission haben. Viele werden lieber widerrufen, als zu leiden und zu sterben. Familienangehörige werden ihre eigenen Verwandten denunzieren und sie in die Hand ihrer Verfolger überliefern.
24,11 »Viele falsche Propheten« werden erscheinen und viele Menschen verführen. Man darf sie nicht mit den falschen Messiassen in Vers 5 verwechseln. Falsche Propheten behaupten, im Namen Gottes zu reden. Sie können auf zweierlei Weise geprüft werden: Ihre Prophezeiungen treffen nicht immer ein, und ihre Predigt lenkt die Menschen immer vom wahren Gott weg. Die Erwähnung falscher Propheten bestätigt unsere Behauptung, dass die Drangsal sich im Wesentlichen auf Juden bezieht. Falsche Propheten gehören zu Israel, in der Gemeinde dagegen liegt die Gefahr bei falschen Lehrern (2. Petr 2,1).
24,12 »Weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt«, werden die menschlichen Gefühle verkümmern und Lieblosigkeiten normal werden.
24,13 »Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden.« Das bedeutet offensichtlich nicht, dass die Seelen der Menschen dieses Zeitalters durch ihr Ausharren gerettet werden. Die Rettung ist in der Bibel immer ein Geschenk der Gnade Gottes, das im Glauben an den stellvertretenden Tod Jesu Christi und seine Auferstehung erlangt wird. Auch kann es nicht bedeuten, dass alle, die ausharren, körperlich unversehrt bleiben, denn wir haben schon gehört, dass viele Gläubige den  Märtyrertod  sterben  werden  (V. 9). Wir haben hier die allgemeine Aussage, dass diejenigen, die standhaft bleiben und die Verfolgung durchstehen, ohne abzufallen, bei der Wiederkunft Christi befreit werden. Niemand soll auf die Idee kommen, Abfall sei ein Mittel, um zu entkommen oder sogar Sicherheit zu erlangen. Nur diejenigen, die wirklich glauben, werden errettet werden. Auch wenn der rettende Glaube manchmal schwach wird, so ist er doch immer von dauerhafter Qualität.
24,14 In dieser Zeit wird »das Evangelium des Reiches« weltweit verkündigt, »allen Nationen zu einem Zeugnis«. Wie wir in den Bemerkungen zu 4,23 schon erklärt haben, ist »das Evangelium des Reiches« die gute Nachricht, dass Christus kommt, um sein Reich auf Erden zu errichten, und dass diejenigen, die ihn während der Drangsal im Glauben annehmen, die Segnungen seines Tausendjährigen Reiches genießen werden. Vers 14 wird oft missbraucht, um zu beweisen, dass Christus nicht jederzeit wiederkommen kann, um seine Gemeinde zu sich zu nehmen, weil so viele Völker und Stämme das Evangelium noch nicht gehört haben. Die Schwierigkeit entfällt, wenn wir erkennen, dass sich dies auf sein Kommen mit seinen Heiligen und nicht für seine Heiligen bezieht. Außerdem bezieht sich der Vers auf das Evangelium des Reiches, nicht auf das Evangelium von der Gnade Gottes (s. Anmerkungen zu Kap. 4,23). Es gibt eine erstaunliche Parallele zwischen den Vorgängen in den Versen 3-14 und denen in Offenbarung 6,1-11. Der Reiter auf dem weißen Pferd – »falsche Messiasse«. Der Reiter auf dem roten Pferd – »Kriege«. Der Reiter auf dem schwarzen Pferd – »Hungersnot«. Der Reiter auf dem fahlen Pferd – Tod. Die Seelen unter dem Altar sind die Märtyrer. Die Vorgänge, die in Offenbarung 6,12-17 beschrieben werden, sind mit denen in Matthäus 24,19-31 eng verbunden. C. Die Große Trübsal (24,15-28)
24,15 Hier haben wir die Mitte der Trübsalszeit erreicht. Wir sehen dies, wenn wir Vers 15 mit Daniel 9,27 vergleichen. Daniel sagte voraus, dass in der Mitte der siebzigsten Woche, das heißt nach dreieinhalb Jahren, ein Götzenbild im Heiligtum,  d. h.  im  Tempel  von  Jerusalem, errichtet werden wird. Allen Menschen wird befohlen werden, dieses abscheuliche Götzenbild zu verehren. Wer sich weigert, wird mit dem Tode bestraft werden (Offb 13,15).
»Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, an heiliger Stätte stehen seht – wer es liest, der merke auf!« Die Errichtung des Götzenbildes ist ein Signal für diejenigen, die das Wort Gottes kennen, dass die Große Trübsal begonnen hat. Man beachte, dass der Herr möchte, dass diejenigen, die die Prophezeiung lesen, sie auch »verstehen« (Anmerkung Elberfelder Bibel).
24,16 Wer dann »in Judäa« ist, soll »auf die Berge fliehen«, weil man in Jerusalem und Umgebung schnell entdecken würde, dass sich die Betreffenden vor dem Götzenbild nicht beugen wollen.
24,17-19 Das soll in äußerster Eile geschehen. Wenn jemand auf dem Dach sitzt, so soll er all seinen Besitz zurücklassen. Die Zeit, die er bräuchte, um seine Habe zusammenzupacken, kann zwischen Tod und Leben entscheiden. Wer auf dem Feld arbeitet, »soll nicht zurückkehren, um seinen Mantel zu holen«, wo immer er liegen mag. Schwangere und Stillende werden sehr benachteiligt sein, da es für sie schwierig ist, schnell zu fliehen.
24,20 Die Gläubigen sollen beten, dass diese Krise nicht in den Winter fällt, wo es schwierig ist zu reisen, und auch nicht auf einen Sabbat, weil an diesem Tag ihre Reisedistanz durch das Gesetz beschränkt ist (2. Mose  16,29). Ein Sabbatweg wäre für sie nicht genug, um aus der Gefahrenzone zu kommen.
24,21 »Denn dann wird große Bedrängnis sein, wie sie von Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nie sein wird.« Diese Beschreibung nimmt diese Zeit von allen Zeiten aus, die wir bisher erlebt haben: Inquisition, Pogrome, Säuberungsaktionen, Massaker und Völkermorde. Diese Prophezeiung kann sich nicht durch eine der bisherigen Verfolgungen erfüllt haben, weil klar ausgesagt ist, dass diese Zeit mit der Wiederkunft Christi endet.
24,22 Die Trübsal wird so schwer sein, dass, »wenn jene Tage nicht verkürzt würden«, kein Mensch überleben würde. Das kann nicht bedeuten, dass die Große Trübsal, von der so oft gesagt wird, dass sie dreieinhalb Jahre andauert, kürzer gemacht wird. Es bedeutet wahrscheinlich, dass Gott auf wunderbare Weise die Zeit des Tageslichtes verkürzen wird – während der die meisten Morde und Kämpfe stattfinden. »Um der Auserwählten willen« (diejenigen, die Jesus angenommen haben) wird der Herr die Fluchtmöglichkeit in längerer Dunkelheit schaffen.
24,23-26 Die Verse 23 und 24 enthalten eine erneute Warnung vor falschen Messiassen und falschen Propheten. In einer Zeit der Krise werden viele Gerüchte umgehen, dass der Messias sich an einem geheimen Ort aufhält. Solche Gerüchte könnten benutzt werden, um diejenigen in die Falle zu locken, die ernsthaft und voller Liebe nach Christus Ausschau halten. Deshalb warnt der Herr alle Jünger davor, solche Berichte von einer örtlichen, geheimen Wiederkunft zu glauben. Sogar diejenigen, die offensichtlich Wunder tun, sind nicht notwendigerweise von Gott gesandt, denn Wunder können auch satanischen Ursprungs sein. Der Mensch der Sünde wird satanische Macht erhalten, damit er Wunder tun kann (2. Thess 2,9.10).
24,27 Die Wiederkunft Christi kann niemand verpassen – sie wird plötzlich, offen, allumfassend und herrlich sein. Wie der Blitz wird sie gleichzeitig und deutlich für alle sichtbar sein.
24,28 Keine moralische Verdorbenheit wird seinem Zorn und Gericht entgehen können. »Wo das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln.« Die Kadaver stehen für das abgefallene Juden- und Christentum sowie das gesamte Weltsystem, das sich gegen Gott und seinen Christus vereinigt hat. Die Adler oder Geier sind Bilder der Gerichte Gottes, die im Zusammenhang mit der Wiederkunft des Messias entfacht werden.
D. Die Wiederkunft (24,29-31)
24,29 Am Ende der Großen Trübsal wird es am Himmel beängstigende Erscheinungen geben. Die Sonne wird »verfinstert«, und da der Mond sein Licht von der Sonne erhält, wird auch er nicht mehr scheinen. »Die Sterne werden vom Himmel fallen«, und Planeten werden ihre Bahnen verlassen. Es ist nicht notwendig zu erwähnen, dass solch ein Aufruhr im Weltall das Wetter, die Gezeiten und Jahreszeiten auf der Erde beeinflussen wird. Eine schwache Vorstellung dieser Vorgänge mag uns eine Beschreibung der Ereignisse geben, die geschehen würden, wenn ein Himmelskörper die Erde treffen und die Erdachse verschieben würde. Sofort würde ein Erdbeben die Erde erschüttern, Luft und Wasser würden sich durch die Trägheit weiterbewegen, Hurrikans würden über Land und Meer fegen, das Meer würde die Kontinente überfluten und dabei Sand, Steine und Meerestiere mit sich führen und an Land werfen. Überall würde Reibungshitze entstehen, Felsen schmelzen, Vulkane ausbrechen, Lava aus Erdspalten treten und große Gebiete bedecken. Berge würden in Ebenen entstehen und sich über andere Berge schieben; dabei würden Verwerfungen und Erdspalten entstehen. Seen würden erschüttert und geleert werden, Flüsse würden neue Betten suchen, und große Landflächen mit allen Bewohnern würden im Meer versinken. Wälder würden brennen, Stürme und Meeresmassen würden sie aus dem Boden reißen, auf dem sie gewachsen sind, und sie mit Ästen und Wurzeln zu hohen Bergen auftürmen. Seen würden zu Wüsten, weil ihr Wasser abfließen würde.45
24,30 »Und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen.« Uns wird nicht gesagt, welches Zeichen das sein wird. Sein erstes Kommen auf Erden war von einem Himmelszeichen begleitet, dem Stern. Vielleicht wird auch ein wunderbarer Stern sein zweites Kommen ankündigen. Einige sind der Auffassung, dass der Sohn des Menschen selbst das Zeichen sein wird. Was immer damit gemeint ist, es wird für alle eindeutig sein, wenn es erscheint. »Dann werden wehklagen alle Stämme des Landes« – zweifellos deshalb, weil sie ihn abgelehnt haben. Aber in erster Linie werden die Stämme des Landes46 wehklagen – die zwölf Stämme Israels. »… und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen, wie man über den einzigen Sohn wehklagt, und werden bitter über ihn weinen, wie man bitter über den Erstgeborenen weint« (Sach 12,10). Dann werden sie »den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit«. Welch ein wunderbarer Augenblick! Der Eine, der angespuckt und gekreuzigt worden ist, wird vor den Menschen als Herr des Lebens und der Herrlichkeit gerechtfertigt werden. Der demüt ige und bescheidene Jesus wird als Jahwe selbst erscheinen. Das Opferlamm kommt als der erobernde Löwe. Der verachtete Zimmermann aus Nazareth wird als König der Könige und Herr der Herren kommen. Er wird in königlicher Macht und Herrlichkeit kommen – der Augenblick, auf den die Schöpfung seit Tausenden von Jahren sehnsüchtig gewartet hat.
24,31 Wenn er herabkommt, dann wird er »seine Engel aussenden mit starkem Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten versammeln« – die Angehörigen des gläubigen Israel, die in das Land Palästina kommen. Von den Enden der Erde werden sie sich versammeln, um ihren Messias zu empfangen und seine herrliche Herrschaft zu genießen. E. Das Gleichnis vom Feigenbaum (24,32-35)
24,32 »Von dem Feigenbaum aber lernt das Gleichnis.« Wieder benutzt der Herr ein Bild aus der Natur, um eine geistliche Wahrheit zu verdeutlichen. Wenn die Zweige am Feigenbaum grün und »weich geworden« sind, »so erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist«. Wir haben gesehen, dass der Feigenbaum ein Bild für das Volk Israel ist (21,18-22). Hunderte von Jahren hat Israel geschlafen, hatte keine eigene Regierung, kein Land, keinen Tempel und keine Priesterschaft – es gab kein Zeichen für seine Staatlichkeit. Die Israeliten sind über die ganze Welt verstreut worden.
Dann, 1948, wurde Israel wieder ein Volk mit einem eigenen Land, mit eigener Regierung, eigener Währung, eigenen Briefmarken usw. Geistlich ist dieses Volk noch immer verwüstet und kalt, es gibt keine Frucht für Gott. Aber national gesehen können wir sagen, sind seine Zweige grün und weich.
24,33 »So sollt auch ihr, wenn ihr dies alles seht, erkennen, dass es nahe an der Tür ist.« Israels Grünen zu einem eigenen Staat bedeutet nicht nur, dass die Trübsal, sondern der Herr selbst nahe ist, »nahe an der Tür«!
Wenn das Kommen Christi zur Herrschaft so nahe ist, wie viel näher ist dann die bevorstehende Entrückung der Gemeinde? Wenn wir schon die Schatten der Ereignisse sehen, die seiner Wiederkunft in Herrlichkeit vorausgehen, wie viel näher sind wir dann der ersten Phase seiner  Parusie,  d. h.  seiner  Wiederkunft (1. Thess 4,13-18)?
24,34 Nachdem Jesus auf den Feigenbaum hingewiesen hatte, fügte er hinzu: »Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist.« »Dieses Geschlecht« kann nicht die Menschen bedeuten, die lebten, als Christus auf der Erde war, denn sie sind alle gestorben, obwohl die Ereignisse von Kapitel 24 noch nicht stattgefunden haben. Was meinte unser Herr nun mit dem Ausdruck »dieses Geschlecht«? Es gibt zwei plausible Erklärungen: F. W. Grant und andere glauben, dass der folgende Gedanke dahintersteht: »Die Generation, die die Anfänge hiervon erlebt, wird auch das Ende erleben.«47 Die gleichen Menschen, die sehen, wie Israel seine Eigenstaatlichkeit zurückg ewinnt (oder die den Anfang der Trübsal er leben), werden auch den Herrn Jesus in den Wolken des Himmels kommen sehen, wenn er als Herrscher erscheint. Die andere Erklärung ist, dass »Geschlecht« so viel wie Rasse bedeutet. Das ist eine gerechtfertigte Übersetzung des griechischen Wortes, es bedeutet so viel wie Menschen der gleichen Art, Herkunft oder Familie (s. Matth 12,45; 23,35.36). Demnach sagte Jesus voraus, dass die jüdische Rasse überleben würde, um die Vollendung von all diesem zu erleben. Ihr Überleben bis heute, trotz schärfster Verfolgungen, ist ein Wunder der Geschichte.
Aber ich meine, es gibt hier noch einen weiteren Gedanken. In den Tagen Jesu war »dieses Geschlecht« eine Rasse, die sich standhaft weigerte, ihn als Messias anzuerkennen. Ich denke, er sagte vora us, dass das Volk Israel so lange in seiner ablehnenden Haltung ihm gegenüber verharren würde, bis er wiederkäme. Dann würde alle Auflehnung gebrochen werden, und nur diejenigen, die sich willentlich seiner Herrschaft unterwerfen, werden verschont, um in das Tausendjährige Reich zu gelangen.
24,35 Um den unfehlbaren Charakter seiner Voraussagen zu unterstreichen, fügte Jesus hinzu: »Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber sollen nicht vergehen.« Indem er davon sprach, dass der Himmel vergehen würde, bezog er sich auf den Himmel, wie wir ihn sehen: unsere Atmosphäre und das Weltall – das blaue Firmament über uns; nicht jedoch auf den Himmel als die Wohnstätte Gottes (2. Kor 12,2-4). Das Vergehen von Himmel und Erde ist in 2. Petrus 3,10-13 beschrieben und nochmals in Offenbarung 20,11 erwähnt. F. Tag und Stunde sind unbekannt (24,36-44)
24,36 Was den genauen Tag und die genaue Stunde seines zweiten Kommens angeht, so »weiß niemand, auch nicht die Engel in den Himmeln48, sondern der Vater allein« davon. Das sollte uns vor der Versuchung bewahren, Daten zu berechnen oder denen zu glauben, die das tun. Wir sind nicht erstaunt, dass die Engel es nicht wissen; sie sind begrenzte Geschöpfe mit ebenso begrenztem Wissen. Während diejenigen, die vor der Wiederkunft Christi leben, den Tag oder die Stunde nicht kennen werden, scheint es doch möglich zu sein, dass diejenigen, die mit der Prophetie vertraut sind, das Jahr herausfinden könnten. Sie werden zum Beispiel wissen, dass es noch etwa dreieinhalb Jahre dauern wird, nachdem das Götzenbild im Tempel errichtet worden ist (Dan 9,27; s. a. Dan 7,25; 12,7.11; Offb 11,2.3; 12,14; 13,5).
24,37-39 In diesen Tagen werden jedoch die meisten Menschen, genau wie zur Zeit Noahs, gleichgültig sein. Obwohl die Menschen in der Zeit vor der Flut schrecklich verdorben waren, wird dieser Umstand hier nicht weiter erwähnt. Die Menschen »aßen, sie tranken, sie heirateten  und  ließen  sich  heiraten«  (LU 1984), mit anderen Worten, sie lebten so, als ob sie ewig leben würden. Obwohl sie vor der kommenden Flut gewarnt worden waren, lebten sie, als ob ihnen die Flut nichts anhaben könne. Als sie dann kam, waren sie unvorbereitet und außerhalb des einzigen sicheren Ortes, der Arche. Genauso wird es sein, wenn Christus wiederkommen wird. Nur diejenigen, die in Christus sind, in der sicheren Arche, werden gerettet werden.
24,40.41 »Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen« werden und ins Gericht kommen, der andere wird »gelassen« werden, damit er ins Tausendjährige Reich eingeht. »Zwei Frauen werden an dem Mühlstein mahlen«, doch sie werden sofort getrennt. Eine wird durch die Flut des Gerichtes weggeschwemmt, die andere wird dort bleiben dürfen, um die Segnungen der Herrschaft Christi zu erfahren. (Die Verse 40 und 41 werden oft als eine Warnung für die Unerretteten in Bezug auf die Entrückung benutzt – jene erste Phase des Kommens Christi, wenn er alle Gläubigen in den Himmel nimmt und die Ungläubigen zum Gericht zurücklässt. Das mag zwar eine mögliche Anwendung des Abschnittes sein, doch der Zusammenhang macht hier deutlich, dass die Auslegung etwas mit dem Kommen Christi zur Herrschaft zu tun hat.)
24,42-44 In Anbetracht der Unsicherheit, wann Jesus wiederkommt, werden die Menschen zum Wachen aufg efordert. Wenn jemand weiß, dass in sein Haus eingebrochen werden soll, dann wird er bereit sein, auch wenn er die genaue Zeit nicht kennt. Der Sohn des Menschen wird dann wiederkommen, wenn die Masse der Menschen ihn am wenigsten erwartet. Deshalb sollte sein Volk jederzeit bereit sein und ihm erwartungsvoll entgegensehen.
G. Das Gleichnis vom treuen und untreuen Knecht (24,45-51)
24,45-47 Im letzten Teil dieses Kapitels zeigt der Herr Jesus, dass ein Knecht durch sein Verhalten angesichts der Rückkehr seines Herrn seinen wahren Charakter offenbart. Alle Knechte sollen den Angehörigen der Hausgemeinschaft zur rechten Zeit Speise geben. Aber nicht alle, die bekennen, Christi Knechte zu sein, sind es wirklich.
Der treue Knecht ist einer, der zur Zeit der Wiederkunft bei der Fürsorge für Gottes Volk gefunden wird. Solch ein Knecht wird im Reich mit großer Verantwortung geehrt werden. Der Herr »wird ihn über seine ganze Habe setzen«.
24,48-51 Der böse Knecht stellt den Namenschristen dar, dessen Verhalten durch die Aussicht auf die Wiederkunft seines Herrn nicht beeinflusst wird. Er fängt an, »seine Mitknechte zu schlagen, und isst und trinkt mit den Betrunkenen«. Solches Verhalten zeigt, dass er nicht für das Reich vorbereitet ist. Wenn der König kommt, wird er ihn bestrafen und »ihm sein Teil festsetzen bei den Heuchlern«, wo die Menschen weinen und mit den Zähnen knirschen.
Dieses Gleichnis bezieht sich dara uf, dass Christus als Messiaskönig sichtb ar auf die Erde wiederkommt. Aber das Prinzip gilt auch für die Entrückung. Viele Namenschristen zeigen durch ihre Feindschaft gegen das Volk Gottes und ihre Verbrüderung mit den Gottl osen, dass sie nicht auf die Wiederkunft Christi warten. Für sie wird das Kommen Christi Gericht und nicht Segen bedeuten. H. Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (25,1-13)
25,1-5 Das erste Wort, »dann«, weist auf Kapitel 24 zurück und zeigt, dass dieses Gleichnis seinen Platz in der Zeit vor und während der Wiederkunft des Königs auf die Erde hat. Jesus vergleicht das Reich der Himmel zu dieser Zeit »mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und hinausgingen, dem Bräutigam entgegen. Fünf aber von ihnen waren … klug« und hatten Öl für ihre Lampen, die anderen hatten keines. Während sie warteten, schliefen alle ein. Die fünf klugen Jungfrauen stehen für die wahren Jünger Christi während der Trübsal. Die Lampen sprechen vom Bekenntnis, wobei das Öl allgemein als Bild des Heiligen Geistes gesehen wird. Die törichten Jungfrauen verkörpern diejenigen, die vorgeben, an der messianischen Hoffnung festzuhalten, sich aber nie bekehrten und deshalb den Heiligen Geist nicht haben. Der Bräutigam ist Christus, der König; die Zeit des Wartens ist die Zeit zwischen seinen beiden Kommen. Die Tatsache, dass alle zehn Jungfrauen schliefen, zeigt, dass es äußerlich kaum einen Unterschied zwischen beiden gab.
25,6 Um Mitternacht wurde der Bräutigam angekündigt. Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, dass seine Ankunft durch erschreckende Zeichen angekündigt wird.
25,7-9 »Da standen alle jene Jungfrauen auf und schmückten ihre Lampen«, denn alle wollten bereit sein. Die törichten jedoch, denen das Öl fehlte, baten die anderen, ihnen etwas abzugeben, doch diese sandten sie hin, selbst Öl zu kaufen. Die Weigerung der Klugen scheint selbstsüchtig zu sein, aber im geistlichen Bereich kann niemand dem anderen den Geist geben. Natürlich kann der Geist nicht gekauft werden, aber die Bibel verwendet hier das sprachliche Bild des Kaufens der Erlösung ohne Geld und ohne Preis.
25,10-12 Während die törichten Jungfrauen fort waren, »kam der Bräutigam«. Die syrische Bibelübersetzung und die Vulgata sagen hier, dass er mit seiner Braut kam. Das passt ausgezeichnet in das prophetische Bild. Der Herr Jesus wird von seiner Hochzeit mit seiner Braut, der Gemeinde,  zurückkehren  (1. Thess  3,13). (Die Hochzeit findet im Himmel nach der Entrückung statt; s. Offb 19,7; 21,2.9.) Der treue Überrest der Heiligen der Trübsalszeit wird mit ihm zum Hochzeitsfest gehen. Das Hochzeitsfest ist eine passende Bezeichnung der Freude und der Segnungen des irdischen Reiches Christi. Die klugen Jungfrauen »gingen mit ihm hinein zur Hochzeit; und die Tür wurde verschlossen«. Es ist dann für alle anderen zu spät, in das Reich zu gelangen. Als die anderen Jungfrauen kamen und hineinwollten, betonte der Bräutigam, dass er sie nicht kenne – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie nie wiedergeboren wurden.
25,13 Die Lehre, die wir nach Jesu Worten aus diesem Gleichnis ziehen sollen, heißt: Wir sollen wachen, weil Tag und Stunde seines Kommens unbekannt sind. Die Gläubigen sollten leben, als ob der Herr jeden Augenblick zurückkommen würde. Sind unsere Lampen geschmückt und mit Öl gefüllt? I. Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (25,14-30)
25,14-18 Auch dieses Gleichnis lehrt, dass es treue und untreue Knechte gibt, wenn der Herr zurückkehrt. In der Geschichte geht es um einen Mann, der seine Knechte zusammenrief, ehe er auf eine lange Reise ging, und jedem einen bestimmten Geldbetrag gab, »einem jeden nach seiner eigenen Fähigkeit«. Einer erhielt fünf Talente, ein anderer zwei und der letzte eines. Sie sollten mit diesem Geld arbeiten, damit es für den Herrn Gewinn brächte. Der Mann mit den fünf Talenten gewann »andere fünf Talente« hinzu. Auch der Mann mit den zwei Talenten konnte das Kapital verdoppeln. Aber der Mann mit dem einen Talent vergrub das Geld seines Herrn. Man kann leicht erkennen, dass Christus der Herr der Knechte ist und sich die lange Reise auf die Zeit zwischen seiner Entrückung und Wiederkunft bezieht. Die drei Knechte sind Israeliten, die während der Trübsal leben und dafür verantwortlich sind, die Interessen des ab wesenden Herrn zu vertreten. Ihnen wird Verantwortung entsprechend ihren persönlichen Fähigkeiten übertragen.
25,19-23 »Nach langer Zeit aber kommt der Herr jener Knechte und rechnet mit ihnen ab.« Das ist ein Bild für die Wiederkunft des Herrn. Die beiden ersten bekommen exakt das gleiche Lob: »Recht so, du guter und treuer Knecht! Über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; geh hinein in die Freude deines Herrn.« Es ging in ihrem Dienst nicht so sehr darum, wie viel sie verdient hatten, sondern darum, wie sehr sie sich angestrengt hatten. Jeder hatte alle seine Fähigkeiten eingesetzt und hundert Prozent Gewinn gemacht. Diese beiden stehen für die wahren Gläubigen, deren Belohnung die Segnungen des messianischen Reiches sein werden.
25,24.25 Der dritte Knecht hatte seinem Herrn nichts als Beleidigungen und Ausreden zu bieten. Er klagte ihn an, hart und unvernünftig zu sein: »Du erntest, wo du nicht gesät, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast.« Er entschuldigte sich, dass er, vor Angst gelähmt, das Talent vergraben hatte. Dieser Knecht war zweifellos ungläubig, denn kein echter Knecht des Herrn würde solche Gedanken über seinen Herrn haben.
25,26.27 Sein Herr tadelte ihn, dass er böse und faul sei. Wenn er schon so von seinem Herrn dachte, warum hatte er das Geld nicht auf der Bank angelegt, um wenigstens Zinsen zu erwirtschaften? Ganz nebenbei zeigt der Meister in V. 26, dass er die gegen ihn gerichteten Anklagen nicht gelten lässt. Vielmehr sagt er im Grunde: »Wenn du meinst, ich sei ein solcher Meister, dann hättest du weitaus mehr Grund gehabt, mit dem Talent zu arbeiten. Deine Worte verurteilen dich, statt dich zu entschuldigen.«
25,28.29 Wenn dieser Mann ebenso ein Talent mit seinem Talent erwirtschaftet hätte, so hätte er dasselbe Lob wie die anderen erhalten. So aber hatte er nur ein Loch im Boden vorzuweisen! Das Talent wurde ihm genommen und demjenigen gegeben, der zehn Talente hatte. Das entspricht einem festen geistlichen Gesetz: »Jedem, der hat, wird gegeben und überreichlich gewährt werden; von dem aber, der nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, weggenommen werden.« Diejenigen, die sich für die Ehre Gottes einsetzen wollen, werden auch die Mittel dazu empfangen. Je mehr sie tun, desto mehr werden sie auch befähigt, für Gott zu wirken. Andererseits verlieren wir, was wir nicht nutzen. Unfruchtbarkeit ist der Lohn für Trägheit.
Die  in  V. 27  erwähnten  »Wechsler« stehen für Menschen, denen wir unseren Besitz geben sollten, wenn wir ihn nicht selbst für den Herrn verwenden können. Die Wechsler sind in diesem Fall Missionare, Bibelgesellschaften, christliche Verlage, Gesellschaften, die biblische Botschaften im Radio verbreiten, usw. In einer Welt wie der unseren gibt es keine Entschuldigung dafür, Geld nicht arbeiten zu lassen. Pierson empfiehlt: Ängstliche Menschen, die für den mutigen und unabhängigen Dienst im Reich des Herrn nicht geeignet sind, können ihre mangelnden Fähigkeiten mit dem Mut und der Weisheit anderer verbinden, die ihre Gaben und ihren Besitz für den Herrn und seine Gemeinde verwenden … Der Verwalter hat Geld oder andere Gaben, die von Nutzen sein können, aber er hat nicht genug Glauben, Voraussicht, praktische Energie und Weisheit. Die »Wechsler« des Herrn können ihm zeigen, wie sie für den Herrn Gewinn machen können … Die Gemeinde existiert teilweise dadurch, dass die Kraft eines Gliedes der Schwachheit eines anderen aufhilft, und durch die Zusammenarbeit aller kann die Stärke des Geringsten und Schwächsten verstärkt werden.49
25,30 Der »unnütze Knecht« wurde hinausgeworfen – vom Reich ausgeschlossen. Er teilte das schreckliche Geschick der Verlorenen. Er wurde nicht für die Tatsache verdammt, dass er das Geld nicht investiert hatte, sondern sein Mangel an guten Werken zeigte nur, dass er den rettenden Glauben nicht hatte. J. Der König richtet die Nationen (25,31-46)
25,31 Dieser Abschnitt beschreibt das Gericht der Nationen, das vom Richterstuhl Christi und dem Gericht vor dem großen weißen Thron unterschieden werden muss.
Das Gericht des Richterstuhles Christi, wo nur die Gläubigen geprüft und belohnt werden, liegt zeitlich nach der Entrückung (Röm 14,10; 1. Kor 3,1115;  2. Kor  5,9.10).  Das  Gericht  vor  dem großen weißen Thron findet in der Ewigkeit nach dem Tausendjährigen Reich statt. Die ungläubigen Toten werden dort gerichtet und dem Feuersee übergeben (Offb 20,11-15).
Das Gericht der Nationen oder Heiden (das griechische Wort kann beides bedeuten), findet auf der Erde statt, nachdem Christus wiedergekommen ist, um zu regieren, wie Vers 31 unmissverständlich sagt: »Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm.« Wenn wir recht in der Annahme gehen, es mit der Prophezeiung aus Joel 4 gleichzusetzen, dann ist sein Ort das Tal Joschafat bei Jerusalem (Joel 4,2). Die Nationen werden danach gerichtet, wie sie Christi jüdische Brüder während der Drangsal behandelt haben (Joel 4,1.2.12-14; Matth 25,31-46).
25,32 Es ist wichtig festzuhalten, dass hier drei Gruppen von Menschen erwähnt werden – Schafe, Böcke und Christi Brüder (die von ihm erkauften Angehörigen des gläubigen Überrests). Die ersten beiden Gruppen, über die Christus zu Gericht sitzt, sind die Nationen, die während der Trübsal leben. Die dritte Gruppe besteht aus den treuen jüdischen Brüdern Christi während der Drangsal, die sich weigern, trotz der zunehmenden Verfolgung seinen Namen zu verleugnen.
25,33-40 Der König stellt »die Schafe zu seiner Rechten, … die Böcke aber zur Linken«. Er bittet dann die Schafe in sein Reich, das ihnen »bereitet ist von Grundlegung der Welt an«. Als Grund wird angegeben, dass sie ihn speisten, als er Hunger hatte, ihm zu trinken gaben, als er Durst hatte, ihn als Fremden aufnahmen, ihm Kleider gaben, als er nackt war, ihn während seiner Krankheit und im Gefängnis besucht haben. Die gerechten Schafe geben an, von all dem nichts zu wissen, da er doch zu ihrer Zeit gar nicht auf der Erde gelebt hat. Er erklärt ihnen, dass sie, indem sie »einem der geringsten dieser meiner Brüder« eine Freundlichkeit erwiesen, ihm selbst diese Freundlichkeit erwiesen haben. Was immer für einen seiner Jünger getan wird, wird so belohnt, als habe man es ihm selbst getan.
25,41-45 Die ungerechten Böcke sollen von ihm weggehen »in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln«, weil sie während der schrecklichen Zeit der Bedrängnis Jakobs nicht für ihn gesorgt haben. Als sie sich selbst entschuldigen, sie hätten ihn nie gesehen, erinnert er sie, dass sie ihn selbst außer Acht ließen, indem sie seine Jünger vernachlässigt haben.
25,46 So gehen die Böcke »zur ewigen Strafe«, die Schafe »aber in das ewige Leben«. Dadurch tun sich jedoch zwei Probleme auf. Erstens scheint dieser Abschnitt zu lehren, dass die Nationen in ihrer Gesamtheit gerettet werden oder verlorengehen. Zweitens erweckt die Erzählung den Eindruck, die Schafe würden durch gute Werke gerettet werden und die Böcke deshalb verlorengehen, weil sie nichts Gutes getan haben. Zur ersten Schwierigkeit sollte man sich daran erinnern, dass Gott an ganzen Völkern handelt. In der Geschichte des AT finden wir viele Beispiele, wo ganze Völker wegen ihrer Sünde bestraft werden (Jes 10,12-19; 47,5-15; Hes 25,6.7; Amos 1,3.6.9.11.13; 2,1.4.6; Ob 10; Sach 14,1-5). Es ist nicht unvernünftig zu glauben, dass Völker auch später noch göttliche Vergeltung erfahren. Das bedeutet nicht, dass jede einzelne Person eines Volkes am Ergebnis beteiligt sein wird, sondern es wird das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit sowohl auf der Volks- als auch auf der persönlichen Ebene angewandt. Das Wort ethnē, das in diesem Abschnitt mit »Nationen« übersetzt wird, kann ebenso mit dem Wort »Heiden« übersetzt werden. Einige glauben, dieser Abschnitt beschreibe das Gericht einzelner Heiden. Ob es um ganze Nationen oder Einzelne geht, es bleibt das Problem, wie eine solch große Menschenmasse in Israel vor dem Herrn versammelt werden kann. Vielleicht ist es das Beste, hier an Repräsentanten von Nationen oder Menschengruppen zu denken, die zum Gericht versammelt sind.
Wenn wir das zweite Problem bedenken, so ist festzuhalten, dass dieser Abschnitt nicht dazu benutzt werden kann, die Erlösung durch Werke zu lehren. Das einheitliche Zeugnis der Bibel lautet, dass Errettung durch den Glauben und nicht durch Werke geschieht (Eph 2,8.9). Aber die Bibel lehrt ebenso deutlich, dass wahrer Glaube gute Werke hervorbringt. Wenn es keine guten Werke gibt, dann ist das ein Zeichen dafür, dass dieser Mensch nie wiedergeboren wurde. So müssen wir hier verstehen, dass die Heiden nicht gerettet werden, indem sie dem jüdischen Überrest Beistand erwiesen haben, sondern erkennen, dass ihre Freundlichkeit in ihrer Liebe zum Herrn wurzelt.
Drei andere Punkte sollten hier noch erwähnt werden. Erstens wird vom Reich gesagt, dass es für die Gerechten von Grundlegung der Welt an bereitsteht (V. 34), während die Hölle für den Teufel und  seine  Engel  bereitet  ist  (V. 41).  Gottes Wille ist es, dass Menschen gesegnet werden, die Hölle ist ursprünglich nicht für Menschen geschaffen worden. Aber wenn Menschen das Leben willentlich ablehnen, dann wählen sie damit zwangsläufig den Tod.
Der zweite Punkt ist, dass der Herr Jesus vom »ewigen Feuer« sprach (V. 41), von »ewiger Strafe« (V. 46) und von »ewigem  Leben«  (V. 46).  Derselbe,  der  das ewige Leben lehrte, lehrte auch die ewige Strafe. Weil dasselbe Wort für »ewig« benutzt wird, um beides zu beschreiben, ist es inkonsequent, wenn man das eine ohne das andere akzeptiert. Wenn das Wort, das mit »ewig« übersetzt wird, nicht »für immer« bedeutet, dann gibt es kein anderes Wort mehr im Griechischen, das diese Bedeutung haben könnte. Aber wir wissen, dass es »ewig« bedeutet, weil das Wort auch benutzt wird, um die Ewigkeit Gottes zu beschreiben (1. Tim 1,17). Schließlich erinnert uns das Gericht der Heiden stark daran, dass Christus und sein Volk eine Einheit sind; was sein Volk trifft, schmerzt auch ihn. Wir haben sehr viel Gelegenheit zu zeigen, dass wir ihn lieben, indem wir denen Freundlichkeit erweisen, die ihn lieben. XIV. Das Leiden des Königs und sein Tod (Kap. 26 und 27)
A. Der Plan, Jesus zu töten (26,1-5)
26,1.2 Zum vierten und letzten Mal in diesem Evangelium kündigt unser Herr seinen Jüngern an, dass er sterben muss (16,21; 17,23; 20,18). Seine Ankündigung macht die enge zeitliche Beziehung zwischen dem Passah und seiner Kreuzigung deutlich: »Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passah ist, und der Sohn des Menschen wird überliefert, um gekreuzigt zu werden.« In diesem Jahr würde das Passah seine wahre Bedeutung erfahren. Das Passahlamm war nun endlich angekommen und würde bald geschlachtet werden.
26,3-5 Sobald er diese Worte ausgesprochen hatte, »versammelten sich die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes in dem Hof des Hohenpriesters, der Kaiphas hieß«, um ihr Vorgehen zu planen. Sie wollten, dass er heimlich ergriffen und ermordet würde. Aber sie hielten es nicht für ratsam, dies während des Festes geschehen zu lassen, weil das Volk mit Gewalt auf seine Hinrichtung reagieren könnte. Es ist unglaublich, dass die religiösen Führer Israels auch diejenigen waren, die den Tod ihres Messias planten. Sie hätten die Ersten sein sollen, die ihn erkannten und ihn auf den Thron setzten. Stattdessen standen sie unter seinen Feinden an vorderster Front. B. Jesus wird in Betanien gesalbt (26,6-13)
26,6.7 Dieser Vorfall hebt sich wohltuend vom Verrat der Priester, der Kleinlichkeit der Jünger und der Hinterlist des Judas ab. »Als aber Jesus in Betanien war, im Hause Simons, des Aussätzigen, kam eine Frau« herein und goss ein Fläschchen teuerstes Salböl über sein Haupt. Die Kostbarkeit ihres Opfers drückte die Tiefe ihrer Hingabe an den Herrn Jesus aus, nämlich die Tatsache, dass ihr nichts zu gut für ihn war.
26,8.9 Seine Jünger, und zwar Judas im Besonderen (Joh 12,4.5), sahen das als unglaubliche Verschwendung an. Sie dachten, dass das Geld besser den Armen hätte gegeben werden sollen.
26,10-12 Jesus korrigierte jedoch ihr verzerrtes Denken. Die Tat dieser Frau war keine Verschwendung, sondern die beste Verwendung. Und nicht nur das, sie tat es genau zur rechten Zeit. Den Armen kann immer geholfen werden. Aber nur zu einer Zeit in der Weltgeschichte konnte der Heiland für seine Grablegung gesalbt werden. Dieser Moment war nun gekommen, und gerade diese Frau hatte aufgrund ihrer geistlichen Unterscheidungsgabe die entsprechende Gelegenheit ergriffen. Sie glaubte den Voraussagen des Herrn über seinen Tod und muss erkannt haben, dass sie ihm diesen Dienst jetzt oder nie mehr tun konnte. Wie sich herausstellte, hatte sie recht. Diejenigen Frauen, die seinen Leib nach seiner Grablegung salben wollten, wurden durch die Auferstehung daran gehindert (Mk 16,1-6).
26,13 Der Herr machte ihre einfache Liebestat unsterblich: »Wahrlich, ich sage euch: Wo dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.« Jede Tat, die aus echter Anbetung geschieht, erfüllt die Vorhöfe des Himmels mit Wohlgeruch und ist im Gedächtnis des Herrn unauslöschlich eingeprägt. C. Der Verrat des Judas (26,14-16)
26,14.15 »Dann ging einer von den Zwölfen« hin – einer der Jünger, die mit dem Herrn Jesus gelebt hatten, mit ihm gereist waren, seine Wunder gesehen hatten, seine unvergleichliche Lehre gehört hatten und das Wunder seines sündlosen Lebens gesehen hatten. Es war einer, den Jesus »mein Freund, auf den ich vertraute, der mein Brot aß« nennen konnte (Ps 41,10) – es war derjenige, der seine Ferse gegen den Sohn Gottes erhob. Judas Iskariot ging zu den Hohenpriestern und kam mit ihnen überein, seinen Meister für dreißig Silberlinge zu verkaufen. Die Priester bezahlten ihn sofort – eine lächerliche Summe von höchstens 4000 Euro. Es ist erschreckend, den Unterschied zwischen der Frau, die Jesus im Haus des Simon gesalbt hatte, und Judas zu sehen. Ihr war der Herr viel wert, Judas nur sehr wenig.
26,16 Und so ging einer, der von Jesus nur Freundlichkeit erfahren hatte, hin, um seinen Teil des schrecklichen Handels zu erfüllen.
D. Das letzte Passahmahl (26,17-25)
26,17 Es war »am ersten Tag des Festes der ungesäuerten Brote« – eine Zeit, in der in den jüdischen Häusern kein Sauerteig mehr vorhanden war. Welche Gedanken müssen dem Herrn durch den Kopf gegangen sein, als er die Jünger nach Jerusalem sandte, um das Passah zu bereiten. Jede Einzelheit dieses Mahles hatte außerordentliche Bedeutung.
26,18-20 Jesus sandte die Jünger zu einem bestimmten, nicht mit Namen genannten Mann, der sie zu dem Haus führen würde, in dem er mit ihnen Passah feiern wollte. Vielleicht war die Unbestimmtheit der Anweisungen notwendig, um eventuelle Mithörer zu täuschen. Jedenfalls sehen wir, wie gut Jesus einzelne Menschen kennt, wo sie sind und wie sehr sie gewillt sind, für ihn zu arbeiten. Man beachte seine Worte: »Der Lehrer sagt: Meine Zeit ist nahe; bei dir halte ich das Passah mit meinen Jüngern.« Er ging seinem Tod mit Haltung entg egen. In vollkommener Ruhe bereitete er das Mahl vor. Welch ein Vorrecht für diesen uns unbekannten Mann, sein Haus für dieses letzte Passah zur Verfügung zu stellen!
26,21-24 Als sie aßen, machte Jesus die schockierende Ankündigung, dass einer aus ihrer Mitte ihn verraten würde. Die Jünger waren von Sorge, Verdruss und Selbstmisstrauen erfüllt. Jeder fragte: »Ich bin es doch nicht, Herr?« Als alle außer Judas gefragt hatten, sagte Jesus ihnen, dass es derjenige wäre, der mit ihm die Hand in die Schüssel eintauchen würde. Dann nahm der Herr ein Stück Brot, tauchte es in den Fleischsaft und gab es Judas (Joh 13,26) – ein Zeichen besonderer Zuneigung und Freundschaft. Er erinnerte sie daran, dass sich nicht vermeiden ließ, was mit ihm geschehen würde. Aber das befreite den Verräter nicht von seiner Verantwortung. Es wäre besser für ihn, »wenn er nicht geboren wäre«. Judas entschied sich in vollem Bewusstsein, den Heiland zu verraten, und war deshalb für sein Handeln voll verantwortlich.
26,25 Als Judas schließlich offen fragte, ob er derjenige sei, antwortete Jesus: »Du hast es gesagt.« E. Das erste Herrenmahl (26,26-29) In Johannes 13,30 sehen wir, dass Judas hinausging, als er das Brot erhalten hatte, und dass es Nacht war. Wir können daraus schließen, dass er bei der Einsetzung des Herrenmahles nicht dabei war (obwohl dieser Punkt recht umstritten ist).
26,26 Nachdem Jesus sein letztes Passah gegessen hatte, setzte er das Mahl ein, das wir unter dem Namen »Herrenmahl« oder »Abendmahl« kennen. Die notwendigen Bestandteile – Brot und Wein – waren schon auf dem Tisch, weil sie auch zum Passahmahl gehörten. Jesus gab ihnen nun eine neue Bedeutung. Zuerst »nahm Jesus Brot, segnete, brach und gab es den Jüngern und sprach: Nehmt, esst, dies ist mein Leib!« Weil sein Leib noch nicht am Kreuz hingegeben war, ist es eindeutig, dass er hier sinnbildlich spricht, er benutzt das Brot als Symbol seines Leibes.
26,27.28 Das Gleiche gilt für den Kelch; das Behältnis steht hier für seinen Inhalt. Der Kelch enthielt die Frucht des Weinstocks, die wiederum ein Symbol für das »Blut des Bundes« war. Der neue Bund der Gnade, der ohne Voraussetzungen geschlossen wurde, würde durch sein kostbares Blut unterzeichnet werden, das er für viele zur Vergebung der Sünden vergießen würde. Sein Blut reichte aus, um für alle Sündenvergebung zu schaffen. Aber hier sagt er, es würde für viele vergossen, weil es sich nur für diejenigen auswirkt, die daran glauben.
26,29 Dann erinnerte der Heiland seine Jünger daran, dass er »von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken werde«, bis er zur Erde zurückkommt, um zu herrschen. Dann hat der Wein eine neue Bedeutung, er spricht dann von der Freude und dem Segen des Reiches seines Vaters. Oft wurde die Frage gestellt, ob man zum Herrenmahl gesäuertes oder ungesäuertes Brot verwenden solle, Traubensaft oder Wein. Es gibt kaum Zweifel daran, dass der Herr ungesäuertes Brot und vergorenen Traubensaft verwendet hat (damals war jeder Traubensaft vergoren, d. h. zu Wein geworden). Diejenigen, die argumentieren, dass gesäuertes Brot den Symbolcharakter zerstört (Sauerteig als Bild der Sünde), sollten bedenken, dass das Gleiche für die Gärung gilt. Es ist tragisch, wenn wir uns mit den materiellen Dingen beschäftigen, statt auf den Herrn selbst zu sehen. Paulus betonte, es gehe um die geistliche Bedeutung des Brotes, nicht um das Brot an sich. »Denn auch unser Passah, Christus, ist geschlachtet. Darum lasst uns Festfeier halten, nicht mit altem Sauerteig, auch nicht mit Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit Ungesäuertem der Lauterkeit  und  Wahrheit«  (1. Kor  5,7.8).  Es geht nicht um den Sauert eig im Brot, sondern um den Sauerteig in unserem Leben! F. Die selbstbewussten Jünger (26,30-35)
26,30 Nach dem Herrenmahl sang die kleine Gruppe ein Loblied, wahrscheinlich  aus  den  Psalmen  113 – 118,  dem »Großen Hallel«. Dann verließen sie Jerusalem, überquerten den Kidron und stiegen den Westhang des Ölberges zum Garten Gethsemane hinauf.
26,31 Während seines ganzen irdischen Dienstes hatte der Herr Jesus seine Jünger auf den vor ihnen liegenden Weg nachdrücklich hingewiesen. Nun sagte er ihnen, dass sie sich noch in dieser Nacht alle von ihm trennen würden. Die Angst würde sie übermannen, sobald der Sturm losbrechen würde. Um ihre eigene Haut zu retten, würden sie ihren Meister verlassen. Die Prophezeiung Sacharjas würde sich erfüllen: »Schlage den Hirten, dass die Schafe sich zerstreuen« (Sach 13,7).
26,32 Aber er ließ sie nicht ohne Hoffnung. Obwohl sie sich ihrer Verbindung mit ihm schämen würden, würde er sie doch nie verlassen. Nachdem er aus den Toten auferweckt sein würde, würde er sie in Galiläa wiedertreffen. Welch ein wunderbarer Freund, der nie enttäuscht!
26,33.34 Petrus wandte nun voreilig ein, dass ihn zwar die anderen verlassen würden, er selbst aber »niemals«. Jesus korrigierte sein Vorpreschen (»niemals«): »In dieser Nacht … dreimal.« Ehe der Hahn krähen würde, würde der impulsive Jünger seinen Meister dreimal verleugnet haben.
26,35 Aber Petrus bestand weiter auf seiner Treue: er würde eher mit Christus sterben, als ihn zu verleugnen. Alle anderen Jünger schlossen sich seiner Meinung an. Sie meinten es ehrlich, sie sagten, was sie dachten. Sie kannten eben nur ihre eigenen Herzen noch nicht richtig. G. Der Kampf in Gethsemane (26,36-46) Niemand kann diesen Bericht aus dem Garten Gethsemane lesen, ohne zu merken, dass er heiliges Land betritt. Jeder, der hier exegetische Anmerkungen machen will, verspürt eine enorme Ehrfurcht und den Wunsch zur Zurückhaltung. Wie Guy King schrieb: »Der überragende Charakter des Ereignisses lässt einen fürchten, man könne es durch die Berührung irgendwie verderben.«
26,36-38 Nachdem Jesus den Garten Gethsemane betreten hatte (Gethsemane bedeutet so viel wie Olivenpresse), befahl er seinen elf Jüngern, sich mit ihm niederzusetzen und zu warten. Dann nahm er »Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus« weiter mit in den Garten hinein. Könnte das bedeuten, dass verschiedene Jünger unterschiedlich fähig sind, mit dem Herrn seine Todesangst mitzufühlen?
Er »fing an, betrübt und geängstigt zu werden«. Er sagte Petrus, Jakobus und Johannes offen, dass seine Seele bis zum Tod betrübt sei. Das war zweifellos der Abscheu, der seine heiligen Seele erfüllte, als er voraussah, was es für ihn bedeutete, für uns das Sündopfer zu sein. Wir, die wir sündig sind, können nicht ermessen, was es für ihn, den Sündlosen, bedeutet haben mag, für uns zur Sünde gemacht zu werden (2. Kor 5,21).
26,39 Es überrascht nicht, dass er die drei verließ und »ein wenig weiter« in den Garten hineinging. Niemand konnte an seinem Leiden teilhaben oder mit seinen Worten beten: »Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber! Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.«
Ehe wir denken, dass dieses Gebet Zögern oder die Bitte nach einem anderen Weg ausdrückt, sollten wir uns an Jesu Worte in Johannes 12,27.28 erinnern: »Jetzt ist meine Seele bestürzt. Und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!« Als er bat, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge, bat er nicht darum, nicht ans Kreuz zu müssen. Das war doch der Grund, warum er in diese Welt gekommen war! Bei diesem Gebet ging es nicht darum, eine Antwort zu erhalten, sondern darum, uns etwas zu lehren. Jesus sagte im Grunde: »Mein Vater, wenn es einen anderen Weg gibt, damit gottlose Sünder gerettet werden können, als ans Kreuz zu gehen, dann offenbare das jetzt! Aber bei allem soll deutlich werden, dass ich nichts möchte, was deinem Willen zuwiderläuft.«
Wie lautete die Antwort? Es gab keine, der Himmel schwieg. Doch diese beredte Stille zeigt uns, es gab für Gott keinen anderen Weg, um schuldige Sünder zu rechtfertigen, als dass Christus, der sündlose Retter, an unserer Stelle starb.
26,40.41 Als er zu den Jüngern zurückkam, schliefen sie. Ihr Geist zwar war willig, aber ihr Fleisch war schwach. Wir wagen es nicht, sie zu verurteilen, wenn wir an unser eigenes Gebetsleben denken, unser Schlaf ist meist besser als unser Gebet, und unsere Gedanken wandern umher, wenn wir wachsam sein sollten. Wie oft muss der Herr zu uns das Gleiche sagen wie zu Petrus und den anderen zwei: »Also nicht eine Stunde konntet ihr mit mir wachen? Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!«
26,42 »Wiederum, zum zweiten Mal, ging er hin und betete.« Wieder unterstellte er sich dem Willen Gottes. Er würde den Kelch des Leidens und des Todes bis zur Neige trinken. In seinem Gebetsleben war er notwendigerweise allein. Er lehrte die Jünger beten, und er betete in ihrer Anwesenheit, aber er betete niemals mit ihnen. Die Einzigartigkeit seiner Person und seines Werkes schlossen andere von der Beteiligung an seinem Gebetsleben aus.
26,43-45 Als er zum zweiten Mal zu seinen Jüngern kam, schliefen sie schon wieder, und beim dritten Mal war es ebenso: Er betete, sie schliefen. Daraufhin sagte er zu ihnen: »So schlaft denn fort und ruht aus. Siehe, die Stunde ist nahe gekommen, und der Sohn des Menschen wird in Sünderhände überliefert.«
26,46 Die Gelegenheit des Wachens mit ihm war vorbei. Die Tritte des Verräters waren schon zu hören. Jesus sagte nicht: »Steht auf, lasst uns gehen!«, um zu fliehen, sondern um dem Feind ins Angesicht zu sehen.
Ehe wir den Garten verlassen, sollten wir noch einmal innehalten und sein Schluchzen hören, seine Schmerzen bedenken und ihm von Herzen danken. H. Jesus wird in Gethsemane verraten und gefangen genommen (26,47-56) Der Verrat an dem Heiland durch eines seiner eigenen Geschöpfe ist der größte Widersinn der Geschichte. Wenn wir nicht um die Verdorbenheit des Menschen wüssten, könnten wir uns diesen gemeinen, unentschuldbaren Verrat des Judas nicht erklären.
26,47 Während Jesus noch redete, kam Judas »und mit ihm eine große Menge mit Schwertern und Stöcken«. Sicherlich waren die Waffen nicht Judas’ Idee gewesen, denn er hatte noch nie gesehen, dass sich der Herr gewehrt oder zurückgeschlagen hätte. Vielleicht bedeuteten die Waffen die Entschlossenheit der Hohenpriester und Ältesten, Jesus ohne Möglichkeit des Entkommens zu fangen.
26,48 Judas wollte als Zeichen einen Kuss verwenden, damit der Mob Jesus von seinen Jüngern unterscheiden konnte. Das allgemeine Liebeszeichen wurde hier auf das Äußerste pervertiert.
26,49 Als Judas sich dem Herrn näherte, sagte er: »Sei gegrüßt, Rabbi!«, und küsste ihn überschwänglich. In diesem Abschnitt werden zwei unterschiedliche griechische Begriffe für das Wort küssen verwendet. Der erste in Vers 48 ist das normale Wort für einen Kuss. Aber in Vers 49 wird ein stärkeres Wort verwendet, das wiederholtes oder demonstratives Küssen bedeutet.
26,50 Gefasst und mit überführender Eindringlichkeit fragte Jesus: »Freund, woz u bist du gekommen?« Zweifellos brannte diese Frage wie Feuer, doch alles ging auf einmal sehr schnell. Die Menge kam und ergriff den Herrn Jesus ohne Zögern.
26,51 Einer der Jünger – aus Johannes 18,10 wissen wir, dass es Petrus war – »zog sein Schwert und schlug den Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm das Ohr ab«. Es ist unwahrscheinlich, dass Petrus nach dem Ohr gezielt hatte, er wollte den Knecht zweifellos töten. Dieses Ziel war so erbärmlich wie die Beurteilung der göttlichen Vorsehung durch Petrus.
26,52 Die moralische Vollkommenheit des Herrn Jesus strahlt hier in aller Herrlichkeit. Erst tadelte er Petrus: »Stecke dein Schwert wieder an seinen Ort! Denn alle, die das Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen.« Im Reich Christi werden Siege nicht mit fleischlichen Mitteln errungen. Wenn man sich im geistlichen Kampf auf mater ielle Waffen verlässt, dann sind Katastrophen geradezu vorprogrammiert. Mögen die Feinde des Reiches Schwerter gebrauchen, sie werden schließlich geschlagen werden. Der Streiter Christi sollte sich auf das Gebet, das Wort Gottes und die Macht eines geiste rfüllten Lebens verlassen. Wir erfahren von dem Arzt Lukas, dass Jesus das Ohr von Malchus – denn so hieß der verletzte Knecht – heilte (Lk 22,51; Joh 18,10). Ist das nicht ein wunderbarer Gnadenerweis? Er liebte diejenigen, die ihn hassten, und war freundlich zu denen, die ihm nach dem Leben trachteten.
26,53.54 Wenn Jesus gewollte hätte, so hätte er der Menge leicht ohne die Hilfe des Schwertes von Petrus widerstehen können. Er hätte sofort »mehr als zwölf Legionen Engel« anfordern und erhalten können. Aber dadurch wäre Gottes Plan nur vereitelt worden. Die Vorhersagen der Schrift mussten erfüllt werden: der Verrat an ihm, sein Leiden, seine Kreuzigung und Auferstehung.
26,55 Dann erinnerte Jesus die Menge daran, wie töricht es war, ihn mit Waffengewalt zu holen. Sie hatten nie gesehen, dass er sich auf Gewalt verlassen hätte oder auf Raub aus gewesen wäre. Stattdessen war er ein stiller Lehrer, der sich täglich im Tempel aufhielt. Sie hätten ihn dort leicht festnehmen können, hatten es aber nicht getan. Warum kamen sie nun »mit Schwertern und Stöcken«? Menschlich gesprochen war ihr Verhalten mehr als irrational.
26,56 Doch der Heiland erkannte, dass die Bosheit des Menschen nur so viel ausrichten konnte, wie sie den Plan Gottes erfüllte. »Aber dies alles ist geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt werden.« Als die Jünger erkannten, dass es für ihren Meister kein Entkommen gab, verließen sie ihn alle und flohen erschrocken. Wenn ihre Feigheit nicht zu entschuldigen war, so ist es unser feiges Verhalten noch viel weniger. Sie hatten noch nicht den Heiligen Geist, den wir empfangen haben.
I. Jesus vor Kaiphas (26,57-68)
26,57 Es gab zwei Hauptverhandlungen gegen den Herrn Jesus: einen religiösen Prozess vor den jüdischen Führern und einen Zivilprozess vor der römischen Verwaltung. Wenn man die Berichte der vier Evangelien zusammen sieht, erkennt man, dass jeder Prozess drei Phasen hatte. Der Bericht von Johannes über den jüdischen Prozess zeigt, dass Jesus zuerst zu Hannas, dem Schwiegervater des Kaiphas, geführt wurde. Der Bericht des Matthäus beginnt mit der zweiten Phase bei »Kaiphas, dem Hohenpriester«. Der Hohe Rat war dort versammelt. Normalerweise wurde Angeklagten die Gelegenheit gegeben, ihre Verteidigung vorzubereiten. Aber die verzweifelten religiösen Führer führen ihr Vorhaben schnell aus. Sie verweigerten ihm in jeder Hinsicht eine faire Verhandlung.
In dieser Nacht zeigten die Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Ältesten, aus denen sich der Hohe Rat zusammensetzte, eine ausgesprochene Missachtung der Regeln, nach denen sie sonst vorzugehen hatten. Sie durften sich nicht nachts und zu keinem der jüdischen Feste versammeln. Sie durften keine Zeugen bestechen, um einen Meineid zu leisten. Ein Todesurteil durfte nicht ausgeführt werden, ehe nicht eine weitere Nacht vergangen war. Und ihre Rechtsprechung war nicht verbindlich, solange sie sich nicht in der »Halle aus gehauenem Stein« im Tempelbezirk versammelten. Aber sie wollten Jesus schnell aus dem Weg räumen, und so zögerte das jüdische Establishment nicht, seine eigenen Gesetze zu brechen.
26,58 Kaiphas war der Vorsitzende des Gerichts. Der Hohe Rat übte sein Amt offensichtlich als Ankläger und zugleich als die Gesamtheit der Geschworenen aus – eine, um es vorsichtig auszudrücken, ungewöhnliche Kombination. Jesus war der Angeklagte. Und Petrus war Zuschauer – aus sicherer Entfernung, denn er »setzte sich zu den Dienern, um das Ende zu sehen«.
26,59-61 Die jüdischen Führer hatten es schwer, falsche Zeugen gegen Jesus aufzustellen. Sie wären sicher erfolgreicher gewesen, hätten sie ihre wichtigste Verpflichtung im Prozess wahrgenommen und Beweise für Jesu Unschuld gesucht. Schließlich gaben zwei falsche Zeugen Jesu Worte verzerrt wieder. Eigentlich hatte Jesus gesagt: »Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten« (Joh 2,19-21). Nach diesen Zeugen jedoch hatte er damit gedroht, den Tempel in Jerusalem zu zerstören, um ihn dann wiederaufzubauen. In Wahrheit hatte er jedoch seinen eigenen Tod und seine Auferstehung vorhergesagt. Die Juden benutzten nun diese Voraussage als Entschuldigung für ihren Mord.
26,62.63 Zu diesen Anklagen sagte der Herr Jesus nichts. »Wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf« (Jes 53,7). Der Hohep riester, der sich durch sein Schweigen irritieren ließ, drängte ihn zu einer Aussage, doch noch immer sagte der Heiland nichts. Da sagte der Hohepriester zu ihm: »Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes!« Das mosaische Gesetz verlangte, dass ein Jude Zeugnis ablegt, sobald er vom Hohenpriester unter Eid genommen wurde (3. Mose 5,1).
26,64 Da Jesus ein gehorsamer Jude und unter das Gesetz gestellt war, antwortete er: »Du hast es gesagt.« Dann bestätigte er mit eindeutigen Worten, dass er göttlich und der Messias ist: »Doch ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels.« Im Prinzip sagte er damit: »Ich bin der Christus, der Sohn Gottes, wie du gesagt hast. Meine Herrlichkeit verbirgt sich jetzt in einem menschlichen Körper, und ich sehe aus wie jeder andere Mensch. Du siehst mich in den Tagen meiner Erniedrigung. Aber der Tag kommt, an dem ihr Juden mich als den Verherrlichten sehen werdet, in jeder Hinsicht Gott gleich, sitzend zu seiner Rechten und in den Wolken des Himmels wiederkommend.«
In Vers 64 wird zunächst Kaiphas angesprochen, dann jedoch die Juden, die für diejenigen Israeliten stehen, die zur Zeit der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit noch leben und deutlich sehen werden, dass er der Sohn Gottes ist. Lenski schreibt: »Manchmal wird gesagt, Jesus habe sich niemals ›Sohn Gottes‹ genannt. Hier sagt er unter Eid aus, dass er kein Geringerer ist.«50
26,65-67 Kaiphas begriff sehr wohl das Wesentliche. Jesus hatte auf eine messianische Prophezeiung Daniels angespielt: »Ich schaute in Gesichten der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn« (Dan 7,13). Die Reaktion des Hohenpriesters beweist, dass er Jesu Anspruch verstand, Gott gleich zu sein (s. Joh 5,18). Er zerriss sein Priesterkleidung zum Zeichen dafür, dass der Zeuge Gott gelästert hatte. Seine hasserfüllten, an die Mitglieder des Hohen Rats gerichteten Worte sprachen Jesus praktisch schuldig. Als er nach ihrem Urteil fragte, antworteten sie: »Er ist des Todes schuldig.« Der zweite Teil des Prozesses endete damit, dass die Richter Jesus schlugen und ihn anspuckten.
26,68 Einige verhöhnten seine Macht als Messias, indem sie ihn aufforderten, zu sagen, wer ihn geschlagen habe. Ihr gesamtes Vorgehen war nicht nur ungesetzlich, sondern ein einziger Skandal. J. Petrus verleugnet Jesus und weint bitterlich (26,69-75)
26,69-72 Die dunkelste Stunde im Leben des Petrus war nun gekommen. Als er im Hof saß, kam eine junge Frau und beschuldigte ihn, zu Jesus zu gehören. Er verneinte heftig und prompt: »Ich weiß nicht, was du sagst.« Dann ging er in das Torgebäude, vielleicht, damit man sich nicht weiter um ihn kümmerte. Aber eine andere Magd sagte öffentlich von ihm, dass er einer von denen gewesen sei, die »mit Jesus, dem Nazoräer« gegangen seien. Diesmal schwor er, dass er »den Menschen« nicht kenne. »Der Mensch« war sein Meister.
26,73.74 Wenig später kamen einige der Umstehenden und sagten: »Wahrhaftig, auch du bist einer von ihnen, denn auch deine Sprache verrät dich.« Jetzt genügte einfaches Leugnen nicht mehr, diesmal verstärkte er seine Aussage mit Verwünschungen und Schwüren: »Ich kenne den Menschen nicht!« Und als ob er nur auf diesen Satz gewartet hätte, »krähte der Hahn«.
26,75 Der vertraute Ton durchschnitt nicht nur die Stille der Morgenstunde, sondern auch das Herz des Petrus. Der am Boden zerstörte Jünger erinnerte sich daran, was sein Herr gesagt hatte, »ging hinaus und weinte bitterlich«. Es gibt einen scheinbaren Widerspruch zwischen den einzelnen Evangelien bezüglich der Anzahl und der Zeit der einzelnen Leugnungen. In Matthäus, Lukas und Johannes wird berichtet, dass Jesus sagte: »Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen« (Matth 26,34; s. a. Lk 22,34; Joh 13,38). In Markus sagte Jesus voraus: »… ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen« (Mk 14,30).
Vielleicht gab es mehr als einen Hahn, der gekräht hat, einer in der Nacht, ein anderer in der Dämmerung. Es ist auch möglich, dass die Evangelien von sechs verschiedenen Leugnungen berichten. Er verleugnete Christus vor: 1. einer jungen Frau (Matth 26,69.70), 2. einer anderen jungen Frau (Matth 26, 71.72),
3. vor den Umstehenden (Matth 26,73. 74; Mk 14,70.71),
4. einem Mann (Lk 22,58), 5. einem anderen Mann (Lk 22,59.60), 6. vor einem Knecht des Hohenpriesters (Joh 18,26.27).
Wir glauben dass sich dieser Knecht von den anderen unterschieden haben muss, denn er sagte: »Sah ich dich nicht in dem Garten bei ihm?« Von den anderen wird das nicht ausgesagt. K. Die Verhandlung am Morgen vor dem Hohen Rat (27,1.2)
27,1.2 Die dritte Phase des religiösen Prozesses fand am Morgen vor dem Hohen Rat statt. Kein Fall durfte am gleichen Tag abgeschlossen werden, an dem er begonnen worden war, es sei denn, der Angeklagte wurde freigesprochen. Ehe das Urteil verkündet wurde, sollte eine Nacht vergehen, »damit sich in der Zwischenzeit Gefühle der Gnade regen konnten«. In diesem Fall scheint es so, als ob die religiösen Führer jede Regung der Barmherzigkeit ausschließen wollten. Immerhin kamen sie zu einer morgendlichen Sitzung zusammen, um ihrem Urteil auch Gültigkeit zu verleihen, denn nächtliche Prozesse waren verboten. Unter der römischen Verwaltung hatten die Juden nicht das Recht, ein Todesurteil zu fällen. Deshalb führten sie Jesus nun schnell vor den »Statthalter Pilatus«. Obwohl sie die Römer sehr hassten, waren sie doch gewillt, diese zu benutzen, um ihren noch größeren Hass zu stillen. In der Gegnerschaft gegen Jesus werden die größten Feinde zu Freunden. L. Judas’ Reue und Tod (27,3-10)
27,3.4 Judas erkannte seine Sünde, dass er »schuldloses Blut überliefert« hatte. Deshalb wollte er das Geld den Hohenpriestern und Ältesten zurückbringen. Diese Erzverräter, die nur wenige Stunden zuvor eifrig mit Judas zusammengearbeitet hatten, wollten mit der Sache nun nichts mehr zu tun haben. Das ist der Lohn des Verrates. Judas bereute seine Tat, aber das war nicht die göttliche Buße, die zur Bekehrung führt. Er bereute die Tat wegen ihrer Folgen. Er war weiterhin nicht gewillt, Jesus Christus als Herrn und Retter anzuerkennen.
27,5 In seiner Verzweiflung warf er »die Silberlinge in den Tempel«, wohin nur die Priester gehen konnten. Dann brachte er sich um. Wenn wir diesen Bericht mit der Darstellung in Apostelgeschichte 1,18 vergleichen, dann können wir schließen, dass er sich an einem Baum aufhängte und entweder der Ast brach oder das Seil riss, woraufhin sein Körper auf felsigen Untergrund stürzte und aufriss, sodass seine Eingeweide heraustraten.
27,6 Die eigentlichen Schuldigen waren die Hohenpriester, die nun zu »geistlich« waren, das Geld »in den Tempelschatz zu werfen, weil es Blutgeld ist«. Aber sie hatten dieses Geld gegeben, damit ihnen der Messias überliefert würde. Das schien sie jedoch nicht zu stören. Wie der Herr gesagt hatte, hielten sie die Außenseite des Bechers rein, doch innerlich waren sie voller Hinterlist, Verrat und Mord.
27,7-10 Sie verwendeten das Geld, um den Acker eines Töpfers zu kaufen, auf dem dann unreine Heiden beerdigt werden sollten. Sie wussten ja nicht, wie viele Heiden – etwa als Soldaten – in ihr Land strömen und ihre Straßen mit dem Blut von Ermordeten tränken würden. Für dieses schuldige Volk war dieses Stück Land seitdem ein »Blutacker«. Die Hohenpriester erfüllten unwissentlich die Prophezeiung Sacharjas, dass mit dem Lohn etwas von einem Töpfer gekauft werden würde (Sach 11,12.13). Erstaunlicherweise gibt es für den Abschnitt bei Sacharja eine zweite Lesart, dort steht »Schatz« statt »Töpfer«. Die Priester scheuten sich, das Blutgeld in den Tempelschatz zu tun, und so erfüllten sie die Weissagung der anderen Lesart, indem sie es dem Töpfer für sein Feld gaben. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
Matthäus schreibt diese Prophezeiung Jeremia zu, während sie offensichtlich aus dem Sacharjabuch stammt. Er nennt hier wahrscheinlich Jeremia als Autor, weil dieser Prophet als Erster in der von ihm benutzten und zitierten Buchrolle stand. Dies war nach der alten Anordnung so, wie sie in vielen hebräischen Handschriften erhalten und aus der talmudischen Tradition geläufig ist. Eine ähnliche Verwendung finden wir in Lukas 24,44. Dort dient das Buch der Psalmen als Bezeichnung für den ganzen dritten Abschnitt des hebräischen Kanons.
M. Jesus wird das erste Mal vor Pilatus geführt (27,11-14)
27,11-14 Die wirklichen Anklagen der Juden gegen Jesus waren religiöser Natur, und die Verhandlung geschah auf dieser Basis. Aber religiöse Anklagen hatten vor der römischen Gerichtsbarkeit kein Gewicht. Das wussten sie, deshalb brachten sie drei politische Anklagen gegen ihn vor, als sie ihn vor Pilatus führten (Lk 23,2): 1. Er war ein Revolutionär, der eine Gefahr für das Römische Reich darstellte; 2. er brachte Menschen dazu, keine Steuern zu zahlen, und gefährdete damit die Einnahmen des Reiches; 3. er behauptete von sich, ein König zu sein, und bedrohte damit die Macht sowie die Stellung des Kaisers. Im Matthäusevangelium befragt Pilatus unseren Herrn wegen der dritten Anklage. Als Jesus gefragt wurde, ob er der König der Juden sei, antwortete er, dass er es ist. Daraufhin wurde er von den Hohenpriestern und Ältesten mit Anklagen überschüttet. Pilatus wunderte sich sehr, warum der Angeklagte schwieg und keine der Anklagen auch nur einer Antwort für würdig befand. Wahrscheinlich hatte der Statthalter bisher niemanden gesehen, der bei solchen Angriffen schweigen konnte.
N. Jesus oder Barabbas? (27,15-26)
27,15-18 Es war bei den Römern üblich, die Juden ruhig zu halten, indem sie zur Passahzeit einen jüdischen Gefangenen freiließen. Einer der dafür infrage kommenden Gefangenen war Barabbas, ein Jude, der sich des Aufstandes und des Mordes schuldig gemacht hatte (Mk 15,7). Als Rebell gegen die römische Herrschaft war er womöglich bei seinen Landsleuten beliebt. Als Pilatus das Volk deshalb vor die Wahl stellte, entweder Jesus oder Barabbas freizulassen, rief es nach dem Letzteren. Der Statthalter war nicht erstaunt und wusste, dass die öffentliche Meinung von den Hohenpriestern beeinflusst worden war, die Jesus beneideten.
27,19 Die Vorgänge wurden einen Augenblick durch einen Boten von Pilatus’ Frau unterbrochen. Sie bat ihren Ehemann inständig, sich auf diese Sache mit Jesus nicht einzulassen, weil sie einen sehr beunruhigenden Traum über ihn gehabt hatte.
27,20-23 Hinter den Kulissen aber beschlossen die Hohenpriester und Ältesten die Befreiung des Barabbas und den Tod Jesu. Als Pilatus die Angehörigen des Volkes nochmals fragte, welchen er freigeben solle, riefen sie deshalb nach dem Mörder. Pilatus fragte aus seiner Unentschlossenheit heraus: »Was soll ich denn mit Jesus tun, der Christus genannt wird?« Alle waren sich einig, dass er gekreuzigt werden sollte, eine Haltung, die Pilatus nicht verstand. Warum sollte er gekreuzigt werden? Welches Verbrechens hatte er sich denn schuldig gemacht? Aber es war zu spät für eine ruhige Lösung, denn die Massenhysterie hatte schon gesiegt. Laut tönte der Schrei: »Er werde gekreuzigt!«
27,24 Es war für Pilatus offensichtlich, dass er das Volk nicht besänftigen konnte und ein Aufruhr drohte. So wusch er vor der Menge seine Hände und erklärte sich unschuldig am Blut des Angeklagten. Aber Wasser wird niemals die Schuld des Pilatus beim größten Justizskandal der Geschichte wegwaschen können.
27,25 Die Menge, die zu aufgebracht war, um noch an Schuld zu denken, nahm die Schuld gerne auf sich: »Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!« Seit dieser Zeit gehören Gettos, Verfolgungen, Pogrome, Konzent rationslager und Gaskammern zum Leidensweg der Angehörigen des jüdischen Volkes, weil sie die furchtbare Schuld am Blut ihres verworfenen Messias auf sich gel aden haben. Sie haben noch die schreckliche Zeit der Bedrängnis für Jakob vor sich – die sieben Jahre der Drangsalszeit, die in Matthäus 24 und Offenbarung 6 – 19 beschrieben werden. Der Fluch wird bleiben, bis sie den verworfenen Jesus als ihren Messiaskönig anerkennen.
27,26 Pilatus gab Barabbas frei, und seitdem hat dessen Geist die Welt beherrscht. Der Mörder sitzt noch immer auf dem Thron, während der gerechte König abgelehnt wird. Danach wurde, wie es üblich war, der Verurteilte gegeißelt. Eine große Lederpeitsche, in die kleine Metallstücke eingearbeitet worden waren, ging auf Jesu Rücken nieder, wobei jeder Schlag die Haut aufriss und Ströme von Blut flossen. Nun gab es für den rückgratlosen Statthalter nichts mehr zu tun, außer Jesus den Soldaten zur Kreuzigung zu überliefern.
O. Die Soldaten verspotten Jesus (27,27-31)
27,27.28 Die Soldaten des Statthalters brachten Jesus nun in das Prätorium, den Palast des Pilatus, und »versammelten um ihn die ganze Schar« – wahrscheinlich einige hundert Männer. Man kann sich kaum vorstellen, was dann folgte! Der Schöpfer und Erhalter des Universums wurde auf unerhörte Weise von den grausamen, gemeinen Soldaten entehrt – von seinen unwürdigen, sündigen Geschöpfen. »Sie zogen ihn aus und legten ihm einen scharlachroten Mantel um.« Damit wollten sie einen Königsmantel nachahmen. Aber dieser Mantel hat eine Botschaft für uns. Weil Scharlach mit der Sünde in Verbindung steht (Jes 1,18), liebe ich den Gedanken, dass der Mantel für meine Sünden steht, die auf Jesus gelegt wurden, damit mir Gottes Mantel der Gerechtigkeit angetan werden kann (2. Kor 5,21).
27,29.30 »Sie flochten eine Krone aus Dornen« und drückten sie ihm auf das Haupt. Aber wir blicken hinter ihre rohe Verspottung und verstehen, dass er die Krone aus Dornen trug, damit wir die Krone der Gerechtigkeit tragen dürfen. Sie verspotteten ihn als König der Sünde, wir verehren ihn als Retter der Sünder. Sie gaben ihm auch ein Rohr – als Königszepter. Sie wussten nicht, dass die Hand, die dieses Rohr hielt, jene Hand ist, die die Welt regiert. Die nageldurchgrabene Hand Jesu hält jetzt das Zepter der unumschränkten Herrschaft. »Sie fielen vor ihm auf die Knie« und redeten ihn als König der Juden an. Damit nicht zufrieden, spuckten sie dem einzigen vollkommenen Menschen, der je gelebt hat, ins Gesicht, »nahmen das Rohr und schlugen ihn auf das Haupt«. Alles ertrug Jesus geduldig, er sagte kein Wort. »Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, damit ihr nicht ermüdet und in euren Seelen ermattet« (Hebr 12,3).
27,31 Schließlich zogen sie ihm »seine eigenen Kleider an; und sie führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen«. P. Die Kreuzigung des Königs (27,32-44)
27,32 Einen Teil des Weges trug unser Herr selbst das Kreuz (Joh 19,17). Dann zwangen sie einen Mann mit Namen Simon (aus Kyrene in Nordafrika), es für ihn zu tragen. Einige sind der Meinung, dass er ein Jude war, andere halten ihn für einen Schwarzen. Wichtig ist, dass er das wunderbare Vorrecht hatte, das Kreuz zu tragen.
27,33 Golgatha ist der aramäische Begriff für »Schädel«. Der Name »Kalvarienberg«, der eher selten vorkommt, enthält die eingedeutschte lateinische Übersetzung des griechischen Wortes kranion. Vielleicht war dieser Hügel wie ein Schädel geformt, oder er hieß so, weil er eine Hinrichtungsstätte war. Wo dieser Ort genau liegt, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen.
27,34 Ehe er ans Kreuz geschlagen wurde, boten die Soldaten Jesus »mit Galle vermischten Wein« an, ein Betäubungsmittel für die Verurteilten. Jesus weigerte sich, davon zu trinken. Es war notwendig, dass er die volle Last der menschlichen Sünde trug, ohne seine Sinne zu betäuben oder die Schmerzen zu erleichtern.
27,35 Matthäus beschreibt die Kreuzigung einfach und emotionslos. Er verlegt sich nicht auf dramatische Schilderungen, Sensationslust liegt ihm fern, auch ergeht er sich nicht in grausamen Details. Er stellt einfach fest, dass sie ihn kreuzigten. Und doch wird die Ewigkeit selbst die Tiefe dieser Worte nicht ausloten können.
Wie in Psalm 22,19 vorausgesagt, verteilten die Soldaten seine Kleider. Um das nahtlose Gewand, das sein ganzer irdischer Besitz gewesen war, losten sie. Denney sagt: Das einzige vollkommene Leben, das auf dieser Welt je geführt wurde, ist das Leben dessen, der nichts besaß und nichts als die Kleider auf seinem Leib hinterließ.
27,36 Die Soldaten besaßen gewiss nur einen begrenzten geistigen Horizont. Sie hatten sicherlich keinen Sinn für den historischen Augenblick. Wenn sie darum gewusst hätten, hätten sie sich nicht einfach hingesetzt, um Wache zu halten, sie wären niedergekniet, um anzubeten.
27,37 Über dem Haupt Jesu hatten sie seinen Titel geschrieben: »Dies ist Jesus, der König der Juden.« Die genauen Worte sind in den einzelnen Evangelien etwas unterschiedlich.51 In Markus heißt es: »Der König der Juden« (Mk 15,26), bei Lukas: »Dieser ist der König der Juden« (Lk 23,38), bei Johannes: »Jesus, der Nazoräer, der König der Juden.« Die Hohenpriester wandten ein, dass der Titel nicht den Tatsachen entspräche, sondern nur eine Behauptung des Angeklagten sei. Pilatus aber setzte sich durch. Die Wahrheit war dort für alle zu lesen – in Hebräisch, Lateinisch und Griechisch (Joh 19,19-22).
27,38 Der sündlose Sohn Gottes war von zwei Verbrechern umgeben. Geschah dies nicht, weil Jesaja 700 Jahre vorher prophezeit hatte, er werde sich zu den Verbrechern zählen lassen (Jes 53,12)? Zunächst beschimpften ihn beide Verbrecher (V. 44). Aber einer tat dann Buße und wurde sofort gerettet; schon wenige Stunden später war er mit Christus im Paradies (Lk 23,42.43).
27,39.40 Wenn das Kreuz die Liebe Gottes offenbart, so offenbart es auch die Verdorbenheit des Menschen. Die Vorübergehenden nahmen sich die Zeit, den Hirten zu verspotten, als er für die Schafe starb: »Der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst! Wenn du Gottes Sohn bist, so steige hera b vom Kreuz.« Das ist die Sprache rationalistischen Unglaubens. »Wir glauben nur, was wir sehen.« »Steige herab vom Kreuz«, mit anderen Worten: »Nimm den Anstoß des Kreuzes weg, und wir werden glauben.« William Booth sagte einmal: Sie behaupteten, sie würden glauben, wenn er vom Kreuz herunterkäme, aber wir glauben, weil er oben blieb.
27,41-44 Auch die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten fielen in den Chor ein. Ohne Einsicht schrien sie: »Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.« Sie wollten ihn verspotten, aber für uns ist dies ein Anlass zum Lob: Sich selbst konnt’ er nicht retten, am Kreuze musst’ er sterben; sonst gäb’ es keine Gnade für Sünder, die ihm nah’n. Ja, Christus, der Sohn Gottes, er musst’ sein Blut vergießen, damit von Sünd’ wir frei. Albert Midlane
Das galt sowohl für Jesus als auch für uns. Wir können andere nicht retten, wenn wir noch immer versuchen, uns selbst zu retten.
Die religiösen Führer verhöhnten seinen Anspruch, der Retter, der König Israels und der Sohn Gottes zu sein. Sogar »die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren«, fielen in die Schmähreden ein. Die religiösen Führer vereinten sich mit Kriminellen, um ihren Gott zu verhöhnen. Q. Drei Stunden der Finsternis (27,45-50)
27,45 Alle Leiden und Beschimpfungen, die er von Menschen zu ertragen hatte, waren verglichen mit dem, was ihn nun erwartete, verhältnismäßig harmlos. »Von der sechsten Stunde an« (Mittag) »bis zur neunten Stunde« (15 Uhr) »kam eine Finsternis«, und zwar nicht nur über das Land Palästina, sondern auch über Jesu heilige Seele. Während dieser Zeit trug er den unbeschreiblichen Fluch für unsere Sünden. In diesen drei Stunden waren die Höllenqualen zusammengefasst, die wir eigentlich verdient hätten, der Zorn Gottes gegen all unsere Übertretungen. Wir sehen das nur sehr schwach, wir können einfach nicht wissen, was es für ihn bedeutet haben muss, Gottes gerechte Ansprüche an den Sünder zu erfüllen. Wir wissen nur, dass er in diesen drei Stunden den Preis bezahlte, die Schuld beglich und das Werk zur Errettung der Menschheit vollendete.
27,46 Etwa um 15 Uhr »schrie Jesus mit lauter Stimme auf und sagte: Eli, Eli, lemá sabachtháni? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Die Antwort finden wir in Psalm 22,4: »Du bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels.« Weil Gott heilig ist, kann er Sünde nicht einfach übersehen. Im Gegenteil, er muss sie bestrafen. Der Herr Jesus hatte keine eigene Sünde, aber er nahm unsere Sünden auf sich. Als Gott, der Richter, hinabblickte und unsere Sünden auf ihm, dem sündlosen Opfer, liegen sah, zog er sich von dem Sohn seiner Liebe zurück.
In welch tiefer Not
schrieest Du zu Gott:
»Warum hast Du mich verlassen?« O wer kann Dein Weh erfassen! In welch tiefer Not
schrieest Du zu Gott!
Carl Brockhaus
27,47.48 Als Jesus schrie: »Eli, Eli …«, meinten »einige von den Umstehenden«, er rufe Elia. Ob sie ihn wirklich nicht verstanden hatten, oder ob sie ihn verspotteten, ist nicht klar. Einer »nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken«. Nach Psalm 69,22 war das kein Liebesdienst, sondern zählte zu seinen Leiden.
27,49 Die meisten meinten, man solle warten, ob Elia die Rolle erfüllen würde, die die jüdische Tradition ihm zuschrieb – nämlich die Tatsache, dass er den Gerechten zu Hilfe kommt. Aber es war nicht die Zeit der Wiederkehr Elias (Mal 3,23), sondern der Zeitpunkt des Todes Jesu.
27,50 Nachdem Jesus »wieder mit lauter Stimme« geschrien hatte, gab er den Geist auf. Der laute Schrei zeigt, dass er in Kraft und nicht in Schwäche starb. Die Tatsache, dass er seinen Geist aufgab, unterscheidet seinen Tod vom irdischen Ende aller anderen Menschen. Wir sterben, weil wir sterben müssen, er starb, weil er sich dazu entschieden hatte. Hat er nicht gesagt: »Ich lasse mein Leben, um es wiederzunehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Vollmacht, es zu lassen, und habe Vollmacht, es wiederzunehmen« (Joh 10,17.18)?
Der Schöpfer des Universums wurde als Mensch für den Menschen zum Fluch gemacht.
Den Anspruch des Gesetzes, das er gegeben hatte,
bezahlte er bis zum Letzten. Seine heiligen Hände hatten den Zweig geschaffen,
der die Dornen hervorbrachte, die seine Stirn krönten.
Die Nägel, die seine Hände durchbohrten, wurden aus Erz gewonnen, deren verborgene Fundstätten er angelegt hatte,
Er hatte auch den Wald geschaffen, in dem der Stamm wuchs, an dem sein Leib dann hing.
Er starb an einem hölzernen Kreuz und hatte doch die Anhöhe gemacht, worauf es stand.
Der Himmel, der sich über ihm verdunkelte,
war von ihm über der Erde ausgebreitet worden.
Die Sonne, die sich vor seinem Angesicht verbarg,
wurde durch sein Gebot ans Firmament geheftet.
Der Speer, der sein kostbares Blut vergoss,
wurde in den Feuern Gottes geschmiedet.
Das Grab, wohin sein Leib gelegt wurde, war in einen Fels gehauen, den seine Hand bereitet hatte.
Der Thron, auf dem er jetzt erscheint, gehörte ihm von Anbeginn der Welt. Aber neue Herrlichkeit krönt sein Haupt,
und vor ihm soll sich jedes Knie beugen. F. W. Pitt
R. Der zerrissene Vorhang (27,51-54)
27,51 Als Jesus starb, zerriss der schwere gewebte Vorhang, der die beiden Haupträume des Tempels voneinander trennte, durch eine unsichtbare Hand von oben nach unten. Bis dahin hatte dieser Vorhang jeden außer dem Hohenpriester aus dem Allerheiligsten ferngehalten, wo Gott selbst wohnte. Nur ein einziger Mensch durfte das Allerheiligste betreten, und das auch bloß einmal im Jahr. Im Hebräerbrief erfahren wir, dass der Vorhang für den Leib Jesu stand. Sein Zerreißen symbolisierte, dass er seinen Leib in den Tod gegeben hatte. Durch seinen Tod haben wir »durch das Blut Jesu Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum, den er uns eröffnet hat als einen neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang – das ist durch sein Fleisch« (Hebr 10,19.20). Nun darf der kleinste der Gläubigen jederzeit zum Gebet und Lob in die Gegenwart Gottes treten. Aber lasst uns nie vergessen, dass dieses Vorrecht für einen enormen Preis erkauft wurde – durch das kostbare Blut Jesu. Der Tod des Sohnes Gottes war auch die Ursache dafür, dass die Natur in Aufruhr war – als ob zwischen der unbelebten Schöpfung und ihrem Schöpfer ein Mitfühlen geherrscht hätte. Es gab ein Erdbeben, das Felsen zerriss und viele Gräber öffnete.
27,52.53 Man beachte, dass erst nach der Auferstehung Jesu die in den Gräbern liegenden Menschen auferstanden und nach Jerusalem kamen, wo sie vielen erschienen. Die Bibel sagt nicht, ob diese auferstandenen Heiligen wieder starben oder mit dem Herrn Jesus in den Himmel auffuhren.
27,54 Das außergewöhnliche Aufbäumen der Natur überzeugte den römischen Hauptmann und seine Leute, dass Jesus der Sohn Gottes war. (Obwohl im Griechischen kein bestimmter Artikel steht, wird durch die Wortstellung ausgedrückt, dass er der Sohn Gottes war, nicht ein Sohn Gottes.52) Was meinte der Hauptmann damit? War dies ein volles Bekenntnis zu Jesus Christus als Herrn und Retter oder nur die Anerkennung, dass Jesus mehr als ein normaler Mensch gewesen war? Wir wissen es nicht genau. Man sieht, dass die Soldaten von Ehrfurcht erfüllt waren und erkannt hatten, dass das Aufbäumen der Natur mit dem Tod Jesu zu tun hatte, nicht mit dem Tod derer, die mit ihm gekreuzigt waren. S. Die treuen Frauen (27,55.56)
27,55.56 Die Frauen werden hier besonders erwähnt, die dem Herrn treu gedient hatten und ihm den ganzen Weg von Galiläa nach Jerusalem gefolgt waren. »Maria Magdalena und Maria, des Jakobus’ und Josefs Mutter, und die Mutter der Söhne des Zebedäus« waren da, außerdem Salome, die Frau des Zebedäus. Die furchtlose Verehrung dieser Frauen leuchtet mit besonderem Glanz hervor. Sie blieben bei Jesus, als die männlichen Jünger um ihr Leben liefen!
T. Die Grablegung in Josefs Grab (27,57-61)
27,57.58 Josef von Arimathäa, »ein reicher Mann« und Mitglied des Hohen Rats, hatte an der Entscheidung des Rates, Jesus an Pilatus zu überliefern, nicht teilgenommen (Lk 23,51). Bis zu diesem Zeitpunkt war er ein heimlicher Jünger gewesen, doch nun ließ er alle Vorsicht fahren. Mutig ging er zu Pilatus und bat um die Erlaubnis, seinen Herrn zu beg raben. Wir müssen versuchen, uns das erstaunte Gesicht des Pilatus vorzustellen, außerdem die Provokation für die Juden. Für sie bedeutete diese Bitte, dass ein Mitglied des Hohen Rats sich öffentl ich für den Gekreuzigten einsetzte. In Wahrheit begrub Josef sich selbst in sozialer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht, als er den Leib Jesu beisetzte. Diese Handlung trennte ihn für immer von den Herrschenden, die den Herrn Jesus get ötet hatten.
27,59.60 Pilatus genehmigte die Beerdigung, und Josef konservierte den Leib liebevoll, indem er ihn »in ein reines Leinentuch« wickelte und Kräuter zwischen die einzelnen Lagen tat. Dann legte er ihn in sein eigenes, neues Grab, das aus dem Felsen gehauen war. Die Öffnung des Grabes wurde durch einen großen Stein verschlossen, der die Form eines Mühlsteins hatte und hochkant in einer Laufrinne stand, die ebenfalls in den Felsen gehauen war.
Viele Jahrhunderte zuvor hatte Jesaja vorausgesagt: »Und man gab ihm bei Gottlosen sein Grab, aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod« (Jes 53,9). Seine Feinde hatten zweifellos geplant, seinen Leib in das Hinnomtal zu werfen, um ihn auf dem dort schwelenden Abfallhaufen zu verbrennen oder von den Füchsen fressen zu lassen. Aber Gott ließ ihre Pläne misslingen und benutzte Josef, um sicherzustellen, dass er bei einem Reichen begraben wurde.
27,61 Nachdem Josef gegangen war, blieben Maria Magdalena und die Mutter von Jakobus und Josef, um dem Grab gegenüber die Totenwache zu halten. U. Das bewachte Grab (27,62-66)
27,62-64 Der erste Tag des Passahfestes, der »Rüsttag« genannt wurde, war der Tag der Kreuzigung Jesu. Am nächsten Tag wurde den Hohenpriestern und Pharisäern bei der Angelegenheit ungemütlich. Sie erinnerten sich daran, was Jesus über seine Auferstehung gesagt hatte, und gingen deshalb zu Pilatus, indem sie um eine Wache für das Grab baten. Sie sollte verhindern, dass seine Jünger den Leib stehlen und so den Eindruck erwecken könnten, er wäre auferstanden. Wenn das passieren würde, so fürchteten sie, wäre »die letzte Verführung … schlimmer … als die erste«, d. h. die Nachricht von seiner Auferstehung wäre schädlicher als seine Behauptung, der Messias und Sohn Gottes zu sein.
27,65.66 Pilatus antwortete: »Ihr habt eine Wache. Geht hin, sichert es, so gut ihr könnt!« (nach der englischen KingJames-Übersetzung). Das kann bedeuten, dass sie schon eine Wache zugeteilt bekommen hatten, oder aber, dass ihnen ihre Bitte gewährt wurde. Lag nicht Ironie in der Stimme des Pilatus, als er sagte: »Sichert es, so gut ihr könnt«? Sie taten ihr Bestes. Sie versiegelten den Stein und stellten die Wache auf, aber ihre besten Sicherheitsvorkehrungen reichten eben doch nicht aus. Unger sagt: Die Vorsichtsmaßnahmen, die seine Feinde trafen – Versiegelung des Grabes, Auf stellen einer Wache – mussten am Ende dazu dienen, dass Gott die Pläne der Gott losen zunichtemachte, und brachten den unwiderlegbaren Beweis für die Auferstehung des Königs.53
XV. Der Sieg des Königs (Kap. 28) A. Das leere Grab und der auferstandene Herr (28,1-10)
28,1-4 Am Sonntagmorgen kamen die beiden Marias noch vor der Dämmerung, »um das Grab zu besehen«. Als sie ankamen, »geschah ein großes Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam aus dem Himmel herab, trat hinzu, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf«. Die römische Wache, die vor seiner strahlenden Erscheinung und den weißen Kleidern erschrak, fiel in Ohnmacht.
28,5.6 Der Engel versicherte den Frauen, dass sie nichts zu fürchten hätten. Der, den sie suchten, sei auferstanden, »wie er gesagt hat. Kommt her, seht die Stätte, wo er gelegen hat.« Der Stein war nicht weggerollt worden, um den Herrn aus dem Grab zu befreien, sondern damit die Frauen sehen konnten, dass er auf erstanden war.
28,7-10 Der Engel sandte dann die Frauen, diese wunderbare Nachricht schnell zu den Jüngern zu bringen. Der Herr lebte wieder und würde sie in Galiläa treffen. Als sie auf dem Weg waren, um es den Jüngern zu berichten, erschien ihnen Jesus und begrüßte sie mit zwei Worten: »Seid gegrüßt!«54 Sie reagierten, indem sie ihm zu Füßen fielen und ihn anbeteten. Dann beauftragte er sie noch einmal selbst, den Jüngern zu sagen, dass sie ihn in Galiläa wiedersehen würden. B. Die Soldaten werden bestochen (28,11-15)
28,11 Als die Soldaten wieder aufwachten, gingen einige von ihnen kleinlaut zu den Hohenpriestern, um ihnen die Neuigk eit zu überbringen. Sie hatten ihre Aufgabe nicht erfüllt! Das Grab war leer!
28,12.13 Es ist einfach, sich die Bestürzung der religiösen Führer vorzustellen. Die Priester hielten einen Rat mit den Ältesten, um ihre Strategie zu planen. In ihrer Verzweiflung bestachen sie die Soldaten, die fantastische Geschichte zu erzählen, dass, während sie schliefen, die Jünger gekommen seien und den Leib Jesus gestohlen hätten.
Diese Erklärung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Warum schliefen die Soldaten, wo sie doch hätten wachen sollen? Wie konnten die Jünger den Stein wegrollen, ohne sie zu wecken? Wie konnten alle Soldaten zur gleichen Zeit einschlafen? Wenn sie geschlafen hatten, woher wussten sie dann, dass die Jünger den Leib gestohlen hatten? Wenn es zutraf, was sie erzählten, wieso mussten sie dann bestochen werden, um es zu erzählen? Wenn die Jünger den Leib gestohlen hatten, warum hatten sie sich dann die Zeit genommen, das Grabtuch zu entfernen und das Schweißtuch zusammenzufalten (Lk 24,12; Joh 20,6.7)?
28,14 In Wirklichkeit wurden die Soldaten bezahlt, eine Geschichte zu erzählen, die ihnen selbst gefährlich werden konnte, denn Schlafen im Dienst stand im Römischen Reich unter Todesstrafe. Deshalb mussten die jüdischen Führer versprechen, für sie einzutreten, »wenn dies dem Statthalter zu Ohren kommen sollte«.
Die Mitglieder des Hohen Rats mussten bald erkennen, dass sich die Wahrheit immer selbst beweist, während eine Lüge von vielen anderen Lügen gestützt werden muss.
28,15 Dennoch hält sich diese Geschichte »bei den Juden bis auf den heutigen Tag«, und auch bei den Heiden kursierten entsprechende Gerüchte. Und es gibt noch andere Mythen. Wilbur Smith fasst zwei von ihnen zusammen:
1. Als Erstes ist behauptet worden, dass die Frauen zum verkehrten Grab gegangen waren. Wir wollen darüber einen Augenblick nachdenken. Würden Sie das Grab des innig Geliebten nach der Zeit von Freitag bis Sonntagmorgen verfehlen können? Außerdem war dies kein Friedhof. Es war ein privater Garten. Es gab dort kein anderes Grab.
Nehmen wir einmal an, es habe doch noch andere Gräber dort gegeben, auch wenn es nicht so war. Man stelle sich nun vor, dass die Frauen mit ihren tränennassen Augen herumstolperten und ins falsche Grab geraten wären. Lassen wir das einmal für die Frauen gelten. Aber die hartgesottenen Fischer Simon Petrus und Johannes, die nicht weinten, gingen auch zum Grab und fanden es leer. Glauben Sie, dass auch sie zum falschen Grab gingen? Und nicht nur das: Als sie zum Grab kamen und es leer vorfanden, war dort ein Engel, der sagte: »Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Siehe da, die Stätte, wo sie ihn hingelegt hatten.« Glauben Sie, dass der Engel auch zum falschen Grab kam? Vergessen Sie aber nicht, dass intelligente Menschen diese Theorien erdacht haben. Diese sind völlig aus der Luft gegriffen. 2. Andere habe vorgeschlagen, dass Jesus nicht gestorben ist, sondern nur ohnmächtig wurde und dann irgendwie im kühlen Grab wieder aufgewacht und her ausgekommen sei. Sie hatten einen großen schweren Stein vor sein Grab gewälzt, der zudem noch mit dem römischen Siegel verschlossen war. Niemand im Grab konnte diesen Stein je weggerollt haben, der in einer Rinne lag, die in der Mitte eine Vertiefung zur Sicherung des Steines hatte. Er wäre als Verletzter, der viel Blut verloren hatte, nie aus dem Grab herausgekommen.
Die einfache Wahrheit ist, dass die Auferstehung des Herrn Jesus eine wohlbezeugte geschichtliche Tatsache ist. Er zeigte sich seinen Jüngern nach seinem Leiden durch viele unbestreitbare Beweise als der Lebendige. Man denke an seine vielen in der Bibel einzeln aufgeführten Erscheinungen vor seiner Himmelfahrt:
1. Vor Maria Magdalena (Mk 16,9-11). 2. Vor den Frauen (Matth 28,8-10). 3. Vor Petrus (Lk 24,34). 4. Vor den beiden Jüngern auf der Straße nach Emmaus (Lk 24,13-35). 5. Vor den Jüngern außer Thomas (Joh 20,19-25).
6. Vor den Jüngern einschließlich Thomas (Joh 20,26-31).
7. Vor den sieben Jüngern am See Genezareth (Joh 21).
8. Vor über 500 Gläubigen (1. Kor 15,7). 9. Vor Jakobus (1. Kor 15,7). 10. Vor den Jüngern auf dem Ölberg (Apg 1,3-12).
Einer der großen Grundpfeiler unseres christlichen Glaubens sind die historischen Beweise für die Auferstehung des Herrn Jesus Christus. Hier können Sie und ich einen festen Stand haben, um für den Glauben zu kämpfen, weil wir eine Sachlage vor finden, der nicht wider sprochen werden kann. Sie kann ge leugnet, aber nicht widerlegt werden.(28,15) Wilbur Smith, »In the Study«, Moody Monthly, April 1969.
C. Der Missionsbefehl (28,16-20)
28,16.17 In Galiläa erschien der auferstandene Herr Jesus den Jüngern auf einem nicht näher genannten Berg. Das ist die gleiche Erscheinung, wie sie in Markus 16,15-18 und in 1. Korinther 15,6 berichtet wird. Welch ein wunderbares Wiedersehen! Seine Leiden waren für immer vollendet. Weil er lebte, würden auch sie leben. Er stand vor ihnen in seinem verherrlichten Leib. Sie beteten diesen lebendigen, liebenden Herrn an, obwohl noch immer Zweifel an einigen nagte.
28,18 Dann erklärte der Herr, dass ihm »alle Macht im Himmel und auf Erden« gegeben worden sei. In gewissem Sinne hatte er diese Macht schon immer gehabt. Aber er sprach nun von seiner Macht als Haupt der neuen Schöpfung. Seit seinem Tod und seiner Auferstehung hatte er die Macht, allen, die ihm Gott gegeben hat, ewiges Leben zu geben (Joh 17,2). Schon immer hatte er die Macht als Erstgeborener der Schöpfung. Doch nun, da er das Werk der Erlösung vollbracht hat, besitzt er auch die Macht als der Erstgeborene aus den Toten – »damit er in allem den Vorrang habe« (Kol 1,15.18).
28,19.20 Als Haupt der neuen Schöpfung gab er dann den Missionsbefehl weiter, der praktisch die »Geschäftsordnung« für alle Gläubigen in der gegenwärtigen Phase des Reiches bildet – in der Zeit zwischen der Verwerfung des Königs und seiner Wiederkunft. Der Missionsbefehl enthält drei Gebote, keine Bitten:
1. »Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern.« Dies setzt nicht voraus, dass sich die ganze Welt bekehrt. Indem sie das Evangelium predigen, sollen die Jünger andere Menschen dazu bringen, Schüler oder Nachfolger des Heilands zu werden – Menschen aus jedem Volk, jedem Stamm, jeder Nation und jeder Sprache.
2. »Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Die Verantwortung liegt bei den Botschaftern Christi, die Taufe zu lehren und sie als Gebot darzustellen, dem man gehorsam sein muss. In der Glaubenstaufe bekennt sich der Christ öffentlich zum dreieinen Gott. Er erkennt an, dass Gott sein Vater ist, dass Jesus Christus sein Herr und Retter ist und dass der Heilige Geist in ihm wohnt, ihm Kraft gibt und ihn lehrt. Das Wort »Name« in Vers 19 steht in der Einzahl. Ein Name oder eine Wesenheit, aber drei Personen – Vater, Sohn und Heiliger Geist.
3. »Lehrt sie alles zu bewahren, was ich euch geboten habe!« Dieser Auftrag geht über die Evangelisation hinaus. Es ist nicht genug, einfach möglichst viele zu »bekehren« und sie dann für sich allein kämpfen zu lassen. Sie müssen gelehrt werden, den Geboten Christi zu gehorchen, wie wir sie im NT finden. Das Wesen der Jüngerschaft besteht darin, wie der Meister zu werden, und das erreicht man durch systematische Lehre des Wortes Gottes und durch Unterwerfung unter dieses Wort.
Dann fügte der Heiland noch die Verheißung seiner ständigen Gegenwart bei den Jüngern hinzu, bis dieses Zeitalter vollendet sein wird. Sie brauchten nicht allein und ohne Führung zu gehen. Bei all ihren Diensten und Reisen konnten sie sich der Gemeinschaft des Sohnes Gottes sicher sein.
Viermal haben wir hier das Wort »alle«: Alle Macht, alle Nationen, alles bewahren und alle Tage.
So endet dieses Evangelium mit der Aussendung und Ermutigung durch unseren herrlichen Herrn. Fast zwei Jahrtausende später haben seine Worte noch die gleiche Stichhaltigkeit, Bedeutung und Anwendung. Die Aufgabe ist noch immer nicht vollbracht.
Was tun wir, um seinen letzten Befehl auszuführen?
1,1 Das Thema des Markus ist das Evangelium von Jesus Christus. Weil er die Knechtsstellung des Herrn Jesus betonen will, beginnt er nicht mit einem Stammbaum, sondern mit dem öffentlichen Dienst des Heilands. Dieser wurde durch Johannes den Täufer, den Herold des Evangeliums, angekündigt
1,2.3 Sowohl Maleachi als auch Jesaja 1 sagten voraus, dass ein Bote vor dem Messias hergehen sollte, der die Menschen aufrufen würde, sich geistlich und moralisch auf sein Kommen vorzubereiten (Mal 3,1; Jes 40,3). Johannes der Täufer verkörperte die Erfüllung dieser Prophezeiungen. Er war der Bote, die »Stimme eines Rufenden in der Wüste«.
Seine Botschaft lautete, dass die Menschen Buße tun sollten (ihren Sinn ändern und sich von ihren Sünden abkehren sollten), um »Vergebung der Sünden« zu erlangen. Anderenfalls wären sie nicht in der Lage, den Herrn aufzunehmen. Nur heilige Menschen können den heiligen Sohn Gottes wertschätzen.
Sobald ein Zuhörer Buße tat, taufte Johannes ihn als äußeres Zeichen seiner Umkehr. Die Taufe trennte ihn öffentlich von der Menge des Volkes Israel, das seinen Gott verlassen hatte. Sie vereinigte ihn mit einem Überrest, der bereit war, Christus anzunehmen. Nach Vers 5 scheinen alle Menschen auf die Verkündigung
des Johannes reagiert zu haben. Aber das war nicht der Fall. Es mag sein, dass es einen anfänglichen Ausbruch von Begeisterung gab, bei dem viele Menschen in die Wüste hinausgingen, den feurigen Prediger zu hören, doch die Mehrheit bekannte und ließ ihre Sünden nicht. Das wird sich im weiteren Verlauf des Berichts zeigen.
Seine Botschaft behandelte die Vorrangstellung des Herrn Jesus. Er sagte, dass Jesus größere Macht hat sowie persönlich vortrefflicher und im Dienst vollmächtiger ist. Johannes hielt sich nicht für würdig, ihm die Riemen seiner Sandalen zu lösen – und damit einen Sklavendienst zu tun. Geisterfüllte Predigt erhebt immer den Herrn Jesus und erniedrigt sich selbst.
Die Taufe des Johannes fand mit Wasser statt. Sie war ein äußerliches Zeichen, bewirkte jedoch keine Veränderung im persönlichen Leben eines Menschen. Jesus würde »mit Heiligem Geist« taufen, diese Taufe würde eine große Zunahme geistlicher Kraft bringen (Apg 1,8). Außerdem würde sie alle Gläubigen in den Leib Christi, die Gemeinde, aufnehmen (1. Kor 12,13).
1,9 Die sogenannten dreißig stillen Jahre, die der Herr Jesus in Nazareth verbracht hatte, waren zu Ende. Er war bereit, seinen öffentlichen Dienst zu beginnen. Als Erstes reiste er die etwa 100 Kilometer von Nazareth an den Jordan bei Jericho. Dort wurde er von Johannes getauft. In seinem Fall war natürlich keine Buße notwendig, da er keine Sünden bekennen musste. Für den Herrn war die Taufe eine symbolische Handlung, die seine Taufe in den Tod auf Golgatha und seine Auferstehung aus den Toten darstellen sollte. So haben wir schon zu Beginn seines Dienstes eine anschauliche Vorschattung des Kreuzes und des leeren Grabes.
1,10.11 »Sobald er aus dem Wasser heraufstieg, sah er die Himmel sich teilen und den Geist wie eine Taube auf ihn herabfahren.« Man hörte die Stimme Gottes, der Jesus als seinen geliebten Sohn anerkannte.
Es gab im Leben unseres Herrn keine Zeit, zu der er nicht mit dem Heiligen Geist erfüllt gewesen war. Doch nun kam der Heilige Geist auf ihn, um ihn zum Dienst zu salben und zu bevollmächtigen. Dies war eine besondere Darreichung des Geistes, womit der Herr Jesus auf den dreijährigen Dienst vorbereitet wurde, der jetzt vor ihm lag. Die Macht des Heiligen Geistes ist unentbehrlich. Ein Mensch mag gebildet, talentiert und redegewandt sein, aber ohne die geheimnisvolle Bevollmächtigung, die wir die Salbung nennen, ist sein Dienst ohne Leben und wirkungslos. Die grundlegende Frage lautet: »Habe ich den Heiligen Geist empfangen, und bin ich bevollmächtigt zum Dienst für den Herrn?« C. Der Knecht wird von Satan versucht (1,12.13)
1,12.13 Der Knecht Gottes wurde von Satan in der Wüste vierzig Tage lang versucht. Der Geist führte ihn in diese Erfahrung – nicht um zu sehen, ob er sündigen würde, sondern um zu beweisen, dass er nicht sündigen konnte. Wenn Jesus als Mensch auf Erden hätte sündigen können, welche Gewissheit hätten wir dann, dass er jetzt als Mensch im Himmel nicht sündigen kann?
Warum betont Markus, dass sich Jesus »unter den wilden Tieren« befand? Waren diese Tiere von Satan gerufen worden, um den Herrn zu töten? Oder waren sie in der Gegenwart ihres Schöpfers zahm? Wir können hier nur Fragen aufwerfen.
Gegen Ende der vierzig Tage (vgl. Matth 4,11) dienten ihm die Engel. Während der Zeit seiner Versuchung fastete er (Lk 4,2).
Prüfungen sind für jeden Gläubigen unausweichlich. Je enger die Beziehung zum Herrn in der Nachfolge ist, desto schwerer werden sie sein. Satan verschwendet seine Geschütze nicht an Namenschristen, sondern eröffnet das Feuer auf diejenigen, die im geistlichen Kampf Gebiete erobern. Es ist keine Sünde, versucht zu werden. Aus eigener Kraft können wir nicht widerstehen. Aber durch den in uns wohnenden Geist ist uns die Kraft gegeben, unheilvolle Leidenschaften zu bezwingen.
II. Der Knecht dient in Galiläa (1,14 – 3,12) A. Der Knecht beginnt seinen Dienst (1,14.15)
1,14.15 Markus geht nun zum Dienst des Herrn in Juda über (s. Joh 1,1 – 4,54) und beginnt mit dem großen Wirken in Galiläa, das sich über einen Zeitraum von einem Jahr und neun Monaten erstreckte tes Datum für die öffentliche Erscheinung des Königs. Es war gekommen. 2. Das Reich Gottes war nahe gekommen, der König war da und bot das Reich dem gesamten Volk Israel an. Das Reich war in dem Sinne nahe, dass der König nun erschienen war. 3. Die Menschen wurden aufgerufen, Buße zu tun und an das Evangelium zu glauben. Um in das Reich kommen zu können, mussten sie von ihren Sünden umkehren und an die Gute Nachricht in Bezug auf den Herrn Jesus glauben.
B. Vier Fischer werden berufen (1,16-20)
1,16-18 Als Jesus »am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas« beim Fischen. Er kannte sie schon, sie waren sogar ganz zu Beginn seines Dienstes schon Jünger geworden (Joh 1,40.41). Nun berief er sie, mit ihm zu leben, und verhieß ihnen, sie zu Menschenfischern zu machen. Sofort gaben sie ihr einträgliches Geschäft als Fischer auf, um ihm nachzufolgen. Sie leisteten unverzüglichen, mit großen Opfern verbundenen und völligen Gehorsam.
Fischen ist eine Kunst, mit der sich das Seelengewinnen vergleichen lässt: 1. Es erfordert Geduld. Es gibt oft einsame Stunden des Wartens. 2. Es erfordert Geschick, mit Ködern und Netzen umzugehen.
3. Es erfordert Unterscheidungsgabe und gesunden Menschenverstand, um dorth in zu gehen, wo sich die Fische aufhalten.
4. Es erfordert Ausdauer. Ein guter Fischer gibt nicht so schnell auf. 5. Es erfordert Stille. Die beste Methode dafür ist, Störungen zu vermeiden und sich selbst im Hintergrund zu halten.
Wir werden zu Menschenfischern, indem wir Jesus nachfolgen. Je ähnlicher wir ihm sind, desto erfolgreicher werden wir, andere für ihn zu gewinnen. Unsere Verantwortung ist es, ihm zu folgen, er wird für alles andere sorgen.
1,19.20 Ein wenig später traf der Herr Jesus Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, als sie ihre Netze flickten. Als er sie rief, verabschiedeten sie sich von ihrem Vater und »gingen weg, ihm nach«.
Christus ruft auch heute noch Menschen, alles zu verlassen und ihm nachzufolgen (Lk 14,33). Weder Besitz noch Verwandtschaft dürfen ein Hindernis für den Gehorsam sein.
C. Ein unreiner Geist wird ausgetrieben (1,21-28)
Die Verse 21-34 beschreiben einen typischen Tag im Leben unseres Herrn. Ein Wunder folgte auf das andere, als der Herr die Besessenen und Kranken heilte. Die Heilungswunder unseres Herrn zeigen, wie er die Menschen von den Folgen der Sünde befreit. Das kann man der nachfolgenden Übersicht entnehmen. Obwohl der Prediger von heute nicht aufgerufen ist, solche körperlichen Heilungen zu vollbringen, ist er doch ständig gerufen, sich mit der geistlichen Heilung von Sünde zu beschäftigen. Sind dies nicht die größeren Wunder, die der Herr Jesus in Johannes 14,12 erwähnt: »Wer an mich glaubt, der wird auch die Werke tun, die ich tue, und wird größere als diese tun«?
1,21.22 Jetzt wollen wir uns wieder der Erzählung des Markus zuwenden. In Kapernaum ging Jesus in die Synagoge und lehrte am Sabbat. Die Menschen erkannten, dass er kein gewöhnlicher Lehrer war. Mit seinen Worten war eine unbestreitbare Kraft verbunden, die die Schriftgelehrten nicht hatten, sondern mechanisch vor sich hin redeten. Jesu Sätze waren Pfeile des Allmächtigen. Seine Lehre war fesselnd, überzeugend und herausfordernd. Die Schriftgelehrten gaben eine Religion aus zweiter Hand weiter. Aber die Predigt des Herrn war durch und durch echt. Er hatte die Vollmacht, so zu reden, weil er war, was er lehrte. Jeder, der das Wort Gottes weitergibt, sollte mit Vollmacht sprechen oder es lassen. Der Psalmist sagte: »Ich habe geglaubt, darum kann ich sagen …« (Ps 116,10). Paulus wiederholte diese Wort e in 2. Korinther 4,13. Diese Botschaft ist aus tiefer Überzeugung geboren.
1,23 In dieser Synagoge gab es einen Mann, der von einem Dämon besessen war oder beherrscht wurde. Der Dämon wird als »unreiner Geist« beschrieben. Das bedeutet wahrscheinlich, dass dieser Geist sich dadurch bemerkbar machte, dass er den Mann entweder körperlich oder moralisch unrein machte. Niemand sollte Besessenheit mit Geisteskrankheiten verwechseln. Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ein besessener Mensch wird von einem bösen Geist bewohnt und beherrscht. Solch ein Mensch kann häufig übernatürlich handeln und wird oft gewalttätig oder lästert, wenn er mit der Person und dem Werk des Herrn Jesus Christus konfrontiert wird.
1,24 Man beachte, dass der böse Geist Jesus erkannte und von ihm als dem Nazarener und dem »Heiligen Gottes« sprach. Man beachte auch den Wechsel von der Mehrzahl in die Einzahl: »Was haben wir mit dir zu schaffen? … Bist du gekommen, uns zu verderben? Ich kenne dich …« Zuerst spricht der Dämon in Verbindung mit dem Mann, dann spricht er nur noch für sich selbst.
1,25.26 Jesus wollte das Zeugnis eines Dämons nicht annehmen, so wahr es auch sein mochte. Deshalb befahl er dem bösen Geist, zu schweigen und aus dem Mann auszufahren. Es muss seltsam ausgesehen haben, wie der Geist an dem Mann zerrte und schrie, als er sein Opfer verlassen musste.
1,27.28 Das Wunder erregte Entsetzen. Es war für diese Menschen ganz neu und aufregend, dass ein Mensch durch einen bloßen Befehl einen Dämon austreiben konnte. Sie fragten sich, ob dies der Anfang einer neuen religiösen Lehrrichtung war. Die Botschaft von dem Wunder »ging sogleich hinaus überall in die ganze Umgebung Galiläas«. Ehe wir diesen Abschnitt verlassen, sollten wir dreierlei festhalten:
1. Das erste Kommen Christi verursachte offensichtlich zahlreiche dämonische Aktivitäten auf Erden. 2. Die Macht Christi über die bösen Geister ist ein Hinweis auf seinen endgültigen Sieg über Satan und seine Handlanger.
3. Wo immer Gott am Werk ist, wehrt Satan sich. Alle, die dem Herrn dienen wollen, müssen damit rechnen, dass jeder Schritt auf ihrem Weg verhindert werden soll. »Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistigen Mächte der Bosheit in der Himmelswelt« (Eph 6,12).
D. Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1,29-31)
»Sobald« und »sofort« sind Schlüsselworte dieses Evangeliums und eignen sich besonders für den Bericht, der die Stellung des Herrn Jesus als Knecht betont.
1,29.30 Aus der Synagoge ging unser Herr zu Simons Haus. Als er ankam, erfuhr er, dass die Schwiegermutter Simons fieberkrank daniederlag. Vers 30 sagt, dass die im Haus Versammelten ihm sofort davon erzählten. Sie verschwendeten ihre Zeit nicht damit, ihre Not erst einem Arzt zu sagen.
1,31 Ohne ein Wort nahm Jesus sie bei der Hand und richtete sie auf. Sofort war sie geheilt. Normalerweise ist ein Mensch nach Fieber sehr geschwächt. In diesem Fall nahm der Herr nicht nur das Fieber weg, sondern gab der Frau auch gleich die Kraft zum Dienst. »Und sie diente ihnen.« J. R. Miller sagt dazu: Jeder Genesene, sei er durch gewöhn liche oder ungewöhnliche Mittel gesund geworden, sollte sich beeilen, das Leben, das er zurückerhalten hat, dem Herrn zu weihen … Viele Menschen sehnen sich oft nach Gelegenheiten, Christus zu dienen, und haben dabei einen guten und ehrenvollen Dienst im Auge, den sie gerne tun würden. In der Zwischenzeit lassen sie gerade die Aufgaben links liegen, bei denen Christus ihren Dienst begehrt. Echter Dienst Christi besteht in erster Linie darin, die täglichen Pflichten gut zu erledigen.2
Wunder:
1. Heilung eines Mannes mit einem unreinen Geist (1,23-26) 2. Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1,29-31)
3. Heilung des Aussätzigen (1,40-45) 4. Heilung des Gelähmten (2,1-12) 5. Heilung des Mannes mit der verdorrten Hand (3,1-5)
6. Befreiung des Besessenen (5,1-20) 7. Heilung der Frau mit Blutfluss (5,25-34) 8. Auferweckung der Tochter des Jairus (5,21-24; 35-43)
9. Heilung der Tochter der Syrophönizierin (7,24-30) 10. Heilung des Taubstummen (7, 31-37) 11. Heilung eines Blinden (8,22-26) 12. Heilung des besessenen Knaben (9,14-29) 13. Heilung des blinden Bartimäus (10,46-52) Es ist beachtenswert, dass der Herr bei jeder Heilung eine andere Methode verwendet. Das erinnert uns daran, dass keine zwei Bekehrungen auf die gleiche Weise geschehen. Jeder Mensch muss individuell behandelt werden. Dass Petrus eine Schwiegermutter hatte, zeigt uns, wie fremd die Vorstellung eines ehelosen Priestertums dieser Zeit in jeder Hinsicht war. Das Zölibat ist eine menschliche Tradition, die durch das Wort Gottes nicht gestützt wird und vielerlei Übel nach sich zieht. E. Heilung bei Sonnenuntergang (1,32-34)
1,32-34 Die Neuigkeit, dass Jesus da war, hatte sich während des Tages verbreitet. Während es noch Sabbat war, hatten die Menschen es nicht gewagt, die Not LeiBefreiung von:
1. Unreinheit der Sünde 2. Fieber und Rastlosigkeit der Sünde 3. Abscheulichkeit der Sünde 4. Hilflosigkeit verursacht durch Sünde 5. Nutzlosigkeit verursacht durch Sünde
6. Unglück, Gewalttätigkeit und Schrecken der Sünde
7. Macht der Sünde, die Lebenskraft zu rauben
8. Geistlicher Tod durch Sünde 9. Knechtschaft durch Sünde und Satan 10. Unfähigkeit, Gottes Wort zu hören und von Geistlichem zu sprechen 11. Blindheit gegenüber dem Licht des Evangeliums
12. Grausamkeit der Herrschaft Satans 13. Der Zustand der Blindheit und Armseligkeit, in den die Sünde führt denden zu Jesus zu bringen. Aber als »die Sonne unterging« und damit der Sabbat zu Ende war, strömten die Menschen zum Haus des Petrus. Dort erlebten die Kranken und Besessenen die Macht, die von jeder Art der Sünde und ihren Folgen befreit.
F. Predigt in Galiläa (1,35-39)
1,35 Jesus stand schon »frühmorgens, als es noch sehr dunkel war«, auf und ging an einen Platz, wo er nicht abgelenkt wurde, um dort eine Zeit im Gebet zu verbringen. Der Knecht Gottes öffnete jeden Morgen sein Ohr, um von Gott dem Vater Anweisungen für den Tag zu erhalten (Jes 50,4.5). Wenn der Herr Jesus es nötig hatte, morgens eine »Stille Zeit« einzulegen – wie viel mehr haben wir es nötig! Man beachte, dass er zu einer Zeit betete, die von ihm ein Opfer verlangte. Er stand auf und ging hinaus, als es noch sehr dunkel war, d. h. sehr früh am Morgen. Das Gebet sollte nicht eine Sache der persönlichen Bequemlichkeit sein, sondern der Selbstzucht und der Hingabe. Erklärt das vielleicht, warum heute so viel unfruchtbarer Dienst getan wird?
1,36.37 In der Zwischenzeit waren auch Simon und die anderen aufgestanden, und die Menge versammelte sich schon wieder vor dem Haus. Die Jünger gingen und erzählten Jesus von seiner wachsenden Beliebtheit.
1,38 Erstaunlicherweise ging er nicht in den Ort zurück, sondern nahm die Jünger »in die benachbarten Marktflecken« mit und erklärte, dass er dort auch predigen müsse. Warum kehrte er nicht nach Kapernaum zurück?
1. Er hatte gerade im Gebet erfahren, was Gott heute für ihn vorsah. 2. Er erkannte, dass die Volksbewegung in Kapernaum oberflächlich eingestellt war. Der Retter ließ sich nie durch große Menschenmengen beeindrucken. Er schaute tiefer und erkannte, was in den Herzen vorging. 3. Er kannte die Gefahren der Beliebtheit und lehrte die Jünger durch sein Vorbild, sich in Acht zu nehmen, wenn alle Welt sie lobt.
4. Er vermied konsequent jede oberflächliche und gefühlsbetonte Bekundung seiner Macht, die ihm die Krone vor dem Kreuz hätte einbringen können.
5. Er legte besonderen Wert auf das Predigen des Wortes. Die Heilungswunder waren zwar dazu bestimmt, menschliches Leiden zu lindern, aber sie sollten auch die Aufmerksamkeit der Zuhörer für die Predigt gewinnen.
1,39 So ging Jesus in »ganz Galiläa« in die Synagogen, predigte und »trieb die Dämonen aus«. Er verband immer die Praxis mit der Predigt, er sprach und handelte. Es ist interessant zu sehen, wie oft er in Synagogen Dämonen austrieb. Würden heutige liberale Gemeinden den damaligen Synagogen entsprechen? G. Reinigung eines Aussätzigen (1,40-45)
1,40-45 Die Erzählung über den Aussätzigen gibt uns ein wunderbares Beispiel für ein Gebet, das von Gott erhört wird: 1. Dem Mann ist es ernst mit seinem Anliegen, er ist verzweifelt: Er »bittet ihn«.
2. Er ist ehrfürchtig: Er »kniet nieder«. 3. Er ist demütig und unterwürfig: »Wenn du willst.«
4. Er glaubt: »Du kannst.« 5. Er gibt seine Not zu: »Reinige mich.« 6. Er hat ein bestimmtes Anliegen: nicht verschwommen (»segne mich«), sondern konkret (»reinige mich«). 7. Er betet persönlich: »Reinige mich.« 8. Er betet kurz, im Grundtext sind es nur fünf Worte.
Man beachte, was nun geschieht! Jesus war »innerlich bewegt«. Wir sollten diese Worte niemals ohne Freude und Dankbarkeit lesen.
Er »streckte seine Hand aus«. Man denke sich nur: Die Hand Gottes streckt sich als Antwort auf demütiges, gläubiges Gebet aus!
Er »rührte ihn an«. Nach dem Gesetz wurde ein Mensch unrein, wenn er einen Aussätzigen berührte. Natürlich gab es auch die Gefahr der Ansteckung. Aber der heilige Sohn Gottes machte sich mit den Menschen in ihren Leiden eins und heilte die Folgen der Sünde, ohne von ihnen befleckt zu werden.
Er sagte: »Ich will.« Sein Heilungswille war größer als unsere Bereitschaft, Heilung zu empfangen. Dann sagte er: »Sei gereinigt.« Sofort war die Haut des Aussätzigen glatt und rein. Jesus verbot es, das Wunder zu verbreiten, ehe der Mann nicht vor dem Priester erschienen war und das erforderliche Opfer gebracht hatte (3. Mose 14,2ff.). Das sollte zuerst einmal den Gehorsam des Mannes erproben. Würde er tun, wie ihm geheißen war? Er gehorchte nicht, denn er breitete die Sache aus und hinderte infolgedessen die Arbeit des Herrn (V. 45). Auch war es eine Probe für die Urteilsfähigkeit des Priesters. Würde er erkennen, dass der lang ersehnte Messias gekommen war und wunderbare Heilungen vollbrachte? Wenn der Priester wie die übrigen Angehörigen des Volkes eingestellt war, würde er es nicht erkennen. Wieder sehen wir, dass Jesus sich von der Menge zurückzog und »an einsamen Orten« diente. Er beurteilte seinen Erfolg nicht nach Zahlen.
H. Heilung eines Gelähmten (2,1-12)
2,1-4 Sobald der Herr wieder nach Kapernaum kam, »versammelten sich viele« vor dem Haus, in dem er war. Die Nachricht verbreitete sich schnell, denn die Menschen wollten alle den Wundertäter sehen. Wann immer Gott in Vollmacht handelt, werden die Menschen angezogen. Der Heiland »sagte ihnen das Wort«, als sie das Haus bis zur Tür füllten. Ganz hinten in der Menge war ein Gelähmter, der von vier anderen auf einer improvisierten Bahre getragen wurde. Wegen der vielen Menschen konnten sie nicht zu Jesus kommen. Es gibt fast immer Hindernisse, wenn man einen anderen zu Jesus bringen will. Aber Glaube macht erfinderisch! Die vier Träger kletterten die Außentreppe auf das Dach hinauf, »deckten das Dach ab« und ließen den Gelähmten auf den Boden hinunter – vielleicht in einen Hof in der Mitte des Hauses – und brachten ihn so in die Nähe des Sohnes Gottes. Jemand hat den vieren einmal die charakteristischen Namen Mitgefühl, Zusammenarbeit, Ideenreichtum und Ausdauer gegeben. Jeder von uns sollte danach streben, ein Freund mit diesen Eigenschaften zu sein.
2,5 Jesus, durch ihren Glauben beeindruckt, sagte zu dem Gelähmten: »Kind, deine Sünden sind vergeben.« Das schien nun eine recht seltsame Äußerung zu sein. Es ging doch um Lähmung und nicht um Sünde, oder? Ja, doch Jesus sah über die Symptome hinaus und erkannte die Ursache. Er wollte nicht den Körper heilen und die Seele vernachlässigen. Er wollte nicht einen nur zeitlichen Zustand erleichtern, ohne den ewigen Zustand zu verändern. Deshalb sagte er: »Deine Sünden sind vergeben.« Das war eine wunderbare Nachricht. Jetzt, auf dieser Erde und in diesem Leben, war die Sünde des Mannes vergeben. Er brauchte nicht bis zum Tag des Gerichtes zu warten. Er hatte jetzt die Sicherheit der Vergebung. Diese Sicherheit haben alle, die an Jesus glauben.
2,6.7 Die Schriftgelehrten erfassten sofort die Bedeutung dieser Aussage. Sie hatten genug Bibelkenntnis, um zu wissen, dass nur Gott Sünden vergeben kann. Jeder, der daher behauptete, Sünden zu vergeben, beanspruchte damit gleichzeitig, Gott zu sein. Bis dahin war ihre Logik richtig. Aber statt den Herrn Jesus als Gott anzuerkennen, klagten sie ihn in ihren Herzen der Gotteslästerung an.
2,8.9 Jesus konnte ihre Gedanken lesen, ein Beweis seiner übernatürlichen Macht. Er fragte sie herausfordernd: »Was ist leichter? Zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen: Steh auf und nimm dein Bett auf und geh umher?« Eigentlich ist es sehr einfach, sowohl das eine als auch das andere zu sagen. Aber es ist menschlich gesehen ebenso unmöglich, das eine wie das andere zu tun.
2,10-12 Der Herr hatte die Sünden des Mannes schon für vergeben erklärt. Aber waren sie wirklich vergeben? Die Schriftgelehrten konnten nicht sehen, dass die Sünden des Mannes vergeben waren, deswegen wollten sie es nicht glauben. Um zu zeigen, dass dem Mann wirklich vergeben war, gab der Heiland den Schriftgelehrten etwas Sichtbares. Er befahl dem Gelähmten aufzustehen, seine Matte zu nehmen und zu gehen. Der Mann gehorchte sofort. Alle Leute »gerieten außer sich«. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Aber die Schriftgelehrten glaubten trotz der massiven Beweise nicht. Glaube betrifft auch den Willen, und sie wollten nicht glauben.
I. Die Berufung Levis (2,13-17)
2,13.14 Während Jesus am See lehrte, sah er Levi am Zoll sitzen. Wir kennen Levi unter dem Namen Matthäus, der später das erste Evangelium schrieb. Er war ein Jude, aber sein Beruf war äußerst unjüdisch, wenn man bedenkt, dass er für die verachtete römische Obrigkeit Steuern einnahm! Solche Männer waren nicht gerade für ihre Ehrlichkeit bekannt. Stattdessen sah man auf sie – wie auf Huren – als den Abschaum der Gesellschaft herab. Doch es wird Levi in der Ewigkeit anerkannt, dass er auf den Ruf Christi hin alles aufgab und ihm nachfolgte. Möge jeder von uns ihm in seinem schnellen und kritiklosen Gehorsam ähnlich sein! Manchmal scheint dieser Gehorsam ein großes Opfer zu sein, aber in der Ewigkeit werden wir es nicht mehr als Opfer empfinden. Der Missionar und Märtyrer Jim Elliot sagte: »Der ist kein Narr, der hingibt, was er nicht behalten kann, um zu erl angen, was er nicht verlieren kann.«
2,15 In Levis Haus wurde nun ein großes Essen veranstaltet, bei dem er Jesus seinen Freunden vorstellen konnte. Die meisten seiner Freunde waren wie er selbst – »Zöllner und Sünder«. Jesus nahm die Einladung an, um mit ihnen zusammenzukommen.
2,16 Die Schriftgelehrten und Pharisäer dachten, sie hätten ihn bei einem schweren Fehler erwischt. Statt sofort mit ihrer Klage zu ihm zu gehen, gingen sie »zu seinen Jüngern« und versuchten, ihr Vertrauen und ihre Treue zu untergraben. Wie kam es, dass ihr Meister mit den Zöllnern und Sündern aß?
2,17 »Jesus hörte es« und erinnerte sie daran, dass Gesunde keinen Arzt brauchen – nur die Kranken. Die Schriftgelehrten meinten, gesund zu sein, und erkannten deshalb nicht ihr Bedürfnis nach dem großen Arzt. Die Zöllner und Sünder gaben ihre Schuld und ihre Hilfsbedürftigkeit zu. Jesus kam, um Sünder wie sie zu rufen – nicht die Selbstgerechten. Das sollte uns eine Lehre sein. Wir sollten uns nicht in christianisierten Gemeinschaften einschließen. Wir sollten lieber danach trachten, Gottlosen Freunde zu sein, um ihnen unseren Herrn und Retter vorzustellen. Wenn wir Sündern Freundschaft erweisen, sollten wir nichts tun, das unser Zeugnis verwischen könnte, noch den Unerretteten erlauben, uns auf ihre Ebene herabzuziehen. Wir sollten die Initiative ergreifen, die Beziehung in gute, geistlich hilfreiche Kanäle zu leiten. Es ist viel einfacher, sich von der bösen Welt zu isolieren; aber Jesus tat dies nicht, also sollten es seine Nachfolger auch nicht tun. Die Schriftgelehrten meinten, sie könnten den Ruf des Herrn schädigen, wenn sie ihn einen Freund der Sünder nannten. Aber ihr beleidigend gemeintes Reden hat eine wunderbare Wirkung gehabt. Alle Erlösten erkennen Jesus glücklich als Freund der Sünder an und lieben ihn deswegen auf ewig.
J. Streitgespräch über das Fasten (2,18-22)
2,18 »Die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten« regelmäßig. Das war für sie eine Glaubensübung. Im AT war das Fasten als Zeichen tiefer Trauer eingesetzt worden. Aber es hatte viel von seiner Bedeutung verloren und war zu einem Ritual erstarrt. Sie bemerkten, dass Jesu Jünger nicht fasteten, und deshalb wurden sie vielleicht neidisch und bemitleideten sich selbst in ihren Herzen, als sie den Herrn um eine Erklärung baten.
2,19.20 Als Antwort verglich Jesus seine Jünger mit den Hochzeitsgästen. Der Bräutigam war er selbst. Solange er bei ihnen war, gab es keinen Grund, nach außen hin Trauer zu zeigen. »Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen weggenommen sein wird, und dann, an jenem Tag, werden sie fasten.« Dann würden sie noch genug Zeit dafür haben.
2,21 Sofort fügt der Herr zwei Bilder an, mit denen er den Beginn eines neuen Zeitalters ankündigt, das mit dem vorhergehenden nicht vereinbar ist. Das erste Bild handelt von einem Flicken aus neuem Tuch, das noch nicht eingelaufen ist. Wenn man es verwendet, um ein altes Kleid zu flicken, wird es unausweichlich einlaufen und eines von beiden wird nachgeben müssen. Da das Kleid aus älterem Tuch ist, wird der Stoff weniger stabil sein und an der geflickten Stelle wieder reißen. Jesus vergleicht die alte Haushaltung mit dem alten Gewand. Gott wollte nie, dass das Christentum auf das Judentum geflickt würde, weil es etwas völlig Neues darstellt. Die Trauer der alten Haushaltung, die sich im Fasten ausdrückte, muss der Freude der neuen Heilszeit weichen.
2,22 Das zweite Bild handelt von neuem Wein in alten Schläuchen. Die ledernen Schläuche verloren ihre Dehnfähigkeit. Wenn man neuen Wein hineinfüllte, dann sprengte der Druck, der durch die Gärung entsteht, die Schläuche. Der neue Wein steht für die Freude und Vollmacht des christlichen Glaubens. Die alten Schläuche sind ein Bild für die Formen und Riten des Judentums. Neuer Wein braucht neue Schläuche. Es war sinnlos, dass die Johannesjünger und die Pharisäer den Jüngern des Herrn die Last des Fastens aufladen wollten, wie es bisher praktiziert worden war. Die Freude und das überschäumende neue Leben mussten sich ausdrücken dürfen. Das Christentum hat immer unter dem Versuch von Menschen gelitten, es mit Gesetzlichkeit zu vermischen. Der Herr Jesus lehrte, dass beide nicht vereinbar sind. Gesetz und Gnade sind zwei sich widersprechende Prinzipien. K. Streitgespräch über den Sabbat (2,23-28)
2,23.24 Dieser Vorfall zeigt den Konflikt, über den Jesus gerade eben gesprochen hatte: zwischen der Tradition des Judentums und der Freiheit des Evangeliums. Als er »am Sabbat durch die Saaten ging«, pflückten seine Jünger einige Kornähren ab, um deren Körner zu essen. Das verstieß nicht gegen Gottes Gesetz. Aber nach den haarspalterischen Überlieferungen der Ältesten hatten die Jünger den Sabbat gebrochen, indem sie »ernteten« und vielleicht sogar »droschen« (sie rieben die Ähren zwischen den Händen, um die Spelzen zu entf ernen).
2,25.26 Der Herr antwortete den Pharisäern, indem er einen Vorfall aus dem AT anführte. David war zwar zum König gesalbt worden, galt aber beim amtierenden König als Geächteter. Statt zu regieren, wurde er wie ein Stück Wild gejagt. Als eines Tages seine Vorräte aufgebraucht waren, ging er in das Haus Gottes und aß mit seinen Männern die Schaubrote. Normalerweise durften nur die Priester von den Schaubroten essen, doch David wurde von Gott nicht dafür getadelt. Warum? Weil in Israel nichts mehr dem Willen Gottes entsprach. Solange David nicht seinen rechtmäßigen Platz als König einnehmen konnte, erlaubte Gott ihm Dinge, die normalerweise ungesetzlich gewesen wären. Das Gleiche galt für den Herrn Jesus. Er war zwar gesalbt, herrschte aber nicht. Allein die Tatsache, dass sich die Jünger während ihrer Reise Getreide pflücken mussten, zeigte, dass Israel nicht richtig handelte. Die Pharisäer selbst hätten Jesus und seinen Jüngern Gastfreundschaft gewähren sollen, statt sie zu kritisieren. Wenn David wirklich das Gesetz gebrochen hatte, indem er die Schaubrote aß, und trotzdem von Gott nicht getadelt wurde, wie viel weniger schuldig waren die Jünger, die unter gleichen Umständen nichts weiter als die Überlieferung der Ältesten gebrochen hatten! Vers 26 erwähnt, dass David die Schaubrote aß, als Abjatar Hoherpriester war. Nach 1. Samuel 21,1 war zu dieser Zeit Ahimelech Priester. Abjatar war sein Vater. Es mag sein, dass die Treue des Hohenpriesters gegenüber David ihn dazu führte, diese ungewöhnliche Abweichung vom Gesetz zu erlauben.
2,27.28 Unser Herr schloss seine Rede, indem er die Pharisäer daran erinnerte, dass der Sabbat von Gott eingesetzt wurde, um dem Menschen zu nützen, nicht um ihn zu knechten. Dann fügte er an, dass »der Sohn des Menschen Herr auch des Sabbats« ist – er war es, der den Sabbat zu Beginn verordnet hatte. Deshalb hatte er die Autorität zu entscheiden, was an diesem Tag erlaubt und was verboten war. Sicherlich war der Sabbat nie dazu gedacht gewesen, Arbeiten zu verbieten, die notwendig sind oder aus Barmherzigkeit nicht unterlassen werden dürfen. Christen sind nicht verpflichtet, den Sabbat zu halten. Dieser Tag ist dem Volk Israel gegeben. Der besondere Tag der Christen ist der Tag des Herrn, der erste Tag der Woche. Dennoch soll man ihn nicht mit gesetzlichen Geboten und Verboten überfrachten. Es ist eher ein Vorrecht, einen solchen Tag zu haben, der von weltlicher Arbeit frei ist, an dem die Gläubigen beten, Gottesdienst halten und ihre Seelen nähren dürfen. Für uns stellt sich nicht die Frage: »Ist dies und das am Tag des Herrn erlaubt?« Wir sollten eher fragen: »Wie kann ich diesen Tag am besten zur Ehre Gottes, zum Segen meiner Mitmenschen und zu meinem geistlichen Wohlergehen verwenden?«
L. Der Knecht heilt am Sabbat (3,1-6)
3,1.2 Es gab hinsichtlich der Sabbatfrage noch einen weiteren Präzedenzfall. Jesus »ging wieder in die Synagoge« und traf dort einen Mann mit einer verdorrten Hand. Schon erhob sich die Frage: Wird Jesus es wagen, »ihn am Sabbat zu heilen«? Wenn er das täte, hätten die Pharisäer eine Anklage gegen ihn – so dachten sie jedenfalls. Man stelle sich ihre Heuchelei und Unehrlichkeit einmal vor! Sie selbst konnten nichts tun, um diesem Mann zu helfen, und verachteten jeden, der es konnte. Sie suchten einen Anlass, um den Herrn des Lebens zu verurteilen. Wenn er am Sabbat heilen würde, dann würden sie wie ein Rudel Wölfe über ihn herfallen, um ihn zu töten.
3,3.4 Der Herr forderte den Mann auf, in die Mitte zu treten. Die Atmosphäre war voll gespannter Erwartung. Dann fragte er die Pharisäer: »Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, das Leben zu retten oder zu töten?« Seine Frage enthüllte die Bosheit der Pharisäer. Sie meinten, dass es falsch sei, ein Heilungswunder am Sabbat zu vollbringen, jedoch nicht, dass es falsch sei, an einem Sabbat den Mord an ihm zu planen!
3,5 Es ist kein Wunder, dass sie nicht antworten wollten. Nach einer verlegenen Pause befahl der Heiland dem Mann, die Hand auszustrecken. Als er das tat, kehrte ihre ganze Kraft zurück, das Fleisch hatte wieder seine normale Ausdehnung, und die Falten verschwanden.
3,6 Das war mehr, als die Pharisäer ertragen konnten. Sie »gingen hinaus«, nahmen mit den Herodianern, mit denen sie traditionell verfeindet waren, Kontakt auf und planten, »wie sie ihn umbringen könnten«. Noch immer war Sabbat. Herodes hatte Johannes den Täufer getötet. Vielleicht waren dieselben Leute auch in der Lage, Jesus zu ermorden. Das war die Hoffnung der Pharisäer.
M. Eine große Menge bedrängt den Knecht (3,7-12)
3,7-10 Nachdem er die Synagoge verlassen hatte, »entwich« er »mit seinen Jüngern an den See« Genezareth. Der See symbolisiert in der Bibel oftmals die Heiden. Deshalb mag diese Handlung seine Abwendung von den Juden zu den Heiden zeigen. »Eine große Menge« versammelte sich nicht nur aus Galiläa, sondern kam auch von weiter her. Die Menge war so groß, dass Jesus um ein kleines Boot bat, sodass er vom Ufer ein wenig wegfahren konnte, damit er nicht von denen zu sehr bedrängt wurde, die bei ihm Heilung suchten.
3,11.12 Als die unreinen Geister in der Menge schrien: »Du bist der Sohn Gottes!«, verbot er ihnen strikt, dies zu verkünden. Wie schon angemerkt, wollte er nicht von bösen Geistern bezeugt werden. Er stellte nicht in Abrede, dass er der Sohn Gottes war. Aber er wachte über die Zeit und die Art, wann und wie er als solcher verkündigt wurde. Jesus hatte die Heilungsmacht, aber seine Wunder konnten nur die erleben, die ihn um Hilfe baten. Genauso ist es mit der Errettung. Seine Macht zur Errettung reicht für alle aus, aber sie wird nur da wirksam, wo man auf ihn vertraut.
Wir lernen aus dem Dienst unseres Herrn, dass Not noch kein Auftrag ist. Überall gab es Not. Jesus verließ sich ganz auf die Anweisungen seines Vaters, wann und wo er zu dienen hatte. So muss es auch bei uns sein.
III. Der Knecht beruft und lehrt seine Jünger (3,13 – 8,38)
A. Die Berufung der zwölf Apostel (3,13-19)
3,13-18 In Voraussicht der Aufgabe der Weltevangelisation ernannte Jesus zwölf Jünger. An diesen Männern war an sich nichts Besonderes. Nur ihre Verbindung mit Jesus machte sie groß. Sie waren ausnahmslos junge Männer. James E. Stewart schreibt in seinem ausgezeichneten Kommentar über das Alter der Jünger:
Das Christentum begann als eine Bewegung junger Leute … Unglücklicherweise ist diese Tatsache in der christlichen Kunst und Predigt häufig verdreht worden. Aber es ist ziemlich sicher, dass die Jünger zu Anfang eine Schar junger Männer waren. Die meisten Apostel waren wahrscheinlich weniger als dreißig Jahre alt, als sie Jesus nachfolgten. Jesus selbst, das sollten wir nicht vergessen, ging »im Tau seiner Jugend« (vgl. Psalm 110,3; Elb) zu seinem Dienst aus (Psalm 110 wird von Jesus selbst auf sich bezogen, was in der Gemeinde der Apostel weiter so gehalten wurde). Es war echtes Einfühlungsvermögen, das die frühen Christen dazu führte, ihren Meister auf den Wänden der Katakomben nicht als alten, müden und von Schmerz gebrochenen Mann darzustellen, sondern als jungen Hirten, der frühmorgens auf den Hügeln seine Herde weidet. Die Originalversion des wunderbaren Liedes von Isaac Watts gab die Tatsachen wieder:
Schau ich zu dir, jung an Jahren, hin, der du für mich gestorben bist, zu Schaden wird, was sonst Gewinn, was einst mein Stolz gewesen ist. Und niemand hat jemals die Jugend in ihrer Freude, Lebenslust und Großzügigkeit und Hoffnung verstanden, ihre plötzliche Einsamkeit und Albträume und verborgenen Konflikte und starken Versuchungen, keiner hat sie auch nur annähernd so gut verstanden wie Jesus. Und keiner erkannte deutlicher als Jesus, dass die Jahre des Erwachsenwerdens, in denen fremde schlummernde Gedanken erwachen und sich die ganze Welt entfaltet, Gottes beste Chance sind, um die Seele anzusprechen … Wenn wir die Geschichte der ersten zwölf Jünger überdenken, dann lesen wir von den Abenteuern junger Männer. Wir sehen sie, wie sie ihrem Herrn ins Unbekannte folgen, nicht genau wissend, wer er ist oder warum sie es tun werden oder wo er sie hinführen wird. Sie waren einfach nur von ihm angezogen, fasziniert, ergriffen und festgehalten von irgendetwas Unwiderstehlichem an ihm. Sie wurden von Freunden ausgelacht, Feinde stellten ihnen Fallen, manchmal erhoben Zweifel ihre laute Stimme in ihren Herzen, bis sie fast wünschten, sie hätten mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun. Doch noch immer hielten sie an ihm fest und wurden dadurch, dass all ihre Hoffnungen zunichtegemacht wurden, zu einer besseren Treue geführt. Schließlich erwarben sie sich siegreich den großartigen Namen, den das Te Deum ihnen verleiht: »Die herrliche Gemeinschaft der Apostel«. Es ist gut, sie zu beobachten, denn auch wir können dadurch von ihrem Geist beeinflusst werden und anfangen, mit ihm zu gehen.3 Jesus hatte ein dreifaches Ziel mit der Berufung der Jünger:
1. »damit sie bei ihm seien«; 2. »damit er sie aussende, zu predigen«; 3. »und Vollmacht zu haben, die Dämonen auszutreiben«.
Erstens mussten sie eine Zeit der Unterweisung durchleben – eine Vorbereitung in der Zurückgezogenheit, ehe sie öffentlich predigen konnten. Wir müssen Zeit mit Jesus verbringen, ehe wir als Gottes Botschafter hinausgehen können. Zweitens wurden sie zum Predigen ausgesandt. Die Verkündigung des Wortes Gottes, ihre grundlegende Evangelisationsmethode, muss immer im Mittelpunkt stehen. Nichts darf sie verdrängen. Und schließlich wurde ihnen noch übernatürliche Macht verliehen. Das Austreiben von Dämonen würde den Menschen beweisen, dass Gott durch die Apostel sprach. Die Bibel war noch nicht vollständig. Wunder waren die »Beglaubigungsschreiben« der Boten Gottes. Heute haben die Menschen Zugang zum gesamten Wort Gottes, sie sind heute verantwortlich, ohne den Beweis von Wundern zu glauben.
3,19 Der Name Judas Iskariot steht in der Jüngerliste einsam da. Ein Geheimnis umgibt diesen Mann, der als Apostel berufen und schließlich zum Verräter unseres Herrn wurde. Es ist im christlichen Dienst am schmerzhaftesten, wenn man jemanden sieht, der strahlend, ernsthaft und augenscheinlich hingebungsvoll lebte, aber später seinem Retter den Rücken zukehrt und in die Welt, die Jesus kreuzigte, zurückkehrt.
Elf erwiesen sich dem Herrn treu, und durch sie kehrte er in der Welt das Unterste zuoberst. In dem Maße, wie das Evangelium immer weitere Kreise zog, nahm die Zahl der Gläubigen zu, und in gewissem Sinne sind wir heute die fortwährende Frucht ihres Dienstes. Wir können niemals voraussagen, wie weitreichend unser Einfluss für Christus einmal sein wird.
B. Die Sünde, die nicht vergeben werden kann (3,20-30)
3,20.21 Jesus kehrte von dem Berg zurück, auf dem er seine Jünger berufen hatte. Er geht in ein galiläisches Haus. Eine so große Volksmenge hatte sich gesammelt, sodass er und seine Apostel zu beschäftigt waren, um essen zu können. Als seine eigenen Angehörigen davon hörten, waren sie der Meinung, er sei »von Sinnen«, und wollten ihn ergreifen. Zweifellos waren sie durch den Eifer dieses religiösen Fanatikers in ihrer Familie peinlich berührt.
J. R. Miller sagt dazu:
Sie konnten seinen unaufhörlichen Eifer nur damit erklären, dass er geisteskrank war. Wir hören in der heutigen Zeit sehr viel Ähnliches, wenn ein hingegebener Nachfolger Christi sich selbst in Liebe zu seinem Meister vergisst. Die Leute sagen: »Er muss verrückt sein.« Sie denken, dass jeder Mensch geisteskrank ist, dessen Glaube zu irgendeiner Art ungewöhnlichen Eifers führt oder der seine Aufgabe im Werk des Herrn ernster nimmt als der Durchschnittschrist … Das ist jedoch eine gute Form der Geisteskrankheit. Es ist außerordentlich bedauerlich, dass sie nicht häufiger vorkommt, denn sonst würden nicht so viele unerrettete Seelen im Schatten unserer Kirchen sterben. Es wäre nicht so schwer, Missionare zu berufen und Geld zu bekommen, um das Evangelium in die dunkelsten Winkel der Erde zu senden. Es gäbe nicht so viele leere Kirchenbänke und nicht so lange Pausen in unseren Gebetsgemeinschaften und nicht so wenige Menschen in unseren Bibelstunden. Es wäre herrlich, wenn alle Christen wie ihr Meister oder wie Paulus »außer sich« wären. Es ist eine viel schlimmere Geisteskrankheit, die uns in unserer Welt nie an andere Länder denken lässt, die nie die verlorenen Menschen bedauert, denen wir täglich begegnen, keinen Gedanken an deren verlorenen Zustand verschwendet und nichts unternimmt, um sie zu erretten. Es ist weitaus leichter, einen kühlen Kopf und ein kälteres Herz zu bewahren und sich keine Gedanken um verlorene Seelen zu machen. Aber wir sind Hüter unserer Brüder, und keine Pflichtverletzung kann schlimmer sein, als die, welche auf ihre ewige Errettung nicht achtgibt.4
Es ist immer so, dass ein Mensch, der für Gott brennt, irgendwie seltsam auf seine Zeitgenossen wirkt. Je mehr wir Christus ähneln, desto mehr werden wir das Leid erleben, durch Verwandte und Freunde missverstanden zu werden. Wenn wir uns vornehmen, ein Vermögen zu machen, dann werden uns die Menschen beglückwünschen. Wenn wir jedoch Eiferer für Jesus Christus werden, dann werden sie uns verachten.
3,22 Die Schriftgelehrten hielten Jesus nicht für geisteskrank. Sie klagten ihn an, Dämonen durch die Macht »Beelzebuls, … des Obersten der Dämonen«, auszutreiben. Der Name Beelzebul bedeutet »Herr der Schmeißfliegen« oder »Herr des Schmutzes«. Das war eine ernste, bösartige und gotteslästerliche Anklage!
3,23 Erst widerlegte Jesus diese Anklage, dann verkündigte er das Schicksal derer, die diese Anklage erhoben hatten. Wenn er Dämonen mit Beelzebul austriebe, dann würde Satan gegen sich selbst arbeiten und seine eigenen Ziele verraten. Dessen Ziel ist es, Menschen durch Dämonen zu binden, und nicht, sie von ihnen zu befreien.
3,24-26 Ein Reich, ein Haus oder eine Person, die »mit sich selbst entzweit ist«, kann nicht bestehen. Das Überl eben hängt von innerem Zusammenwirken ab, Zerrissenheit zerstört jeden Fortbestand.
3,27 Die Anklage der Schriftgelehrten war deshalb grotesk. In der Tat wirkte Jesus das Gegenteil von dem, was sie behaupteten. Seine Wunder zeigten den Zerfall des Reiches Satans an, nicht dessen Aufstieg. Das meinte unser Heiland, als er sagte: »Niemand aber kann in das Haus des Starken eindringen und seinen Hausrat rauben, wenn er nicht vorher den Starken gebunden hat, und dann wird er sein Haus berauben.«
Satan ist in diesem Gleichnis der Starke. Das Haus ist sein Reich, er ist der Gott dieses Zeitalters. Sein Hausrat sind die Menschen, die er beherrscht. Jesus ist der Eine, der Satan bindet und sein Haus beraubt. Bei der Wiederkunft Christi wird Satan gebunden und für tausend Jahre in den Abgrund geworfen. Die Austreibung von Dämonen während des Dienstes Jesu auf Erden war nur die Ankündigung des endgültigen Sieges über den Teufel.
3,28-30 In den Versen 28-30 verkündigt der Herr das Schicksal der Schriftgelehrten, die sich der Sünde schuldig gemacht hatten, die nicht vergeben werden kann. Indem sie Jesus anklagten, er würde Dämonen durch dämonische Kräfte austreiben, während er sie in Wirklichkeit durch die Kraft des Heiligen Geistes austrieb, nannten sie den Heiligen Geist praktisch einen Dämon. Das ist Lästerung gegen den Heiligen Geist. Alle Sünden können vergeben werden, aber für diese besondere Sünde gibt es keine Vergebung. Sie ist eine »ewige Sünde«. Können Menschen diese Sünde heute noch begehen? Wohl nicht. Diese Sünde konnte nur begangen werden, solange Jesus auf der Erde Wunder tat. Weil er heute nicht mehr physisch anwesend ist und Dämonen austreibt, gibt es diese Möglichkeit der Lästerung des Heiligen Geistes nicht mehr. Menschen, die sich sorgen, die unvergebbare Sünde be gangen zu haben, haben sie mit Sicherheit nicht begangen. Allein die Tatsache, dass sie sich Sorgen darüber machen, beweist, dass sie sich nicht der Lästerung des Heilig en Geistes schuldig gemacht haben.
C. Die wahren Verwandten des Knechtes (3,31-35)
3,31-35 Maria, »seine Mutter«, und seine Brüder kamen, um Jesus zu sprechen. Durch die Menge konnten sie nicht zu ihm kommen, deshalb »sandten (sie) zu ihm«, dass sie draußen warten würden. Als Jesus hörte, dass seine Mutter und seine Brüder ihn sprechen wollten, »blickte er umher« und erklärte, dass seine Mutter und seine Brüder diejenigen seien, die »den Willen Gottes« tun. Aus dieser Äußerung ergeben sich für uns mehrere Lehren:
1. Mit den Worten des Herrn wird die Marienverehrung (eine Form des Göt zen dienstes) zurückgewiesen. Er ehrte sie als seine natürliche Mutter, aber er sagte, dass geistliche Beziehungen wichtiger als natürliche sind. Es gereichte Maria eher zur Ehre, Gottes Willen zu tun, als Jesu Mutter zu sein.
2. Wir haben hier den Gegenbeweis für die Lehre, dass Maria Jungfrau geblieben war. Jesus hatte Brüder. Er war Marias Erstgeborener, aber sie gebar später noch andere Söhne und Töchter (s. Matth 13,55; Mk 6,3; Joh 2,12; 7,3.5.10; Apg 1,14; 1. Kor 9,5; Gal 1,19. S. a. Ps 69,9).
3. Jesus stellte Gottes Interessen über die Familienbande. Seinen Nachfolgern sagt er auch heute noch: »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26). 4. Dieser Abschnitt erinnert uns dara n, dass Gläubige durch engere Bande zusammengehalten werden, als Bluts verwandtschaft es je könnte, wenn die Verwandten nicht gerettet sind. 5. Schließlich betont der Absatz die Bedeutung, die Jesus der Erfüllung des Willens Gottes zumisst. Kann ich mich an diesem Maßstab messen lassen? Bin ich Jesu Bruder und Mutter? D. Das Gleichnis vom Sämann (4,1-20)
4,1.2 »Wieder« lehrte Jesus am See. Und erneut war es wegen der Volksmenge nötig, als Kanzel ein Boot zu benutzen, das ein wenig vom Ufer entfernt war. Und wieder lehrte er geistliche Tatsachen in Bildern aus der ihn umgebenden Natur. Er konnte geistliche Tatsachen in der Natur dargestellt sehen. Sie sind dort für uns alle sichtbar.
4,3.4 In diesem Gleichnis geht es um einen Sämann, den Samen und den Boden. Der Boden des Weges ist zu hart, als dass die Saat dort aufgehen konnte. »Die Vögel kamen und fraßen« den Samen.
4,5.6 »Das Steinige« war ein Felsgrund, der dünn mit Erde bedeckt war. Weil die Erdschicht so dünn war, konnte die Saat nicht tief wurzeln.
4,7 Auf dem nächsten Boden standen Dornbüsche, die der Saat Licht und Nährstoffe wegnahmen und sie so erstickten.
4,8.9 Die gute Erde war tief und fruchtbar – das waren ideale Bedingungen für die Saat. Einige Körner brachten einen dreißigfachen Ertrag, andere trugen sechzig- und einige hundertfach.
4,10-12 Als die Jünger mit ihm allein waren, fragten sie ihn, warum er in Gleichnissen spreche. Er antwortete, dass es nur denjenigen, die ein aufnahmebereites Herz haben, erlaubt ist, »das Geheimnis des Reiches Gottes« zu erkennen. Ein Geheimnis im NT ist eine Wahrheit, die bisher unbekannt war und nur durch besondere Offenbarung erkannt werden kann. Das Geheimnis des Reiches Gottes besteht in Folgendem:
1. Der Herr Jesus wurde verworfen, als er sich selbst Israel als König anbot. 2. Es würde einige Zeit vergehen, ehe das Reich buchstäblich auf Erden errichtet würde.
3. In der Zwischenzeit würde es in seiner geistlichen Form bestehen. Alle, die Christus als König anerkennen, gehören zu dem Reich, auch wenn der König selbst nicht anwesend ist. 4. Das Wort Gottes würde in der Zwischenzeit mit unterschiedlichem Erfolg ausgesät werden. Einige Menschen würden wirklich bekehrt werd en, andere würden nur Namenschristen bleiben. Alle bekennenden Christen würden im äußeren Bereich des Reiches sein, aber nur die Wiedergeborenen würden in den inneren Bereich eintreten.
Die Verse 11 und 12 erklären, waru m diese Wahrheit in Gleichnissen gelehrt wird. Gott offenbart die für die Seinen bestimmten Geheimnisse denen, die offene, gehorsame und aufnahmebereite Herzen haben. Er enthält sie aber absichtlich denen vor, die das ihnen angebotene Licht ablehnen. Das sind die Leute, die Jesus als »jene …, die draußen sind« bezeichnet. Die Worte von Vers 12 mögen dem oberflächlichen Leser ungerecht und hart erscheinen: »Damit sie sehend sehen und nicht wahrnehmen und hörend hören und nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.«
Aber wir müssen uns an das enorme Vorrecht erinnern, das diese Menschen genossen. Der Sohn Gottes selbst hatte in ihrer Mitte gelehrt und viele mächtige Wunder getan. Statt ihn als wahren Messias anzuerkennen, lehnten sie ihn selbst jetzt ab. Weil sie das Licht der Welt ausgeschlagen hatten, sollte ihnen das Licht seiner Lehre nicht gegeben werden. Von nun an würden sie seine Wunder sehen, aber ihre geistliche Bedeutung nicht verstehen, und seine Worte hören, aber doch die wunderbaren Lehren hinter ihnen nicht erkennen können.
Es gibt so etwas wie die Tatsache, »dass man das Evangelium zum letzten Mal hört«. Es ist möglich, den Tag der Gnade durch fortgesetztes Sündigen zu verpassen. Es gibt Männer und Frauen, die den Retter abgelehnt haben und nie wieder die Gelegenheit zur Buße und Vergebung erhalten werden. Sie mögen das Evangelium hören, aber es trifft auf verhärtete Ohren und ein gefühll oses Herz. Wir sagen: »Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung«, aber die Bibel spricht von Menschen, die zwar erweckt, aber jenseits jeder Hoffnung der Buße sind (z. B. in Hebr 6,4-6).
4,13 In Bezug auf dieses Gleichnis fragte der Herr Jesus seine Jünger, wie sie erwarten konnten, kompliziertere Gleichnisse zu verstehen, wenn sie noch nicht einmal dieses einfache verstanden.
4,14 Der Heiland sagte nicht, wer der Sämann ist. Es könnte er selbst sein oder derjenige, der in seinem Namen predigt. Aber er sagte, dass die Saat das Wort ist.
4,15-20 Die verschiedenen Bodenarten stehen für menschliche Herzen und dafür, wie sie das Wort aufnehmen: Der Boden des Weges  (V. 15).  Dieses Herz ist verhärtet. Der Mensch sagt zu dem Heiland störrisch und ungebrochen: »Nein«. Satan, durch die Vögel dargestellt, nimmt das Wort weg. Der Sünder bleibt von der Botschaft ungerührt. Er ist ihr gegenüber später gleichgültig und unempfindsam.
Das Steinige (V. 16.17). Diese Menschen reagieren nur sehr oberflächlich auf das Wort. Vielleicht bekennen sie sich in der emotionalen Atmosphäre einer Evangelisationsveranstaltung zum Glauben. Aber sie stimmen nur mit dem Verstand zu. Sie haben sich nie wirklich Christus hingegeben. Sie nehmen das Wort »mit Freuden« auf, es wäre jedoch besser für sie, wenn sie es in tiefer Buße und Zerknirschung annähmen. Für eine Zeit scheinen sie gut voranzukommen, aber wenn »Bedrängnis oder Verfolgung« ihrem Bekenntnis folgen, dann entscheiden sie sich, dass die Kosten zu hoch sind, und geben alles auf. Sie behaupten so lange von sich Christen zu sein, wie es opportun erscheint, aber Verfolgung zeigt, dass sie keine echten Gläubigen sind.
Der Boden mit Dornen (V. 19.20). Diese Menschen beginnen auch sehr vielversprechend. Nach allem äußeren Anschein sind sie echte Gläubige. Aber dann beschäftigen sie sich mit ihrem Geschäft sowie mit weltlichen Sorgen und wollen reich werden. Sie verlieren das Interesse an geistlichen Aktivitäten, und schließlich be haupten sie nicht mehr, Christen zu sein.
Die gute Erde  (V. 20).  Hier  wird  das Wort wirklich angenommen – koste es, was es wolle. Diese Menschen sind wirklich wiedergeboren. Sie sind treue Untertanen des Königs Christus. Weder Welt oder Fleisch noch der Teufel können ihr Vertrauen auf ihn erschüttern. Aber auch unter den Zuhörern, bei denen das Wort auf gute Erde fällt, gibt es verschiedene Grade der Fruchtbarkeit. Einige tragen dreißig-, andere sechzigund einige hundertfältig. Was bestimmt ihr Ausmaß an Fruchtbarkeit? Das fruchtbarste Leben ist das Dasein eines Menschen, der dem Wort sogleich, bedingungslos und freudig gehorcht. E. Die Verantwortung der Zuhörer (4,21-25)
4,21 Die Lampe steht hier für die Wahrheiten, die der Herr seinen Jüngern weitergab. Diese Wahrheiten sollten nicht unter den Scheffel oder unter das Bett gestellt werden, sondern gehören dorthin, wo die Menschen sie sehen können. Der Scheffel könnte für das Geschäft stehen, das bei entsprechenden Gelegenheiten Zeit stiehlt, die eigentlich göttlichen Aufgaben gewidmet werden sollte. Das Bett könnte von Bequemlichkeit und Faulheit sprechen, den beiden Feinden der Evangeliumsverkündigung.
4,22 Jesus sprach zur Menge in Gleichnissen. Die darin enthaltenen Wahrheiten waren verborgen. Aber es war die göttliche Absicht, dass die Jünger denen, die bereit waren zu hören, diese verborgenen Wahrheiten weitergeben sollten. Vers 22 könnte allerdings auch bedeuten, dass die Jünger immer im Bewusstsein des bevorstehenden Tages der Offenbarwerdung dienen sollten. Dann wird sichtbar werden, ob man dem Geschäft oder der Genusssucht Vorrang vor dem Zeugnis für den Heiland gegeben hat.
4,23 Die Bedeutung dieser Worte zeigt sich in Jesu Ermahnung: »Wenn jemand Ohren hat zu hören, der höre!«
4,24 Dann fügte der Heiland noch eine andere Warnung hinzu: »Seht zu, was ihr hört.« Wenn ich ein Gebot des Wortes Gottes höre, aber nicht gehorche, kann ich es anderen schlecht weitergeben. Wenn Menschen sehen, dass sich die Wahrheit bei Predigern auswirkt, dann hat die Lehre dieser Prediger Vollmacht und weitreichende Auswirkungen. Was immer wir anderen durch das Mitteilen der Wahrheit »zumessen«, kommt mit vielfachem Gewinn zu uns zurück. Der Lehrer lernt normalerweise mehr bei der Vorbereitung eines Themas als die Schüler. Und der zukünftige Lohn wird noch größer als unsere kläglichen Ausgaben sein.
4,25 Immer, wenn wir eine neue Wahrheit begreifen und ihr erlauben, in unserem Leben zu wirken, können wir sicher sein, dass uns mehr gegeben werden wird. Wenn wir andererseits auf Wahrheiten nicht mehr reagieren, dann werden wir verlieren, was wir schon erworben haben.
F. Das Gleichnis vom Aufwachsen der Saat (4,26-29)
4,26-29 Dieses Gleichnis findet sich nur bei Markus. Man kann es auf mindestens zwei Arten auslegen. Der Mann kann für den Herrn Jesus stehen, der während seines öffentlichen Dienstes »Samen auf das Land wirft« und dann in den Himmel zurückkehrt. Die Saat beginnt zu wachsen – auf geheimnisvolle Weise, kaum zu bemerken, aber unaufhaltsam. Aus kleinen Anfängen entwickelt sich eine große Ernte echter Gläubiger.
Oder das Gleichnis ist als Ermunterung für die Jünger gedacht. Ihre Aufgabe ist es zu säen. Sie mögen nachts schlafen, am Tag aufstehen, aber sie wissen, dass Gottes Wort nicht leer zurückkehren wird, sondern ausrichtet, wozu er es gesandt hat. Durch einen geheimnisvollen und wunderbaren Vorgang, ohne Mithilfe menschlicher Kraft und Geschicklichkeit, arbeitet das Wort an menschlichen Herzen und bringt Frucht für Gott hervor. Der Mann sät und begießt, aber Gott gibt das Wachstum. Bei dieser Deutung ist die Auslegung von Vers 29 schwierig. Nur Gott kann die Sichel zur Erntezeit schicken. Aber im Gleichnis entspricht der Sämann demjenigen, der später auch die Sichel schickt, wenn das Korn reif ist.
G. Das Gleichnis vom Senfkorn (4,30-34)
4,30-32 Dieses Gleichnis gibt das Wachstum des Reiches von einem kleinen Anfang als Senfkorn zu einem Baum oder großen Strauch wieder, der groß genug ist, dass die Vögel darin nisten können. Das Reich begann mit einer kleinen, verfolgten Minderheit. Dann wurde es beliebter und wurde von den Vertretern der Obrigkeit als Staatsreligion gefördert. Das Wachstum war nun immens, aber ungesund, weil es durch viele Menschen erreicht wurde, die sich nur mit Worten zu dem König bekennen, aber nicht wirklich bekehrt waren.
Vance Havner sagte dazu: Solange die Kirche ihre Wunden trug, ging sie vorwärts. Sobald sie jedoch mit Medaillen behängt wurde, wurde ihr Anliegen nicht mehr gefördert. Es waren für die Gemeinde ruhmreichere Tage, als die Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden. Später saßen sie schließlich selbst mit einem Abonnement auf den besten Plätzen der Arena.5
Der Senfstrauch steht deshalb für das Christentum, das ein Nistplatz für alle möglichen Irrlehrer geworden ist. Er steht für die äußere Form des Reiches, wie es heute existiert.
4,33.34 Die Verse 33 und 34 führen uns zu einem wichtigen Lehrprinzip. Jesus lehrte die Menschen, »wie sie es zu hören vermochten«. Er baute auf ihrem Vorwissen auf und gab ihnen genug Zeit, eine Lektion zu verarbeiten, ehe er ihnen Neues zumutete. Er war sich stets des Aufnahmevermögens seiner Zuhörer bewusst und überfütterte sie nicht mit mehr Lehren, als sie vertragen konnten (s. a. Joh 16,12; 1. Kor 3,2; Hebr 5,12). Die Methoden einiger Prediger könnten uns den Eindruck vermitteln, als hätte Jesus gesagt: »Weide meine Giraffen« statt »Weide meine Schafe«. Obwohl er im Allgemeinen in Gleichnissen lehrte, erklärte er sie seinen Jüngern, wenn sie alleine waren. Er gibt denen Licht, die ehrlich danach verlangen. H. Wind und Wellen dienen dem Knecht (4,35-41)
4,35-37 Am Abend desselben Tages fuhren Jesus und seine Jünger über den See Genezareth an das Ostufer. Sie hatten keine Vorbereitungen getroffen. Andere kleine Boote folgten ihnen. Dann erhob sich plötzlich ein »heftiger Sturmwind«. Hohe Wellen drohten, das Boot zu versenken.
4,38-41 Jesus schlief im Heck des Bootes. Die verängstigten Jünger weckten ihn und beklagten sich darüber, dass er sich nicht um ihre Sicherheit kümmere. Der Herr »wachte auf, bedrohte den Wind« und die Wellen. Sofort »entstand eine große Stille«. Dann rügte Jesus seine Jünger kurz dafür, sich gefürchtet und kein Vertrauen zu ihm gehabt zu haben. Durch das Wunder waren sie völlig aus der Fassung gebracht. Obwohl sie wussten, wer Jesus war, waren sie doch wieder ganz neu von der Macht des Einen bee indruckt, dem auch die Naturgesetze untertan sind.
Der Vorfall zeigt uns sowohl das Menschsein als auch die Göttlichkeit des Herrn Jesus. Er schlief hinten im Boot, das zeigt sein Menschsein. Er sprach, und die See war ruhig, das zeigt seine Göttlichkeit.
Dieses Wunder zeigt uns seine Macht über die Natur, die vorhergehenden Wunder dagegen zeigen seine Macht über Krankheit und Dämonen. Schließlich ermutigt uns diese Geschichte, in den Stürmen des Lebens zu Jesus zu gehen, weil wir wissen, dass das Schiff nie sinken kann, wenn er in ihm ist. I. Heilung des besessenen Geraseners (5,1-20)
5,1-5 Das Land der Gerasener oder Gadarener lag am Ostufer des Sees Genezareth. Dort begegnete Jesus einem ungewöhnlich gewalttätigen, besessenen Mann, der ein Schrecken für die Umgegend war. Jeder Versuch, ihn zu bändigen, war fehlgeschlagen. Er lebte in den Grabstätten und den Bergen, schrie ständig und schlug sich selbst mit scharfen Steinen.
5,6-13 Als der Besessene Jesus sah, reagierte er zunächst respektvoll, doch dann beklagte er sich bitterlich. »Welch wahres und schreckliches Bild haben wir da vor uns – ein Mann, der sich in Anbetung, Bitte und Furcht beugt und doch hasserfüllt, ablehnend und ängstlich ist. Er hat eine gespaltene Persönlichkeit, sehnt sich nach Freiheit und hängt doch an seinem Zustand.« (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
Die genaue Reihenfolge der Ereignisse ist nicht klar, es könnte sich etwa so abgespielt haben:
1. Der Besessene wirft sich vor Jesus nieder (V. 6).
2. Jesus befiehlt dem unreinen Geist, ihn zu verlassen (V. 8).
3. Der Geist erkennt Jesus an, bestreitet aber sein Recht, hier einzugreifen. Er bittet Jesus mit einem Schwur, ihn nicht zu quälen (V. 7).
4. Jesus fragt nach dem Namen des Mannes. Er lautete »Legion«, damit wird angedeutet, dass er von vielen Dämonen  besessen  war  (V. 9).  Das  widerspricht offensichtlich nicht Vers 2, wo es heißt, dass er einen unreinen Geist habe (Einzahl).
5. Vielleicht war es der Sprecher der Dämonen, der um Erlaubnis bat, in die Schweine zu fahren (V. 10-12). 6. Jesus gab die Erlaubnis. Folglich rasten die zweitausend Schweine den Berg hinunter und »ertranken in dem See« (V. 13).
Der Herr ist oft kritisiert worden, weil er den Tod dieser Schweine verursacht habe. Dazu sollten folgende Punkte festgehalten werden:
1. Er verursachte nicht den Tod, sondern ließ ihn vielmehr zu. Es war die zerstörerische Macht Satans, die die Schweine tötete.
2. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass der Besitzer Jesus für sein Verhalten getadelt hat. Vielleicht war es ein Jude, dem es eigentlich verboten war, Schweine zu halten. 3. Die Seele des Mannes war mehr wert als alle Schweine der Welt. 4. Wenn wir so viel wüssten wie Jesus, hätten wir auf die gleiche Weise gehandelt wie er.
5,14-17 Diejenigen, die Zeugen des Todes der Schweine geworden waren, rannten in die Stadt zurück und verbreiteten die Nachricht. Eine Menschenmenge kam zurück und fand den ehemals Besessenen »bekleidet und vernünftig« zu Jesu Füßen sitzen. Jemand hat einmal gesagt: »Sie fürchteten sich, als er den Sturm auf dem See stillte, und sie fürchteten sich wieder, als er den Sturm in einer menschlichen Seele stillte.« Die Zeugen erzählten den neu Hinzugekommenen noch einmal die ganze Geschichte. Das war für die Leute zu viel, sie baten Jesus, »dass er aus ihrem Gebiet weggehe«. Dieses Verhalten und nicht der Tod der Schweine ist das eigentlich Schockierende an dieser Geschichte. Christus war ihnen ein zu kostspieliger Gast!
»Viele Menschen wünschen auch heute noch Jesus weit weg, weil sie fürchten, dass seine Gemeinschaft sie sozial, finanziell oder persönlich zu viel kosten könnte. Sie versuchen, ihren Besitz zu retten, verlieren dabei jedoch ihre Seelen« (ohne Quellenangabe).
5,18-20 Als Jesus mit dem Schiff wieder wegfahren wollte, bat ihn der ehemals Besessene, ihn begleiten zu dürfen. Das war eine gute Bitte, die sein neues Leben zeigte, doch Jesus sandte ihn als lebendigen Zeugen für Gottes große Macht und Barmherzigkeit nach Hause. Der Mann gehorchte und verbreitete die Gute Nachricht im Zehnstädtegebiet. Wir haben hier einen »Dauerauftrag« an alle, die die rettende Gnade Gottes erfahren haben: »Geh in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, wie viel der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat.« Evangelisation beginnt zu Hause!
J. Jesus heilt die Unheilbaren und weckt Tote auf (5,21-43)
5,21-23 Als Jesus ans Westufer des Sees zurückgekehrt war, stand er schon bald wieder im Mittelpunkt einer großen Volksmenge. Ein verzweifelter Vater lief zu ihm. Es war Jairus, »einer der Synagogenvorsteher«. Seine kleine Tochter lag im Sterben. Würde Jesus so gut sein, zu kommen und seine Hände auf sie zu legen, »damit sie gerettet wird«?
5,24 Der Herr reagierte auf die Bitte und ging zu dem Haus. »Eine große Volksmenge folgte ihm«, die ihn drängte. Es ist interessant, dass wir zunächst vom Drängen der Menge lesen und unmittelbar im Anschluss daran von jemandem berichtet wird, der ihn ihm Glauben anrührt.
5,25-29 Eine verzweifelte Frau schnitt ihm den Weg zum Haus des Jairus ab. Unser Herr war weder entrüstet noch ließ er sich aus der Ruhe bringen. Wie reagieren wir auf solche Unterbrechungen? Ich glaube, dass es mir am meisten hilft, wenn ich alle Unterbrechungen und Hindernisse bei der Arbeit so ansehe, dass jemand sie für mich als Erziehungsmittel geplant hat, als Prüfungen, die Gott mir sendet, um mir zu helfen, über meiner Arbeit nicht selbstsüchtig zu werden … Sie sind keine Zeitverschwendung, wie man leicht denken könnte, sondern der wichtigste Teil der Arbeit des Tages – nämlich der Teil, den man am besten Gott hinlegen kann. (Aus einem Andachtsbuch.)
Diese Frau litt seit zwölf Jahren an chronischen Blutungen. Die vielen Ärzte, die sie schon aufgesucht hatte, hatten offensichtlich einige schmerzhafte Behandlungen mit ihr durchgeführt, ihr Geld dabei aufgebraucht und damit ihren Zustand verschlimmert statt gebessert. Als alle Hoffnung auf Heilung zunichte war, erzählte ihr jemand von Jesus. Sie verlor keine Zeit, ihn zu finden. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge und »rührte sein Gewand an«. Sofort hörte die Blutung auf, und sie war wieder völlig gesund.
5,30 Sie wollte sich still zurückziehen, aber der Herr wollte ihr den Segen zukommen lassen, ihren Retter öffentlich zu bekennen. Er hatte gemerkt, dass göttliche Kraft von ihm ausgegangen war, als sie ihn angerührt hatte; es kostete ihn etwas, sie zu heilen. Deshalb fragte er: »Wer hat mein Gewand angerührt?« Er wusste, wer es gewesen war, aber er fragte, um die Frau aus der Menge zu locken.
5,31 Seine Jünger dachten, dass diese Frage unsinnig sei. Viele Menschen drängten ihn ständig. Wie konnte er da fragen: »Wer hat mein Gewand angerührt?« Aber es ist für den Herrn ein Unterschied, ob er körperlich berührt wird oder die Berührung eines zu allem entschlossenen Glaubens spürt. Es ist möglich, ihm sehr nahe zu sein, ohne ihm zu vertrauen, aber unmöglich, ihn im Glauben zu berühren, ohne dass er es weiß und ohne geheilt zu werden.
5,32.33 Die Frau »fürchtete sich und zitterte«. Sie trat aus der Menge heraus, fiel vor ihm nieder und bekannte sich zum ersten Mal öffentlich zu Jesus.
5,34 Da sprach er ihrer Seele ermutigende Worte zu. Offenes Bekenntnis zu Christus ist ungeheuer wichtig. Ohne dieses Bekenntnis gibt es nur wenig Wachstum im Christenleben. Wenn wir mutig für Jesus eintreten, dann erfüllt er unsere Seele mit neuer Glaubenszuversicht. Die Worte des Herrn Jesus bestätigten nicht nur ihre körperliche Heilung, sondern enthielten zweifellos auch den großen Segen der Rettung ihrer Seele.
5,35-38 Zu dieser Zeit waren Boten mit der Nachricht gekommen, dass Jairus’ Tochter gestorben war. Es war nun nicht mehr nötig, den Lehrer zu bemühen. Der Herr aber gab Jairus neuen Mut und nahm dann Petrus, Jakobus und Johannes mit in das Haus. Sie begegneten hemmungslosem Weinen, das für die oriental ischen Familien dieser Zeit typisch war, wenn sie trauerten. Einen Teil der Totenklage übernahmen eigens dafür bestellte Klagefrauen.
5,39-42 Als Jesus ihnen versicherte, dass das Kind nicht gestorben sei, verwandelten sich ihre Tränen in Hohn. Er ließ sich davon nicht beirren, nahm die engere Familie des Mädchens mit an ihr Bett und nahm sie bei der Hand. Dabei sagte er auf Aramäisch: »Mädchen, ich sage dir, steh auf!« Sofort stand das zwölfjährige Mädchen auf und ging umher. Die Verwandten gerieten vor Freude aus der Fassung.
5,43 Der Herr verbot ihnen, dieses Wunder zu verbreiten. Er war nicht am Beifall der Massen interessiert. Er musste nun entschlossen auf das Kreuz zugehen. Wenn das Mädchen wirklich gestorben war, dann zeigt dieses Kapitel die Macht Jesu über Dämonen, Krankheit und Tod. Nicht alle Gelehrten sind sich jedoch darüber einig, ob sie wirklich gestorben war. Jesus hatte gesagt, dass sie nur schlief. Vielleicht lag sie in einem tiefen Koma. Doch hätte er sie ebenso leicht aus den Toten auferwecken können. Wir sollten die abschließenden Worte dieses Kapitels nicht übersehen: »Er sagte, man solle ihr zu essen geben.« Im geistlichen Dienst entspricht diese Weisung der »Nacharbeit«. Menschen, die den Pulsschlag des neuen Lebens bemerken, müssen ernährt werden. Eine Möglichkeit, wie ein Jünger dem Herrn seine Liebe zeigen kann, besteht darin, seine Schafe zu weiden.
K. Der Knecht wird in Nazareth abgelehnt (6,1-6)
6,1-3 Jesus kehrte mit seinen Jüngern nach Nazareth zurück. Das war seine Vaters tadt, in der er als Zimmermann gearbeitet hatte. Am Sabbat lehrte er in der Syna goge. Die Menschen waren erstaunt, denn sie konnten weder die Weisheit seiner Lehre noch seine Wunder bestreiten. Aber sie waren tief im Innersten nicht gewillt, ihn als den Sohn Gottes anzuerkennen. Sie meinten, er sei »der Zimmermann, der Sohn der Maria«, dessen Brüder und Schwestern noch immer dort lebten. Wäre er als mächtiger Held nach Nazareth zurückgekehrt, hätten sie ihn eher angenommen. Aber er kam in demütiger Haltung und Niedrigkeit. Das ärgerte sie.
6,4-6 Hier bemerkte Jesus dann, dass ein Prophet im Allgemeinen anderswo besser aufgenommen wird als zu Hause. Seine Verwandten und Freunde sind ihm zu nahe, um seinen Dienst und seine Person schätzen zu können. »Es gibt keinen Platz, an dem es schwieriger ist, dem Herrn zu dienen als zu Hause.« Die Nazarener selbst waren verachtete Stadtbewohner. Eine geläufige Haltung war: »Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?« Und doch sahen diese sozial Unterprivilegierten auf Jesus herab. Wie sehr wurde damit der Stolz und Unglaube des menschlichen Herzens veranschaulicht! Der Unglaube hat das Werk des Herrn in Nazareth zum großen Teil behindert. Jesus heilte nur »wenige Schwache«. »Er wunderte sich über ihren Unglauben.« J. G. Miller warnt uns:
Solcher Unglaube hat außerordentlich schlimme Konsequenzen. Er verschließt die Kanäle der Gnade und Barmherzigkeit, sodass nur ein kleines Rinnsal zu den Menschen gelangt, die in Not sind.6 Und wieder erfuhr Jesus die Einsamkeit, die der Missverstandene und Unbeachtete empfindet. Viele seiner Nachfolger haben diesen Schmerz geteilt. Oft haben Knechte des Herrn ein bescheidenes Äußeres. Sind wir in der Lage, hinter das Äußere zu blicken und echten geistlichen Wert zu erkennen? Unverzagt durch seine Ablehnung in Nazareth zog der Herr »durch die Dörfer ringsum und lehrte« das Wort.
L. Der Knecht sendet seine Jünger aus (6,7-13)
6,7 Nun war für die Zwölf die Zeit gekommen, erste eigene Diensterfahrungen zu sammeln. Ihnen war die unvergleichliche Lehre des Heilands vermittelt worden, und nun sollten sie als Verkündiger einer wunderbaren Botschaft hinausgehen. Er sandte sie »zu zwei und zwei« aus. Die Predigt würde so durch den Mund von zwei Zeugen bestätigt werden. Auch könnten sie sich auf der gemeinsamen Reise gegenseitig stärken und helfen. Außerdem war es sicher hilfreich, zu zweit zu sein, wenn man in eine Gegend geriet, in der die Moral nicht sehr angesehen war. Außerdem gab Jesus »ihnen Vollmacht über die unreinen Geister«. Das sollte man beachten. Es war eine große Sache, Dämonen auszutreiben, doch nur Gott konnte Menschen diese Gabe verleihen.
6,8 Wenn das Reich unseres Herrn von dieser Welt wäre, hätte er niemals die Anweisungen gegeben, die wir in den folgenden  Versen  (V. 8-11)  finden.  Sie  sind das genaue Gegenteil von dem, was ein durchschnittlicher weltlicher Leiter an Anweisungen geben würde. Die Jünger sollten ohne Vorräte hinausgehen: »Kein Brot, keine Tasche, keine Münze im Gürtel.« Sie sollten darauf vertrauen, dass der Herr für ihre Bedürfnisse sorgen würde.
6,9 Sie durften nur Stab und Sandalen mitnehmen, wobei der Stab sicher als Schutz vor Tieren gedacht war. Sie sollten nur ein Unterkleid haben. Sicherlich würde niemand die Jünger um ihre Besitztümer beneiden. Auch würde keiner zum Christentum hingezogen, weil er sich Hoffnungen machte, dadurch reich zu werden! Und was für Macht die Jünger auch immer haben würden – sie würde ausschließlich von Gott kommen. So waren sie ganz auf ihn geworfen. Sie wurden unter den kärglichsten Umständen ausgesandt. Dennoch waren sie Vertreter des Sohnes Gottes und als solche mit seiner Macht ausgestattet.
6,10 Sie sollten Gastfreundschaft annehmen, wann immer sie ihnen angeboten wurde, und sie sollten bei ihren Gastgebern bleiben, solange sie sich in der Gegend aufhielten. Diese Anweisung sollte verhindern, dass sie ihre Zeit damit verbrachten, eine bequemere Unterkunft zu finden. Ihre Aufgabe war es, die Botschaft des Einen zu predigen, der nicht gekommen war, sich bedienen zu lassen, der nicht selbstsüchtig war. Sie sollten ihre Botschaft nicht dadurch in Misskredit bringen, indem sie für sich selbst nach Luxus, Bequemlichkeit und Gemütlichkeit strebten.
6,11 Wenn ein Ort die Jünger und ihre Botschaft ablehnen würde, brauchten sie nicht dort zu bleiben. Hätten sie das getan, hätten sie Perlen vor die Schweine geworfen. Wenn sie gingen, sollten sie den Staub unter ihren Füßen ab schütteln und damit zeigen, dass Gott die verwirft, die seinen geliebten Sohn nicht haben wollen.
Obwohl einige der Anweisungen nur einen zeitweisen Charakter haben und später vom Herrn Jesus wieder zurückgenommen wurden (Lk 22,35.36), zeigen sie uns doch bleibende Prinzipien für die Diener Christi in jedem Zeitalter.
6,12.13 Die Jünger zogen nun aus, predigten Umkehr und »trieben viele Dämonen aus«. Sie »salbten viele Schwache mit Öl und heilten sie«. Die Salbung mit Öl ist unserer Meinung nach eine symbolische Handlung, die die lindernde und wohltuende Macht des Heiligen Geistes darstellen sollte.
M. Der Vorläufer des Knechtes wird enthauptet (6,14-29)
6,14-16 Als die Nachricht den König Herodes erreicht, dass ein Wundertäter durch das Land reiste, schloss er sofort, es müsse sich um Johannes den Täufer handeln, der aus den Toten auferstanden sei. Andere sagten, er sei Elia oder »einer der Propheten«, aber Herodes war überzeugt, dass der Mann, den er hatte enthaupten lassen, auferstanden war. Johannes der Täufer war eine Stimme Gottes gewesen. Herodes hatte diese Stimme zum Schweigen gebracht. Nun quälten Herodes heftige Gewissensbisse, weil er das getan hatte. Er musste nun lernen, dass die Wege der Gottlosen schwer sind.
6,17-20 Die Erzählung wendet sich nun zu der Zeit zurück, als Johannes enthauptet wurde. Der Täufer hatte Herodes getadelt, weil er eine ungesetzliche Ehe mit der Frau seines Bruders eingegangen war. Herodias, die nun mit Herodes verheiratet war, wurde wütend und schwor ihm Rache. Aber Herodes respektierte Johannes als heiligen Mann und unterband alle ihre Racheversuche.
6,21-25 Schließlich kam jedoch ihre große Chance. Bei der Geburtstagsfeier des Herodes, an der die örtliche Schickeria teilnahm, ließ Herodias ihre Tochter vor den Gästen tanzen. Das gefiel Herodes so gut, dass er versprach, ihr alles zu geben, »bis zur Hälfte meines Reiches«. Durch ihre Mutter angestiftet, bat sie »um das Haupt Johannes’ des Täufers«.
6,26-28 Jetzt saß der König in der Falle. Gegen seinen eigenen Wunsch und wider besseres Wissen gewährte er die Bitte. Die Sünde hatte ihr Netz um ihn gesponnen, und der Vasallenkönig wurde das Opfer einer bösen Frau und eines erotischen Tanzes.
6,29 Als die treuen Jünger des Johannes hörten, was geschehen war, baten sie um seinen Leichnam, begruben ihn und sagten es Jesus.
N. Die Speisung der Fünftausend (6,30-44)
6,30 Dieses Wunder, das in allen vier Evangelien berichtet wird, fand zu Beginn des dritten Jahres des öffentlichen Auftretens Jesu statt. Die Apostel waren gerade von ihrer ersten Predigtreise zurückgekehrt (s. V. 7-13). Vielleicht waren sie von ihrem Erfolg ganz erregt, vielleicht aber auch müde und fußlahm. Der Herr erkannte, dass sie eine Ruhepause nötig hatten, und nahm sie im Boot an einen abgeschiedenen Ort am Ufer des Sees Genezareth mit.
6,31.32 Wir hören oft, wie der Vers »Kommt, ihr selbst allein, an einen öden Ort und ruht ein wenig aus« zitiert wird, um damit luxuriösen Urlaub für Christen zu rechtfertigen. Kelly schrieb: Es wäre gut für uns, wenn wir öfter in dieser Weise ruhen müssten, d. h. wenn die Arbeit so übermäßig viel ist, und unsere selbstverleugnenden Bemühungen um die Segnung anderer Menschen so anhaltend sind, dass wir sicher sein könnten, dass dieses Wort des Herrn wirklich für uns gilt.7
6,33.34 Eine Volksmenge folgte dem Herrn und seinen Jüngern auf dem Landweg am Ufer des Sees entlang. Jesus »wurde innerlich bewegt über sie«. Diese Menschen irrten ohne geistliche Leitung umher, hungrig und hilflos. Deshalb »fing er an, sie vieles zu lehren«.
6,35.36 Später am Tag wurden seine Jünger wegen der Menge unruhig – so viele Menschen und nichts zu essen! Sie baten den Herrn, sie wegzuschicken. Dieselbe Menge, die den Herrn zu Mitleid veranlasst hatte, störte nun die Jünger. Sind Menschen für uns ein Störfaktor, oder lieben wir sie?
6,37.38 Jesus wandte sich an die Jünger und sagte: »Gebt ihr ihnen zu essen!« Das Ganze schien grotesk – fünftausend Männer, dazu Frauen und Kinder, und nichts als fünf Brote und zwei Fische. Aber sie hatten Gott vergessen!
6,39-44 Im folgenden Wunder sahen die Jünger ein Bild dafür, wie der Retter sich selbst hingeben würde, um zum Brot des Lebens für eine hungernde Welt zu werden. Sein Leib würde gebrochen werden, damit andere ewiges Leben erhalten können. Die hier verwendeten Worte spielen stark auf das Mahl des Herrn an, das an seinen Tod erinnert: Er nahm, dankte, brach und teilte aus. Die Jünger lernten hier auch wertvolle Lektionen in ihrem Dienst für ihn: 1. Jünger Jesu sollten nie seine Macht anzweifeln, für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Wenn er fünftausend Männer mit fünf Broten und zwei Fischen ernähren kann, dann kann er auch seine vertrauensvollen Jünger unter allen Umständen versorgen. Sie können für ihn arbeiten, ohne sich Sorgen machen zu müssen, woher sie ihr Essen bekommen. Wenn sie zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachten, dann werden alle ihre Bedürfnisse gestillt.
2. Wie kann die vergehende Welt je evangelisiert werden? Jesus fordert uns auf: »Gebt ihr ihnen zu essen!« Wenn wir ihm geben, was wir haben, so unscheinbar es aussehen mag, kann er es zum Segen für viele werden lassen.
3. Jesus tat sein Werk in einer bestimmten Ordnung, indem er die Menge sich in Gruppen zu je hundert und fünfzig lagern ließ.
4. Er dankte, brach die Brote und verteilte die Fische. Ohne seinen Segen hätten sie niemals gereicht. Ungebrochen wäre es nie genug gewesen. »Der Grund, warum wir nicht hingegeben genug für die Menschen da sind, ist, dass wir noch nicht richtig innerlich zerbrochen sind« (ohne Quellenangabe).
5. Jesus verteilte das Essen nicht selbst. Er erlaubte seinen Jüngern, dies zu tun. Sein Plan lautet, die Welt durch seine Jünger zu ernähren. 6. Es war für alle ausreichend vorhanden. Wenn die Gläubigen heutzutage alles über das unmittelbar Notwendige ihres Lebensunterhalts hinaus für das Werk des Herrn gäben, könnte die ganze Welt das Evangelium noch in dieser Generation hören. 7. Die Brocken, die übrig waren (»zwölf Handkörbe voll«), waren mehr, als sie am Anfang zur Verfügung gehabt hatten. Gott gibt reichlich. Doch man beachte, dass nichts verschwendet wurde. Der Überfluss wurde gesammelt. Verschwendung ist Sünde. 8. Eines der größten Wunder Jesu hätte nie stattgefunden, wenn die Jünger an ihrem Plan festgehalten hätten, sich eine Ruhepause zu gönnen. Wie oft gilt das für uns!
O. Jesus geht auf dem See (6,45-52)
6,45-50 Der Herr kann nicht nur für den Unterhalt seiner Knechte sorgen, sondern auch für ihre Sicherheit. Nachdem er die Jünger in einem Boot zurück zum Westufer geschickt hatte, ging Jesus »auf den Berg, um zu beten«. Er sah sie in der Dunkelheit der Nacht »beim Rudern Not leiden«, denn sie mussten gegen den Wind kämpfen. Um ihnen zu helfen, ging er über den See. Zu Anfang waren sie verängstigt, denn sie »meinten, es sei ein Gespenst«. Doch er redete ihnen Mut zu und »stieg zu ihnen in das Boot«. Sofort legte sich der Wind.
6,51.52 Der Bericht schließt mit dem Kommentar: »Und sie entsetzten sich sehr über die Maßen; denn sie waren durch die Brote nicht verständig geworden, sondern ihr Herz war verhärtet.« Sie hatten – so der hier zugrunde liegende Gedanke – immer noch nicht erkannt, dass ihm nichts unmöglich ist, obwohl sie die Macht des Herrn gerade eben erst im Wunder der Brotvermehrung gesehen hatten. Sie hätten nicht überrascht sein sollen, als sie ihn auf dem Wasser gehen sahen. Das war kein größeres Wunder als jenes, dessen Augenzeugen sie eben noch gewesen waren. Mangel an Glauben hatte ihr Herz verhärtet und ihre geistliche Wahrnehmungsfähigkeit getrübt. Die Gemeinde hat in diesem Wunder ein Bild für unser Zeitalter und sein Ende gesehen. Jesus auf dem Berg verkörpert Christus in seinem gegenwärtigen himmlischen Dienst, wo er für sein Volk eintritt. Die Jünger stehen für seine Nachfolger, die von den Stürmen und Versuchungen des Lebens gebeutelt werden. Bald wird der Heiland zu den Seinen zurückkehren, sie aus der Gefahr und Verzweiflung befreien und sie sicher zum himmlischen Gestade geleiten.
P. Der Knecht heilt am See Genezareth (6,53-56)
6,53-56 Als der Herr wieder zurück am Westufer des Sees war, wurde er von Kranken umlagert. Wo auch immer er hinkam, brachten die Leute ihm die bedürftigen Kranken auf ihren Matten. Marktplätze wurden so zu Krankenhäusern. Sie wollten ihm nur möglichst nahe kommen, um »die Quaste seines Gewandes« anzurühren. »Alle, die ihn anrührten, wurden geheilt.«
Q. Die Tradition steht gegen das Wort Gottes (7,1-23)
7,1 »Die Pharisäer und … Schriftgelehrten« waren jüdische religiöse Führer, die ein ungeheuer großes System von streng durchgeführten Traditionen aufgerichtet hatten, das so mit dem Gesetz Gottes verwoben war, dass es fast die gleiche Autorität wie die Heilige Schrift erhalten hatte. In einigen Fällen widersprach es sogar der Schrift oder schwächte Gottes Gesetz ab. Die religiösen Führer liebten es, Regeln aufzustellen, und die Menschen nahmen sie demütig an und gaben sich mit einem System von Ritualen ohne geistliche Bedeutung zufrieden.
7,2-4 Wir sehen nun die Pharisäer und Schriftgelehrten, wie sie Jesus kritisieren, weil seine Jünger »mit … ungewaschenen Händen Brot essen«. Das bedeutet nicht, dass sich die Jünger nicht die Hände wuschen, ehe sie aßen, sondern dass sie das ausgedehnte Ritual nicht beachteten, das durch die Tradition vorgeschrieben war. Ehe sie sich zum Beispiel nicht bis zu den Ellenbogen gewaschen hatten, waren sie zeremoniell »unrein«. Wenn sie vorher auf dem Marktplatz gewesen waren, mussten sie sich sogar rituell baden. Das ausführliche System der Waschung erstreckte sich sogar auf das Eintauchen von Töpfen und Pfannen. Über die Pharisäer schreibt E. Stanley Jones: Sie waren den ganzen Weg von Jerusalem gekommen, um ihm zu begegnen. Sie waren so negativ eingestellt und so sehr auf Kritik bedacht, dass sie nur die ungewaschenen Hände der Jünger sahen. Sie konnten die größte Erweckungsbewegung nicht sehen, die je auf unserem Planeten stattfand – eine Bewegung, die den Geist, die Seele und den Leib der Menschen reinigte … Ihre Augen waren für Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten so weit geöffnet, dass sie für das Große blind waren. So vergisst die Geschichte sie – die negativ Eingestellten – sie vergisst sie so weit, dass sie nur noch der Hintergrund für Jesu positives Wirken sind. Sie hinterließen nichts als Kritiksucht, er hinterließ bekehrte Menschen. Sie sammelten Fehler, er Nachfolger.8
7,5-8 Jesus prangerte sofort die Heuchelei solchen Verhaltens an. Diese Männer waren genau so, wie Jesaja vorausgesagt hatte. Sie gaben große Hingabe an den Herrn vor, waren aber innerlich verdorben. Sie gaben vor, durch ausgefeilte Rituale Gott zu verehren, aber sie hatten die Lehren der Bibel durch ihre eigenen Traditionen ersetzt. Statt das Wort Gottes als einzige Autorität in allen geistlichen und moralischen Fragen zu betrachten, versuchten sie, den deutlichen Ansprüchen der Schrift durch ihre Tradition auszuweichen oder sie wegzuerklären.
7,9.10 Jesus verdeutlichte nun durch ein Beispiel, wie ihre Tradition das Gesetz Gottes wertlos gemacht hatte. Eines der Zehn Gebote verlangte, dass Kinder ihre Eltern ehren sollten (dazu gehörte, dass sie für sie sorgten, wenn sie bedürftig waren). Die Todesstrafe war über jeden verhängt, der über Vater oder Mutter abfällig sprach.
7,11-13 Aber die jüdische Tradition hatte ein Gesetz unter dem Namen »Korban« aufgestellt, was so viel bedeutete wie »gegeben« oder »bestimmt«. Man stelle sich vor, dass jüdische Eltern in großer Not lebten. Ihr Sohn hatte Geld, wollte es ihnen aber nicht geben. Er brauchte nur »Korban« sagen und damit andeuten, dass es für Gott oder den Tempel bestimmt war. Das befreite ihn von jeder weiteren Verantwortung, seine Eltern zu unterstützen. Er konnte sein Geld unbegrenzt behalten und damit arbeiten. Ob der Tempel es jemals wirklich erhielt, war nicht weiter wichtig. Kelly schreibt dazu: Die Führer hatten diese Regel aufgestellt, um Vermögen für religiöse Zwecke sicherzustellen und Menschen vor Gewissensbissen bezüglich des Wortes Gottes zu bewahren … Gott jedoch hatte die Menschen aufgerufen, ihre Eltern zu ehren. Er war es, der sich gegen jede Beleidigung der Eltern ausgesprochen hatte. Doch hier waren Menschen, die unter dem Deckmäntelchen der Religion diese beiden Gebote Gottes vergewaltigten! Diese Tradition, »Korban« zu sagen, beurteilt der Herr nicht nur als Unrecht gegen die Eltern, sondern als einen Akt der Rebellion gegen das ausdrückliche Gebot Gottes.9
7,14-16 Von Vers 14 an machte der Herr die revolutionäre Aussage, dass nicht das, was in den Mund eines Menschen hineinkommt, ihn unrein macht (wie etwa Essen, das man mit ungewaschenen Händen zu sich nimmt), sondern das, was aus dem Menschen herauskommt (so wie die Traditionen, die Gottes Wort beiseitesetzten).
7,17-19 Sogar die Jünger wunderten sich über diese Aussage. Sie waren unter den Lehren des Gesetzes aufgewachsen und hatten immer gehört, dass bestimmte Tiere wie Schwein, Hase oder Garnele unrein waren. Sie durften deshalb nicht gegessen werden, weil die Israel iten dadurch selbst unrein wurden. Jesus sagte hier deutlich, dass der Mensch nicht durch das verunreinigt wird, was er aufnimmt. In gewissem Sinne deutete diese Aussage das Ende des Zeitalters des Gesetzes an.
7,20-23 Ein Mensch wird durch das wirklich verunreinigt, was aus seinem Herzen kommt: »Unzucht, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut, Torheit.« Dahinter steht der Gedanke, dass hier auch noch menschliche Tradition aufgeführt werden müsste. Die »Korban«-Tradition kam einem Mord gleich. Die Kinder ließen ihre Eltern eher verhungern, als diesen unheilvollen Schwur zu brechen.
Eine wichtige Lehre dieses Abschnittes ist, dass wir stets jede Lehre und jede Tradition am Wort Gottes prüfen und dem gehorchen müssen, was von Gott ist, während wir ablehnen müssen, was von Menschen ist. Am Anfang mag jemand eine deutliche, biblische Botschaft predigen und damit die Zustimmung bibelgläubiger Menschen gewinnen. Wenn er diese Zustimmung gewonnen hat, beginnt er vielleicht, einige menschliche Lehren hinzuzufügen. Seine Anhänger, die meinen, dass er nicht irren könne, folgen ihm blindlings, auch wenn seine Lehre die Spitze des Wortes abstumpft oder seine Bedeutung verwässert. Auf diese Weise hatten auch die Schriftgelehrten und Pharisäer als Lehrer des Wortes ihre Autorität gewonnen. Aber nun hoben sie die Absicht des Wortes auf. Der Herr Jesus musste die Menschen ermahnen, dass das Wort einen Menschen glaubwürdig macht, nicht umgekehrt. Immer muss der große Prüfstein bleiben: »Was sagt das Wort?«
R. Eine Heidin wird durch ihren Glauben gesegnet (7,24-30)
7,24.25 Durch das vorige Ereignis zeigte Jesus, dass alle Lebensmittel rein sind. Hier beweist er nun, dass die Heiden nicht länger gemein oder unrein sind. Jesus reiste nach Nordwesten »in das Gebiet von Tyrus«, das auch als Syrophönizien bekannt ist. Er versuchte, unerkannt in ein Haus zu kommen, aber sein Ruf war ihm vorausgeeilt und man wusste bald, dass er dort war. Eine heidnische Frau kam zu ihm und bat für ihr besessenes Töchterchen um Hilfe.
7,26 Wichtig ist hier die Tatsache, dass sie »eine Griechin« war, keine Jüdin. Die Juden, Gottes erwähltes Volk, hatten eine bevorrechtigte Stellung bei Gott. Er hatte mit ihnen einen wunderbaren Bund geschlossen, ihnen die Schrift gegeben und wohnte bei ihnen in der Stiftshütte, später im Tempel. Im Gegensatz dazu waren die Heiden ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels, Fremdlinge hinsichtlich der Bündnisse der Verheißung, ohne Christus, ohne Hoffnung, ohne Gott in der Welt (Eph 2,11.12). Der Herr Jesus kam in erster Linie für die Angehörigen des Volkes Israel. Er zeigte sich ihnen als der König des Volkes. Das Evangelium wurde zuerst dem Haus Israel gepredigt. Es ist wichtig, dies zu erkennen, um sein Verhalten gegenüber der Syrophönizierin zu verstehen. Als sie ihn bat, »dass er den Dämon von ihrer Tochter austreibe«, erteilte er ihr scheinbar eine barsche Abfuhr.
7,27 Jesus sagte, dass die Kinder (die Israeliten) zuerst satt werden sollten, da es nicht schön sei, »das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden (den Heiden) hinzuwerfen«. Seine Antwort war keine Ablehnung der Bitte. Er sagte: »Lasst zuerst die Kinder satt werden.« Das hört sich hart an. In Wirklichkeit wollte er ihre Buße und ihren Glauben prüfen. Jesu Dienst war zu dieser Zeit in erster Linie an die Juden gerichtet. Als Heidin hatte sie keinerlei Ansprüche auf seine Unterstützung. Würde sie diese Wahrheit annehmen können?
7,28 Ja, das konnte sie, denn sie sagte im Grunde: »Ja, Herr. Ich bin nur ein kleines heidnisches Hündchen. Aber ich weiß, dass kleine Hunde die Angewohnheit haben, die Krümel zu fressen, die die Kinder unter den Tisch fallen lassen. Mehr will ich gar nicht – einige Krümel, die bei deinem Dienst an den Juden abfallen!«
7,29.30 Dieser Glaube war bemerkenswert. Der Herr belohnte ihn sofort, indem er das Mädchen aus der Ferne heilte. Als die Frau nach Hause kam, war ihre Tochter völlig wiederhergestellt. S. Heilung eines Taubstummen (7,31-37)
7,31.32 Von der Mittelmeerküste kehrte unser Herr nun an das Ostufer des Sees Genezareth zurück, »in das Zehnstädtegebiet«. Hier fand ein Ereignis statt, das nur im Markusevangelium berichtet wird. Engagierte Freunde brachten »einen Tauben zu ihm, der mit Mühe redete«. Vielleicht bereitete eine Deformation der Mundhöhle diese Mühe beim Sprechen, oder er sprach deshalb so mühselig, weil er die Laute nie deutlich hören konnte und es für ihn deshalb schwierig war, sie richtig wiederzugeben. Jedenfalls steht er hier für den Sünder, der für die Stimme Gottes taub ist und deshalb zu anderen nicht über Gott reden kann.
7,33.34 Erst einmal nahm Jesus ihn von der Volksmenge beiseite. Er »legte seine Finger in seine Ohren und berührte mit Speichel seine Zunge«, indem er dem Mann damit durch eine Art Zeichensprache zeigte, dass er ihm nun die Ohren öffnen und die Zunge lösen wolle. Dann blickte Jesus »zum Himmel«, um darauf hinzuweisen, dass seine Macht von Gott stammte. Sein Seufzen drückte seine Trauer über das Leid aus, das die Sünde über die Menschheit gebracht hat. Schließlich sagte er noch: »Hefata!«, das aramäische Wort für »Werde geöffnet!«
7,35.36 Der Mann bekam sofort ein normales Gehör und normale Sprachfähigkeit. Der Herr bat die Menschen, dieses Wunder nicht zu verbreiten, aber sie hörten nicht auf seine Anweisung. Ungehorsam kann niemals gerechtfertigt sein, so gut man es auch meinen mag.
7,37 Die Zuschauer waren über die wunderbaren Werke Jesu erstaunt. Sie sagten: »Er hat alles wohl gemacht; er macht sowohl die Tauben hören als auch die Stummen reden.« Sie erkannten nicht, welche Wahrheit sie da äußerten. Hätten sie jenseits von Golgatha gelebt, dann hätten sie mit noch mehr Überzeugung und Begeisterung gesprochen. Wenn ich sehe, wie du wirkest, wie du mich hast durchgebracht, rühm’ ich freudig deine Gnade: Herr, du hast es wohl gemacht! Verfasser unbekannt
T. Die Speisung der Viertausend (8,1-10)
8,1-9 Dieses Wunder ähnelt der Speisung der Fünftausend, doch sollte man die Unterschiede beachten, die in der Tabelle auf S. 190 aufgeführt sind: Je weniger der Herr Jesus zur Verfügung hatte, desto mehr erreichte er und desto mehr blieb übrig. In Kapitel 7 sahen wir, wie die Krümel für eine heidn ische Frau vom Tisch fielen. Hier wurde nun Die Speisung der Fünftausend 1. Die Menge bestand aus Juden (Joh 6,14.15).
2. Die Menge war einen Tag bei Jesus gewesen (6,35).
3. Jesus hatte fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung (Matth 14,17). 4. Fünftausend Männer mit Frauen und Kindern wurden gespeist (Matth 14,21).
5. Die Reste füllten zwölf Handkörbe (Matth 14,20).
eine große Menge von Heiden überreich gespeist. Erdman kommentiert: Das erste Wunder in dieser Dienstphase zeigte, dass Brotkrümel für die bedürftigen Heiden vom Tisch fallen. Hier wird nun angedeutet, dass Jesus, der von seinem eigenen Volk verworfen wurde, sein Leben für die ganze Welt geben und zum Brot des Lebens für alle Nationen werden wird.10 Es besteht die Gefahr, solche Ereignisse wie die Speisung der Viertausend als unbedeutende Wiederholung abzutun. Wir sollten jedoch unsere Bibel mit der Überzeugung studieren, dass jedes Wort der Schrift voll geistlicher Wahrheit ist, auch wenn wir es mit unserem jetzigen Verständnis noch nicht sehen können.
8,10 Von der Dekapolis aus überquerten Jesus und seine Jünger den See Genezareth in Richtung Westufer und landeten an einem Ort namens Dalmanuta (Magdala in Matth 15,39).
U. Die Pharisäer verlangen ein Zeichen vom Himmel (8,11-13)
8,11 Die Pharisäer erwarteten ihn schon und forderten »ein Zeichen vom Himmel«. Ihre Blindheit und Frechheit war ungeheuer. Vor ihnen stand das großartigste Zeichen überhaupt – der Herr Jesus selbst. Er war wirklich ein Zeichen, das vom Himmel gekommen war, aber sie würdigten ihn nicht. Sie hörten seine unvergleichlichen Worte, sahen seine wunderbaren Taten, kamen mit einem absolut Die Speisung der Viertausend 1. Die Menge bestand wahrscheinlich aus Heiden (sie lebten in der Dekapolis).
2. Die Menge war drei Tage bei Jesus gewesen (8,2).
3. Jesus hatte sieben Brote und einige kleine Fische zur Verfügung (8,5.7). 4. Viertausend Männer mit Frauen und Kindern wurden gespeist (Matth 15,38).
5. Die Reste füllten sieben Weidenk örbe (8,8). sündlosen Menschen in Kontakt – Gott geoffenbart im Fleisch – und baten in ihrer Blindheit noch um ein Zeichen vom Himmel!
8,12.13 Kein Wunder, dass es im Blick auf den Heiland heißt: »Er seufzte auf in seinem Geist«! Wenn irgendeine Generation auf der Welt bevorrechtigt vor den anderen Generationen war, dann war es die jüdische, zu der diese Pharisäer gehörten. Doch sie baten – blind für die eindeutigsten Beweise, dass der Messias erschienen war – um ein Wunder vom Himmel statt auf der Erde. Jesus aber sagte ihnen sinngemäß: »Es wird keine weiteren Wunder geben. Ihr habt eure Chance schon gehabt.« Er »stieg wieder ein  (d. h.  in  das  Boot)  und  fuhr«  an  das Ostufer.
V. Der Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (8,14-21)
8,14.15 Die Jünger hatten vergessen, Brot mit auf die Reise zu nehmen. Jesus dachte allerdings noch immer an seine Begegnung mit den Pharisäern, als er sie »vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes« warnte. Sauerteig ist in der Bibel immer ein Bild des Bösen, das sich langsam und still ausbreitet und alles beeinflusst, mit dem es in Berührung kommt. Zum Sauerteig der Pharisäer gehören Heuchelei, krampfhaftes Festhalten an Ritualen, Selbstgerechtigkeit und Engstirnigkeit. Die Pharisäer waren sehr darauf bedacht, die äußerlichen Zeichen der Heiligkeit zu bewahren, während sie innerlich verdorben und böse waren. Zum Sauerteig des Herodes gehören Skeptizismus, Unsittlichkeit und Weltlichkeit. Die Herodianer waren für diese Sünden bekannt.
8,16-21 Die Jünger verstanden Jesus überhaupt nicht. Alles, woran sie denken konnten, war Essen. So stellte Jesus ihnen neun Fragen hintereinander. Durch die ersten fünf wurden sie wegen ihrer Begriffsstutzigkeit getadelt. Durch die letzten vier wurden sie zurechtgewiesen, weil sie sich immer noch darum sorgten, wie ihre Bedürfnisse gestillt werden würden, obwohl er bei ihnen war. Hatte er nicht die Fünftausend mit fünf Broten gespeist, und waren nicht zwölf Körbe voll Brocken übrig geblieben? Ja! Hatte er nicht die Viertausend mit sieben Broten gespeist, und sieben mit Brocken gefüllte Körbe waren übrig geblieben? Ja, das war der Fall. Warum verstanden sie dann nicht, dass er die Bedürfnisse einer Handvoll Jünger in einem Boot überreich erfüllen konnte? Erkannten sie denn nicht, dass der Schöpfer und Erhalter des Universums mit ihnen im Boot saß? W. Heilung des Blinden von Betsaida (8,22-26)
8,22-26 Dieses Wunder, das sich nur bei Markus findet, wirft mehrere interessante Fragen auf: Warum führte Jesus den Mann »aus dem Dorf hinaus«, ehe er ihn heilte? Wieso heilte er ihn nicht, indem er ihn einfach anrührte? Weshalb benutzte er ein so ungewöhnliches Mittel wie Speichel? Warum erhielt der Mann nicht sofort sein volles Augenlicht zurück?11 (Das ist die einzige Heilung in den Evangelien, die in mehreren Phasen verläuft.) Und schließlich: Warum verbot Jesus dem Mann, in seinem Dorf von dem Wunder zu erzählen? Unser Herr ist souverän und nicht verpflichtet, uns seine Handlungsweise zu erklären. Sicher gab es einen guten Grund für alles, was er tat, auch wenn wir das vielleicht nicht erkennen können. Jeder Fall einer Heilung ist anders, wie auch jede Bekehrung anders verläuft. Manche haben gleich nach der Bekehrung eine bemerkenswerte geistliche Wahrnehmung. Andere sehen zunächst noch verschwommen, um erst später die volle Überzeugung von ihrer Errettung zu haben.
X. Das Bekenntnis des Petrus (8,27-30)
8,27-30 Die beiden letzten Abschnitte dieses Kapitels bringen uns zum Höhepunkt der Unterweisung der Zwölf. Die Jünger mussten eine tiefe persönliche Überzeugung vom Wesen Jesu gewinnen, ehe sie ihn auf dem Weg begleiten konnten, der vor ihm lag, und ehe er sie bitten konnte, ihm in ein Leben der Hingabe und des Opfers zu folgen. Dieser Abschnitt bringt uns zum Kern der Jüngerschaft. Wir haben es hier mit dem vielleicht heute am meisten vernachlässigten Gebiet christlichen Glaubens und christlicher Praxis zu tun.
8,27.28 Jesus und seine Jünger suchten nun im Norden die Einsamkeit. Auf dem Weg nach Cäsarea Philippi schnitt er das Thema an, indem er die Jünger nach der öffentlichen Meinung über ihn fragte. Im Allgemeinen erkannten ihn die Menschen als großen Mann an, der Johannes dem Täufer, Elia oder einem anderen Propheten ebenbürtig war. Aber für Jesus ist die Ehre eines Menschen eigentlich eine Entwürdigung. Wenn Jesus nicht Gott ist, dann ist er ein Betrüger, ein Verrückter oder aber eine Legende. Es gibt keine andere Möglichkeit.
8,29.30 Dann fragte der Herr die Jünger direkt, was sie von ihm hielten. Petrus erklärte sofort, dass er »der Christus« sei, d. h. der Messias oder der Gesalbte. Rein intellektuell wusste Petrus das schon. Aber es war etwas in seinem Leben geschehen, sodass dies bei ihm nun zu einer begründeten, persönlichen Überzeugung wurde. Das Leben konnte nicht mehr weitergehen wie bisher. Petrus konnte sich nie mehr mit einem selbstsüchtigen Leben zufriedengeben. Wenn Jesus der Messias war, dann musste Petrus in völliger Hingabe an ihn leben.
Y. Der Knecht sagt seinen Tod und seine Auferstehung voraus (8,31-38) Bisher haben wir den Knecht Jahwes in einem Leben ruhelosen Dienstes für andere gesehen. Wir haben gesehen, wie er von seinen Feinden gehasst und von seinen Freunden missverstanden wurde. Wir haben ein Leben dynamischer Kraft, sittlicher Vollkommenheit und ausgesprochener Liebe und Demut gesehen.
8,31 Aber der Weg des Dienstes Gottes führt nun weiter zu Leid und Tod. Deshalb sagt der Heiland den Jüngern nun offen, dass er
1. leiden,
2. verworfen werden,
3. getötet werden und
4. auferstehen müsse.
Für ihn würde der Weg zur Herrlichkeit über Kreuz und Grab führen. »Das Wesen seines Dienstes sollte sich im Opfer offenbaren«, so hat F. W. Grant das einmal ausgedrückt.
8,32.33 Petrus konnte den Gedanken nicht annehmen, dass Jesus leiden und sterben müsse, denn das stand in völligem Gegensatz zu dem Bild, das er sich vom Messias gemacht hatte. Auch wollte er sich nicht vorstellen, dass sein Herr und Meister von seinen Feinden geschlagen würde. Deshalb tadelte er den Heiland dafür, so etwas zu erwähnen. Da musste Jesus zu Petrus sagen: »Geh weg hinter mich, Satan! Denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist.« Es ging nicht darum, dass Jesus Petrus etwa beschuldigt hätte, eine Verkörperung Satans oder von ihm besessen zu sein. Er meinte vielmehr: »Du sprichst, wie Satan reden würde. Er möchte uns immer davon abhalten, Gott ganz zu gehorchen. Er versucht uns, indem er uns dazu bringen will, den bequemen Weg zu gehen.« Die Worte des Petrus hatten satanischen Ursprung und Inhalt, dadurch wurde der Unwillen des Herrn hervorgerufen. Kelly sagt dazu: Was erregte unseren Herrn so sehr? Gerade die Falle, vor der wir alle oft stehen: das Verlangen, sich selbst in Sicherheit zu bringen, dem leichten Weg den Vorzug vor dem Kreuz zu geben. Ist es nicht wahr, dass wir von Natur aus versuchen, Anfechtung, Schande und Ablehnung aus dem Weg zu gehen? Schrecken wir nicht vor dem Leiden zurück, welches das Tun des Willens Gottes in einer Welt wie dieser immer nach sich ziehen muss? Ziehen wir nicht einen ruhigen, anständigen Weg auf Erden vor – kurz, das Beste beider Welten? Wie schnell ist man dar in gefangen! Petrus konnte nicht verstehen, warum der Messias diesen ganzen Leidensweg gehen sollte. Wären wir dort gewesen, wir hätten womöglich Schlimmeres gesagt oder gedacht. Der Protest des Petrus kam aus inniger menschlicher Zuneigung. Auch er liebte den Retter von Herzen. Doch, und das wusste er noch nicht, da war noch der Geist der Welt, den er noch nicht gerichtet hatte.12
Man beachte, dass Jesus erst seine Jünger sah und dann erst Petrus tadelte, als wollte er sagen: »Wenn ich nicht ans Kreuz gehe, wie sollen dann diese meine Jünger gerettet werden?«
8,34 Dann sagte Jesus sinngemäß zu ihnen: »Ich gehe, um zu leiden und zu sterben, damit Menschen gerettet werden. Wenn ihr mir nachfolgen wollt, dann müsst ihr jede selbstsüchtige Regung ablegen, absichtlich den Pfad der Verwerfung, des Leidens und des Todes wählen und mir nachfolgen. Es kann sein, dass ihr persönliche Bequemlichkeit, gesellschaftliche Vergnügungen, irdische Bindungen, großartige Ziele, materiellen Reichtum und sogar das Leben aufgeben müsst.« Derartige Worte stellen uns die Frage, wie wir eigentlich glauben können, dass es richtig ist, in Luxus und Annehmlichkeit zu leben. Wie können wir den Materialismus, die Selbstsucht und die Kälte unserer Herzen rechtfertigen? Seine Worte rufen uns alle, ein Leben der Selbstverleugnung, der Hingabe, des Leidens und des Opfers zu führen.
8,35 Immer wieder stehen wir vor der Versuchung, unser Leben zu retten – bequem zu leben, für die Zukunft vorzusorgen, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, wobei das Ich dann im Mittelpunkt bleibt. Es gibt keinen sichereren Weg, sein Leben zu verlieren. Christus ruft uns auf, unser Leben für ihn und das Evangelium hinzugeben, indem wir ihm unseren Geist, unsere Seele und unseren Leib weihen. Er wartet, dass wir unser Leben in seinen heiligen Dienst stellen und es, wenn nötig, für die Evangelisierung der Welt hingeben. Das ist gemeint, wenn Jesus davon redet, das Leben zu verlieren. Es gibt keinen sichereren Weg, es zu gewinnen.
8,36.37 Selbst wenn ein Gläubiger allen Reichtum der Welt während seines Lebens erlangen könnte, was würde ihm das nützen? Er würde die Gelegenheit verpasst haben, sein Leben zur Ehre Gottes und für die Errettung der Verlorenen zu führen. Das wäre ein schlechter Handel. Unser Leben ist mehr wert als alles, was diese Welt zu bieten hat. Werden wir unser Leben für Christus oder für uns leben?
8,38 Unser Herr erkannte, dass einige seiner Jünger auf dem Weg der Jüngerschaft aus Angst vor Schmach straucheln könnten. Deshalb erinnerte er sie daran, dass diejenigen, die Angriffe um Jesu willen zu vermeiden suchen, größere Schande erleben werden, wenn er in Macht und Herrlichkeit auf die Erde zurückkommt. Welch ein Gedanke! Bald wird unser Herr auf die Erde zurückkommen, diesmal nicht in Knechtsgestalt, sondern in seiner Herrlichkeit und in der Herrlichkeit des Vaters, zusammen mit den heiligen Engeln. Das wird ein Anblick blendender Pracht sein. Dann wird Jesus sich derer schämen, die sich jetzt seiner schämen. Mögen seine Worte (»Wer sich meiner … schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht«) unsere Herzen ansprechen. Wie inkonsequent, uns des sündlosen Retters in einer Welt zu schämen, die voller Untreue und Sündhaftigkeit ist!
IV. Der Knecht reist nach Jerusalem (Kap. 9 – 10)
A. Der Knecht wird verklärt (9,1-13) Der Herr Jesus hatte den Jüngern den Weg der Verwerfung, des Leidens und des Todes vorhergesagt, den er nun gehen würde. Er hatte sie eingeladen, ihm in seinem Leben des Opfers und der Selbstverleugnung zu folgen. Nun zeigt der Herr ihnen die andere Seite: Obwohl Jüngerschaft sie in diesem Leben viel kosten würde, würden sie schließlich in der Herrlichkeit belohnt werden.
9,1-7 Der Herr begann mit der Erklärung, dass einige Jünger »den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes in Kraft haben kommen sehen«. Er bezog sich damit auf Petrus, Jakobus und Johannes. Auf dem Berg der Verklärung sahen sie »das Reich Gottes in Kraft«. Der Abschnitt erklärt uns, dass alles, was wir um Christi willen leiden müssen, uns überreich vergolten werden wird, wenn er wiederkommt und seine Knechte mit ihm in Herrlichkeit erscheinen. Der Zustand auf dem Berg der Verklärung weist auf die Herrschaft Christi im Tausendjährigen Reich hin.
1. Jesus wurde verklärt – strahlende Pracht ging von ihm aus. Sogar seine Kleider leuchteten in einem Weiß, das keine Bleiche je hervorbringen konnte. Während seines ersten Kommens war die Herrlichkeit Christi verdeckt. Er kam in Demut, ein Mann der Schmerzen, mit Leiden vertraut. Aber er wird in Herrlichkeit wiederkehren. Niemand kann dieses Ereignis missverstehen oder verpassen. Es wird sichtbar sein, dass er der Herr der Herren und der König der Könige ist.
2. Elia und Mose waren anwesend. Sie repräsentieren entweder
a. die Heiligen des AT oder b. das Gesetz (Mose) und die Propheten (Elia) oder
c. die Heiligen, die gestorben sind, und die Heiligen, die entrückt worden sind.
3. Petrus, Jakobus und Johannes waren anwesend. Sie können für die Heil igen des NT allgemein oder für diej enigen stehen, die noch leben werden, wenn das Reich aufgerichtet wird. 4. Jesus ist die Hauptperson. Der Vorschlag von Petrus, drei Hütten zu bauen, wurde durch die Wolke und die Stimme vom Himmel getadelt. In allen Dingen muss Christus den Vorrang haben. Er wird die Herrlichkeit des Landes des Immanuel sein. 5.  Die Wolke könnte die Schechina (d. h. die Herrlichkeitswolke) sein, die im Allerheiligsten in der Stiftshütte und im alten Tempel wohnte. Sie war der sichtbare Ausdruck der Gegenwart Gottes.
6. Die Stimme war die Stimme Gottes des Vaters, der Jesus Christus als seinen geliebten Sohn bezeugte.
9,8 Als die Wolke sich erhob, sahen die Jünger »niemand mehr bei sich außer Jesus allein«. Das war ein Bild für die einzigartige, herrliche und vorrangige Stellung, die Christus einnehmen wird, wenn das Reich in Macht kommt. Schon heute sollte er sie im Herzen seiner Nachfolger haben.
9,9.10 »Als sie von dem Berg herabstiegen, gebot er ihnen«, dass sie nicht darüber sprechen sollten, »was sie gesehen hatten, ehe nicht der Sohn des Menschen aus den Toten auferstanden sei«. Diese letzte Aussage verwirrte sie. Vielleicht verstanden sie nicht, dass er sterben und wiederauferstehen sollte. Sie fragten sich, was der Ausdruck »aus den Toten auferstehen« bedeuten könnte. Als Juden kannten sie die Wahrheit, dass alle auferstehen würden. Aber Jesus sprach von einer Auferstehung, die nur ihn betraf. Er würde »aus den Toten« auferstehen, d. h. nicht alle würden auferstehen, wenn er den Tod überwinden würde. Das ist eine Wahrheit, die sich nur im NT findet.
9,11 Die Jünger hatten aber auch noch eine andere Frage. Sie hatten eben eine Vorausschau auf das Reich erhalten. Aber hatte nicht Maleachi vorausgesagt, dass »Elia zuerst kommen müsse«, und zwar als Vorläufer des Messias, der mit der Wiederherstellung aller Dinge beginnen und den Weg frei machen müsse, damit der Messias seine Herrschaft errichten könne (Mal 3,23)? Wo war nun Elia? Würde er »zuerst« kommen, wie die Schriftgelehrten sagten?
9,12.13 Jesus gab zur Antwort, es stimme, dass Elia erst zurückkehren müsse. Aber die wichtigere und aktuellere Frage lautet: »Sagen die Schriften nicht voraus, dass der Sohn des Menschen große Leiden erdulden muss und mit Verachtung behandelt wird?« Soweit es Elia betrifft, gilt: Er ist schon gekommen (und zwar in der Person und im Dienst Johannes’ des Täufers), aber die Menschen »haben ihm getan, was sie wollten« – so wie sie Elia behandelt hatten. Der Tod Johannes’ des Täufers war ein Bild für das, was sie dem Menschensohn antun würden. Sie haben den Vorläufer abgelehnt, und ebenso werden sie den König verwerfen. B. Ein besessener Junge wird geheilt (9,14-29)
9,14-16 Die Jünger durften nicht auf dem Berg der Verklärung bleiben. Im Tal wartete eine seufzende, weinende Menschheit auf sie. Eine Welt der Bedürftigkeit lag zu ihren Füßen. Als Jesus und die drei Jünger den Fuß des Berges erreichten, war eine lebhafte Diskussion zwischen den Schriftgelehrten, der Volksmenge und den anderen Jüngern im Gange. Sobald der Herr erschien, brach die Unterhaltung ab, und die Menge strömte zu ihm. »Und er fragte sie: Worüber streitet ihr mit ihnen?«
9,17.18 Ein verzweifelter Vater erzählte dem Herrn von seinem Sohn, der von einem »stummen Geist« besessen war. Der Dämon warf das Kind zu Boden, ließ es schäumen und mit den Zähnen knirschen. Diese starken Krämpfe belasteten die Gesundheit des Kindes sehr. Der Vater hatte die Jünger um Hilfe gebeten, aber »sie konnten es nicht«.
9,19 Jesus rügte die Jünger wegen ihres Unglaubens. Hatte er ihnen nicht die Macht gegeben, Dämonen auszutreiben? Wie lange musste er noch bei ihnen sein, ehe sie die Autorität nutzten, die er ihnen verliehen hatte? Wie lange würde er noch die Kraftlosigkeit und die Niederlagen in ihrem Leben ertragen müssen?
9,20-23 Als sie das Kind zum Herrn brachten, verursachte der Dämon einen schweren Anfall. Der Herr fragte, wie lange das schon so ginge. »Von Kindheit an«, erklärte der Vater. Diese Krämpfe hatten das Kind oft ins Feuer oder ins Wasser geworfen. Das Kind war öfter knapp dem Tode entronnen. Dann bat der Vater inständig, etwas zu tun, wenn er könne – ein herzzerreißender Schrei, der die langen Jahre der Verzweiflung vor Jesus brachte. Jesus sagte ihm, dass es nicht darum ging, ob er fähig zur Heilung sei, sondern darum, ob der Vater glaube. Glaube an den lebendigen Gott wird immer belohnt. Kein Fall ist für ihn zu schwierig.
9,24 Der Vater drückte das Paradox von Glaube und Unglaube aus, das Gottes Volk zu allen Zeiten empfunden hat: »Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!« Wenn wir glauben wollen, dann sehen wir, dass wir voller Unglauben sind. Wir hassen diesen Zustand, die unvernünftige Auflehnung, und scheinen doch vergeblich dagegen anzukämpfen.
9,25-27 Als Jesus dem Geist gebot auszufahren, erlitt der Junge einen letzten schlimmen Anfall, dann war er befreit und lag wie tot da. Der Heiland half ihm auf und gab ihn seinem Vater wieder.
9,28.29 Als unser Herr später mit seinen Jüngern im Haus war, fragten sie ihn, warum sie nicht in der Lage gewesen waren, den Dämon auszutreiben. Er erklärte, dass bestimmte Wunder Gebet und Fasten (vgl. hier und im Folgenden Schl 2000) erfordern. Wer von uns wird in seinem christlichen Dienst nicht zuweilen von einem Gefühl der Niederlage und Frustration überfallen? Wir haben unermüdlich und gewissenhaft gearbeitet, doch sehen wir nicht den Geist Gottes in Kraft wirken. Auch wir hören, dass der Herr uns daran erinnert: »Diese Art kann durch nichts ausfahren außer durch Gebet und Fasten.«
C. Jesus sagt nochmals seinen Tod und seine Auferstehung voraus (9,30-32)
9,30 Der Besuch unseres Herrn in Cäsarea Philippi war zu Ende. Sie zogen nun durch Galiläa – eine Reise, die Jesus nach Jerusalem und ans Kreuz führen würde. Er wollte unerkannt reisen. Sein öffentlicher Dienst lag größtenteils hinter ihm. Nun wollte er Zeit für seine Jünger haben, um sie für den vor ihnen liegenden Weg unterweisen und vorbereiten zu können.
9,31.32 Er sagte ihnen einfach, dass er gefangen genommen und getötet werden und am dritten Tag wiederauferstehen würde. Das verstanden die Jünger nicht so recht und »fürchteten sich, ihn zu fragen«. Auch wir fürchten uns oft, ihn zu fragen, und verpassen so manche Segnung.
D. Größe im Reich (9,33-37)
9,33.34 Als sie das Haus in Kapernaum erreichten, in dem sie wohnen würden, fragte Jesus sie, worüber sie sich auf dem Weg unterhalten hätten. Sie schämten sich zuzugeben, dass sie darüber gesprochen hatten, »wer der Größte sei«. Vielleicht hatte die Verklärung in ihnen neue Hoffnungen auf ein diesseitiges Reich geweckt, und sie stritten sich über die Ehrenplätze darin. Es ist herzzerreißend, wenn man sieht, dass gerade zu der Zeit, da Jesus ihnen von seinem bevorstehenden Tod erzählt, sie sich für besser hielten als andere. »Trügerisch ist das Herz, mehr als alles, und unheilbar ist es«, wie Jeremia sagte (Jer 17,9).
9,35-37 Jesus, der wusste, worüber sie geredet hatten, gab ihnen nun eine Lektion in Demut. Er sagte, dass sie dann die Ersten wären, wenn sie freiwillig den niedrigsten Dienst auf sich nehmen und für andere statt für sich selbst leben würden. Er stellte ihnen ein Kind vor und umarmte es. Er betonte, dass Liebe, die in seinem Namen den am wenigsten Geachteten erwiesen wird, eine große Tat ist. Das ist, als ob man diese Liebe Jesus selbst erweist, ja, sogar Gott dem Vater. »O gepriesener Herr Jesus, deine Lehren prüfen mein fleischliches Herz und stellen es bloß. Brich mein Ich und lebe du durch mich.«
E. Der Knecht verbietet eine sektiererische Gesinnung (9,38-42) Dieses Kapitel scheint voller Missverständnisse zu sein. Erst unterschätzt Petrus am Berg der Verklärung die Größe des Herrn (V. 5.6), dann konnten die Jünger den stummen Dämon nicht austreiben  (V. 18),  danach  diskutierten  sie  darüber, wer der Größte sei (V. 34), und hier sehen wir, dass sich auch bei ihnen der Sektengeist regte (V. 38-40).
9,38 Es war Johannes, der Geliebte, der Jesus berichtete, dass sie einen Mann gefunden hatten, der in Jesu Namen Dämonen austrieb. Die Jünger sagten ihm, er solle damit aufhören, weil er nicht zu ihnen gehören wolle. Der Mann verbreitete weder eine Irrlehre, noch lebte er in Sünde. Er verband sich nur einfach nicht mit den Jüngern.
9,39 Jesus sagte dagegen: »Haltet ihn nicht auf. Wenn er genug Glauben an mich hat, um in meinem Namen Dämonen auszutreiben, dann ist er auf meiner Seite und arbeitet gegen Satan. Er wird sicher nicht so schnell kehrtmachen, um schlecht von mir zu reden oder mein Feind zu werden.«
9,40 Vers 40 scheint Matthäus 12,30 zu widersprechen, wo Jesus sagte: »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut.« Aber es gibt keinen wirklichen Konflikt zwischen beiden Aussagen. Bei Matthäus ging es darum, ob Christus der Sohn Gottes ist, oder aber darum, ob er seine Macht von Dämonen erhalten hatte. Bei solch einer grundlegenden Frage arbeitet jeder, der nicht mit Jesus ist, gegen ihn. Hier bei Markus ging es nicht um die Person oder das Werk Christi, sondern um die Frage, mit wem man im Dienst für den Herrn zusammenarbeitet. Hier müssen Toleranz und Liebe herrschen. Wer auch immer in seinem Dienst nicht gegen Jesus arbeitet, muss gegen Satan sein, und deshalb auf Christi Seite stehen.
9,41 Sogar die kleinste Freundlichkeit, die in Christi Namen erwiesen wird, wird belohnt werden. Ein Becher Wasser, der einem Jünger gegeben wird, weil er zu Christus gehört, wird nicht unbemerkt bleiben. Dämonenaustreibung in Jesu Namen ist dagegen eher spektakulär. Einen Becher Wasser zu reichen, ist etwas sehr Gewöhnliches. Aber beide Handlungen sind dem Herrn sehr viel wert, wenn sie zu seiner Ehre getan werden. Weil »ihr Christus angehört« ist das Band, das die Gläubigen zusammenbinden sollte. Wenn wir uns diese Worte ständig vor Augen hielten, würden sie uns vor jedem Parteigeist, vor kleinlichem Gezänk und vor Eifers ucht im christlichen Dienst bewahren.
9,42 Immer wieder muss der Christ beachten, welche Auswirkungen sein Reden und Handeln auf andere hat. Es ist möglich, über einen Mitgläubigen zu straucheln und lebenslang geistlichen Schaden zu nehmen. Es wäre besser, mit einem Mühlstein um den Hals ertränkt zu werden, als Anlass für einen Kleinen zu sein, vom Weg der Heiligung und Wahrheit abzukommen.
F. Schonungslose Selbstdisziplin (9,43-50)
9,43 Die übrigen Verse des Kapitels betonen die Notwendigkeit von Disziplin und Entsagung. Diejenigen, die den Pfad echter Jüngerschaft gehen wollen, müssen dauernd mit natürlichen Wünschen und Verlangen kämpfen. Wenn man sie zu sehr hegt, bringt das Verderben. Wenn man über sie die Kontrolle gewinnt, ist geistlicher Sieg sicher. Der Herr sprach von Hand, Fuß und Auge und erklärte dabei, dass es besser sei, eines dieser Glieder zu verlieren, als dadurch in die Hölle zu kommen. Um das Ziel zu erreichen, lohnt sich jedes Opfer. Die Hand steht für unsere Taten, der Fuß für unseren Wandel und das Auge für Dinge, die wir begehren. Das sind mögliche Gefahrenpunkte. Wenn wir hierin nicht hart bleiben, können sie uns ins ewige Verderben führen. Lehrt dieser Abschnitt, dass echte Gläubige schließlich doch noch verlorengehen können und die Ewigkeit in der Hölle zubringen müssen? Wenn man diesen Abschnitt allein nimmt, scheint diese Schlussfolgerung nahezuliegen. Aber wenn wir diesen Abschnitt im Zusammenhang der neutestamentlichen Lehre sehen, müssen wir feststellen, dass jeder, der in die Hölle kommt, niemals ein wirklicher Christ gewesen sein kann. Ein Mensch kann behaupten, er sei wiedergeboren, und scheinbar auch eine Zeit lang so leben. Aber wenn solch ein Mensch ständig sein Fleisch verwöhnt, wird deutlich, dass er nie errettet worden ist.
9,44-48 Der Herr spricht wiederholt13 von der Hölle als einem Ort, »wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt«. Das ist sehr ernst zu nehmen. Wenn wir daran wirklich glaubten, würden wir nicht für Dinge, sondern für unsterbliche Seelen leben. »O Herr, gib mir Leidenschaft im Einsatz für Seelen!« Glücklicherweise ist es jedoch niemals sittlich notwendig, eine Hand oder einen Fuß zu amputieren oder ein Auge auszustechen. Der Herr meinte auch nicht, dass wir zu solchen Extremen greifen sollten. Er sagte nur, dass es besser wäre, diese Organe zu opfern, als durch ihren Missbrauch in die Hölle zu gelangen.
9,49 Die beiden nächsten Verse sind besonders schwierig. Deshalb werden wir sie Stück für Stück untersuchen. »Denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden.« Die drei Hauptfragen lauten: 1. Welches Feuer ist gemeint? 2. Was ist mit »gesalzen« gemeint? 3. Bezieht sich »jeder« auf Gerettete, auf Unerrettete oder auf beide? Feuer kann sowohl Hölle (wie in Vers 44.46.48) als auch Gericht jeder Art bedeuten, einschließlich des göttlichen Gerichts über die Werke des Gläubigen und des Selbstgerichts.
Salz steht für etwas, das vor Fäulnis bewahrt, reinigt und würzt. In östlichen Ländern ist es auch ein Zeichen für Treue, Loyalität, Freundschaft oder für das Halten eines Versprechens.
Wenn unter »jeder« die Ungläubigen zu verstehen sind, dann geht es um den Gedanken, dass sie in den Feuern der Hölle  nicht  verzehrt  werden,  d. h.  dass sie ewige Strafe erleiden. Wenn »jeder« sich auf Gläubige bezieht, dann lehrt uns der Abschnitt, dass sie
1. durch die Feuer der Züchtigung Gottes in diesem Leben gereinigt werden müssen, oder
2. sich selbst vor Verderbnis bewahren, indem sie Selbstdisziplin und -verleugnung üben, oder
3. vor dem Richterstuhl Christi geprüft werden.
»Und jedes Schlachtopfer wird mit Salz gesalzen werden« (Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel). Dieser Satz14 ist ein Zitat aus 3. Mose 2,13 (s. a. 4. Mose  18,19;  2.  Chron  13,5).  Salz,  ein Zeichen für den Bund zwischen Gott und seinem Volk, sollte die Menschen daran erinnern, dass der Bund ein ernst gemeinter Vertrag war, der nicht verletzt werden durfte. Wenn wir unsere Leiber Gott als lebendige Opfer darbringen (Röm 12,1.2), sollten wir das Opfer mit Salz würzen, indem wir eine unwiderrufliche Hingabe erkennen lassen.
9,50 »Das Salz ist gut.« Christen sind das Salz der Erde (Matth 5,13). Gott erwartet von ihnen, dass sie einen gesunden, reinigenden Einfluss ausüben. Solange sie ihre Jüngerschaft ernst nehmen, sind sie für alle ein Segen. »Wenn aber das Salz salzlos geworden ist, womit wollt ihr es würzen?« Salz ohne Kraft ist wertlos. Ein Christ, der seine Pflichten als treuer Jünger nicht erfüllt, ist verdorrt und unnütz. Es reicht nicht, als Christ gut anzufangen. Wenn das Kind Gottes sich nicht ständig und gründlich selbst richtet, dann verfehlt es das Ziel, für das Gott es gerettet hat. »Habt Salz in euch selbst.« Wir sollen Gottes Kraft in der Welt sein. Wir sollen zur Ehre Christi einen günstigen Einfluss ausüben. Wir sollen allem in unserem Leben gegenüber intolerant sein, was unsere Nützlichkeit für ihn vermindern kann.
»Und haltet Frieden untereinander.« Dies bezieht sich offensichtlich auf die Verse 33 und 34 zurück, wo die Jünger gestritten hatten, wer der Größte unter ihnen sei. Der Stolz muss weggetan und durch demütigen Dienst an allen Menschen ersetzt werden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Verse 49 und 50 ein Bild für das Leben eines Gläubigen als Opfer für Gott sind. Es ist mit Feuer gesalzen, d. h. verbunden mit Selbstgericht und Selbstverleugnung. Es ist mit Salz gesalzen, das heißt, es wird mit dem Versprechen unveränderlicher Hingabe dargebracht. Wenn ein Gläubiger hinter seinen Zusagen zurückbleibt oder sündiges Verlangen nicht drastisch behandelt, dann wird sein Leben geschmack-, wert- und sinnlos. Deshalb sollte er alles aus seinem Leben entfernen, das mit seiner Aufgabe, die er von Gott erhalten hat, in Konflikt gerät. Außerdem sollte er friedliche Beziehungen zu allen Gläubigen unterhalten. G. Ehe und Ehescheidung (10,1-12)
10,1 Von Galiläa reiste unser Herr südöstlich nach Peräa, dem Bezirk östlich des Jordan. Sein Dienst in Peräa erstreckt sich bis Kapitel 10,45.
10,2.3 Schon bald hatten ihn die Pharisäer gefunden. Sie kreisten ihn wie eine Meute Wölfe ein. Sie versuchten, ihn in eine Falle zu locken, indem sie ihn fragten, ob Scheidung nach dem Gesetz erlaubt sei. Er verwies sie auf die fünf Bücher Mose: »Was hat euch Mose geb oten?«
10,4-9 Sie umgingen seine Frage, indem sie feststellten, was Mose gestattet habe. Er erlaubte eine Scheidung, wenn der Mann der Frau »einen Scheidebrief« schrieb. Aber das lag eigentlich nicht in Gottes Absicht, es war nur »wegen eurer Herzenshärtigkeit« erlaubt worden. Nach göttlichem Plan sind Mann und Frau in der Ehe verbunden, solange sie leben. Das geht zurück auf Gottes Schöpfung des Menschen als Mann und Frau. Ein Mann soll seine Eltern verlassen und mit seiner Frau so verbunden sein, dass sie »ein Fleisch« sind. Weil sie so von Gott verbunden sind, sollten sie nicht durch menschliche Anordnungen voneinander geschieden werden.
10,10 Offensichtlich war diese Aussage selbst für die Jünger nur schwer zu akzeptieren. Zu dieser Zeit hatten die Frauen keine sichere oder ehrenvolle Stellung. Sie wurden oft nur mit Verachtung behandelt. Ein Mann konnte seine Frau entlassen, wenn sie ihm nicht mehr gefiel. Sie hatte keine Wahl. In vielen Fällen wurde sie wie ein Stück Ware behandelt.
10,11.12 Als die Jünger den Herrn genauer befragten, sagte er deutlich, dass Wiederheirat nach der Scheidung Ehebruch ist – ganz gleich, ob der Mann oder die Frau die Scheidung eingereicht hat. Wenn man nur diesen Vers sieht, dann würde das heißen, dass Scheidung unter allen Umständen verboten ist. Aber in Matthäus 19,9 machte Jesus eine Ausnahme. Wenn ein Partner sich des Ehebruchs schuldig gemacht hat, dann ist der andere Teil frei, sich scheiden zu lassen, und wahrscheinlich ist es ihm sogar erlaubt, wieder zu heiraten. Es ist auch möglich, dass 1. Korinther 7,15 Scheidung erlaubt, wenn ein ungläubiger Partner seinen christlichen Ehegatten verlässt. Sicherlich sind mit dem gesamten Thema der Heirat und Wiederh eirat ernste Schwierigkeiten verbunden. Es gibt in manchen Ehen solche Verwicklung en, dass es wirklich die Weisheit Salomos erfordert, ein solches Durche inander wieder zu ordnen. Scheidung wirft einen Schatten und ein Fragezeichen auf das Leben derer, die betroffen sind. Wenn Geschiedene die Gemeinschaft einer Ortsgemeinde suchen, dann müssen die Ältesten den Fall in der Furcht Gottes untersuchen. Jeder Fall ist verschieden und muss individuell behandelt werden. Dieser Abschnitt zeigt, dass Christus nicht nur an der Heiligkeit der Ehe, sondern auch an den Rechten der Frau gelegen ist. Das Christentum gibt der Frau eine Ehrenstellung, die man in den Religionen dieser Welt nicht findet. H. Jesus segnet die Kinder (10,13-16)
10,13 Nun sehen wir die Besorgtheit Jesu um Kinder. Eltern, die ihre Kinder zu Jesus bringen wollten, damit sie durch den Hirten und Lehrer gesegnet werden, wurden von den Jüngern abgewiesen.
10,14-16 Der Herr wurde sehr »unwillig« und erklärte, dass den Kindern und denen, die kindlichen Glauben und kindliche Demut haben, »das Reich Gottes« gehört. Erwachsene müssen wie Kinder werden, um in das Reich Gottes zu kommen.
George MacDonald sagte immer, dass er nicht an das Christentum eines Menschen glauben könne, wenn niemals Jungen oder Mädchen vor seiner Tür spielen. Sicherlich sollten diese Verse dem Diener des Herrn die Bedeutung einschärfen, die dem Erreichen der Kleinen mit dem Wort Gottes zukommt. Der Geist eines Kindes ist noch sehr formbar und aufnahmef ähig. W. Graham Scroggie sagte: »Sei am besten und gib dein Bestes, wenn du mit Kindern zusammen bist.« I. Der reiche Jüngling (10,17-31)
10,17 Ein reicher Mann unterbrach den Herrn mit einer offensichtlich ernst gemeinten Frage. Er sprach Jesus als »guter Lehrer« an und fragte dann, was er tun solle, um ewiges Leben zu erhalten.
10,18 Der Herr Jesus nahm die Worte »guter Lehrer« auf. Er lehnte diesen Titel nicht ab, sondern gebrauchte ihn, um den Glauben des Mannes zu erproben. Nur Gott ist gut. War der junge Mann gewillt zu bekennen, dass Jesus Gott ist? Offensichtlich nicht.
10,19.20 Als Nächstes wandte der Herr das Gesetz an, um in dem Mann das Bewusstsein seiner Sünde zu erwecken. Der Mann lebte noch in der Illusion, dass er das Reich erben könne, wenn er etwas täte. Deshalb sollte er das Gesetz befolgen, das ihm sagte, was er tun sollte. Unser Herr zitierte die fünf Gebote, die sich in erster Linie mit unserem Verhältnis zu unseren Mitmenschen beschäftigen. Diese fünf Gebote sagen zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Der Mann bekannte von sich, diese Gebote von Jugend an gehalten zu haben.
10,21.22 Aber liebte er seinen Nächsten wirklich wie sich selbst? Wenn ja, dann sollte er das beweisen, indem er seinen Besitz verkaufte und ihn den Armen gab. O das war eine ganz andere Sache! »Er aber ging … traurig weg, denn er hatte viele Güter.«
Der Herr Jesus meinte mit seiner Aufforderung nicht, dass der Mann hätte gerettet werden können, wenn er seinen Besitz verkauft und das Geld für wohltätige Zwecke gespendet hätte. Es gibt nur einen Weg zur Errettung: Glaube an den Herrn. Aber um gerettet zu werden, musste dieser Mann einsehen, dass er ein Sünder ist, der die heiligen Anforderungen Gottes nicht erfüllen kann. Der Herr zitierte zunächst aus den Zehn Geboten, um ihn von seiner Sündhaftigkeit zu überzeugen. Dass der Reiche sich weigerte, seine Reichtümer zu teilen, zeigt, dass er seinen Nächsten nicht wie sich selbst liebte. Er hätte sagen sollen: »Herr, wenn das verlangt wird, dann bin ich ein Sünder. Ich kann mich durch eigene Anstrengung nicht retten. Deshalb bitte ich dich: Rette mich durch deine Gnade.« Aber er liebte seinen Reichtum zu sehr. Er war nicht willens, ihn aufzugeben. Er verweigerte sich dem inneren Zerbruch. Als Jesus dem Mann sagte, er solle alles verkaufen, sagte er ihm das nicht, damit er auf diese Weise die Errettung erlangen sollte. Er zeigt dem Mann, dass er das Gesetz Gottes gebrochen und deshalb Rettung nötig hatte. Wenn er die Lehre des Herrn angenommen hätte, wär e ihm der Weg zur Errettung gezeigt worden. Aber es bleibt noch ein Problem. Wird von uns Gläubigen erwartet, den Nächsten wie uns selbst zu lieben? Sagt Jesus auch uns: »Verkaufe alles, was du hast, und gib den Erlös den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach«? Jeder muss hier selbst die Antwort finden, aber ehe er es tut, sollte er die folgenden, unbestreitbaren Fakten überdenken:
1. Täglich sterben Tausende von Menschen den Hungertod.
2. Mehr als die Hälfte der Menschheit hat niemals das Evangelium gehört. 3. Unsere materiellen Güter können benutzt werden, um in geistlichen und körperlichen Nöten zu helfen. 4. Das Beispiel Christi lehrt uns, dass wir arm werden sollten, damit andere reich werden können (2. Kor 8,9). 5. Die Kürze des Lebens und die Nähe der Wiederkunft des Herrn lehren uns, unser Geld jetzt für ihn arbeiten zu lassen. Wenn er wiedergekommen ist, wird es dafür zu spät sein.
10,23-25 Als er sah, wie der reiche Mann in der Menge verschwand, sprach Jesus darüber, wie schwierig es für einen Reichen ist, ins Reich Gottes zu kommen. Die Jünger waren über diese Bemerkung erstaunt, weil sie Reichtum mit dem Segen Gottes in Verbindung brachten. Deshalb wiederholte Jesus: »Liebe Kinder, wie schwer ist’s, dass die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen,15 ins Reich Gottes kommen!« (LU 1912) Er fuhr fort: »Es ist leichter, dass ein Kamel durch das Öhr der Nadel geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt.«
10,26.27 Deshalb fragten sich die Jünger nun, wer überhaupt errettet werden könne. Als Juden lebten sie unter dem Gesetz und deuteten Reichtum zu Recht als ein Zeichen für den Segen Gottes. Im Rahmen des mosaischen Gesetzes hatte Gott denen Reichtum versprochen, die ihm gehorchen. Wenn ein Reicher das Reich nicht erlangen könne – so die Schlussfolgerung der Jünger –, war auch kein anderer dazu imstande. Jesu Antwort darauf lautete, dass das, was menschlich unmöglich scheint, bei Gott möglich ist. Was können wir aus diesem Abschnitt lernen?
Es ist für Reiche besonders schwierig, gerettet zu werden (V. 23), weil diese Menschen dazu neigen, ihren Reichtum mehr als Gott zu lieben. Sie geben eher Gott als ihr Geld auf. Sie vertrauen auf ihren Reichtum mehr als auf den Herrn. Solange diese Bedingungen bestehen, können sie nicht gerettet werden. Im AT galt, dass Reichtum ein Zeichen von Gottes Wohlgefallen war. Das hat sich nun verändert. Statt ein Zeichen des Segens Gottes zu sein, ist Besitz heute eine Prüfung für die Hingabe eines Menschen.
Ein Kamel kann leichter durch ein Nadelöhr gelangen als ein reicher Mann durch die Pforte des Reiches. Menschlich gesprochen ist es schlichtweg unmöglich, dass ein Reicher gerettet wird. Man wird vielleicht einwenden, dass – menschlich gesprochen – niemand gerettet werden kann. Das ist wahr. Aber es gilt für den Reichen noch mehr als für andere. Er hat Hindernisse zu überwinden, deren sich der Arme nicht bewusst ist. Der Gott Mammon muss von seinem Thron im Herzen des Menschen gerissen werden, und man muss vor Gott als Bettler stehen. Diese Veränderung herbeizuführen, ist einem Menschen nicht möglich. Das kann nur Gott.
Christen, die auf Erden Reichtum sammeln, bezahlen für ihren Ungehorsam meist im Leben ihrer Kinder. Nur wenige Kinder aus solchen Familien leben wirklich mit dem Herrn.
10,28-30 Petrus erfasste die Anwendung der Lehre des Herrn. Er erkannte, dass Jesus sinngemäß meinte: »Verlass alles, und folge mir nach.« Jesus bestätigte das, indem er gegenwärtigen und ewigen Lohn demjenigen versprach, der um seinetwillen und wegen des Evangeliums alles verlässt.
1. Die gegenwärtige Belohnung beträgt 10 000  Prozent,  nicht  als  Geld,  sondern als:
a. »Häuser« – die Familien oder Häuser anderer Menschen, wo der Betreffende Unterkunft als Diener des Herrn findet.
b. »Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder« – christliche Freunde, deren Gemeinschaft das ganze Leben bereichert.
c. »Äcker« – Land im geistlichen Sinne, das der Knecht des Herrn für den König eingenommen hat. d. »Verfolgungen« – sie sind ein Teil der gegenwärtigen Belohnung. Es ist ein Grund zur Freude, wenn man für würdig befunden wird, um Jesu willen zu leiden. 2. Die zukünftige Belohnung ist das ewige Leben. Das bedeutet nicht, dass wir uns das ewige Leben verdienen würden, indem wir alles verlassen. Ewiges Leben ist ein Geschenk. Der Gedanke lautet hier, dass diejenigen, die alles verlassen, mit einer intensiveren Freude am ewigen Leben im Himmel belohnt werden. Alle Gläubigen werden ewiges Leben haben, aber nicht alle werden es auf die gleiche Weise genießen können.
10,31 Dann fügte unser Herr ein Wort der Warnung hinzu: »Aber viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein.« Ein guter Anfang reicht auf dem Weg der Jüngerschaft nicht. Letztlich zählt, wie wir den Lauf vollenden. Ironside sagte: Nicht jeder, der zu Anfang ein treuer und hingegebener Nachfolger des Herrn zu sein scheint, wird den Weg der Selbstverleugnung um Christi willen weitergehen. Und einige, die zurückgeblieben scheinen und deren Hingabe fragwürdig aussieht, erweisen sich in der Stunde der Erprobung als treu und selbstvergessen.16
J. Die dritte Ankündigung des Leidens des Knechtes (10,32-34)
10,32 Nun war die Zeit gekommen, »hinauf nach Jerusalem« zu gehen. Für den Herrn Jesus bedeutete das, das Leiden und die Betrübnis von Gethsemane und die Schande und die Qual des Kreuzes zu ertragen.
Was empfand er zu dieser Zeit? Können wir seine Gefühle nicht aus den Worten »Jesus ging vor ihnen her« herauslesen? Er war entschlossen, Gottes Willen zu tun, obwohl er genau wusste, was es ihn kosten würde. Er war einsam – er ging vor den Jüngern her, ganz allein. Aber er freute sich sicher auch – mit der tiefen, festen Freude, im Willen Gottes zu leben. Er schaute auf die kommende Herrlichkeit, die Freude, die Braut für sich zu erwerben. Wegen der vor ihm liegenden Herrlichkeit ertrug er das Kreuz trotz aller Schande.
Wenn wir auf ihn schauen, wie er an der Spitze der Jünger daherschreitet, sind auch wir vielleicht erschrocken. Doch er ist unser unerschrockener Führer, der Anfänger und Vollender unseres Glaubens, unser herrlicher Meister, der göttliche Fürst. Erdman schreibt:
Wir sollten innehalten, um sein Gesicht und seine Züge, den Sohn Gottes, anzuschauen, wie er festen Schrittes auf das Kreuz zugeht! Erweckt es nicht neues Heldentum in unserer Nachfolge, erweckt es nicht neue Liebe, wenn wir sehen, wie er freiwillig für uns in den Tod ging; und wundern wir uns nicht immer wieder über die Bedeutung und das Geheimnis dieses Todes?17 »Die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich.« Sie wussten, dass die religiösen Führer in Jerusalem seinen Tod planten.
10,33.34 Zum dritten Mal gab der Herr den Jüngern eine ausführliche Beschreibung der kommenden Ereignisse. Dieses prophetische Reden zeigt, dass er mehr als ein Mensch ist:
1. »Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem« (11,1 – 13,37). 2. »Der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden« (14,1.2. 43-53).
3. »Sie werden ihn zum Tod verurteilen« (14,55-65). 4. »Und werden ihn den Nationen überliefern« (15,1).
5. »Sie werden ihn verspotten und ihn anspeien und ihn geißeln und töten« (15,2-38). 6. »Und nach drei Tagen wird er auferstehen« (16,1-11).
K. Größe bedeutet Dienst (10,35-45)
10,35-37 Nach dieser deutlichen Ankündigung seiner bevorstehenden Kreuzigung kamen Jakobus und Johannes mit einer Bitte, die edel, aber dennoch fehl am Platze war. Sie war edel, weil sie Christus nahe sein wollten, aber es war fehl am Platze, hier Großartiges für sich selbst zu suchen. Sie zeigten Glauben daran, dass Jesus sein Reich aufrichten würde, aber sie hätten eher an sein bevorstehendes Leiden denken sollen.
10,38.39 Jesus fragte sie, ob sie in der Lage seien, seinen Kelch zu trinken (damit bezog er sich auf sein Leiden) und seine Taufe zu teilen (damit bezog er sich auf seinen Tod). Sie behaupteten, dazu imstande zu sein, und Jesus bestätigte es. Sie würden aus Treue zu ihm leiden müssen, zumindest Jakobus würde den Märtyrertod sterben (Apg 12,2).
10,40 Aber dann erklärte er, dass Ehrenplätze im Reich Gottes nicht nach Gutdünken verteilt werden. Sie werden als Lohn zugeeignet. Es ist gut, hier anzumerken, dass der Zugang zum Reich aus Gnade durch den Glauben erfolgt, aber die Stellung im Reich durch Treue für Christus bestimmt wird.
10,41-44 Die anderen zehn Jünger waren »unwillig … über Jakobus und Johannes«, weil diese versuchten, mehr zu sein als sie. Aber ihre Unwilligkeit verriet die Tatsache, dass sie den gleichen Geist hatten. Das gab dem Herrn Jesus die Gelegenheit, eine wunderschöne und revolutionäre Lektion über Größe zu erteilen. Unter den ungläubigen Machthabern dieser Welt gibt es viele, die nach Gutdünken regieren und anmaßend sowie herrschsüchtig sind. Aber in Christi Reich ist wahre Größe durch Dienst gekennzeichnet: »Wer von euch der Erste sein will«, soll zuvor Diener aller sein.
10,45 Das überragende Beispiel ist der Sohn des Menschen selbst. Er »ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele«. Daran sollte man immer denken! Er kam auf wunderbare Weise, als Mensch geboren. Er diente sein ganzes Leben. Und bei seinem furchtbaren Tod gab er sogar sein Leben. Wie schon weiter oben erwähnt, ist Vers 45 der Schlüsselvers dieses Evangeliums. Er enthält die ganze Theologie in Kurzform, der Rahmen des großartigsten Lebens, das die Welt je gesehen hat. L. Die Heilung des blinden Bartimäus (10,46-52)
10,46 Die Szene wechselt nun von Peräa nach Judäa. Der Herr und seine Jünger hatten den Jordan überquert und waren nach Jericho gekommen. Hier trafen sie auf den blinden Bartimäus – einen Mann, der sehr litt, seine Not kannte und entschlossen war, sie behandeln zu lassen.
10,47 Bartimäus erkannte unseren Herrn als den »Sohn Davids« und sprach ihn als solchen an. Es ist Ironie, dass das Volk Israel für die Anwesenheit des Messias blind war, aber ein blinder Jude wirkliche geistliche Einsicht besaß!
10,48-52 Sein anhaltendes Bitten um Erbarmen blieb nicht unbeantwortet. Sein deutliches Gebet um das Augenlicht fand ebenso deutliche Erhörung. Seine Dankbarkeit drückte sich in treuer Jüngerschaft aus: Er folgte Jesus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem. Es muss das Herz des Herrn erfreut haben, solchen Glauben in Jericho zu finden, während er auf sein Kreuz zuging. Es war gut, dass Bartimäus den Herrn an diesem Tag suchte, denn der Herr ging diesen Weg nie wieder. V. Der Knecht dient in Jerusalem (Kap. 11 – 12)
A. Ein triumphaler Empfang (11,1-11)
11,1-3 Hier beginnt der Bericht über die letzte Woche. Jesus hatte am Osthang des Ölbergs bei Betfage (Haus der unreifen Feigen) und Betanien (Haus der Armen oder Unterdrückten) Rast gemacht. Die Zeit war gekommen, sich dem jüdischen Volk offen als dessen Messiaskönig zu zeigen. Indem er auf einem Fohlen ritt, erfüllte er die Prophezeiung aus Sacharja 9,9. Er sandte »zwei seiner Jünger« von Betanien nach Betfage. Mit umfassender Vorkenntnis und Vollmacht beauftragte er sie, ein noch nicht eingerittenes Fohlen zu holen, das sie angebunden finden würden. Wenn jemand sie deshalb zur Rede stellen würde, sollten sie sagen: »Der Herr braucht es.« Die Allwissenheit des Herrn, wie wir sie hier sehen, hat jemanden zu der Aussage veranlasst: »Das ist nicht der Christus der modernen Theologie, sondern der Christus der Geschichte und des Himmels.«
11,4-6 Alles geschah so, wie Jesus es vorausgesagt hatte. Sie »fanden ein Fohlen« an einer Hauptkreuzung des Dorfes. Als sie zur Rede gestellt wurden, sprachen die Jünger »zu ihnen, wie Jesus gesagt hatte«. Da ließen die Leute sie gewähren.
11,7.8 Obwohl das Fohlen bisher noch nicht eingeritten war, bäumte es sich nicht auf, als es seinen Schöpfer nach Jerusalem trug. Der Herr ritt auf einem Teppich aus Kleidern und Palmzweigen in die Stadt, während er die Hochrufe des Volkes hörte. Für einen Augenblick wenigstens war er als König anerkannt.
11,9.10 Das Volk schrie: 1. »Hosanna« – was ursprünglich bedeutete: »Wir bitten, rette«, aber was später ein Ausruf des Lobes wurde. Vielleicht meinten die Leute auch: »Wir bitten, rette uns von unseren römischen Unterdrückern!«
2. »Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!« Damit erkannten sie deutlich an, dass Jesus der verheißene Messias ist (Ps 118,26). 3. »Gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters David!« Sie dachten, dass das Königreich nun errichtet werden und Christus auf dem Thron Davids sitzen würde.
4. »Hosanna in der Höhe!« Dies ist ein Lobruf, um den Herrn im Himmel zu preisen, oder eine Bitte an ihn, aus der Höhe (d. h. vom Himmel her) zu erretten.
11,11 Sobald Jesus in Jerusalem war, ging er in den Tempel – nicht ins Allerheiligste, sondern in den Vorhof. Sicherlich war der Tempel das Haus Gottes, aber Jesus war in diesem Tempel nicht zu Hause, weil die Priester und das Volk ihm nicht seine ihm gebührende Stellung gewähren wollten. Deshalb ging er, »als er über alles umhergeblickt hatte … mit den Zwölfen nach Betanien hinaus«. Es war Sonntagabend.
B. Der unfruchtbare Feigenbaum (11,12-14) Mit dieser Gleichnishandlung deutet unser Herr das tumulthafte Willkommen, mit dem er soeben in Jerusalem empfangen worden war. Er sah das Volk Israel als unfruchtbaren Feigenbaum – er hatte zwar Blätter, aber keine Früchte. Der Hosanna-Ruf würde sich bald in den blutrünstigen Ruf nach Kreuzigung verwandeln.
Scheinbar ist es schwierig, die Verfluchung des Feigenbaumes zu rechtfertigen, nur weil er keine Früchte trug. Denn es heißt ausdrücklich: »Denn es war nicht die Zeit der Feigen.« Dadurch scheint uns der Herr Jesus eine unvernünftige Forderung zu stellen. Wir wissen, dass dies nicht sein kann, doch wie können wir diesen seltsamen Vorfall erklären?
Die Feigenbäume der biblischen Länder brachten vor den Blättern eine frühe, essbare Frucht hervor. Sie war Vorbote der normalen Ernte, was hier als »Zeit der Feigen« beschrieben wird. Wenn es keine frühen Feigen gab, war das ein Zeichen dafür, dass es später auch keine normale Ernte geben würde. Als Jesus zum Volk Israel kam, fand er Blätter, die vom Bekenntnis reden, aber er fand keine Frucht für Gott. Er sah Versprechen, aber keine Erfüllung. Jesus suchte beim Volk Israel nach echter Frucht. Weil es keine frühen Früchte gab, wusste er, dass er von diesem ungläubigen Volk auch später keine Früchte ernten würde. Deshalb verfluchte er den Feigenbaum. Dies ist ein Zeichen, das auf die Eroberung Israels im Jahre 70 n. Chr. hinweist. Doch lehrt dieser Bericht nicht, dass Israel zu ewiger Unfruchtbarkeit verurteilt worden ist. Das jüdische Volk ist nur zeitweilig beiseitegesetzt worden, aber wenn Christus wiederkehrt, um zu herrschen, dann wird das Volk wiedergeboren und von Gott wieder in seine Vorrechte eingesetzt.
Dies ist das einzige Wunder, bei dem Jesus verfluchte und nicht segnete, bei dem er vernichtete, statt Leben wiederherzustellen. Auch das ist als Problem gewertet worden. Doch ist ein solcher Einwand nicht stichhaltig. Der Schöpfer hat das unumschränkte Recht, ein unbelebtes Objekt zu vernichten, um damit eine wichtige geistliche Lehre zu verdeutlichen und so Menschen vor dem ewigen Verderben zu erretten.
Obwohl sich die Auslegung dieses Abschnittes in erster Linie auf das Volk Israel bezieht, kann er auch auf Menschen aller Zeitalter angewendet werden, die zwar großartig daherreden, deren Lebenswandel jedoch nicht mit ihren Worten übereinstimmt.
C. Der Knecht reinigt den Tempel (11,15-19)
11,15.16 Zu Beginn seines öffentlichen Dienstes hatte Jesus diejenigen aus dem Tempelbereich hinausgetrieben, für die der Gottes- und Opferdienst zum Geschäft geworden war (Joh 2,13-22). Als sein Dienst nun dem Ende entgegenging, betrat er nochmals den Tempelvorhof und trieb diejenigen aus, die mit Religion Geld verdienen wollten. Er verhinderte sogar, dass gewöhnliches »Gerät durch den Tempel« getragen wurde.
11,17 Er zitierte zwei Stellen aus Jesaja sowie Jeremia und verurteilte damit die Entheiligung, den Luxus und den Kommerz. Gott hatte den Tempel zum »Bethaus für alle Nationen« bestimmt (Jes 56,7), nicht allein für die Israeliten. Sie hatt en den Tempel zu einem religiösen Markt und einer Zufluchtsstätte für Gauner und Halsabschneider gemacht (Jer 7,11).
11,18 Die Hohenpriester und Schriftgelehrten fühlten sich durch seine Anklage angegriffen. Sie wollten ihn umbringen, aber sie konnten es nicht offen tun, weil die Menschen Jesus immer noch mit Ehrfurcht betrachteten. 11,19 Abends »gingen sie (d. h. Jesus und seine Jünger) zur Stadt hinaus«. Die Zeitform des Griechischen deutet hier an, dass es ihre Gewohnheit war, vielleicht aus Sicherheitsgründen. Jesus fürchtete dabei nicht um sich selbst. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass es zu seinem Dienst gehörte, die Schafe zu bewahren,  d. h.  seine  Jünger  (Joh  17,6-9). Außerdem wäre es grotesk gewesen, sich den Wünschen seiner Feinde zu beugen, ehe die Zeit gekommen war. D. Was der verdorrte Feigenbaum lehrt (11,20-26)
11,20-23 Am Morgen nach der Verfluchung des Feigenbaumes kamen die Jünger dort auf ihrem Weg nach Jerusalem vorbei. Er war von den Wurzeln bis in die Spitzen verdorrt. Als Petrus das vor dem Herrn erwähnte, sagte dieser einfach: »Habt Glauben an Gott!« Aber was haben diese Worte mit dem Feigenbaum zu tun? Die folgenden Verse zeigen, dass Jesus den Glauben der Jünger stärken wollte, damit sie ein Mittel hätten, Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn Jünger an Gott glauben, dann können sie das Problem der Unfruchtbarkeit beseitigen und berghohe Hindernisse überwinden. Dennoch geben uns diese Verse nicht die Vollmacht, um Wunderkräfte zur eigenen Selbstdarstellung oder Bestätigung zu bitten. Jeder Glaubensakt muss in den Verheißungen Gottes begründet sein. Wenn wir wissen, dass es Gottes Wille ist, eine bestimmte Schwierigkeit wegzunehmen, dann dürfen wir im Gebet darauf vertrauen, dass es geschieht. Wir können voller Gewissheit alles erbitten, solange wir sicher sind, dass es dem Willen Gottes, wie er in der Bibel oder durch das innere Zeugnis des Geistes offenbart ist, entspricht.
11,24 Wenn wir wirklich im engen Kontakt mit dem Herrn leben und beten, dann können wir die Gewissheit der Gebetserhörung bereits erhalten, ehe die Antwort wirklich da ist.
11,25.26 Aber eine der Grundbedingungen für ein erhörliches Gebet ist ein vergebungsbereiter Geist. Wenn wir eine harte, unversöhnliche Haltung anderen gegenüber pflegen, dann können wir von Gott nicht erwarten, dass er uns erhört. Wir müssen vergeben, wenn uns vergeben werden soll. Das bezieht sich jedoch nicht auf die Vergebung der Sünden zur Zeit der Bekehrung, wo wir uns selbst verurteilt haben. Diese Vergebung ist eine Angelegenheit der Gnade durch Glauben. Es bezieht sich auf Gottes väterliches Handeln mit seinen Kindern. Hat ein Gläubiger einen unversöhnlichen Geist, so ist die Gemeinschaft mit dem Vater im Himmel unterbrochen, und der Zufluss neuen Segens wird verhindert. E. Die Vollmacht des Knechtes wird infrage gestellt (11,27-33)
11,27.28 Sobald Jesus den Tempelbezirk betreten hatte, belästigten ihn die relig iösen Führer und stellten seine Vollmacht infrage, indem sie zwei Fragen stellten: 1. »In welcher Vollmacht tust du diese Dinge?«
2. »Wer hat dir diese Vollmacht gegeben, dass  du  diese  Dinge  tust?«  (d. h.  die Tempelreinigung, die Verfluchung des Feigenbaums und den triumphalen Einzug in Jerusalem). Sie hofften, ihn in eine Falle zu führen – ganz gleich, welche Antwort er geben würde. Wenn er behauptete, diese Vollmacht aus sich selbst als Sohn Gottes zu haben, konnten sie ihn der Gotteslästerung anklagen. Wenn er jedoch behaupten würde, diese Vollmacht von Menschen zu haben, würden sie ihn in Verruf bringen. Wenn er behaupten würde, diese Vollmacht von Gott erhalten zu haben, würden sie diese Vollmacht weiter infrage stellen, weil sie sich selbst als von Gott eingesetzte religiöse Führer des Volkes ansahen.
11,29-32 Aber der Herr Jesus antwortete mit einer Gegenfrage: »War Johannes der Täufer von Gott gesandt worden oder nicht?« (Die »Taufe des Johannes« steht hier für seinen gesamten Dienst.) Sie konnten nicht antworten, ohne sich selbst in Verlegenheit zu bringen. Wenn der Dienst des Johannes von Gott bestätigt worden war, dann hätten sie seinem Bußruf folgen müssen. Wenn sie den Dienst des Johannes verunglimpfen würden, dann würden sie es riskieren, sich den Zorn der Bevölkerung zuzuziehen, die noch immer Johannes als einen Gesandten Gottes ansah.
11,33 Als sie sich weigerten, eine Antwort zu geben, indem sie so taten, als wüssten sie es nicht, weigerte sich der Herr, mit ihnen über seine Vollmacht zu diskutieren. Solange sie nicht gewillt waren, die Zeichen des Vorläufers zu akzeptieren, würden sie noch weniger die weitaus größeren Zeichen des Königs selbst annehmen.
F. Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (12,1-12)
12,1 Der Herr Jesus war mit den jüdischen Gelehrten noch nicht zu Ende gekommen, auch wenn er sich geweigert hatte, ihre Frage zu beantworten. In der Form eines Gleichnisses hielt er nun eine harte Anklage, weil sie den Sohn Gottes verwarfen. Der Mann, der den Weinberg pflanzte, ist Gott selbst. Der Weinberg war die Vorrangstellung Israels zu dieser Zeit. Der Zaun ist das Gesetz des Mose, das Israel von den Heiden absonderte und es als ein auserwähltes Volk für den Herrn bewahrte. Die Weingärtner waren die religiösen Führer wie die Pharis äer, Schriftgelehrten und Ältesten.
12,2-5 Wiederholt sandte Gott seine Diener, die Propheten, zum Volk Israel und suchte Gemeinschaft, Heiligung und Liebe. Aber die Angehörigen des Volkes verfolgten die Propheten und töteten einige von ihnen.
12,6-8 Schließlich sandte Gott seinen geliebten Sohn. Er erwartete, dass sie wenigstens ihn respektieren würden. Aber das taten sie nicht. Sie planten seinen Tod und ermordeten ihn schließlich. So sagte der Herr seinen eigenen Tod voraus und stellte seine Mörder bloß.
12,9 Was würde Gott nun mit diesen verdorbenen Männern tun? Er würde sie umbringen und die Vorrechte anderen geben. Die anderen sind hier entweder die Heiden oder der bekehrte Überrest Israels in den letzten Tagen.
12,10.11 All das war eine Erfüllung der Schriften des AT. In Psalm 118,22.23 z. B. wurde vorausgesagt, dass der Messias von den jüdischen Führern – von den Bauleuten – verworfen würde. Sie würden für diesen Stein keinen Platz finden. Aber nach seinem Tode würde er aus den Toten auferweckt und den ersten Platz bei Gott einnehmen. Er würde zum »Eckstein« des Hauses Gottes werden.
12,12 Die jüdischen Führer verstanden Jesus sehr gut. Sie wussten, dass Psalm 118 vom Messias spricht. Sie hatten nun gehört, wie der Herr Jesus diese Verse auf sich selbst bezog. »Sie suchten ihn zu greifen«, aber seine Zeit war noch nicht gekommen. Die Volksmenge würde sich auf die Seite des Herrn schlagen. So ließen sie Jesus vorläufig in Ruhe. G. Was Gott und dem Kaiser zusteht (12,13-17) Kapitel 12 enthält Angriffe der Pharisäer und Herodianer sowie der Sadduzäer auf den Herrn. Man könnte es als »Fragenkapitel« bezeichnen (s. V. 9.10.14.15.16.23.24 .26.28.35.37).
12,13.14 Die Pharisäer und Herodianer – ursprünglich bitter verfeindet – verbanden sich miteinander durch ihren gemeinsamen Hass auf den Herrn. Verzweifelt versuchten sie, ihn zu einer Aussage zu verleiten, die sie als Anklage gegen ihn verwenden könnten. So fragten sie ihn, ob es erlaubt sei, »dem Kaiser Steuern zu geben oder nicht«. Kein Jude freute sich über die Fremdherrschaft der Heiden. Die Pharisäer hassten sie von Herzen, während die Herodianer etwas toleranter waren. Wenn Jesus offen die Steuerzahlung an den Kaiser billigte, würde er sich bei vielen Juden unbeliebt machen. Wenn er jedoch gegen den Kaiser sprach, würden sie ihn vor die römische Verwaltung führen, damit er eingesperrt und als Verräter verurteilt würde.
12,15.16 Jesus bat jemanden, ihm einen Denar zu bringen. Offensichtlich hatte er selbst kein Geldstück. Die Münze trug das Bild von Kaiser Tiberius, ein Zeichen dafür, dass die Juden unter Fremdherrschaft standen. Warum mussten sie unter diesen Umständen leben? Wegen ihrer Untreue und Sünde. Sie hätten gedemütigt sein sollen, dass sie Münzen verwenden mussten, die das Bild eines heidnischen Diktators trugen.
12,17 Der Herr sagte ihnen nun: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« Ihr Fehlverhalten betraf weniger ihr Verhältnis zum Kaiser als vielmehr ihre Beziehung zu Gott. Sie hatten, wenn auch zögernd, den Römern Steuern gezahlt, aber die Ansprüche Gottes auf ihr Leben missachtet. Die Münze trug das Bild des Kaisers, deshalb gehörte sie ihm. Der Mensch trägt das Bild Gottes – Gott schuf den Menschen nach seinem Bild (1. Mose 1,26.27) –, und deshalb gehört er Gott.
Der Gläubige hat der Obrigkeit, unter der er lebt, zu gehorchen und sie zu unterstützen. Er sollte nicht schlecht über die Herrschenden sprechen oder mitarbeiten, die Regierung zu stürzen. Er soll Steuern zahlen und für die Machthaber beten. Wenn er jedoch aufgefordert wird, etwas zu tun, das seine höherstehende Loyalität Christus gegenüber verletzen würde, sollte er sich weigern und (gegebenenfalls) die Strafe ertragen. Die Ansprüche Gottes kommen immer zuerst. Solange er diese Ansprüche erfüllen kann, sollte der Christ immer seinen guten Ruf vor der Welt bewahren. H. Die Sadduzäer und ihre Frage zur Auferstehung (12,18-27)
12,18 Die Sadduzäer waren die Liberalen oder Rationalisten jener Zeit. Sie spotteten über den Gedanken an eine leibliche Auferstehung. So kamen sie mit einer lächerlichen Geschichte zu Jesus, um über diese Wahrheit spotten zu können.
12,19 Sie erinnerten Jesus daran, dass das Gesetz des Mose für Witwen besondere Vorkehrungen getroffen hatte. Um den Familiennamen und das Eigentum in der Familie zu erhalten, bestimmte das Gesetz, dass der Bruder eines kinderlos verstorbenen Mannes die Witwe des Betreffenden  heiraten  musste  (5. Mose 25,5-10).
12,20-23 Die Sadduzäer legten Jesus einen konstruierten Fall vor, in dem eine Frau sieben Brüder hintereinander heiratete, einen nach dem anderen. Schließlich »starb auch die Frau«. Man beachte nun ihre schlaue Frage! »Wessen Frau von allen wird sie in der Auferstehung sein?«
12,24 Sie dachten, dass sie klug seien, aber der Herr zeigte ihnen, dass sie weder die Schriften kannten, die die Auferstehung lehrten, noch »die Kraft Gottes«, die die Toten auferweckt.
12,25 Als Erstes sollten sie wissen, dass die Ehebeziehung im Himmel nicht fortbesteht. Die Gläubigen werden einander im Himmel erkennen, ohne ihre Unterschiede als Mann und Frau zu verlieren, aber sie werden weder heiraten, »noch werden sie verheiratet«. In dieser Beziehung sind sie »wie Engel in den Himmeln«.
12,26.27 Dann verwies der Herr die Sadduzäer, die die Bücher Mose höher schätzten als die übrigen Schriften des AT, zurück auf den Bericht von Mose und dem brennenden Dornbusch (2. Mose  3,6).  Dort  sprach  Gott  von  sich selbst als dem »Gott Abrahams und dem Gott Isaaks und dem Gott Jakobs«. Der Herr benutzte diesen Vers, um zu zeigen, dass Gott der Gott der Lebenden und nicht der Toten ist.
Aber wie kommt das? Waren nicht Abraham, Isaak und Jakob schon gestorben, als Gott Mose erschien? Ja, ihre Leiber lagen im Grab in Machpela bei Hebron. Aber inwiefern ist Gott dann der Gott der Lebenden?
Es wird folgendermaßen argumentiert:
1. Gott hat den Patriarchen Verheißungen bezüglich des Landes und des Messias gegeben.
2. Diese Verheißungen wurden zu ihren Lebzeiten nicht erfüllt. 3. Als Gott aus dem Dornbusch zu Mose sprach, lagen die Leiber der Patriarchen schon im Grab.
4. Dennoch sprach Gott von sich als Gott der Lebendigen.
5. Er muss seine Verheißungen an Abraham, Isaak und Jakob erfüllen. 6. Deshalb ist die Auferstehung nach dem, was wir über den Charakter Gottes wissen, eine absolute Notwendigkeit.
Darum erging das letzte Wort des Herrn an die Sadduzäer: »Ihr irrt sehr.« I. Das größte Gebot (12,28-34)
12,28 Einer der Schriftgelehrten, der beeindruckt war, wie geschickt der Herr mit den Fragen seiner Kritiker umging, fragte Jesus nach dem wichtigsten Gebot. Das war eine ehrliche und – in gewisser Weise – die grundlegendste Frage des Lebens. Er fragte wirklich nach einer festen Aussage über das Hauptziel menschlicher Existenz.
12,29 Der Herr Jesus zitierte zuerst das »Schema«, ein jüdisches Glaubensbekenntnis  aus  5. Mose  6,4:  »Höre,  Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein.«
12,30 Dann fasste er die Verantwortung des Menschen vor Gott zusammen: Sie besteht darin, Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben. Gott soll den ersten Platz im Leben eines Menschen haben. Keine andere Liebe darf die Liebe zu Gott verdrängen.
12,31 Die zweite Hälfte der Zehn Gebote sagt uns, dass wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben sollen. Wir sollen Gott mehr als uns selbst lieben und den Nächsten wie uns selbst. So ist das Leben, das sich wirklich lohnt, in erster Linie mit Gott und in zweiter Linie mit anderen beschäftigt. Gegenstände werden hier nicht erwähnt. Gott ist wichtig, und Menschen sind ebenfalls bedeutsam.
12,32.33 Der Schriftgelehrte stimmte von Herzen zu und stellte deutlich fest, dass Liebe zu Gott und zum Nächsten wichtiger ist als irgendwelche Rituale. Er erkannte, dass Menschen sich religiösen Zeremonien unterziehen und ihre Frömmigkeit nach außen zeigen, aber dabei ohne persönliche innere Heiligung bleiben können. Er gab zu, dass Gott sowohl am äußeren als auch am inneren Menschen interessiert ist.
12,34 Als Jesus diese bemerkenswerte Einstellung hörte, konnte er dem Schriftgelehrten sagen, dass er »nicht fern vom Reich Gottes« sei. Echte Untertanen des Reiches versuchen nicht, Gott, ihre Mitmenschen oder sich selbst mit relig iösen Formen zu betrügen. Sie wissen, dass Gott das Herz anschaut, und suchen ihn, um von ihm Reinigung von ihren Sünden und Kraft für ein ihm wohlgefälliges Leben zu erhalten.
Danach »wagte es niemand mehr«, ihn durch hinterhältige Fragen in eine Falle zu locken.
J. Davids Sohn ist Davids Herr (12,35-37)
12,35-37 Die Schriftgelehrten hatten immer gelehrt, dass der Messias aus der Erblinie Davids stammen würde. Obwohl das stimmte, war es doch nicht die ganze Wahrheit. So stellt Jesus nun seinerseits denen, die im Tempelvorhof um ihn versammelt waren, eine Frage. In Psalm 110,1 spricht David vom kommenden Messias als seinem Herrn. Wie konnte das sein? Wie konnte der Messias gleichzeitig Davids Sohn und Davids Herr sein? Für uns ist die Antwort klar. Der Messias war sowohl Mensch als auch Gott. Als Davids Sohn war er Mensch. Als Gott aber ist er Davids Herr.
»Die große Volksmenge hörte ihn gern.« Offensichtlich waren deren Angehörige gewillt, diese Tatsache anzunehmen, auch wenn sie diese nicht ganz verstanden. Aber von den Pharisäern und Schriftgelehrten wird nichts gesagt. Ihr Schweigen ist bezeichnend. K. Warnung vor den Schriftgelehrten (12,38-40)
12,38.39 Die Schriftgelehrten waren äußerlich religiös eingestellt. Sie liebten es, in »langen Gewändern« umherzugehen. Das unterschied sie von den normalen Juden und gab ihnen ein feierliches Aussehen. Das war gut für das Ego! Sie strebten nach Ehrenplätzen in den Synagogen, als ob ein Sitzplatz etwas mit Frömmigkeit zu tun habe. Sie wollten nicht nur religiös etwas gelten, sondern auch sozial anerkannt sein. Sie wollten die »ersten Plätze bei Gastmählern«.
12,40 Aber innerlich waren sie habgierig und unehrlich. Sie beraubten Witwen ihres Eigentums und ihres Lebensunterhaltes, um sich zu bereichern, und gaben vor, dass das Geld für den Herrn bestimmt sei! Sie hielten lange Gebete – großartige, eitle Worte. Es waren jedoch Gebete, die nur Lippenbekenntnisse waren. Kurz gesagt, sie liebten Auffälligkeit (lange Gewänder), Beliebtheit (Begrüßungen), Bekanntheit (erste Sitze), Vorrechte (erste Plätze), Reichtum (Häuser der Witwen) und Scheinheiligkeit (lange Gebete). L. Das Scherflein der Witwe (12,41-44)
12,41-44 Im klaren Gegensatz zur Bosheit der Schriftgelehrten steht die Hingabe dieser Witwe. Die Schriftgelehrten verschlangen die Häuser der Witwen, sie aber gab »alles, was sie hatte«, dem Herrn. Dieser Vorfall zeigt die Allw issenh eit des Herrn. Als er beobachtete, wie die Reichen große Gaben in den Kasten für den Tempelschatz warfen, wusste er, dass ihre Gaben keine Opfer bedeuteten. Sie gaben aus ihrem Überfluss. Und er wusste auch, dass die zwei Scherflein, die die Witwe gab, ihr ganzer Lebensunterhalt waren. Er urteilte deshalb, dass sie mehr gegeben hatte als alle anderen zusammen. Vom Geldwert her gesehen, gab sie nur sehr wenig. Aber der Herr schätzt unsere Gaben nach den Motiven, unseren Mitteln und danach ein, wie viel uns nachher übrig bleibt. Dies ist für diejenigen eine große Ermutigung, die zwar nicht viel besitzen, aber ein großes Verlangen haben, Gott etwas zu geben. Es ist doch erstaunlich, wie wir die Tat der Witwe immer wieder loben und der Aussage unseres Herrn zustimmen können, ohne ihr Beispiel nachzuahmen. Wenn wir wirklich glaubten, was wir behaupten zu glauben, würden wir genau das tun, was sie tat. Ihre Gabe drückte aus, dass alles dem Herrn gehört, dass er es wert ist, alles zu erhalten und dass er auch alles bekommen muss. Heutzutage würden viele Christen sie kritisieren, weil sie nicht für ihre Zukunft vorsorgte. Zeigt das nicht einen Mangel an Voraussicht und Klugheit? So würden Menschen argumentieren. Aber das ist ein Leben aus Glauben – alles jetzt für das Werk des Herrn zu geben und ihm bezüglich der Zukunft zu vertrauen. Hat er nicht verheißen, für die zu sorgen, die zuerst nach seinem Reich und nach seiner Gerechtigkeit trachten (Matth 6,33)? Ist das zu radikal? Ist das revolutionär? Ehe wir nicht einsehen, dass die Lehre Christi radikal und revolutionär ist, haben wir das Ziel seines Dienstes völlig missverstanden.
VI. Der Knecht hält am Ölberg eine Rede (Kap. 13)
A. Jesus sagt die Zerstörung des Tempels voraus (13,1.2)
13,1 Als der Herr Jesus den Tempelbereich zum letzten Mal vor seinem Tod verließ, versuchte einer seiner Jünger, seine Begeisterung für die Großartigkeit des Tempels und der umgebenden Gebäude zu wecken. Die Jünger beschäftigten sich mit den architektonischen Meisterleistungen, die man vollbringen musste, um dieses Bauwerk zu errichten.
13,2 Der Herr stellte jedoch heraus, dass dies alles bald zerstört werden würde. »Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden«, wenn die Römer im Jahre 70 Jerusalem erobern würden. Warum sich mit Dingen beschäftigen, die doch nur vergänglich sind? B. Der Anfang der Wehen (13,3-8) In seiner Ölbergsrede lenkte der Herr die Aufmerksamkeit der Jünger auf Tatsachen von größerer Bedeutung. Einige der Prophezeiungen scheinen auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 hinzuweisen, aber die meisten gehen doch offensichtlich über dieses Datum hinaus. Sie weisen uns in die Drangsalszeit und auf die persönliche Wiederkehr Christi in Macht und Herrlichkeit hin. Die Ermahnungen zur Wachsamkeit, die sich auf Gläubige jedes Zeitalters beziehen, sind: 1.  »Seht zu« (V. 5.23.33); 2.  »erschreckt nicht« (V. 7); 3.  harrt aus (V. 13);
4.  »betet« (V. 18);
5.  »wacht« (V. 33.35.37).
13,3.4 Die Rede wurde durch eine Frage von Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas angeregt. Wann sollte das geschehen, und welche Zeichen würden den vorhergesagten Ereignissen vorausgehen? Die Antwort des Herrn umfasste die Zerstörung eines späteren Tempels, die während der Großen Trübsal vor seiner Wiederkunft stattfinden würde.
13,5.6 Erstens sollten sie sich in Acht nehmen, dass sie sich nicht verführen lassen durch jemanden, der behauptet, der Messias zu sein. Viele falsche Christusse würden auftreten, wie man heute schon in dem Aufleben vieler Religionsgemeinschaften und Sekten sehen kann, die alle ihren eigenen Antichristen haben.
13,7.8 Zweitens sollten sie Kriege und Kriegsgerüchte nicht als Zeichen der Endzeit deuten. Die ganze Zeit über würde es internationale Konflikte geben. Außerdem würde es viele Naturerscheinungen z. B.  Erdbeben  und  Hungersnöte  geben. Diese sind nur anfängliche Geburtswehen, die zu einer Zeit ungeahnter Not führen werden.
C. Die Verfolgung der Jünger (13,9-13)
13,9 Drittens sagte der Herr große persönliche Prüfungen für diejenigen voraus, die unerschrocken Zeugnis von ihm geben. Sie werden vor religiöse und öffentliche Gerichte geführt werden. Zwar lässt sich dieser Teil auf alle Zeiten des christlichen Zeugnisses anwenden, er scheint sich jedoch ganz besonders auf die 144 000 jüdischen Gläubigen zu beziehen, die das Evangelium des Reiches zu allen Völkern bringen werden, ehe Christus auf der Erde regiert.
13,10 Dieser Vers darf nicht für die Lehre benutzt werden, dass die Evangel iumsverkündigung gegenüber allen Nationen vor der Entrückung erfolgt sein muss. Es sollte weltweit verkündigt werden, und vielleicht wird dies auch der Fall sein. Wenn ich jedoch sage, dass es so kommen muss, dann behaupte ich etwas, das die Bibel so nicht sagt. Keine Prop hezeiung muss erfüllt werden, ehe Christus für seine Heiligen kommt, er kann jederzeit kommen!
13,11 Der Herr versprach, dass Gläubige, die um seines Namens willen vor Gericht gestellt werden, göttliche Hilfe bei ihrer Verteidigung erfahren würden. Sie brauchen sich ihre Verteidigungsrede nicht im Voraus zurechtzulegen, vielleicht haben sie noch nicht einmal die Zeit dazu. Der Heilige Geist wird ihnen genau die richtigen Worte eingeben. Diese Verheißung sollte nicht dazu missbraucht werden, heute keine Predigten oder Evangeliumsbotschaften mehr vorzubereiten. Wir haben es hier mit einer Garantie übernatürlicher Hilfe für Krisenzeiten zu tun. Der Vers ist eine Verheißung für Märtyrer, nicht für Prediger!
13,12.13 Ein anderes Kennzeichen der Trübsal wird die weitverbreitete Denunziation derer sein, die dem Herrn treu folgen. Familienangehörige werden Informanten gegen Gläubige werden. Die Welt wird von einer großen Welle antichristlicher Stimmung überschwemmt werden. Es wird Mut erfordern, dem Herrn Jesus treu zu bleiben, »wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden«. Das kann nicht bedeuten, dass diese Menschen ewige Errettung durch ihr Ausharren erlangen. Auch bedeutet es nicht, dass treue Gläubige während der Trübsal vor dem körperlichen Tod bewahrt werden, weil wir an anderer Stelle lesen, dass viele ihr Zeugnis mit ihrem Blut besiegeln werden. Wahrscheinlich bedeutet dieser Satz, dass das Ausharren bis ans Ende ein Beweis für Treue ist, das heißt, Ausharren wird eine Eigenschaft derer sein, die wirklich errettet sind.
D. Die Große Trübsal (13,14-23)
13,14-18 Dieser Vers bezeichnet die Mitte der Trübsal, den Anfang der Großen Trübsal. Wir wissen dies durch einen Vergleich dieses Abschnittes mit Daniel 9,27. Zu dieser Zeit wird im Tempel in Jerusalem ein großes Gräuelbild aufgerichtet werden. Die Menschen werden gezwungen werden, es anzubeten. Anderenfalls werden sie ermordet. Die wahren Gläubigen werden die Anbetung natürlich verweigern.
Das Errichten dieses Gräuelbildes wird das Zeichen für den Beginn einer großen Verfolgung sein. Diejenigen, die die Bibel lesen und ihr glauben, werden wissen, dass nun die Zeit gekommen ist, aus Judäa zu fliehen. Es wird nicht genug Zeit bleiben, persönliche Habe einzupacken. Schwangere und Stillende werden es in dieser Zeit besonders schwer haben. Sollte es im Winter geschehen, werden noch mehr Schwierigkeiten dazukommen.
13,19 Es wird eine Zeit größter Drangsal sein, schlimmer als alles Vergangene oder Zukünftige. Es ist die Große Trübsal. Der Herr Jesus spricht hier nicht von der allgemeinen Trübsal, die Gläubige in jedem Zeitalter erlitten haben. Die »Große Trübsal« wird eine Zeit außergewöhnlicher Nöte sein.
Man beachte, dass die Drangsal in erster Linie jüdischen Charakter trägt.  Wir  lesen  vom  Tempel  (V. 14;  vgl. Matth  24,15)  und  von  Judäa  (V. 14).  Sie ist die Zeit der »Bedrängnis für Jakob« (Jer 30,7). Die Gemeinde ist hier nicht genannt. Sie ist schon in den Himmel entrückt worden, ehe der Tag des Herrn beginnt (1. Thess 4,13-18; vgl. 1. Thess 5,1-3).
13,20 Die Zornschalen Gottes werden in diesen Tagen über die Welt ausgegossen. Es wird eine Zeit der Katastrophen, des Chaos und des Blutvergießens sein. Das Ausmaß der Drangsal wird so groß sein, dass Gott auf übernatürliche Weise die Zeit des Tages verkürzen wird, weil anderenfalls niemand überleben würde.
13,21.22 Die Große Trübsal wird wieder den Aufstieg vieler falscher Messiasse sehen. Die Menschen werden so verzweifelt sein, dass sie sich jedem zuwenden, der ihnen Sicherheit verspricht. Aber die Gläubigen werden wissen, dass Christus nicht in der Stille oder ohne Ankündigung erscheinen wird. Auch wenn die falschen Christusse übernatürliche Wunder vollbringen werden (ein dann zutreffender Sachverhalt), werden die Auserwählten nicht getäuscht werden können. Sie werden erkennen, dass diese Wunder satanischen Ursprungs sind. Wunder sind nicht notwendigerweise göttlicher Natur. Sie stellen nur übermenschliche Abweichungen von dem dar, was wir als Naturgesetze kennen. Aber sie können auch das Werk von Satan oder Dämonen sein. Der Mensch der Sünde wird satanische Macht erhalten, um Wunder zu tun (2. Thess 2,9).
13,23 Deshalb sollten sich die Gläubigen in Acht nehmen und sich warnen lassen.
E. Die Wiederkunft (13,24-27)
13,24.25 »Nach jener Bedrängnis« wird es erschreckende Störungen kosmischer Abläufe geben. Dunkelheit wird die Erde Tag und Nacht umgeben. »Die Sterne werden vom Himmel herabfallen, und die Kräfte in den Himmeln (die Kräfte, die die Planeten auf ihren Bahnen halten) werden erschüttert werden.«
13,26.27 Dann wird die in Schrecken versetzte Menschheit »den Sohn des Menschen kommen sehen«, wie er zur Erde zurückkehrt. Diesmal kommt er nicht als der demütige Nazarener, sondern als herrlicher Eroberer. Er wird »in Wolken« kommen, von Hunderttausenden Engelwesen und den verwandelten Gläubigen begleitet. Das wird ein Moment von überwältigender Macht und strahlender Pracht sein. Er wird Engel aussenden, um »seine Auserwählten (zu) versammeln«, d. h. all diejenigen, die ihn während der Drangsal als Herrn und Retter anerkannt haben. Von einem Ende der Erde bis zum anderen – vom Norden bis zum Süden, vom Osten bis zum Westen – werden sie kommen, um die Segnungen seiner wunderbaren tausendjährigen Herrschaft auf Erden zu erleben. Seine Feinde jedoch werden zu dieser Zeit vernichtet werden. F. Das Gleichnis vom Feigenbaum (13,28-31)
13,28 Der Feigenbaum ist ein Symbol (oder Bild) für das Volk Israel. Jesus lehrt hier, dass vor seiner Wiederkunft der Feigenbaum »Blätter hervortreibt«. 1948 wurde der unabhängige Staat Israel gegründet. Heute übt dieses Land einen Einfluss auf die Weltpolitik aus, der in keinem Verhältnis zu seiner Größe steht. Man kann von Israel sagen, dass es »Blätter hervortreibt«. Bisher gibt es noch keine Frucht, und es wird auch keine Frucht geben, bis der Messias zu einem Volk zurückkehrt, das gewillt ist, ihn aufzunehmen.
13,29 Die Staatsgründung Israels und die Rückkehr des jüdischen Volkes sagen uns, dass der König18 »nahe vor der Tür ist«. Wenn sein Kommen zur Herrschaft so nahe ist, wie nahe muss dann sein Kommen für seine Gemeinde sein!
13,30 Dieser Vers wird oft so verstanden, dass alles, was in diesem Kapitel vorausgesagt wird, noch während der Zeit geschehen sein muss, in der die Menschen aus der Zeit Christi lebten. Aber das kann seine Bedeutung nicht sein, weil viele der Vorgänge, insbesondere die Geschehnisse der Verse 24-27, einfach zu dieser Zeit nicht stattgefunden haben. Andere verstehen diesen Vers so, dass die Generation, die lebt, wenn der Feigenbaum  Blätter  hervortreibt  (d. h.  diejenigen, die die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 miterlebt haben) die Wiederkunft des Herrn miterleben würden. Wir bevorzugen eine dritte Auffassung. »Dieses Geschlecht« kann auch »dieses Volk« oder »diese Rasse« bedeuten. Wir glauben, dass dies bedeutet: »dieses jüdische Volk, das von Unglauben und Ablehnung des Messias gekennzeichnet ist«. Das Zeugnis der Geschichte sagt uns, dass »dieses Geschlecht« nicht vergangen ist. Das Volk hat nicht nur als Ganzes überlebt, sondern hat auch seine tief sitzende Feindschaft dem Herrn Jesus gegenüber beibehalten. Jesus sagte voraus, dass das Volk mitsamt seinem nationalen Wesen bis zu seiner Wiederkunft bestehen würde.
13,31 Unser Herr betonte, dass jede seiner Voraussagen absolut sicher eintreten würden. Der Himmel (die Atmosphäre) und der Sternenhimmel »werden vergehen«. Auch die Erde selbst wird aufgelöst werden. Aber jedes Wort, das Jesus gesprochen hat, wird eintreffen. G. Tag und Stunde sind unbekannt (13,32-37)
13,32 Jesus sagte: »Von jenem Tag aber oder der Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern nur der Vater.« Es ist bekannt, dass dieser Vers von vielen Feinden des Evangeliums benutzt worden ist, um zu beweisen, dass Jesus nur ein Mensch mit begrenztem Wissen wie wir selbst gewesen sei. Er ist auch von wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten Gläubigen benutzt worden, um zu zeigen, dass Jesus die Zeichen seiner Göttlichkeit abgelegt hat, als er in seinem Menschsein auf die Erde kam.
Aber keine dieser Deutungen ist zutreffend. Jesus war sowohl Gott als auch Mensch. Er hatte alle göttlichen Eigenschaften, aber er besaß auch die Eigenschaften eines vollkommenen Menschen. Es ist wahr, dass seine Gottheit durch einen menschlichen Körper verhüllt war, aber sie war nichtsdestoweniger wirksam. Es hat nie eine Zeit gegeben, zu der er nicht ganz Gott gewesen wäre. Warum kann er dann sagen, dass er die Zeit seiner Wiederkunft nicht kennt? Wir glauben, dass der Schlüssel zur Antwort in Johannes 15,15 liegt: »Der Sklave weiß nicht, was sein Herr tut.« Als vollkommener Knecht des Herrn war es Jesus nicht gegeben, die Zeit seiner Wiederkunft zu wissen. Als Gott kannte er sie selbstverständlich. Aber als Knecht war es ihm nicht gegeben, um es anderen zu offenbaren. H. Brookes erklärt das so: Damit wird nicht die göttliche Allwissenheit unseres Herrn geleugnet, sondern einfach festgestellt, dass im Zeitalter der Errettung der Menschheit es ihm nicht gegeben war, »Zeiten oder Zeitpunkte zu wissen, die der Vater in seiner eigenen Vollmacht festgesetzt hat« (Apg 1,7). Jesus wusste, dass er wiederkommen würde, und sprach auch oft von dieser Wiederkunft, aber es war nicht seine Aufgabe als Sohn, den Zeitpunkt seiner Wiederkunft festzulegen, und daher konnte er ihn für seine Nachfolger als Ziel ständiger Erwartung und Sehnsucht aufrechterhalten.19
13,33-37 Das Kapitel endet hinsichtlich der Wiederkunft des Herrn mit der Ermahnung zu Wachsamkeit und Gebet. Da wir die festgelegte Zeit nicht kennen, sollten wir jederzeit bereit sein. Eine ähnliche Situation gibt es im alltäglichen Leben. Ein Mann geht auf eine große Reise. Er hinterlässt Anweisungen für seinen Knecht und sagt dem Wächter, er solle auf seine Wiederkehr warten. Jesus vergleicht sich mit dem Reisenden. Er kann zu jeder Tages- und Nachtzeit wiederkommen. Seine Leute, die als Türhüter dienen, sollten nicht schlafend gefunden werden. So hinterließ er uns dieses Wort an alle Menschen: »Wacht!« VII. Der Knecht leidet und stirbt (Kap. 14 – 15)
A. Der Plan zur Ermordung Jesu (14,1.2)
14,1.2 Nun war der Mittwoch dieser schicksalhaften Woche gekommen. In zwei Tagen sollte das Passah gehalten werden, an das sich die sieben Tage des Festes der ungesäuerten Brote anschlossen. Die religiösen Führer waren entschlossen, den Herrn Jesus umzubringen, aber sie wollten es nicht während der Feiertage tun, weil viele Menschen Jesus noch immer für einen Propheten hielten. Obwohl die Hohenpriester und die Schriftgelehrten entschlossen waren, ihn »nicht an dem Fest« zu töten, waren sie gegen die göttliche Vorsehung machtlos, und das Passahlamm wurde genau zur richtigen Zeit geschlachtet (s. Matth 26,2). B. Jesus wird in Betanien gesalbt (14,3-9) Wie ein Juwelier seine Diamanten auf schwarzem Samt präsentiert, platzieren der Heilige Geist und sein menschlicher Schreiber Markus den Glanz der Liebe einer Frau zu unserem Herrn zwischen den dunklen Machenschaften der religiösen Hierarchie und des Judas.
14,3 Simon, der vom Aussatz Geheilte, gab Jesus zu Ehren ein Fest, vielleicht aus Dankbarkeit für seine Heilung. Eine nicht weiter genannte Frau (wahrscheinlich Maria aus Betanien; Joh 12,3) salbte Jesu Haupt großzügig mit einem kostbaren Salböl. Ihre Liebe zu ihm war groß.
14,4.5 Einige der Gäste hielten dies für eine außerordentliche Verschwendung. Sie argumentierten, dass die Frau rücksichtslos und verschwenderisch sei. Warum hatte sie das Salböl nicht verkauft und das Geld »den Armen gegeben«? (300 Denare waren etwa der Jahreslohn eines Arbeiters.) Die Menschen glauben heute immer noch, dass es Verschwendung ist, wenn jemand nur ein Jahr seines Lebens für Gott investiert. Wie viel mehr sehen sie es als Verschwendung an, wenn jemand sein ganzes Leben dem Herrn gibt!
14,6-8 Jesus tadelte ihr Murren. Die Frau hatte ihre einmalige Gelegenheit erkannt, dem Herrn diese Ehrung zu erweisen. Wenn die anderen so für die Armen engagiert waren, konnten sie ihnen immer helfen, »denn die Armen habt ihr allezeit bei euch«. Aber er würde bald sterben und begraben werden. Diese Frau wollte ihre Freundlichkeit zeigen, solange es noch möglich war. Es konnte sein, dass sie nicht mehr in der Lage war, für seinen Leib im Tod zu sorgen, deshalb wollte sie ihm gegenüber ihre Liebe bekunden, solange er noch lebte.
14,9 Der Duft dieses Salböls erreicht auch unsere Generation. Jesus sagte, dass ihrer in der ganzen Welt gedacht werden würde. Das ist in Erfüllung gegangen – durch die Aufzeichnungen der Evangelisten.
C. Der Verrat des Judas (14,10.11)
14,10.11 Die Frau hatte den Herrn hoch verehrt. Judas dagegen schätzte ihn wenig. Obwohl er mit dem Herrn lange Zeit zusammengelebt und nichts als Freundlichkeit von ihm empfangen hatte, schlich sich Judas jetzt weg zu den Hohenpriestern, um ihnen zu versprechen, den Sohn Gottes »an sie zu überliefern«. Froh ergriffen sie das Angebot und versprachen, ihn für seinen Verrat zu bezahlen. Er musste nur noch die Einzelheiten mit ihnen ausmachen.
D. Vorbereitungen für das Passah (14,12-16)
14,12-16 Obwohl die exakte Reihenfolge nicht geklärt ist, befinden wir uns nun am Donnerstag der Passahwoche. Die Jünger erkannten kaum, dass dies die Erfüllung und der Höhepunkt aller Passahfeiern werden würde, die je gehalten wurden. Sie baten den Herrn um Anweisungen, wo sie das Passah feiern sollten. Er sandte sie nach Jerusalem mit der Anweisung, nach einem Mann zu suchen, »der einen Krug Wasser trägt« – eine Seltenheit, weil normalerweise Frauen das Wasser holten. Dieser Mann würde sie zum richtigen Haus führen. Sie sollten den Eigentümer bitten, ihnen einen Raum zu zeigen, wo der Lehrer mit seinen Jüngern das Passah essen könnte.
Es ist wundervoll zu sehen, wie der Herr in dieser Weise auswählt und befiehlt. Er handelt als unumschränkter Herr über Menschen und Eigentum. Es ist auch wundervoll zu sehen, wie empfängliche Herzen ihm ihren Besitz zur Verfügung stellen. Es tut uns gut, wenn Jesus sofortigen, freien Zutritt zu allen Räumen unseres Lebens hat!
E. Jesus sagt voraus, dass er verraten wird (14,17-21)
14,17-21 Am selben Abend kam »er mit den Zwölfen« in den Obersaal, der vorbereitet worden war. Als sie sich niederließen und aßen, kündigte Jesus an, dass einer der Jünger ihn verraten würde. Sie alle erkannten, dass ihre eigene Natur zu allem fähig war. Mit einem gesunden Misstrauen gegenüber sich selbst fragte jeder, ob er der Schuldige sei. Jesus offenbarte dann den Täter als den, der mit ihm das Brot in den Fleischsaft eintauchte, d. h.  dem  er  das  Brotstück  reichte.  »Der Sohn des Menschen« ging wie vorausgesagt auf seinen Tod zu, doch das Schicksal des Verräters würde fürchterlich sein, so fürchterlich, dass »es … jenem Menschen gut [wäre], wenn er nicht geboren wäre«. F. Das erste Herrenmahl (14,22-26)
14,22-25 Nachdem Judas das Brot gegessen hatte, ging er hinaus in die Nacht (Joh 13,30). Jesus setzte dann das Herrenmahl ein. Seine Bedeutung wird durch drei Worte wunderbar umrissen: 1. er nahm – das Menschsein auf sich, 2. er brach – bald würde sein Leib am Kreuz gebrochen werden,
3. er gab – sich selbst für uns. Das Brot stand für seinen hingegebenen Leib, der Kelch für sein vergossenes Blut. Durch sein Blut unterzeichnete er den neuen Bund. Für ihn würde es keine Festfreude mehr auf Erden geben, bis er auf die Erde zurückgekehrt sein wird, um sein Reich aufzurichten.
14,26 Nun sangen sie ein Loblied – wahrscheinlich einen Teil des »Großen Hallel« – die Psalmen 113 – 118. Dann verließen sie Jerusalem, überquerten den Kidron und kamen »zum Ölberg«. G. Das Selbstbewusstsein des Petrus (14,27-31)
14,27.28 Auf dem Weg wies der Herr die Jünger nachdrücklich darauf hin, dass sie sich in den folgenden Stunden alle seiner schämen würden und Angst hätten, als seine Nachfolger bekannt zu sein. Es würde sein, wie Sacharja vorausgesagt hatte: »Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden zerstreut werden« (vgl. Sach 13,7). Aber in seiner Gnade versicherte er ihnen, dass er sie nicht verlassen werde. Nach seiner Auferstehung würde er sie in Galiläa erwarten.
14,29.30 Petrus war über den Gedanken entrüstet, den Herrn zu verleugnen. Die anderen vielleicht – aber er? Niemals! Jesus berichtigte ihn jedoch: Aus »niemals« sollte »bald« werden. »Ehe der Hahn zweimal kräht«, würde Petrus ihn dreimal verleugnen.
14,31 »Das ist absurd«, rief Petrus, »eher sterbe ich, als dass ich dich verleugne«. Petrus war nicht der Einzige, der so lautstark prahlte. Sie alle ergingen sich in forschen, selbstsicheren Ausrufen. Wir sollten das nie vergessen, denn wir sind nicht im Geringsten besser. Wir müssen alle die Feigheit und Schwäche unserer Herzen erkennen lernen.
H. Der Kampf in Gethsemane (14,32-42)
14,32 Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt. Es war die Nacht von Donnerstag auf Freitag. Als Jesus und die Jünger zu einem umfriedeten Grundstück namens Gethsemane kamen, ließ der Herr Jesus acht Jünger in der Nähe des Eingangs zurück.
14,33.34 »Und er nimmt den Petrus und Jakobus und Johannes mit sich« tiefer in den Garten hinein. Dort empfand er die überwältigende Last seiner Aufgabe, für uns als Sündopfer zu sterben. Wir können nicht erfassen, was es für ihn, den Sündlosen, bedeutete, für uns zur Sünde gemacht zu werden. Er verließ die drei Jünger mit der Anweisung, zu bleiben und zu wachen. »Er ging ein wenig weiter« in den Garten – allein. Ebenso allein würde er später ans Kreuz gehen und das schreckliche Gericht Gottes über unsere Sünden tragen.
14,35 Mit Verwunderung und Erstaunen sehen wir, wie der Herr sich auf den Boden niederwirft und zu Gott betet. Wollte er das Kreuz umgehen? Keinesfalls, denn das war der Zweck seines Kommens auf diese Erde. Erst betete er, »dass, wenn es möglich sei, die Stunde an ihm vorübergehe«. Wenn es einen anderen Weg gäbe, Sünder zu retten, als seinen Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung, dann sollte Gott diesen Weg offenb aren. Aber der Himmel schwieg. Es gab keinen anderen Weg, uns zu erretten.
14,36 Und wieder betete er: »Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir weg! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst!« Man beachte, dass er Gott hier als seinen geliebten Vater anspricht, dem alles möglich ist. Aber das hier war nicht so sehr eine Frage der tatsächlichen, sondern der gottg ewollten Möglichkeit. Konnte der allmächtige Vater eine andere gerechte Grundlage finden, auf der er gottlosen Sündern vergeben konnte? Der schweigende Himmel zeigt an, dass es keine andere Möglichkeit gab. Der heilige Sohn Gottes musste leiden und sterben, um die Sünder von ihrer Sünde zu befreien!
14,37-40 Als er zu den drei Jüngern zurückkam, fand »er sie schlafend« – ein trauriger Hinweis auf ihre gefallene menschliche Natur. Jesus warnt nun Petrus davor, in dieser entscheidenden Stunde zu schlafen. Gerade erst hatte Petrus von seiner unerschütterlichen Standhaftigkeit geprahlt. Nun konnte er noch nicht einmal wach bleiben. Wenn man nicht eine Stunde lang beten kann, ist es unwahrscheinlich, dass man in der Lage ist, in einer Extremsituation der Versuchung zu widerstehen. Es ist dabei ganz gleichgültig, wie viel Begeisterung man aufbringt; es ist notwendig, mit der Schwäche des Fleisches zu rechnen.
14,41.42 Dreimal kam der Herr Jesus zurück und fand die Jünger schlafend. Dann sagte er: »So schlaft denn fort und ruht aus! Es ist genug; die Stunde ist gekommen, siehe, der Sohn des Menschen wird in die Hände der Sünder überliefert.« Damit standen sie auf, als wenn sie weggehen wollten, aber die Häscher waren bereits im Anmarsch. I. Jesus wird verraten und gefangen genommen (14,43-52)
14,43 Judas war schon mit einer Schar in den Garten gekommen. Seine Männer trugen Schwerter und Stöcke, als ob sie einen gefährlichen Verbrecher fangen wollten.
14,44.45 Der Verräter hatte ein Zeichen vereinbart: Er würde den küssen, den sie ergreifen sollten. So näherte er sich Jesus, nannte ihn Rabbi und küsste ihn überschwänglich (die Form im Griechischen bedeutet so viel wie wiederholtes oder betontes Küssen). Warum verriet Judas den Herrn? War er enttäuscht, dass Jesus nicht die Herrschaft übernommen hatte? Waren seine Hoffnungen auf einen Ehrenplatz im Reich zerstört worden? War er von Gier erfüllt? Alle diese Gründe könnten zu seiner schrecklichen Tat beigetragen haben.
14,46-50 Bewaffnete Kameraden des Verräters traten vor und verhafteten den Herrn. Da zog Petrus schnell sein Schwert und »schlug den Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm das Ohr ab«. Das war eine natürliche, keine geistliche Reaktion. Petrus benutzte fleischliche Waffen, um einen geistlichen Kampf zu führen. Der Herr tadelte Petrus deswegen und heilte das Ohr auf wunderbare Weise, wie wir in Lukas 22,51 und Johannes 18,11 lesen. Dann erinnerte Jesus seine Häscher daran, wie inkonsequent sie waren, ihn mit Waffengewalt zu fangen! Er war »täglich … im Tempel« gewesen. Warum hatten sie ihn da nicht ergriffen? Er kannte die Antwort. Die Schriften mussten erfüllt werden, die voraussagen, dass er verraten (Ps 41,10), gefangen genommen (Jes 53,7), misshandelt (Ps 22,13) und verlassen werden würde (Sach 13,7).
14,51.52 Nur Markus berichtet von diesem kleinen Vorfall am Rande. Viele Ausleger glauben, dass Markus selbst dieser junge Mann war, der in seiner Not, entkommen zu können, sein Gewand in den Händen der Bewaffneten ließ. Das »Leinen(hemd)« war kein normales Kleidungsstück, sondern ein Tuch, das er sich in Eile umgebunden hatte. Erdman kommentiert: »Wahrscheinlich wurde dieser kleine Zwischenfall aufgenommen, um zu zeigen, wie vollständig Jesus in den Stunden der Gefahr und des Schmerzes verlassen war. Er weiß, was es bedeutet, in Einsamkeit leiden zu müssen.«
J. Jesus vor dem Hohenpriester (14,53.54) Der Bericht der religiösen Gerichtsverhandlung erstreckt sich von Vers 53 bis Kapitel 15,1 und ist dreigeteilt: 1. Verhandlung vor dem Hohenpriester (V. 53.54),
2. mitternächtliche Versammlung des Hohen Rats (V. 55-65),
3. morgendliche Versammlung des Hohen Rats (Kap. 15,1).
14,53 Die Ausleger sind sich weitgehend einig, dass Markus hier von der Verhandlung vor Kaiphas berichtet. Die Verhandlung vor Hannas finden wir in Johannes 18,13.19-24.
14,54 »Petrus folgte« dem Herrn Jesus »bis hinein in den Hof des Hohenpriesters«, und zwar, wie er dachte, in sicherer Entfernung. Jemand hat seinen Fall einmal wie folgt nachgezeichnet: 1. Er kämpfte – fehlgeleitete Begeisterung;
2. Er floh – feiger Rückzug; 3. Er folgte aus der Entfernung – halbherzige Jüngerschaft bei Nacht. »Er saß mit bei den Dienern« und wärmte sich gemeinsam mit den Feinden des Herrn am Feuer.
K. Jesus vor dem Hohen Rat (14,55-65)
14,55-59 Obwohl es hier nicht ausdrücklich erwähnt wird, scheint in Vers 55 der Bericht über die mitternächtliche Versammlung des Hohen Rats vorzuliegen. Die 71 religiösen Führer hatten den Hohenpriester zum Vorsitzenden. In dieser besonderen Nacht missachteten die Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Ältesten, aus denen sich der Hohe Rat zusammensetzte, die Regeln, die für ihren Dienst galten, aufs Äußerste. Sie durften sich nicht nachts oder während eines jüdischen Festes versammeln. Sie durften natürlich ebenfalls keine Zeugen bestechen, damit diese einen Meineid leisteten. Ein Todesurteil durfte nicht vollstreckt werden, ehe nicht eine weitere Nacht nach dem Urteilsspruch vergangen war. Wenn sie sich nicht in der Halle aus gehauenem Stein im Tempelbezirk versammelten, war ihr Urteil nicht bindend. Im Bestreben, den Herrn Jesus aus dem Weg zu räumen, zögerte die öffentliche Gewalt nicht, ihre eigenen Gesetze zu brechen. Ihre energischen Bemühungen förderten eine Gruppe falscher Zeugen zutage, doch diese konnten keine übereinstimmende Zeugenaussage machen. Einige zitierten den Herrn falsch, indem sie behaupteten, der Herr habe gedroht, den Tempel, »der mit Händen gemacht ist«, abzubrechen, »und in drei Tagen … einen anderen« aufzubauen, »der nicht mit Händen gemacht ist«. Was Jesus wirklich gesagt hat, steht in Johannes 2,19. Die Zeugen verwechselten absichtlich den Tempel in Jerusalem mit dem Tempel seines Leibes.
14,60-62 Als der Hohepriester Jesus befragte, antwortete er zunächst nicht. Als er jedoch unter Eid (Matth 26,63) gefragt wurde, ob er der Messias sei, »der Sohn des Hochgelobten«, antwortete der Herr, dass er es sei. Er handelte damit im Gehorsam gegenüber 3. Mose 5,1. Um dann jeden Zweifel auszuräumen, welchen Anspruch er stellte, sagte er dem Hohenpriester, dass er »den Sohn des Menschen sitzen … zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels« sehen werde. Damit meinte er, dass der Hohepriester ihn öffentlich als Gott eingesetzt sehen werde. Während seiner Zeit auf Erden war die Göttlichkeit Jesu in einem menschlichen Körper verborgen. Aber wenn er in Macht und großer Herrlichkeit wiederkehren wird, dann wird der Schleier weggenommen, und jeder wird genau wissen, wer er ist.
14,63.64 Der Hohepriester verstand genau, was Jesus meinte. Er »zerriss seine Kleider« zum Zeichen seiner Entrüstung, die berechtigt gewesen wäre, wenn es sich um eine Gotteslästerung gehandelt hätte. Der Israelit, der der Erste hätte sein sollen, den Messias zu erkennen und anzunehmen, schrie am lautesten bei seiner Verurteilung. Aber nicht er allein, sondern die Mitglieder des gesamten Hohen Rates20 waren sich einig, dass Jesus Gott gelästert hatte, und sie »verurteilten ihn …, dass er des Todes schuldig sei«.
14,65 Die nun folgende Szene war außerordentlich grotesk. Einige Mitglieder des Hohen Rats fingen an, den Sohn Gottes anzuspeien, ihm die Augen zu verbinden und ihn herauszufordern, ihnen die Namen seiner Peiniger zu nennen. Es ist fast unglaublich, dass der hochgepriesene Retter solch einen Widerspruch der Sünder gegen sich selbst erdulden musste. Die Diener (die Tempelpolizei) beteiligten sich an dem Skandal, indem sie ihn ins Gesicht schlugen.
L. Petrus verleugnet Jesus und weint bitterlich (14,66-72)
14,66-68 Petrus wartete »unten im Hof« des Gebäudes. »Eine von den Mägden des Hohenpriesters« kam vorbei. Sie schaute ihn sich an und klagte ihn dann an, ein Jünger des Nazareners Jesus zu sein. Der erbärmliche Jünger gab vor, davon nichts zu wissen, und ging gerade rechtzeitig hinaus in den Vorhof, um den Hahn krähen zu hören (Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel). Das war ein gespenstischer Augenblick. Die Sünde forderte ihren Tribut.
14,69.70 Die Magd sah ihn nochmals und bezeichnete ihn als einen Jünger Jesu. Wieder leugnete Petrus kalt und fragte sich vielleicht, warum die Leute ihn nicht in Ruhe lassen konnten. Dann sagten die Dabeistehenden zu Petrus: »Wahrhaftig, du bist einer von ihnen, denn du bist auch ein Galiläer.«
14,71.72 Fluchend und schimpfend verteidigte sich Petrus, diesen Menschen nicht zu kennen. Sobald er das gesagt hatte, »krähte zum zweiten Mal der Hahn«. Die Natur schien so gegen diese feige Lüge zu protestieren. Blitzartig erkannte Petrus, dass geschehen war, was der Herr vorhergesagt hatte. Er brach zusammen und weinte. Es ist bedeutsam, dass alle vier Evangelien die Verleugnung des Petrus berichten. Wir müssen alle lernen, dass Selbstvertrauen zur Demütigung führt. Wir müssen lernen, uns selbst zu misstrauen und uns ausschließlich auf die Macht Gottes zu verlassen. M. Die morgendliche Verhandlung vor dem Hohen Rat (15,1)
15,1 Dieser Vers beschreibt eine weitere, am Morgen stattfindende Versammlung des Hohen Rats, die vielleicht zusammengerufen worden war, um die ungesetzliche Handlung der Nacht zu legitimieren. Als Ergebnis wurde Jesus gebunden und vor Pilatus geführt, den römischen Statthalter in Israel.
N. Jesus vor Pilatus (15,2-5)
15,2 Bisher fand die Verhandlung gegen Jesus vor den religiösen Führern wegen Gotteslästerung statt. Nun wurde er vor ein weltliches Gericht geführt und wegen Verrats angeklagt. Auch der weltliche Prozess fand in drei Phasen statt – erst vor Pilatus, dann vor Herodes und dann wieder vor Pilatus.
»Pilatus fragte ihn«, ob er »der König der Juden« sei. Wenn er es wäre, dann wollte er sicher den Kaiser beseitigen und wäre damit des Verrats schuldig.
15,3-5 Die Hohenpriester klagten Jesus heftig an. Pilatus konnte beim besten Willen nicht begreifen, wie der Herr angesichts solcher überwältigender Anklagen völlig gelassen blieb. Er fragte ihn, warum er sich nicht verteidigte, aber Jesus weigerte sich, seinen Feinden zu antworten.
O. Jesus oder Barabbas? (15,6-15)
15,6-8 Es war für den römischen Statthalter üblich, zu diesem Fest einen jüdischen Gefangenen freizugeben – eine Art politische Beruhigungspille für das unzufriedene Volk. Einer dieser Gefangenen, der freigegeben werden konnte, war Barabbas, ein Aufrührer und Mörder. Als Pilatus dem Volk anbot, Jesus freizugeben, um die neidischen Hohenpriester zu ärgern, wurde das Volk dazu veranlasst, um Barabbas zu bitten. Gerade die Männer, die eben noch Jesus wegen Verrates gegen den Kaiser angeklagt hatten, erbaten nun die Freilassung eines Mannes, der sich dieses Verbrechens wirklich schuldig gemacht hatte! Die Haltung der Hohenpriester war irrational und haarsträubend – aber so ist die Sünde nun einmal: Im Grunde beneideten sie ihn um seine Popularität.
15,9-14 Pilatus fragte daraufhin, was er mit dem tun solle, den sie den »König der Juden« nannten. Die Menge schrie brutal: »Kreuzige ihn!« Pilatus fragte nach einem Grund, aber es gab keinen. Eine Massenhysterie war ausgebrochen. Sie konnten nur noch schreien: »Kreuzige ihn!«
15,15 So tat der rückgratlose Pilatus, was sie verlangten – »er gab ihnen den Barabbas los«, ließ Jesus geißeln und überlieferte ihn den Soldaten, damit sie ihn kreuzigten. Und doch haben wir hier ein Gleichnis unserer Erlösung – der Schuldlose wird dem Tode überliefert, damit der Schuldige straflos ausgehen kann. P. Die Soldaten verspotten den Knecht Gottes (15,16-21)
15,16-19 »Die Soldaten aber führten ihn in den Hof« der Statthalterresidenz. Nachdem die ganze Schar zusammengerufen war, führten sie eine Krönungsszene auf, um den König der Juden zu verspotten. Wenn sie nur geahnt hätten, wen sie vor sich hatten! Es war der Sohn Gottes, dem sie ein Purpurgewand umlegten. Sie krönten ihren eigenen Schöpfer mit Dornen. Sie verspotteten den Erhalter des Universums als König der Juden. Sie schlugen den Herrn des Lebens und der Herrlichkeit auf das Haupt. Sie spien den Friedefürsten an. Spottend beugten sie ihre Knie vor dem König der Könige und dem Herrn aller Herren.
15,20.21 Als ihr derber Spott vorbei war, »zogen sie ihm seine Kleider« wieder an und »führen ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen«. Markus erwähnt hier, dass die Soldaten einen Passanten, Simon aus Kyrene (in Nordafrika), aufforderten, Jesu Kreuz zu tragen. Es kann sein, dass er ein Schwarzer war, doch ist es wahrscheinlicher, dass es sich um einen hellenistischen Juden handelte. Er hatte zwei Söhne, Alexander und Rufus, die eventuell gläubig waren (wenn Rufus derselbe ist wie der in Römer 16,13 erwähnte). Indem Simon Jesus das Kreuz nachtrug, zeigte er uns, was uns als Jünger des Herrn kennzeichnen sollte. Q. Die Kreuzigung (15,22-32) Der Geist Gottes beschreibt die Kreuzigung einfach und ohne Gefühlsüberschwang. Er beschreibt weder ausführlich die außerordentliche Grausamkeit dieser Hinrichtungsart noch die Leiden, die mit ihr verbunden waren.
Der genaue Ort, an dem die Kreuzigung stattfand, ist heute unbekannt. Die Stelle, wo die Kreuzigung nach der Überlieferung stattfand (nämlich in der Grabeskirche), liegt heute innerhalb der Mauern Jerusalems. Dennoch sagen diejenigen, die sie für die richtige Stätte halten, dass sie zur Zeit Christi außerhalb der Mauern lag. Ein anderer Ort, der vorgeschlagen wurde, ist »Gordons Golgatha«, nördlich der Stadtmauer in der Nähe eines Gartens gelegen.
15,22 »Golgatha« ist die aramäische Bezeichnung für »Schädelstätte«. Das Wort »Kalvarienberg«, das im Deutschen seltener verwendet wird, stammt aus dem Lateinischen. Vielleicht sah der Ort einem Schädel ähnlich oder erhielt seinen Namen, weil er eine Hinrichtungsstätte war.
15,23 Die Soldaten boten Jesus »mit Myrrhe vermischten Wein« an. Das war eine Art Droge, die seine Sinne benebeln sollte. Er war jedoch entschlossen, die Sünden der Menschheit bei vollem Bewusstsein zu tragen, und wollte das Getränk deshalb nicht annehmen.
15,24 Die Soldaten spielten um die Kleider der Gekreuzigten. Als sie das Gewand des Heilands raubten, nahmen sie ihm seinen ganzen irdischen Besitz.
15,25-28 Es war 9 Uhr morgens, als sie ihn kreuzigten. Über seinem Kopf hatten sie die Inschrift »Der König der Juden« angebracht. (Markus gibt nicht die gesamte Inschrift wieder, sondern beschränkt sich auf die Hauptaussage, s. Matth 27,37; Lk 23,38; Joh 19,19.) Zwei Verbrecher wurden mit ihm gekreuzigt, auf jeder Seite einer. Jesaja hatte nämlich vorausgesagt, dass er in seinem Tod zu den Verbrechern gezählt werden würde (Jes 53,12).21
15,29.30 Der Herr Jesus wurde von den  Vorübergehenden  (V. 29.30),  den Hohenpriestern und Schriftgelehrten (V. 31.32a)  und  den  zwei  Verbrechern (V. 32b) verspottet.
Die »Vorübergehenden« waren wahr scheinlich Juden, die sich darauf vorbereiteten, das Passah in der Stadt zu halten. Draußen nahmen sie sich die Zeit, anzuhalten, um das wahre Passahlamm zu schmähen. Sie zitierten ihn falsch, indem sie behaupteten, dass er gedroht habe, ihren geliebten Tempel abzubrechen und in drei Tagen wiederaufzubauen. Wenn er so mächtig wäre, könne er sich doch selbst retten und vom Kreuz heruntersteigen.
15,31 Die Hohenpriester und Schriftgelehrten schmähten ihn wegen seines Anspruchs, andere zu retten: »Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.« Das war wirklich grausam, aber dennoch unbeabsichtigt wahr. Es gilt sowohl für das Leben unseres Herrn als auch für das unsrige. Wir können nicht andere retten, wenn wir noch uns selbst retten wollen.
15,32 Die religiösen Führer forderten ihn auch auf, vom Kreuz herabzusteigen, wenn er der Messias, »der König Israels«, sei. Dann, so sagten sie, würden sie glauben. Sie wollten glauben, sobald sie etwas sähen.22 Aber die Reihenfolge Gottes lautet: »Glaube, und du wirst sehen.« Sogar die Verbrecher verspotteten ihn! R. Drei Stunden der Finsternis (15,33-41)
15,33 Zwischen 12 und 15 Uhr war das ganze Land von einer Finsternis bedeckt. Jesus trug zu dieser Zeit das ganze Gericht Gottes über unsere Sünden. Er erlitt völlige Verlassenheit und Trennung von Gott. Kein Mensch kann je die Qual verstehen, die er erlitt, als er für uns zur Sünde gemacht wurde.
15,34 Bevor seine Qual zu Ende ging, »schrie Jesus mit lauter Stimme« (auf Aramäisch): »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Gott hatte ihn verlassen, weil er sich in seiner Heiligkeit von der Sünde trennen musste. Der Herr Jesus hatte nun alle unsere Sünden auf sich geladen und erduldete die volle Strafe dafür.
15,35.36 Einige in der grausamen Menge meinten, er rufe Elia mit den Worten »Eloi, Eloi«. Als letzte Entehrung tränkte einer von ihnen »einen Schwamm mit Essig« und bot ihm diesen auf einem Rohr an.
15,37 Jesus schrie noch einmal voller Kraft und im Triumph auf – dann starb er. Sein Tod war eine willentliche Handlung, kein unbeabsichtigter Zusammenbruch.
15,38 In diesem Augenblick zerriss »der Vorhang des Tempels … in zwei Stücke, von oben bis unten«. Das war eine Tat Gottes, die zeigen sollte, dass durch den Tod Christi von nun an der Zugang in das Heiligtum Gottes das Vorrecht aller Gläubigen ist (s. Hebr 10,19-22). Nun war ein neues, großartiges Zeitalter angebrochen. Es sollte ein Zeitalter der Nähe zu Gott und nicht der Ferne von ihm sein.
15,39 Das Bekenntnis des Hauptmanns war zwar edel, muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass er anerkannte, dass Jesus mit Gott identisch war. Der heidnische Hauptmann erkannte ihn als »Gottes Sohn« an. Zweifellos merkte er, dass hier ein Stück Geschichte geschrieben wurde. Aber ob er echten Glauben hatte, wird nicht deutlich gesagt.
15,40.41 Markus erwähnt, dass einige Frauen beim Kreuz blieben. Es verdient Beachtung, dass Frauen in den Berichten der Evangelien immer besonders herausgehoben werden. Die Männer versteckten sich, weil sie um ihre persönliche Sicherheit fürchteten. Die Hingabe der Frauen stellte die Liebe zu Christus über ihr eigenes Wohlergehen. Sie waren die Letzten beim Kreuz und die Ersten am Grab. S. Die Grablegung in Josefs Grab (15,42-47)
15,42 Der Sabbat begann am Freitag bei Sonnenuntergang. Der Tag vor dem Sabbat oder vor anderen Feiertagen war auch als »Rüsttag« bekannt.23
15,43 Die Notwendigkeit, schnell zu handeln, flößte Josef von Arimathäa Mut ein, Pilatus um Erlaubnis zu bitten, den Leib Jesu zu bestatten. Josef war ein strenger Jude, eventuell sogar ein Mitglied des Hohen Rats (Lk 23,50; s. a. Matth 27,57; Joh 19,38).
15,44.45 Pilatus konnte kaum glauben, dass Jesus schon tot war. Als der Hauptmann diese Tatsache bestätigte, »schenkte« der Statthalter Josef den Leib (In diesem Abschnitt werden für den Leib Jesu zwei verschiedene Worte verwendet. Josef bat um den Leib des Herrn Jesus, und Pilatus »schenkte« ihm den Leichnam.).
15,46 Mit liebevoller Fürsorge balsamierte Josef (zusammen mit Nikodemus; s. Joh 19,38.39) den Leib ein, »wickelte ihn in das Leinentuch und legte ihn« in ein neues Grab, das ihm selbst gehörte. Das Grab oder die Gruft war eine kleine, aus dem Fels gehauene Kammer. Die Öffnung wurde durch einen flachen, runden Stein verschlossen, der in eine Vertiefung gerollt wurde, die ebenfalls aus dem Stein gehauen worden war.
15,47 Und wieder werden Frauen erwähnt, die dabei sind, diesmal die beiden Marias. Wir bewundern sie für ihre unveränderte und furchtlose Zuneigung. Man sagt, dass die meisten Missionare heute Frauen sind. Wo sind die Männer? VIII. Der Knecht siegt (Kap. 16) A. Die Frauen am leeren Grab (16,1-8)
16,1-4 Am Samstagabend kamen die beiden Marias und Salome zum Grab, um den Leib Jesu mit wohlriechenden Ölen zu salben. Sie wussten, dass es nicht leicht werden würde. Sie wussten, dass ein schwerer Stein vor die Öffnung des Grabes gerollt worden war. Sie wussten, dass die Römer das Grab versiegelt und eine Wache davor postiert hatten. Aber Liebe überwindet Berge, um den Gegenstand der Liebe erreichen zu können. »Sehr früh« am Sonntagmorgen fragten sie sich laut, wer »den Stein von der Tür der Gruft wegwälzen« würde. Sie blickten auf und sahen, dass das schon erledigt war! Wie oft geschieht es, dass wir den Heiland ehren wollen und dann feststellen: Die Schwierigkeiten sind schon beseitigt, ehe wir auf sie treffen.
16,5.6 »Und als sie in die Gruft eintraten«, sahen sie einen Engel in der Gestalt eines jungen Mannes in weißen Kleidern. Er zerstreute ihre Angst sofort mit der Verkündigung, dass Jesus auferstanden war. Das Grab war leer.
16,7 Der Engel beauftragte sie dann als Boten der Auferstehung. Sie sollten es »seinen Jüngern und Petrus« sagen, dass Jesus sie in Galiläa treffen wolle. Man beachte, dass Petrus, der Jünger, der seinen Herrn verleugnet hatte, hier ausdrücklich erwähnt wird. Der auferstandene Herr hatte ihn nicht verstoßen, sondern liebte ihn noch immer und sehnte sich danach, ihn zu sehen. Er musste besonders betreut werden. Das irrende Schaf musste in die Gemeinschaft seines Hirten zurückgeführt werden. Der untreu Gewordene musste ins Vaterhaus zurückkehren.
16,8 Die Frauen flohen mit gemischten Gefühlen vom Grab. Sie waren zu verängstigt, irgendjemandem zu erzählen, was geschehen war. Das ist nicht erstaunlich. Das Wunder ist, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt so mutig, treu und hingegeben gewesen waren.
B. Die Erscheinung vor
Maria Magdalena (16,9-11) Weil in zwei wichtigen alten Handschriften des Markusevangeliums die Verse 9-20 fehlen, glauben viele moderne Theologen, dass sie nicht authentisch sind. Dennoch gibt es wichtige Argumente dafür, dass sie zum Text gehören: 1. Fast alle anderen griechischen Manuskripte und viele Kirchenväter haben diesen Abschnitt im Text. 2. Vers 8 wäre ein äußerst seltsamer Schluss, insbesondere im Griechischen, wo das letzte Wort gar (denn) lautet. Dieses Wort steht nur äußerst selten am Ende eines Satzes, noch viel weniger am Ende eines Buches. 3. Wenn, wie einige lehren, der originale Schluss des Markusevangeliums verloren gegangen ist und dies eine spätere Zusammenfassung darstellt, dann wäre das Wort unseres Herrn über die Bewahrung seines Wortes (Matth 24,35) nicht in Erfüllung gegangen.
4. Der Inhalt dieses Abschnittes steht in Übereinstimmung mit anderen biblischen Stellen.
5. Der Stil, und besonders die Wortwahl, entsprechen genau dem ersten Kapitel des Buches.24
16,9 Der Heiland erschien zuerst Maria Magdalena. Als sie Jesus das erste Mal begegnet war, hatte er ihr sieben Dämonen ausgetrieben. Von da an diente sie ihm voller Liebe mit ihrem Eigentum. Sie war bei der Kreuzigung dabei und hatte gesehen, wohin sein Leib gelegt worden war.
Von den anderen Evangelisten wissen wir, dass sie, als sie das Grab leer fand, loslief und es Petrus und Johannes sagte. Als sie mit ihr zurückkamen, fanden sie das Grab leer, wie sie gesagt hatte. Sie kehrten nach Hause zurück, aber sie blieb bei dem leeren Grab. Da erschien ihr Jesus.
16,10.11 Wieder ging sie in die Stadt zurück, um den trauernden Jüngern die gute Nachricht zu überbringen. Aber das war für sie zu schön, um wahr zu sein. Sie glaubten es nicht.
C. Die Erscheinung vor zwei Jüngern (16,12.13)
16,12 Der vollständige Bericht über dieses Ereignis finden wir in Lukas 24,1331. Hier lesen wir nur, dass »er sich zweien von ihnen in anderer Gestalt unterwegs« auf dem Weg nach Emmaus offenbarte. Maria meinte, er sei der Gärtner, als er ihr erschien. Hier erschien er nun als Mitr eisender. Aber es war derselbe Jesus, der in seinem verherrlichten Leib erschien.
16,13 Als die beiden Jünger nach Jerusalem zurückkehrten und über ihre Gemeinschaft mit dem Auferstandenen berichteten, trafen sie auf denselben Unglauben wie vorher Maria. D. Die Erscheinung vor den Elfen (16,14-18)
16,14 Diese Erscheinung vor den Elfen fand noch am gleichen Sonntagabend statt (Lk 24,36; Joh 20,19-24; 1. Kor 15,5). Obwohl die Jünger als »die Elf« bezeichnet werden, waren doch nur zehn von ihnen anwesend. Thomas war diesmal nicht dabei. Jesus tadelte die Seinen für ihre Weigerung, die Berichte seiner Auferstehung von Maria und den anderen anzunehmen.
16,15 Dieser Vers berichtet vom Auftrag, den der Herr am Abend seiner Himmelfahrt aussprach. Deshalb liegt zwischen Vers 14 und 15 eine längere Zeitspanne. Die Jünger wurden bea uftragt, »das Evangelium der ganzen Schöpfung« zu predigen. Das Ziel des Herrn war die Evangelisation der ganzen Welt. Er wollte es mit elf Jüngern err eichen, die im wahrsten Sinne des Wortes alles verlassen sollten, um ihm nachzufolgen.
16,16 Ihre Predigt würde zweierlei Auswirkung haben. Einige würden glauben, getauft und errettet werden, einige wür den nicht glauben und verdammt werden.
Vers 16 wird von manchen benutzt, um die Heilsnotwendigkeit der Wassertaufe zu begründen. Wir wissen jedoch aus folgenden Gründen, dass dies nicht richtig sein kann:
1. Der Verbrecher am Kreuz war nicht getauft, dennoch wurde ihm versichert, dass er mit Christus ins Paradies käme (Lk 23,43).
2. Die Heiden in Cäsarea wurden getauft, nachdem sie errettet wurden (Apg 10,44-48).
3. Jesus selbst taufte nicht (Joh 4,1.2) – ein seltsames Verhalten, wenn Taufe zur Rettung notwendig wäre. 4. Paulus dankte Gott, dass er nur wenige Korinther  getauft  habe  (1. Kor  1,1416). Ein solches Dankgebet wäre nie infrage gekommen, wenn die Taufe heilsnotwendig wäre.
5. Etwa 150 Stellen im NT sagen aus, dass die Errettung allein aus Glauben geschieht. Kein einzelner Vers oder Abschnitt könnte dieses überwältigende Zeugnis ungültig machen. 6. Die Taufe ist im NT mit Tod und Begräbnis des alten Menschen verbunden, nicht jedoch mit der geistlichen Wiedergeburt.
Aber was bedeutet Vers 16 dann? Wir sind der Meinung, dass er die Taufe als das normale äußerliche Zeichen des Glaubens erwähnt. Taufe ist keine Bedingung für die Errettung, sondern die Verkündigung in der Öffentlichkeit, dass der Betreffende errettet ist.
16,17.18 Jesus beschreibt hier bestimmte Wunder, die denjenigen, die dem Evangelium glauben, folgen werden. Wenn wir diese Verse lesen, ist sicherlich die erste Frage: »Gibt es diese Zeichen noch heute?« Wir glauben, dass diese Zeichen in erster Linie für das apostolische Zeitalter bestimmt waren, ehe die ganze Bibel in geschriebener Form zugänglich war. Die meisten dieser Zeichen finden sich in der Apostelgeschichte: 1. Dämonenaustreibung (Apg 8,7; 16,18; 19,11-16). 2. Andere Sprachen (Apg 2,4-11; 10,46; 19,6). 3. Das Anfassen von Schlangen (Apg 28,5).
4. Gift trinken, ohne Schaden zu nehmen. Dies ist in der Apostelgeschichte nicht überliefert. Allerdings berichtet der Geschichtsschreiber Eusebius, dass Johannes und Barnabas das erlebt haben.
5. Schwachen die Hände auflegen, um sie zu heilen (Apg 3,7; 19,11; 28,8.9). Was war der Zweck dieser Wunder? Wir glauben, dass wir die Antwort in Hebräer 2,3.4 finden: Ehe das NT vollendet war, würden die Menschen die Apostel und andere um Beweise bitten, dass das Evangelium von Gott ist. Um die Predigt zu bestätigen, gab Gott mit Zeichen, Wundern und verschiedenen Geistesgaben davon Zeugnis.
Diese Wunder werden heute nicht mehr benötigt. Wir haben die gesamte, vollständige Bibel. Wenn die Menschen ihr nicht glauben, werden sie sowieso nicht glauben. Markus sagte nicht, dass diese Wunder andauern würden. Die Worte »bis zur Vollendung des Zeitalters« finden sich hier nicht wie in Matthäus 28,18-20.
Dennoch schlug Martin Luther vor, dass »diese Zeichen je nach Bedürfnis noch in Anspruch genommen werden können. Wenn Not da ist und das Evangelium hart verfolgt wird, dann müssen wir diese Wunder zweifellos wirken, ehe wir erlauben, dass das Evangelium schlechtgemacht und niedergestürzt wird.«
1,1 Die schriftlichen Quellen werden in Vers 1 genannt: »Da es nun schon viele unternommen haben, einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen, die sich unter uns zugetragen haben …« Wir wissen nicht, wer diese Schreiber waren. Matthäus und Markus mögen dabei gewesen sein, doch auch einige andere, die offensichtlich nicht inspiriert waren (Johannes schrieb erst später.).
1,2 Lukas bezieht sich auch auf mündliche Berichte derer, »die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind«. Lukas selbst behauptet nicht, Augenzeuge zu sein, doch er hat die befragt, die es waren. Er beschreibt diese Begleiter unseres Herrn als »Augenz eugen und Diener des Wortes«. Hier benutzt er den Ausdruck »das Wort« als Namen Christi, so wie Johannes es in seinem Evangelium tut. Mit »Anfang« ist hier der Beginn des christlichen Zeit­alters gemeint, das von Johannes dem Täufer angekündigt wurde. Der Sachverhalt, dass Lukas sowohl schriftliche als auch mündliche Quellen verwendet hat, leugnet nicht die Tatsache der Wort­inspiration seiner Schriften. Es bedeutet einfach, dass der Heilige Geist ihn bei Auswahl und Anordnung seiner Quellen anleitete.
James S. Stewart kommentiert:
Lukas stellt eindeutig klar, dass inspirierte Verfasser nicht auf wunderbare Weise von der Notwendigkeit der faktenbezogenen historischen Forschung befreit waren ... Inspiration übergeht nicht einfach auf geheimnisvolle Weise den menschlichen Geist und seine Fähigkeiten, sondern Gott drückt seinen Willen durch hingegebene menschliche Geister und ihre Fähigkeiten aus. Die Inspiration übergeht nicht einfach die Persönlichkeit des heiligen Verfassers, um ihn zu einer Maschine Gottes zu machen; sie verstärkt eher seine Persönlichkeit und macht ihn zu Gottes lebendigem Zeugen.
1,3 Lukas gibt eine kurze Erklärung zu seiner Motivation und seiner verwendeten Methode: »... hat es auch mir gut geschienen, der ich allem von Anfang an genau gefolgt bin, es dir, hochedler Theophilus, der Reihe nach zu schreiben.« Seine Motivation beschreibt er schlicht so: »... hat es auch mir gut geschienen«. Auf der rein menschlichen Ebene hatte er die stille Überzeugung, dass er das Evan­gelium schreiben sollte. Wir wissen natürlich dass göttlicher Zwang auf wunderbare Weise mit diesem menschlichen Entschluss vermischt war. Bezüglich seiner Methode schreibt er, dass er zuerst »allem« genau »von Anfang an« auf den Grund ging, und es dann der Reihe nach aufschrieb. Sein Vorhaben erforderte eine sorgfältige wissenschaftliche Erforschung der Vorgänge des Lebens Jesu. Lukas prüfte auch die Zuverlässigkeit seiner Quellen, sonderte alles aus, das historisch falsch und geistlich unbedeutend war, und ordnete sein Material dann in der Weise an, wie wir es heute vorliegen haben. Wenn Lukas sagt, dass er es »der Reihe nach« aufgeschrieben hat, so ist damit nicht notwendigerweise die zeitliche Reihenfolge gemeint. Die Vorgänge im Evangelium sind nicht immer in der Reihenfolge aufgeschrieben, in der sie geschehen sind. Sie haben vielmehr eine moralische oder geistliche Reihenfolge, das heißt, sie sind mehr thematisch und durch moralische Anweisungen verbunden als durch zeitliche Aufe inanderfolge. Obwohl dieses Evangelium und die Apostelgeschichte an »Theophilus« gerichtet sind, wissen wir erstaunlich wenig über diesen Mann. Sein Titel (»hochedler«) legt nahe, dass er ein Beamter der Obrigkeit war. Sein Name bedeutet »Freund Gottes«. Vielleicht war er ein Christ, der eine Ehren- und Verantwortungsstelle im Auswärt igen Amt des Römischen Reiches bekleidete.
1,4 Das Ziel von Lukas war, Theophilus einen schriftlichen Bericht zu liefern, der bestätigen würde, dass alles, was er über das Leben und den Dienst des Herrn Jesus gelehrt worden war, vertrauenswürdig war. Die schriftliche Botschaft sollte der Ungenauigkeit der fortgesetzten mündlichen Überlieferung Einhalt gebieten.
Und so geben uns die Verse 1-4 den kurzen, doch erhellenden Hintergrund über die menschlichen Umstände, unter denen dieses Buch der Bibel geschrieben wurde. Wir wissen, dass Lukas inspiriert war. Er erwähnt dies hier nicht, es sei denn, dass er es in den Worten von Anfang an andeutet, die man auch mit von oben2 übersetzen kann.
II. Das Kommen des Menschensohnes und seines Vorläufers (1,5 – 2,52) A. Die Ankündigung der Geburt des Vorläufers (1,5-25)
1,5.6 Lukas beginnt seine Erzählung mit der Vorstellung der Eltern Johannes’ des Täufers. Sie lebten zu der Zeit, als der böse »Herodes« der Große »König von Judäa« war. Er war ein Idumäer, d. h. ein Nachkomme Esaus.
»Zacharias« (mit der Bedeutung der Herr gedenkt) war ein »Priester« und gehörte zur »Abteilung des Abija«, einer der 24 Abteilungen, in die David die jüdische Priesterschaft eingeteilt hatte (1. Chron 24,10). Jede Abteilung musste zweimal im Jahr im Tempel in Jerusalem von einem bis zum nächsten Sabbat Dienst tun. Es gab zu dieser Zeit so viele Priester, dass das Vorrecht, im Heiligtum zu räuchern, jedem nur einmal im Leben, wenn überhaupt, zuteilwurde. Elisabeth (das Eid Gottes bedeutet) stammte auch aus der Priesterfamilie Aarons. Sie und ihr Mann waren fromme Juden, die sehr sorgfältig in der Erfüllung der Schriften des AT waren, sowohl des Sitten- als auch des Zeremonialgesetzes. Natürlich waren sie nicht sündlos, doch wenn sie gesündigt hatten, dann stellten sie sicher, dass ein Opfer dafür gebracht wurde oder andere rituelle Anforderungen erfüllt wurden.
1,7 Dieses Paar hatte keine Kinder, für jeden Juden ein schlimmer Zustand. Der Arzt Lukas hält als Grund dafür fest, dass Elisabeth unfruchtbar war. Das Problem wurde noch durch die Tatsache verschlimmert, dass beide »in ihren Tagen weit vorgerückt« waren.
1,8-10 Eines Tages war Zacharias im »Tempel«, um seinen Pflichten als Priester nachzukommen. Das war ein großartiger Tag in seinem Leben, weil er durch das Los bestimmt worden war, um im Tempel »zu räuchern«. Das Volk hatte sich »betend« vor dem Tempel versammelt. Niemand scheint genau die Zeit zu kennen, die als »Stunde des Räucherns« bezeichnet wird.
Es ist bemerkenswert, dass das Evangelium mit dem »betenden« Volk vor dem Tempel beginnt und mit Menschen endet, die Gott im Tempel preisen. Die Kapitel dazwischen berichten, wie ihre Gebete in der Person und dem Werk des Herrn Jesus beantwortet wurden.
1,11-14 Es war eine geeignete Zeit und ein geeigneter Ort für eine göttl iche Offenb arung, als der Priester und das Volk bet eten. »Ihm erschien … ein Engel des Herrn … zur Rechten des Räucheraltars« – ein Zeichen des Wohlgefallens. Zunächst war Zacharias sehr ers chrocken, noch keiner seiner Zeitgenossen hatte je einen Engel gesehen. Doch der Engel ermunterte ihn mit wunderb aren Nachrichten. »Ein Sohn« sollte seiner Frau Elisabeth geboren werden, und er sollte »Johannes« (Wohlwollen oder Gnade Gottes) genannt werden. Außer der Tatsache, dass er seinen Eltern zur »Freude und zum Jubel« sein würde, sollte er für »viele« zum Segen werden.
1,15 Dieses Kind sollte »groß sein vor dem Herrn« (die einzige Größe, die wirklich zählt). Erstens sollte er »groß« in seiner persönlichen Absonderung für Gott sein; er sollte »weder Wein (aus Trauben hergestellt) noch starkes Getränk (aus Getreide hergestellt) … trinken«. Zweitens sollte er »groß« in seinem geistlichen Erbe sein, er sollte »schon von Mutterleibe an mit Heiligem Geist erfüllt werden« (Das kann nicht bedeuten, dass Johannes von Geburt an gerettet oder bekehrt war. Vielmehr ist damit gemeint, dass von Anfang an der Geist Gottes in ihm war, um ihn für seine besondere Aufgabe als Vorl äufer Christi vorzubereiten.).
1,16.17 Drittens würde er »groß« sein in seiner Rolle als Herold des Messias. Er würde »viele« aus dem jüdischen Volk »zu dem Herrn … bekehren«. Sein Dienst würde wie das Wirken »Elias«, des Propheten, sein. Es ging darum, das Volk durch Buße in die richtige Beziehung zu Gott zu bringen. G. Coleman Luck stellt heraus:
Seine Predigt sollte die Herzen von sorglosen Eltern zum wirklichen geistlichen Bemühen um ihre Kinder bringen. Auch sollte er die Herzen von ungehorsamen, aufrührerischen Kindern zurück zur »Gesinnung der Gerechten« bringen.3
Mit anderen Worten, er würde danach streben, aus der Welt eine Gemeinschaft von Gläubigen zu versammeln, die bereit wären, dem Herrn zu begegnen, wenn er erscheinen würde. Das ist ein würdiger Dienst für uns alle.
Man beachte, wie die Gottheit Christi in den Versen 16 und 17 vorausgesetzt wird. In Vers 16 heißt es: »Viele der Söhne Israels wird er zu dem Herrn, ihrem Gott, bekehren«. Dann heißt es in Vers 17, dass Johannes »vor ihm hergehen« sollte. Auf wen bezieht sich das Wort ihm? Offensichtlich auf den Herrn, ihren Gott im vorhergehenden Vers. Doch wissen wir, dass Johannes der Vorläufer Jesu war. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Jesus ist Gott.
1,18 Der betagte Zacharias war durch die Unmöglichkeit der Verheißung erstaunt. Sowohl er als auch seine Frau waren zu alt, um noch Eltern zu werden. Seine schwermütige Frage drückte allen aufgestauten Zweifel seines Herzens aus.
1,19 Der Engel antwortet, indem er sich selbst als »Gabriel« (der Starke Gottes) vorstellt. Obwohl er gemeinhin als Erzengel gilt, wird er in der Schrift nur als einer beschrieben, »der vor Gott steht« und den Menschen Botschaften von Gott bringt (Dan 8,16; 9,21).
1,20 Weil Zacharias gezweifelt hatte, sollte er seine Sprache verlieren, bis das Kind geboren war. Wann immer ein Gläubiger Zweifel am Wort Gottes hegt, verliert er sein Zeugnis und seinen Gesang. Unglaube versiegelt die Lippen, und sie bleiben verschlossen, bis der Glaube wiederkehrt und in Lobpreis sowie Zeugnis neu zum Durchbruch kommt.
1,21.22 Draußen wartete das Volk ungeduldig. Normalerweise hätte der Priester, der räucherte, viel schneller wieder erscheinen müssen. Als Zacharias schließlich herauskam, musste er sich mit Gesten verständlich machen. Da erkannten sie »dass er im Tempel ein Gesicht gesehen hatte«.
1,23 Nachdem seine Dienstpflicht am Tempel »zu Ende« war, ging der Priester nach Hause, noch immer stumm, wie der Engel vorausgesagt hatte.
1,24.25 Als Elisabeth schwanger wurde, sonderte sie sich zu Hause für »fünf Monate« ab und freute sich, dass der Herr sie von der »Schmach« der Kinderlosigkeit befreit hatte. B. Die Ankündigung der Geburt des Menschensohnes (1,26-38)
1,26.27 »Im sechsten Monat« nach seiner Erscheinung bei Zacharias (oder nachdem Elisabeth schwanger geworden war), kam Gabriel wieder – diesmal »zu einer Jungfrau« namens Maria. Sie lebte »in einer Stadt von Galiläa, mit Namen Nazareth«. Maria war »einem Mann namens Josef, aus dem Haus Davids, verlobt«. Dieser hatte das Anrecht auf den Thron Davids von ihm geerbt, auch wenn er selbst nur Zimmermann war. Verlobung war damals viel verbindlicher als heute. Sie konnte nur durch eine der Scheidung ähnliche öffentliche Entscheidung gelöst werden.
1,28 Der Engel redete Maria als »Begnadete« an, als eine, die der Herr mit einem besonderen Vorrecht ausstatten wollte. Zwei Punkte sollten hier angemerkt werden:
1. Der Engel betete Maria nicht an, er begrüßte sie einfach.
2. Er sagte nicht, dass sie »voll der Gnaden«, sondern »begnadet«4 sei.
1,29.30 Maria war durch diese Begrüßung verständlicherweise »bestürzt« und fragte sich, was sie zu bedeuten habe. Der Engel besänftigte ihre Angst und berichtete ihr, dass Gott sie auserwählt habe, die Mutter des lang ersehnten Messias zu sein.
1,31-33 Man beachte die wichtigen Wahrheiten, die diese Ankündigung enthält:
Das volle Menschsein des Messias – »Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären.«
Seine Göttlichkeit und seine Sendung als Heiland – »Du sollst seinen Namen Jesus nennen« (das bedeutet Gott ist Retter).
Seine Größe – »Dieser wird groß sein« in Bezug auf seine Person und sein Werk. Seine Gottessohnschaft – »Dieser wird … Sohn des Höchsten genannt werden.« Sein Anrecht auf den Thron Davids – »Der Herr, Gott, wird ihm den Thron seines Vaters David geben.« Das war ein Zeichen dafür, dass er der Messias war.
Sein ewiges und allumfassendes Reich – »Er wird über das Haus Jakobs herrschen in Ewigkeit, und seines Königtums wird kein Ende sein.« Die Verse 31 und 32a beziehen sich offensichtlich auf das erste Kommen Jesu, während die Verse 32b und 33 seine Wiederkunft als König der Könige und Herrn der Herren beschreiben.
1,34.35 Marias Frage (»Wie wird dies zugehen?«) drückte Verwunderung, jedoch keinen Zweifel aus. Wie konnte sie ein Kind bekommen, da sie doch keine Beziehung zu einem Mann hatte? Obwohl der Engel das nicht so ausdrückte, lautet die Antwort »durch Jungfrauengeburt«. »Der Heilige Geist« würde ein Wunder tun. Er würde »über (sie) kommen, und Kraft des Höchsten« würde sie »überschatten«. Gottes Antwort auf Marias Frage nach dem Wie (nach menschlichem Ermessen war es einfach unmöglich) lautet: durch den Heiligen Geist: »Darum wird auch das Heilige, das geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden.« Hier haben wir die stillschweigende Feststellung der Menschwerdung. Marias Sohn sollte »Gott im Fleisch geoffenbart« sein. Die Sprache vermag nicht, das Geheimnis zu ergründen, das hier verborgen liegt.
1,36.37 Der Engel überbrachte dann noch die weitere Nachricht, dass Elisabeth, Marias »Verwandte«, im sechsten Monat schwanger war – »bei ihr, die unfruchtbar genannt war«. Dieses Wunder sollte Maria ermuntern, dass »bei Gott kein Ding unmöglich« (Elb) ist.
1,38 In wunderschöner Unterwerfung gab Maria sich dem Herrn hin, damit er seine wunderbaren Ziele durch sie erf üllen könnte. Dann heißt es: »Und der Engel schied von ihr.«
C. Maria besucht Elisabeth (1,39-45)
1,39.40 Uns wird nicht mitgeteilt, warum Maria sich aufmachte und zu dieser Zeit Elisabeth besuchte. Es kann sein, dass sie den Skandal meiden wollte, der in Nazareth unausweichlich entstehen würde, wenn ihr Zustand bekannt würde. Sollte das so sein, dann war der Empfang und die Liebe, die Elisabeth ihr entgegenbrachte, doppelt aufmunternd.
1,41 Sobald Elisabeth die Stimme Marias »hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib«, eine geheimnisvolle, unwillkürliche Reaktion des ungeborenen Vorläufers auf die Ankunft des ungeborenen Messias. »Elisabeth wurde mit Heiligem Geist erfüllt«, d. h. er übernahm die Kontrolle und leitete so ihre Rede und ihre Handlungen.
In Kapitel 1 werden drei Menschen genannt, die vom Heiligen Geist erfüllt werden: Johannes der Täufer (V. 15), Elisabeth (V. 41) und Zacharias (V. 67). Eines der Kennzeichen eines geisterfüllten Lebens ist das Reden in Psalmen, Lobliedern und geistlichen Gesängen (Eph 5,18.19). Wir sind deshalb nicht überrascht, drei Gesänge in diesem Kapitel und zwei weitere im nächsten zu finden. Vier dieser Gesänge sind auch unter ihren lateinischen Titeln allgemein bekannt geworden:
1. Der Gruß Elisabeths (1,42-45); 2. Das Magnifikat
(übersetzt: erhebe, 1,46-55); 3. Benedictus (gesegnet, 1,68-79); 4. Gloria in Excelsis Deo (Ehre sei Gott in der Höhe, 2,14); und 5. Nunc Dimittis
(Nun entlässt du, 2,29-32).
1,42-45 Elisabeth spricht jetzt durch besondere Inspiration und begrüßt Maria als »die Mutter meines Herrn«. Keine Spur von Eifersucht sprach aus ihrem Herzen, nur Freude, dass das ung eborene Kind ihr »Herr« sein würde. Maria war in der Hinsicht »gesegnet unter den Frauen«, weil ihr das Vorrecht gegeben war, den Messias zur Welt zu bringen. »Die Frucht« ihres Leibes war gesegnet, weil er der Herr und Erlöser ist. Die Bibel spricht von Maria an keiner Stelle als »Mutter Gottes«. Es ist zwar wahr, dass sie die Mutter Jesu und Jesus zugleich Gott war, aber es ist dennoch eine lehrmäßige Abs urdität, wenn man davon spricht, dass Gott eine Mutter habe. Jesus existierte schon vor aller Ewigkeit, während Maria ein begrenztes Geschöpf war, das zu einem bestimmten Zeitpunkt angefangen hatte zu existieren. Sie war nur bei der Menschwerdung Jesu seine Mutter.
Elisabeth berichtet von der scheinbar intuitiven Erregung ihres ung eborenen Kindes, als Maria sie begrüßte. Dann gab sie Maria die Zusicherung, dass ihr Glaube überreich belohnt werden würde. Marias Glaube war nicht vergeblich. Ihr Kind würde wie verheißen geboren werden.
D. Maria erhebt den Herrn (1,46-56)
1,46-49 Das Magnifikat ähnelt dem Lied Hannas (1. Sam 2,1-10). Zuerst lobte Maria »den Herrn« für das, was er für sie getan  hatte  (V. 46b-49).  Man  beachte,  dass sie  sagte  (V. 48):  »von  nun  an  werden mich glückselig preisen alle Geschlechter«. Sie würde keinen Segen weitergeben, sondern selbst gesegnet werden. Sie spricht von »Gott, meinem Heiland«. Dadurch wird die Vorstellung widerlegt, dass Maria sündlos war.
1,50-53 Zweitens pries sie den Herrn für »seine Barmherzigkeit … über die, welche ihn fürchten«. Er erniedrigt die Hochmütigen und »Mächtigen«, und erhöht »Niedrige« sowie »Hungrige«.
1,54.55 Schließlich erhebt sie den Herrn wegen seiner Treue zu Israel, die sich darin zeigt, dass er die Verheißungen erfüllt hat, die er »Abraham und seinen Nachkommen« gegeben hat.
1,56 Nachdem Maria »ungefähr drei Monate« bei Elisabeth geblieben war, »kehrte sie zu ihrem Haus« in Nazareth »zurück«. Sie war noch nicht verheiratet. Zweifellos wurde sie verdächtigt, und in der Nachbarschaft wurde über sie geredet. Doch Gott würde sie rechtfertigen, sie konnte es sich leisten, zu warten. E. Die Geburt des Vorläufers (1,57-66)
1,57-61 »Für Elisabeth … erfüllte sich die Zeit … und sie gebar einen Sohn«. Ihre Verwandten und Freunde »freuten sich mit ihr«. »Am achten Tag«, als man den Knaben beschnitt, stand ihrer Meinung nach schon fest, dass er nach seinem Vater Zacharias genannt werden sollte. Als die Mutter ihnen sagte, dass das Kind »Johannes heißen« sollte, waren sie überrascht, weil »niemand« in ihrer »Verwandtschaft … diesen Namen trägt«.
1,62.63 Um zu einer Entscheidung zu kommen, »winkten« sie Zacharias. (Daraus geht hervor, dass er nicht nur stumm, sondern auch taub war.) Er löste das Problem, indem er »ein Täfelchen forderte« und darauf schrieb, dass der Name Johannes lauten solle. »Und sie wunderten sich alle.«
1,64-66 Doch überraschte es sie noch mehr, als sie bemerkten, dass Zacharias sofort wieder sprechen konnte, als er den Namen aufgeschrieben hatte. Die Nachricht verbreitete sich »auf dem ganzen Gebirge von Judäa«, und die Menschen fragten sich, welche Aufgabe dieses ungewöhnliche Kind einmal haben sollte. Sie wussten, dass das besondere Wohlwollen »des Herrn … mit ihm« war. F. Die Prophezeiung des Zacharias über Johannes (1,67-80)
1,67 Von den Fesseln des Unglaubens befreit und »mit Heiligem Geist erfüllt«, wurde Zacharias nun inspiriert, eine besonders schöne Lobeshymne zu dichten, die ausführlich das AT zitiert.
1,68.69 Lob Gottes für das, was er getan hat. Zacharias erkannte, dass die Geburt seines Sohnes Johannes die Nähe des kommenden Messias anzeigte. Er sprach vom Kommen Christi als vollendete Tatsache, ehe es geschehen war. Der Glaube erlaubte ihm zu sagen, dass Gott seinem Volk schon »Erlösung geschaffen hat«, indem er den Erlöser gesandt hatte. Jahwe hatte »ein Horn des Heils aufgerichtet« im Hause »Davids« (Ein Horn wurde benutzt, um das Salböl für die Salbung des Königs aufzubewahren; deshalb kann es hier bedeuten, dass ein König des Heils aus der königlichen Linie Davids kommt. Auch kann es ein Symbol für Macht sein und von daher ein mächtiger Erlöser bedeuten.).
1,70.71 Lob Gottes für die Erfüllung der Prophezeiung. Das Kommen des Messias war von den »heiligen Propheten von Ewigkeit her« vorausgesagt. Das würde »Rettung« vor Feinden und Sicherheit vor den Widersachern bedeuten.
1,72-75 Lob Gottes für die Erfüllung seiner Verheißung. Der Herr hatte einen bedingungslosen »Bund« der Erlösung mit Abraham geschlossen. Diese Verheißung wurde durch das Kommen des Samens Abrahams, nämlich des Herrn Jesus Christus, erfüllt. Die Erlösung, die er brachte, geschah sowohl äußerlich als auch innerlich. Äußerlich bedeutete sie Befreiung »aus der Hand« der »Feinde«. Innerlich bedeutete sie Dienst »ohne Furcht, … in Heiligkeit und Gerechtigkeit«.
G. Campbell Morgan äußert zwei treffende Gedanken zu diesem Abschnitt.5 Erstens zeigt er auf, dass ein atemberaubender Zusammenhang zwischen dem Namen des Johannes und dem Thema dieses Liedes besteht: In beiden geht es um die Gnade Gottes. Dann findet er Anspielungen auf die Namen von Johannes, Zacharias und Elisabeth in den Versen 72 und 73.
– Johannes: verheißene Barmherzigkeit (V. 72)
–  Zacharias: gedenken (V. 72) –  Elisabeth: der Schwur (V. 73) Gottes Gnade, durch Johannes angekündigt, ist das Ergebnis davon, dass er sich »des Eides seines heiligen Bundes« erinnert.
1,76.77 Johannes, der Herold des Erlösers, mit seinem Auftrag. Johannes sollte »Prophet des Höchsten« werden und die Herzen des Volkes auf das Kommen »des Herrn« vorbereiten. Er würde »seinem Volk« das »Heil« durch die »Vergebung ihrer Sünden« verkündigen. Hier sehen wir wieder, wie Aussagen über Jahwe im AT im NT auf Jesus angewendet werden. Maleachi sagte einen Boten voraus, der den Weg Jahwes vorbereiten sollte (Mal 3,1). Zacharias identifiziert Johannes als diesen Boten. Wir wissen, dass Johannes kam, um Jesus den Weg »zu bereiten«. Die offensichtliche Schlussfolgerung lautet, dass Jesus Jahwe ist.
1,78.79 Das Kommen Christi wird mit dem Sonnenaufgang verglichen. Seit Jahrhunderten hatte das Land »in Finsternis« gelegen. Nun sollte der Tag durch die »herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes« anbrechen. Er würde in der Person Christi erscheinen. Er sollte den Heiden leuchten, »die in Finsternis und Todesschatten« saßen, und Israels Füße »auf den Weg des Friedens« richten (s. Mal 3,20).
1,80 Das Kapitel schließt mit der einfachen Feststellung, dass das Kind körperlich und geistlich »wuchs« und »bis zum Tag« seines öffentlichen »Auftretens vor« dem Volk »Israel« in der Wüste lebte. G. Die Geburt des Menschensohnes (2,1-7)
2,1-3 »Kaiser Augustus« gab »eine Verordnung« heraus, dass »der ganze Erdkreis« sich registrieren lassen sollte, d. h. eine Zählung sollte in seinem gesamten Reich durchgeführt werden. »Diese Einschreibung geschah als erste, als Quirinius Statthalter von Syrien war.« Viele Jahre lang wurde die Genauigkeit des Lukasevangeliums angezweifelt, weil hier dieser Quirinius genannt wird. Neuere archäologische Funde bestätigen jedoch die Existenz dieses Statthalters. Von seinem Standpunkt aus zeigte der Kaiser seine Macht über die griechisch-römische Welt. Doch von Gottes Standpunkt aus war dieser heidnische Kaiser nur ein Werkzeug, um seine göttlichen Vorhaben zum Ziel zu bringen (s. Spr 21,1).
2,4-7 Das Dekret des Augustus brachte Jos ef und Maria genau zur richtigen Zeit nach Bethlehem, damit der Messias dort in Erfüllung der Prophezeiung (Micha 5,1) geboren werden könnte. Bethlehem war überfüllt, als sie aus Galiläa ankamen. Der einzige Platz, den sie fanden, war in einem Stall. Das war ein Zeichen bzw. Bild dafür, wie die Menschen ihren Erlöser empfangen würden. Während das Paar aus Nazareth dort war, gebar Maria »ihren erstgeborenen Sohn«. Sie »wickelte ihn in Windeln und legte« ihn liebevoll »in eine Krippe«. So suchte Gott unseren Planeten in der Person eines hilflosen Säuglings und in der Armut eines übel riechenden Stalles auf. Welch ein Wunder! Darby hat das sehr schön ausgedrückt:
Er begann sein irdisches Leben in einer Krippe, beendete es am Kreuz, und in der Zwischenzeit hatte er nichts, wo er sein Haupt hinlegen konnte.6
H. Die Engel und die Hirten (2,8-20)
2,8 Die erste Nachricht über diese einzigartige Geburt ging nicht an die religiösen Führer in Jerusalem, sondern an nachdenkliche Hirten in den Hügeln Judäas, einfache Menschen, die treu ihren Dienst versahen. James S. Stewart beobachtet: Ist es nicht außerordentlich bedeutungsvoll, dass es ganz gewöhnliche Leute waren, die mit ganz gewöhnlichen Aufgaben beschäftigt waren und als Erste die Herrlichkeit des gekommenen Messias erblickten? Es bedeutet erstens, dass am Ort der Pflicht, so einfach er auch aussehen mag, der Ort der Offenbarung Gottes ist. Und es bedeutet zweitens, dass für die Männer, die sich an die tiefe einfache Frömmigkeit des Lebens gehalten und sich ihr kindliches Herz bewahrt haben, sich die Pforten des Reiches am leichtesten öffnen.7
2,9-11 »Ein Engel des Herrn« kam zu den Hirten, und ein helles, herrliches Licht »umleuchtete sie«. Als sie vor Angst zurückwichen, sprach ihnen der Engel Mut zu und überbrachte ihnen die Botschaft. Diese Nachricht bedeutete »große Freude, die für das ganze Volk sein wird«. Am gleichen Tag war im nahe gelegenen Bethlehem ein Kind geboren worden. Dieser Säugling ist »ein Retter …, der ist Christus, Herr«. Hier haben wir Theologie im Kleinstformat. Erstens ist er »ein Retter«, was in seinem Namen Jesus ausgedrückt wird. Dann ist er »Christus«, der Gesalbte Gottes, der Messias Israels. Und schließlich ist er »Herr«, der fleischgewordene Gott.
2,12 Wie sollten die Hirten ihn erkennen? Die Engel gaben ihnen ein zweifaches Zeichen. Erstens sollte das Kind »in Windeln gewickelt« sein. Doch sie hatten sicher schon öfter Kinder in Windeln gesehen. Aber die Engel hatten gerade eben angekündigt, dass dieses Kind der Herr war. Niemand hatte je den Herrn als kleines »Kind … in Windeln gewickelt« ges ehen. Der zweite Teil des Zeichens besagte, dass er »in einer Krippe« liegen sollte. Es ist zweifelhaft, ob die Hirten je ein Kind an einem solch ungeeigneten Platz haben liegen sehen. Diese Entehrung war dem Herrn des Lebens und der Herrlichkeit vorbehalten, als er auf unsere Welt kam. Wir erreichen schwindelerregende Dimensionen, wenn wir daran denken, dass der Schöpfer und Erh alter des Universums den Schauplatz der menschlichen Geschichte nicht als erobernder Kriegsheld, sondern als kleines Kind betritt. Doch gerade dies ist die Wahrheit der Fleischwerdung Christi.
2,13.14 »Plötzlich« bricht sich die aufgestaute Freude des Himmels Bahn. Eine »Menge der himmlischen Heerscharen« erschien und lobte Gott. Ihr Lied, das heute unter seinem lateinischen Titel »Gloria in Excelsis Deo« bekannt ist, nimmt die Bedeutung der Geburt dieses Kindes auf. Jesu Leben und Dienst würden »Gott in der Höhe Herrlichkeit« bringen, außerd em »Friede auf Erden in den Menschen des Wohlgefallens« oder »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« (LU 1912).8 Die Menschen »des Wohlgefallens« sind diejenigen, die ihre Sünden bereuen und Jesus Christus als ihren Herrn und Erlöser annehmen.
2,15-19 Sobald die Engel wieder verschwunden waren, eilten die Hirten nach Bethlehem und »fanden Maria und Josef, und das Kind in der Krippe liegend«. Sie berichteten ausführlich vom Besuch der Engel und erstaunten damit viele, die sich im Stall versammelt hatten. Aber Maria hatte ein tieferes Verständnis für das, was hier vorging. Sie »bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem« wissenden »Herzen«.
2,20 »Die Hirten kehrten« zu ihren Herden »zurück«, voller Freude über alles, »was sie gehört und gesehen hatten«, und »priesen und lobten Gott«. I. Die Beschneidung und Darstellung Jesu im Tempel (2,21-24)
2,21-24 In diesem Abschnitt werden mindestens drei verschiedene Riten beschrieben:
1. Erstens haben wir die Beschneidung Jesu. Sie fand statt, als er »acht Tage« alt war. Es war ein Zeichen des Bundes, den Gott mit Abraham geschlossen hatte. An diesem Tag wurde ihm nach jüdischem Brauch der Name gegeben. Der Engel hatte Maria und Josef befohlen, ihn Jesus zu nennen. 2. Die zweite Zeremonie betrifft die »Reinigung« Marias. Sie fand vierzig Tage nach der Geburt Jesu statt (s.  3. Mose  12,1-4).  Normalerweise mussten die Eltern ein Lamm als Brandopfer und eine Taube oder Turteltaube als Sündopfer bringen. Doch wenn jemand arm war, dann durfte man »ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben« bringen (3. Mose  12,6-8).  Die  Tatsache,  dass Maria kein Lamm als Opfer brachte, sondern nur »zwei junge Tauben«, ist ein Zeichen für die Armut, in die Jesus hineingeboren wurde.
3. Das dritte Ritual war die Darstellung Jesu im Tempel in Jerusalem. Ursprünglich hatte Gott angeordnet, dass die erstgeborenen Söhne ihm gehören sollten, sie sollten die Priester sein (2. Mose 13,2). Später sonderte er den Stamm Levi aus, damit er priesterlich dienen konnte (2. Mose 28,1.2). Dann wurde den Eltern erlaubt, ihren erstgeborenen Sohn für fünf Schekel »zurückzukaufen« oder »auszulösen«. Das geschah, als sie ihn »dem Herrn darstellten«. J. Simeon erlebt die Ankunft des Messias (2,25-35)
2,25-26 Simeon war einer aus dem gläubigen Überrest der Juden, der auf das Kommen des Messias wartete. »Ihm war von dem Heiligen Geist eine göttliche Zusage zuteilgeworden, dass er« nicht sterben »solle, ehe er den Christus des Herrn« oder seinen Gesalbten »gesehen habe«. »Der Herr zieht ins Vertrauen, die ihn fürchten« (Ps 25,14). Es gibt eine geheimnisvolle Weitergabe göttlichen Wissens an diejenigen, die in stiller, von Nachsinnen geprägter Gemeinschaft mit dem Herrn leben.
2,27.28 Es geschah, dass er genau an dem Tag in den Tempelbezirk kam, an dem Jesus von seinen Eltern Gott dargebracht wurde. Simeon wurde auf übernatürliche Weise unterrichtet, dass dieses Kind der verheißene Messias sei. Er nahm das Kind »in seine Arme« und sprach die wunderschönen Worte, die wir als das »Nunc Dimittis« kennen (Nun entlässt du).
2,29-32 Die Aussage dieses Liedes lautet folgendermaßen: »Nun, Herr, entlässt du mich in Frieden. Ich habe dein Heil in der Person dieses Kindes gesehen, den verheißenen Erlöser, wie du mir versprochen hast. Du hast ihn bestimmt, die Erlösung für alle Menschen zu erwirken. Er wird ein Licht zur Erleuchtung der Nationen sein (sein erstes Kommen) und kommen, um in Herrlichkeit über deinem Volk Israel zu scheinen (seine Wiederkunft).« Simeon war bereit zu sterben, nachdem er dem Herrn Jesus begegnet war. Dem Tod war der Stachel genommen.
2,33 Lukas achtet sorgfältig auf die Lehre von der Jungfrauengeburt, als er schreibt: »Josef und seine Mutter«, wie die Lesart in der Tradition der englischen King-James-Übersetzung und im Mehrheitstext lautet.9
2,34.35 Nach diesem anfänglichen Lobesausbruch über den Messias segnete Simeon die Eltern und sprach dann prophetisch zu Maria. Die Prophezeiung bestand aus vier Teilen:
1. Dieses Kind war »gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel«. Die Arroganten, die Unbußfertigen und die Ungläubigen würden fallen und bestraft werden. Wer sich jedoch demütigte, wegen seiner Sünden Buße tat und den Herrn Jesus annahm, der würde »aufstehen« und gesegnet werden.
2. Dieses Kind war »gesetzt … zu einem Zeichen, dem widersprochen wird«. Mit der Person Christi war eine besondere Bedeutung verbunden. Allein dadurch, dass er auf der Erde war, wurde die Sünde und Unheiligkeit scharf verurteilt. Somit wurde die bittere Feindseligkeit des menschlichen Herzens ans Licht gebracht. 3. »Aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen.« Simeon sagte hier den Kummer voraus, der das Herz Marias erfüllen würde, wenn ihr Sohn am Kreuz sterben würde (Joh 19,25).
4. »… damit Überlegungen aus vielen Herzen offenbar werden.« Anhand dessen, wie ein Mensch auf den Heiland reagiert, werden seine verborgenen Motive und seine innere Haltung geprüft.
So beinhaltet das Lied Simeons den Gedanken an den Prüfstein, den Stein des Anstoßes, den Stolperstein und an das Schwert.
K. Die Prophetin Hanna (2,36-39)
2,36.37 »Hanna«, die »Prophetin«, gehörte wie Simeon dem gläubigen Überrest Israels an, der auf das Kommen des Messias wartete. Sie stammte »aus dem Stamm Asser« (das bedeutet glücklich, glückselig), aus einem der zehn Stämme, die  von  den Assyrern  721  v. Chr.  in  die Gefangenschaft geführt worden waren. Hanna muss über hundert Jahre alt gewesen sein, da sie »sieben Jahre« verheiratet und dann »vierundachtzig Jahre« verwitwet war. Als Prophetin empfing sie zweifellos göttliche Offenbarungen und »diente«, indem sie im Namen Gottes sprach. Sie war treu beim Besuch der öffentlichen Gottesdienste im Tempel, und betete »Nacht und Tag mit Fasten und Flehen« an. Ihr Alter hielt sie nicht vom Dienst für den Herrn ab.
2,38 Gerade als Jesus dem Herrn dargebracht wurde und Simeon mit Maria sprach, kam Hanna zu dieser kleinen Menschengruppe. Sie »lobte Gott« für den verheißenen Erlöser und »redete von« Jesus zu den Treuen in Jerusalem, »die auf die Erlösung … warteten«.
2,39 Nachdem Josef und Maria die Reinigungsriten und die Darbringung vollendet hatten, »kehrten sie nach Galiläa zurück« in ihre Heimatstadt Nazareth. Lukas erwähnt mit keinem Wort die Weisen aus dem Morgenland und die Flucht nach Ägypten.
L. Die Kindheit Jesu (2,40-52)
2,40 Das normale Wachstum des »Kindleins« Jesus wird so beschrieben: Leiblich »wuchs« er »und ward stark im Geist« (LU 1912).10 Er durchlief alle Stufen der leiblichen Entwicklung, lernte laufen, sprechen, spielen und arbeiten. Deshalb kann er mit uns in jeder Entwicklungsstufe mitfühlen. Geistig war er »erfüllt mit Weisheit«. Er lernte nicht nur lesen und schreiben und erwarb nicht nur alles andere Wissen dieser Zeit, sondern wuchs in der »Weisheit«, d. h. in der praktischen Anwendung seines Wissens auf seine Lebensprobleme. Geistlich »war Gottes Gnade auf ihm«. Er lebte in Gemeinschaft mit Gott und in Abhängigkeit vom Heiligen Geist. Er las die Bibel, verbrachte Zeit im Gebet und freute sich, den Willen des Vaters zu tun.
2,41-44 Ein jüdischer Junge wird mit zwölf Jahren zum »Sohn des Gesetzes«. Als unser Herr »zwölf Jahre alt war«, machte seine Familie sich auf ihre jährliche Pilgerreise »nach Jerusalem« zum »Passahfest«. Doch als sie fortgingen, um nach Galiläa zurückzukehren, bemerkten sie nicht, dass Jesus nicht bei ihnen war. Das mag uns seltsam erscheinen, wenn wir nicht wissen, dass die Familie wahrscheinlich mit einer recht großen Karawane zog. Sie waren sicherlich der Meinung, dass Jesus sich mit einigen Gleichaltrigen für die Reise zusammengetan hatte.
Ehe wir Josef und Maria verurteilen, sollten wir uns erinnern, wie leicht es für uns ist, »eine Tagereise weit« zu reisen, und zu meinen, »er sei unter der Reisegesellschaft«, wenn wir in Wirklichkeit den Kontakt durch eine Sünde, die wir nicht bekannten, verloren haben. Um den Kontakt mit ihm wiederherzustellen, müssen wir an den Ort zurückkehren, an dem die Gemeinschaft gestört wurde, und dann die Sünde bekennen sowie loslassen.
2,45-47 Als die verzweifelten Eltern »nach Jerusalem« zurückkamen, fanden sie Jesus »im Tempel …, wie er inmitten der Lehrer saß und ihnen zuhörte und sie befragte«. Hier wird nicht im Geringsten angedeutet, dass Jesus wie ein ungezogenes Kind gehandelt hat, das seine Lehrer herausfordert. Vielmehr nahm er seinen Platz als normales Kind ein und lernte in Demut und Stille von seinen Lehrern. Und doch musste er im Laufe des Unterrichtes einiges Außergewöhnliche gesagt haben, weil die Menschen »außer sich gerieten über sein Verständnis und seine Antworten«.
2,48 Sogar seine Eltern »wurden bestürzt«, als sie Jesus so verständig an der Diskussion mit Menschen teilnehmen sahen, die so viel älter und erfahrener als er waren. Seine Mutter drückte nun ihre angestaute Angst und Sorge durch einen Tadel aus. Wusste er denn nicht, dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatten?
2,49 Die Antwort des Herrn (seine ersten uns überlieferten Worte) zeigt, dass er genau wusste, dass er der Sohn Gottes war und welche Aufgabe er als solcher hatte. »Was ist der Grund dafür, dass ihr mich gesucht habt? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?« Sie hatte gesagt: »Dein Vater und ich.« Er sagte: »Was meines Vaters ist.«
2,50 Zu dieser Zeit »verstanden sie … nicht«, was er mit seiner knappen Bemerkung gemeint hatte. Es war recht ungewöhnlich, dass ein Zwölfjähriger so redete!
2,51 Jedenfalls waren sie wieder zusammen und konnten nach Nazareth zurückkehren. Die sittliche Größe Jesu zeigt sich in den Worten: »Er war ihnen untertan.« Obwohl er der Schöpfer des Universums war, nahm er doch seinen Platz als gehorsames Kind dieser einfachen jüdischen Familie ein. Doch die ganze Zeit »bewahrte« Maria »alle diese Worte in ihrem Herzen«.
2,52 Auch hier werden wieder das echte Menschsein und die normale Entwicklung unseres Herrn gezeigt: 1. Seine geistige Entwicklung – »nahm zu an Weisheit«.
2. Seine leibliche Entwicklung – »nahm zu an … Alter«.
3. Seine geistliche Entwicklung – »nahm zu an … Gunst bei Gott«. 4. Seine soziale Entwicklung – »nahm zu an … Gunst bei … Menschen«. Er war in jeder Hinsicht in seiner Entwicklung vollkommen. Hier übergeht nun Lukas stillschweigend 18 Jahre in seiner Erzählung, die der Herr Jesus in Nazareth als Sohn des Zimmermanns verbrachte. Diese Jahre lehren uns die Bedeutung von Vorbereitung und Unterweisung, die Notwendigkeit der Geduld und den Wert der gewöhnlichen Arbeit. Sie warnen uns vor der Versuchung, nach der Wiedergeburt sogleich in einen öffentlichen Dienst zu gehen. Diejenigen, die keine normale geistliche Kindheit und Jugend durchmachen, laden sich für ihr späteres Leben und Zeugnis das Scheitern geradezu ein.
III. Die Vorbereitung des Menschensohnes auf den Dienst (3,1 – 4,30) A. Die Vorbereitung durch seinen Vorläufer (3,1-20)
3,1.2 Als Historiker bezeichnet Lukas das »Jahr«, in dem Johannes zu predigen begann, indem er die politischen und religiösen Führer nennt, die zu der Zeit an der Macht waren – ein Kaiser (Cäsar), ein »Statthalter«, drei mit dem Titel »Vierfürst« und zwei Hohepriester. Die politischen Machthaber, die erwähnt werden, zeigen, mit welch eisernem Griff das Volk Israel in Unterdrückung gehalten wurde. Die Tatsache, dass es zwei Hohepriester in Israel gab, zeigt, dass das Volk sowohl auf religiösem als auch auf politischem Gebiet in Unordnung geraten war. Obwohl sie in den Augen der Welt hoch angesehen waren, waren sie in Gottes Augen böse, skrupellose Männer. Deshalb ging Gott, als er zu den Menschen sprechen wollte, am Palast und der Synagoge vorbei und sandte seine Botschaft »zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste«.
3,3 Johannes begab sich sofort »in die ganze Landschaft am Jordan«, wahrscheinlich in die Nähe von Jericho. Dort rief er das Volk Israel zur Buße auf, damit es »Vergebung der Sünden« empfangen konnte und für das Kommen des Messias bereit war. Er rief die Menschen auch auf, sich als äußeres Zeichen ihrer echten Buße taufen zu lassen. Johannes war ein echter Prophet, ein personifiziertes Gewissen des Volkes, indem er gegen die Sünde predigte und zu einer geistlichen Erneuerung aufrief.
3,4 Sein Dienst geschah also in Erfüllung der Prophezeiung in Jesaja 40,3-5. Er war die »Stimme eines Rufenden in der Wüste«. Geistlich gesprochen war Israel zu dieser Zeit eine »Wüste«. Als Volk war es freudlos und brachte Gott keine Frucht mehr. Um für das Kommen des Herrn vorbereitet zu sein, musste das Volk eine sittliche Veränderung durchleben. Wenn ein König in diesen Tagen seinen Besuch abstattete, wurden überall sorgfältig die Straßen vorbereitet, indem man sie glättete, damit seine Ankunft so einfach wie möglich sein konnte. Dazu rief Johannes das Volk auf, doch ging es nicht darum, irdische Straßen instand zu setzen, sondern das eigene Herz für die Aufnahme Jesu vorzubereiten.
3,5 Die Auswirkungen des Kommens Christi werden wie folgt beschrieben: »Jedes Tal wird ausgefüllt« – wer wirklich Buße tat und demütig war, sollte gerettet werden und volle Genüge haben. »Jeder Berg und Hügel« wird »erniedrigt werden« – Menschen wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die hochnäsig und arrogant waren, sollten gedemütigt werden.
»Das Krumme wird zum geraden Weg« – der Charakter der Unehrlichen, zu denen mancher Zolleinnehmer gehörte, sollte geradlinig gemacht werden. »Die holprigen« sollten »zu ebenen Wegen werden« – Soldaten und andere mit einem rauen, derben Wesen sollten charakterlich veredelt und geläutert werden.
3,6 Das endgültige Resultat sollte sein, dass »alles Fleisch« – sowohl Juden als auch Heiden – »das Heil Gottes sehen« sollten. Bei dem ersten Kommen Jesu ging das Angebot der Errettung an alle Menschen, wenn ihn auch nicht alle annahmen. Wenn er wiederkommt, um zu regieren, dann wird dieser Vers vollkommen erfüllt werden. Dann wird ganz Israel gerettet werden, und auch die Heiden werden an den Segnungen seines herrlichen Reiches teilhaben.
3,7 Als »die Volksmengen … hinausgingen«, um von Johannes getauft zu werden, erkannte er, dass nicht alle ehrlich waren. Einige waren Heuchler, die weder Hunger noch Durst nach Gerechtigkeit hatten. Diese bezeichnete Johannes als »Otternbrut«. Die Frage: »Wer hat euch gewiesen, dem kommenden Zorn zu entfliehen?«, bedeutet, dass Johannes selbst es nicht gewesen ist. Seine Botschaft war an die gerichtet, die gewillt waren, ihre Sünden zu bekennen.
3,8 Wenn sie es wirklich ernst mit Gott meinen würden, dann sollten sie zeigen, dass sie wirklich Buße getan hatten, indem sie ein verändertes Leben führten. Echte Buße bringt »Früchte«. Sie sollten nicht meinen, dass ihre Abstammung von »Abraham« ausreiche; Verwandtschaft mit gottesfürchtigen Menschen macht einen selbst noch nicht fromm.
3,9 »Die Axt«, die »an die Wurzel der Bäume gelegt« ist, ist ein bildlicher Ausdruck und bedeutet, dass das Kommen Christi die Echtheit der Buße der Menschen erproben würde. Diejenigen, die nicht die Früchte der Buße brächten, würden verdammt werden.
Die Worte und Ausdrücke des Johannes kamen aus seinem Munde wie Schwerter: »Otternbrut«, »kommender Zorn«, »Axt«, »abhauen« und »ins Feuer werfen«. Die Propheten des Herrn redeten niemals sanft und säuselnd: Sie stellten hohe moralische Ansprüche, und oft schlugen ihre Worte auf das Volk ein, wie die Streitäxte unserer Vorfahren auf die Helme ihrer Feinde. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
3,10 Die Menschen wurden ihrer Sünden überführt und »fragten« Johannes nach praktischen Vorschlägen, wie sie die Echtheit ihrer Buße zeigen sollten.
3,11-14 In den Versen 11-14 nannte er ihnen im Einzelnen Möglichkeiten, wie sie ihre Ehrlichkeit beweisen konnten. Im Allgemeinen sollten sie ihre Nächsten wie sich selbst lieben, indem sie Kleidung und »Speise« mit den Armen teilen sollten. Soweit es die »Zöllner« betraf, sollten sie in allen ihren Handlungen absolut ehrlich sein. Weil sie als Personenkreis für ihre Betrügereien bekannt waren, wäre das ein besonderer Beweis für ihre echte Bekehrung.
Und schließlich sollten die Soldaten im aktiven Dienst drei häufig in ihren Reihen vorkommende Sünden meiden – Erpressung, Gewalttätigkeit und Unzufriedenheit. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Menschen nicht dadurch gerettet wurden, dass sie diese Dinge taten. Das war nur ein äußeres Zeichen dafür, dass ihre Herzen vor Gott gerecht waren.
3,15.16a Die Selbsterkenntnis des Johannes war bemerkenswert. Wenigstens für eine Zeit hätte er als Messias gelten und so eine große Gefolgschaft hinter sich scharen können. Doch stattdessen stellte er einen für ihn sehr ungünstigen Vergleich mit Christus an. Er erklärte, dass seine Taufe nur äußerlich und leiblich war, während die Taufe des Christus innerlich und geistlich war. Er stellte fest, dass er »nicht würdig« sei, dem Messias »den Riemen seiner Sandalen zu lösen«.
3,16b.17 Die Taufe Christi sollte mit »Heiligem Geist und Feuer« geschehen. Er würde einen doppelten Dienst tun. Zuerst würde er die Gläubigen »mit Heiligem Geist taufen« – eine Verheißung, die am Pfingsttag erfüllt werden würde, an dem alle Gläubigen in den Leib Christi getauft wurden. Aber als Zweites würde er mit »Feuer taufen«.
Aus Vers 17 scheint deutlich zu werden, dass die Taufe »mit … Feuer« eine Gerichtstaufe ist. Hier wird der Herr als Worfler dargestellt, der das Korn reinigt. Er wirft das Korn in die Luft, und »die Spreu« wird vom Wind an den Rand der Tenne geweht. Dort wird sie zusammengekehrt und verbrannt.
Als Johannes vor einer gemischten  –  d. h.  aus  Gläubigen  und  aus  Ungläubigen bestehenden – Volksmenge sprach, erwähnte er sowohl die Taufe mit dem Geist als auch die Taufe mit Feuer (Matth 3,11 und hier). Als er jedoch nur zu Gläubigen sprach (Mk 1,5) ließ er die Taufe mit Feuer aus (Mk 1,8). Kein echter Gläubiger wird je die Feuertaufe erleben müssen.
3,18-20 Lukas ist nun bereit, seine Aufmerksamkeit von Johannes auf Jesus hin zu verlagern. Deshalb fasst er in diesen Versen den restlichen Dienst des Johannes zusammen und nimmt uns schon in die Zeit seiner Gefangenschaft unter »Herodes« mit. Die Gefangennahme des Johannes fand in Wirklichkeit jedoch erst achtzehn Monate später statt. Johannes hatte Herodes dafür »zurechtgewiesen«, dass er in einer ehebrecherischen Beziehung mit seiner Schwägerin lebte. »Herodes« krönte seine Untaten dadurch, »dass er Johannes ins Gefängnis einschloss«. B. Vorbereitung durch die Taufe (3,21.22)
3,21.22 Johannes wird nun unserer Aufmerksamkeit entzogen, dafür kommt der Herr Jesus mehr ins Blickfeld. Er beginnt sein öffentliches Wirken im Alter von etwa dreißig Jahren mit der Taufe im Jordan.
Es gibt einige interessante Punkte in diesem Bericht über die Taufe Jesu: 1. Alle drei Personen der Dreieinheit sind  anwesend:  »Jesus«  (V. 21),  der »Heilige Geist« (V. 22a) und der Vater (V. 22b).
2. Nur Lukas berichtet von der Tatsache, dass Jesus bei seiner Taufe »betete«  (V. 21).  Das  stimmt  mit  dem Ziel des Lukas überein, Jesus als den Menschensohn darzustellen, der immer von Gott dem Vater abhängig ist. Das Gebetsleben unseres Herrn ist eines der Hauptthemen dieses Evangeliums. Er betete hier zu Beginn seines öffentlichen Wirkens. Er betete, als er bekannt wurde und viele Menschen ihm nachfolgten (Kap. 5,16). Er verbrachte eine ganze Nacht im Gebet, ehe er die zwölf Jünger auswählte Die Ausleger glauben aus folgenden Gründen allgemein, dass dieser Stammbaum Jesu die Linie über Maria wiedergibt:
1. Der offensichtlichste Grund lautet, dass die Familienlinie Josefs im Matthäusevangelium (Matth 1,2-16) wiedergegeben ist.
2. In den ersten Kapiteln des Lukasevangeliums ist Maria wichtiger als Josef, während es im Matthäusevangelium umgekehrt ist.
3. Die Namen von Frauen wurden normalerweise nicht bei den Juden als Teil eines Stammbaums angegeben. Das würde erklären, warum Maria hier nicht mit Namen genannt ist. 4. In Matthäus 1,16 heißt es ausdrücklich, dass Jakob Josef gezeugt hat. Hier in Lukas heißt es nicht, dass Eli Josef gezeugt hat, sondern dass Josef der Sohn Elis ist. Sohn könnte hier Schwiegersohn bedeuten.
5. In der Sprache der Stammbäume erscheint der definitive Artikel (tou) im Genitiv (des) vor jedem Namen im Stammbaum außer vor einem, nämlich vor dem Namen Josefs. Diese Ausnahme bedeutet wahrscheinlich, dass Josef nur deshalb hier erscheint, weil er mit Maria verheiratet war. Obwohl es nicht notwendig ist, diesen Stammbaum in allen Einzelheiten zu studieren, ist es hilfreich, einige wichtige Punkte festzuhalten:
1. Diese Liste zeigt, dass Maria über »Nathan« von »David« abstammt (V. 31).  Im  Matthäusevangelium  erbt Jesus die rechtliche Thronfolge durch Salomo. Als rechtlicher Sohn Josefs erfüllte der Herr diesen Teil des Bundes Gottes mit David, demzufolge der Thron ihm immer gehören würde. Doch Jesus konnte nicht der leibliche Sohn Josefs werden, ohne unter den Fluch Gottes über Konja (auch unter dem Namen Jojachin bekannt) zu kommen. Nach diesem Fluch würde kein Nachkomme dieses bösen Königs je herrschen (Jer 22,30). Als leiblicher Sohn Marias erfüllte Jesus den Teil des Bundes Gottes mit David, in dem er ihm verhieß, dass sein Same für immer auf dem Thron sitzen würde. Und dadurch, dass Jesus über Nathan von David abstammte, stand er nicht unter dem Fluch, der über Konja ausgesprochen worden war. 2. »Adam« wird als »des Gottes« bezeichnet (V. 38). Damit ist einfach gemeint, dass er von Gott geschaffen wurde.
3. Es scheint offensichtlich zu sein, dass die messianische Linie mit Jesus endete. Niemand sonst kann je einen legalen Anspruch auf den Thron Davids erheben.
D. Vorbereitung durch Versuchung (4,1-13)
4,1 Es gab keinen Zeitpunkt im Leben unseres Herrn, zu dem er nicht mit Heiligem Geist erfüllt gewesen wäre, doch diese Tatsache wird hier im Zusammenhang mit seiner Versuchung noch einmal besonders erwähnt. »Voll Heiligen Geistes« zu sein, bedeutet, dass man ihm vollkommen hingegeben ist und jedem Wort Gottes vollkommen gehorcht. Wer mit dem Heiligen Geist erfüllt ist duldet in seinem Leben keine bewusste Sünde und ist frei vom eigenen Ich, außerdem wohnt das Wort Gottes reichlich in ihm. Als Jesus »vom Jordan zurückkehrte«, wo er getauft worden war, wurde er »durch den Geist« in die Wüste geführt – wahrscheinlich in die Wüste Judäas an der Westküste des Toten Meeres.
4,2.3 Hier wurde er »vierzig Tage« lang »von dem Teufel versucht« – vierzig Tage, in denen der Herr »nichts aß«. Am Ende der vierzig Tage kam die dreifache Versuchung, die uns vertrauter ist. Die drei Versuchungen fanden in Wirklichkeit an drei verschiedenen Orten statt – in der Wüste, auf einem Berg und auf der Zinne des Tempels in Jerusalem. Das wahre Menschsein Jesu wird mit den Worten »ihn hungerte« ausgedrückt. Das war auch das Ziel der ersten Versuchung. Satan flüsterte dem Herrn ein, er solle seine göttliche Macht benutzen, um seinen leiblichen Hunger zu stillen. Das Hinterhältige an dieser Verführung war, dass die Tat an sich völlig gerechtfertigt gewesen wäre. Doch wäre es eine Sünde gewesen, wenn Jesus es im Gehorsam gegenüber Satan getan hätte. Er durfte nur in Übereinstimmung mit dem Willen seines Vaters handeln.
4,4 Jesus widerstand der Versuchung, indem er aus der Schrift zitierte (5. Mose  8,3).  Wichtiger  als  die  Befriedigung leiblicher Bedürfnisse ist der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes. Er diskutierte nicht mit Satan. Darby sagt: »Eine einzige Zeile bringt Satan zum Schweigen, wenn sie in der Macht des Heiligen Geistes zitiert wird. Das ganze Geheimnis der Macht in Anfechtung ist die richtige Anwendung des Wortes Gottes.«
4,5-7 In der zweiten Versuchung »zeigte« Satan Jesus »in einem Augenblick alle Reiche des Erdkreises«. Satan braucht nicht lange, um alles zu zeigen, was er anzubieten hat. Es war nicht die Welt selbst, sondern die »Reiche« dieser Welt, die er anbot. In gewissem Sinne hat Satan die »Macht« über die Reiche dieser Welt. Weil der Mensch in Sünde fiel, ist Satan zum »Fürst dieser Welt« (Joh 12,31; 14,30; 16,11),  »Gott  dieser  Welt«  (2. Kor  4,4) und zum »Fürsten der Macht der Luft« (Eph 2,2) geworden. Gott hat bestimmt, dass »das Reich dieser Welt« einst »das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus« wird (Offb 11,15). So bot Satan Jesus nur das an, was er auch ohne ihn erhalten sollte.
Doch es gab für ihn keine Abkürzung zum Thron. Zuerst kam für ihn das Kreuz. Nach dem Ratschluss Gottes musste der Herr Jesus leiden, ehe er in seine Herrlichkeit eingehen konnte. Er konnte nicht ein legitimes Ziel verfolgen und dabei illegitime Mittel verwenden. Unter keinerlei Umständen würde Jesus Satan »anbeten«, ganz gleich, welchen Preis er für seine Weigerung zahlen musste. 4,8 Deshalb führt der Herr 5. Mose 6,13 an, um zu zeigen, dass er als Mensch nur Gott allein »anbeten« und ihm »dienen« sollte.
4,9-11 In der dritten Versuchung nahm Satan Jesus mit »nach Jerusalem … auf die Zinne des Tempels« und wollte ihn dazu bringen, sich hinunterzuwerfen. Hatte nicht Gott selbst in Psalm 91,11.12 verheißen, dass er den Messias bewahren würde? Vielleicht wollte Satan Jesus dazu verführen, sich als Messias zu zeigen, indem er diese Wunder vollbrachte. Maleachi hatte vorausgesagt, dass der Messias plötzlich zu seinem Tempel kommen würde (Mal 3,1). Hier war nun Jesus die Möglichkeit gegeben, Ruhm und Berühmtheit als der verheißene Befreier zu erlangen, ohne nach Golgatha zu gehen.
4,12 Zum dritten Mal widerstand Jesus der Versuchung, indem er die Bibel zitierte. 5. Mose 6,16 verbietet, Gott auf die Probe zu stellen.
4,13 Durch das Schwert des Geistes abgewehrt, verließ »der Teufel« Jesus »für eine Zeit«. Versuchungen kommen meist gehäuft, nicht jedoch im ständigen Fluss. Einige Punkte sollten noch im Zusammenhang mit der Versuchung erwähnt werden:
1. Die Reihenfolge bei Lukas unterscheidet sich von der bei Matthäus. Die zweite und die dritte Versuchung sind vertauscht, der Grund dafür ist nicht bekannt.
2. In allen drei Fällen war das Ziel an sich nicht schlecht, wohl aber das Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Es ist immer falsch, Satan zu gehorchen und ihn oder ein anderes Geschöpf anzubeten. Es ist verkehrt, Gott zu versuchen.
3. Die erste Versuchung betraf den Leib, die zweite die Seele, die dritte den Geist. Sie sprachen jeweils die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und den Hochmut des Lebens an.
4. Die drei Versuchungen drehen sich um die drei stärksten Triebe im menschlichen Leben – um leiblichen Hunger, um das Verlangen nach Macht und um Besitz sowie das Streben nach öffent licher Anerkennung. Wie oft werden Jünger versucht, einen Weg der Bequemlichkeit und Behaglichkeit zu gehen, in der Welt Berühmtheit zu erlangen und eine hohe Position in der Christenheit anzustreben. 5. In allen drei Versuchungen benutzte Satan religiöse Sprache und verschleierte seine Versuchungen mit einem Gewand äußerlicher Ehrbarkeit. Er zitierte sogar die Schrift (V. 10.11). James Stewart stellt dazu deutlich heraus:
Das Studium der Versuchungserzählung erhellt zwei wichtige Punkte. Auf der einen Seite beweist sie, dass Versuchung noch nicht Sünde ist. Auf der anderen Seite ist die Erzählung eine Illustration des großen Ausspruchs, den ein Jünger später niederschreiben sollte: »Worin er selbst gelitten hat, als er versucht worden ist, kann er denen helfen, die versucht werden« (Hebräer 2,18).11 Es wird manchmal behauptet, dass die Versuchung sinnlos gewesen sei, wenn Jesus nicht sündigen konnte. Die Tatsache ist jedoch, dass Jesus Gott ist, und Gott kann nicht sündigen. Der Herr Jesus hat niemals auf eine Eigenschaft der Gottheit verzichtet. Seine Göttlichkeit war während seines Erdenlebens zwar verhüllt, doch sie wurde und konnte nicht aufgegeben werden. Einige sagen, dass Jesus zwar als Gott nicht hätte sündigen können, als Mensch jedoch sehr wohl. Doch er ist immer Gott und Mensch, und es ist undenkbar, dass er sündigen könnte. Der Zweck seiner Versuchung war nicht festzustellen, ob er sündigen würde. Vielmehr bestand er in dem Beweis, dass er nicht sündigen konnte. Nur ein heiliger sündloser Mensch konnte unser Erlöser werden.
E. Vorbereitung durch Lehre (4,14-30)
4,14.15 Zwischen den Versen 13 und 14 liegt eine Zeitspanne von etwa einem Jahr. Während dieser Zeit diente der Herr in Judäa. Der einzige Bericht über die Zeit dieses Dienstes steht in Johannes 2 – 5. Als Jesus »in der Kraft des Geistes nach Galiläa« zurückkehrte, um das zweite Jahr seines öffentlichen Wirkens zu beginnen, verbreitete sich sein Ruf »durch die ganze Umgegend«. Als er »in ihren Synagogen lehrte«, war er überall anerkannt.
4,16-21 In »Nazareth« (in der Stadt, in der er seine Kindheit verbracht hatte) ging Jesus »nach seiner Gewohnheit am Sabbattag in die Synagoge«, d. h. am Samstag. Es gibt noch zwei andere Dinge, die Jesus regelmäßig tat. Er betete regelmäßig (Lk 22,39), und es war seine Gewohnheit, andere zu lehren (Mk 10,1). Bei einem Besuch der »Synagoge« erhob er sich, um aus dem AT »vorzulesen«. Der Synagogendiener reichte ihm die Schriftrolle mit den Prophezeiungen Jesajas. Der Herr rollte die Rolle bis zu der Stelle auf, die uns heute als Jesaja 61 bekannt ist, und las Vers 1 und die erste Hälfte von Vers 2. Dieser Abschnitt ist schon immer als eine Beschreibung des messianischen Dienstes gedeutet worden. Als Jesus sagte: »Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt«, sagte er auf die denkbar deutlichste Art, dass er der Messias Israels war. Man beachte die revolutionären Auswirkungen der Sendung des Messias. Er kam, um sich der großen Probleme anzunehmen, die die Menschheit während ihrer Geschichte bedrängt haben: – Armut: »Armen gute Botschaft zu verkündigen.«
– Leid: »Zu heilen die zerstoßenen Herzen« (LU 1912).
– Knechtschaft: »Er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen.« – Krankheit: »Blinden, dass sie wieder sehen.«
– Unterdrückung: »Zerschlagene in Freiheit hinzusenden.«
Kurz, er kam, »auszurufen ein angenehmes Jahr des Herrn« – den Beginn eines neuen Zeitalters für die seufzenden, weinenden Massen dieser Welt. Er stellte sich selbst als die Antwort auf alle Probleme, die uns quälen, vor. Und das gilt, gleich, ob wir diese Probleme im leiblichen oder geistlichen Bereich sehen. Christus ist die Antwort. Es ist bedeutsam, dass er mit den Worten: »… auszurufen ein angenehmes Jahr des Herrn« endete. Er fügte nicht mehr den Rest aus Jesaja hinzu: »… und den Tag der Rache für unsern Gott«. Der Zweck seines ersten Kommens war, ein angenehmes Jahr des Herrn zu predigen. Dieses gegenwärtige Zeitalter der Gnade ist die angenehme Zeit und der Tag der Errettung. Wenn der Herr Jesus auf die Erde zurückkommt, dann wird er den Tag der Rache für unseren Gott ausrufen. Man beachte, dass die »angenehme« Zeit im Gegensatz zum »Tag der Rache« ein »Jahr« ist.
4,22 Die Menschen waren offensichtlich beeindruckt. Sie sprachen positiv von ihm, angezogen von seinen »Worten der Gnade«. Es war ihnen ein Geheimnis, wie »der Sohn Josefs«, der Zimmermann, eine solche Entwicklung hatte nehmen können.
4,23 Der Herr wusste jedoch, dass seine Popularität nur oberflächlich war. Man schätzte ihn nicht wegen seiner Eigenschaften oder seinem Wert. Für diese Menschen war er einfach derjenige, der zu den in ihrer Stadt Aufgewachsenen gehörte und der in Kapernaum Gutes getan hatte. Er sah voraus, dass sie ihm »sagen« würden: »Arzt, heile dich selbst!« Normalerweise würde dieses Bild heißen: »Tu für dich selbst, was du für andere getan hast. Verbessere deinen eigenen Zustand, wenn du behauptest, anderen helfen zu können.« Doch hier ist die Bedeutung ein wenig anders. Sie wird durch die folgenden Worte erklärt: »Alles, was wir gehört haben, dass es in Kapernaum geschehen sei, tu auch hier in deiner Vaterstadt« (d. h. in Nazareth). Es war eine zornige Forderung, auch in Nazareth die Wunder zu tun, die er anderenorts getan hatte, und sich so vor Spott zu bewahren.
4,24-27 Der Herr antwortete, indem er ein tief verwurzeltes Prinzip in menschlichen Angelegenheiten erwähnte: Große Männer werden in ihrer Heimat nur selten anerkannt. Er zitierte dann zwei Ereignisse des AT, in denen die Propheten Gottes vom Volk Israel nicht angenommen wurden und deshalb zu den Heiden gesandt wurden. Als »eine große Hungersnot« in Israel war, wurde »Elia« zu keiner jüdischen »Witwe« – und davon gab es genug – sondern zu einer heidnischen »gesandt«. Und obwohl es »viele Aussätzige … in Israel« gab, als Elisa seinen Dienst tat, wurde er zu keinem von ihnen gesandt. Stattdessen wurde er zu dem Heiden Naaman gesandt, dem Befehlshaber der syrischen Armee. Man stelle sich den Eindruck vor, den die Worte Jesu auf die Juden gemacht haben müssen. Bei ihnen standen Frauen, Heiden und Aussätzige ganz unten auf der sozialen Skala. Doch der Herr setzte sie alle drei hier über ungläubige Juden! Er wollte damit sagen, dass sich die Geschichte des AT bald wiederholen würde. Trotz aller seiner Wunder würde er nicht nur von der Stadt Nazareth, sondern von den meisten Angehörigen des Volkes Israel abgelehnt werden. Er würde sich dann zu den Heiden wenden, so wie Elia und Elisa es getan hatten.
4,28 Die Menschen in Nazareth verstanden genau, was er meinte. Sie waren schon über die Vorstellung erbost, dass den Heiden Gnade erwiesen werden würde. Bischof Ryle kommentiert: Der Mensch hasst die Lehre von der Souveränität Gottes, die Christus hier verkündet. Gott hatte keinerlei Verpflichtung, auch unter diesen Leuten Wunder zu tun.12
4,29.30 Die Menschen »stießen ihn zur Stadt hinaus … an den Rand des Berges«, und wollten ihn »hinabstürzen«. Zweifellos war dies ein weiterer Versuch Satans, den königlichen Erben zu vernichten. Doch Jesus ging auf wunderbare Weise unbehelligt durch die Menschenmenge und verließ die Stadt. Seine Feinde konnten ihn nicht halten. Soweit wir wissen, kehrte er nie mehr nach Nazareth zurück. IV. Der Menschensohn beweist seine Macht (4,31 – 5,26)
A. Die Macht über einen unreinen Geist (4,31-37)
4,31-34 Der Schaden Nazareths war Gewinn für Kapernaum. Die Menschen der letzteren Stadt erkannten, dass Jesu Lehre vollmächtig war. Seine Worte waren überzeugend. Die Verse 31-41 beschreiben einen typischen Sabbat im Leben des Herrn. Sie zeigen ihn als Meister über Dämonen und Krankheit. Erst ging er in die »Synagoge« und traf dort auf einen »Menschen« mit einem »unreinen Dämon«. Das Adjektiv »unrein« wird häufig benutzt, um böse Geister zu beschreiben. Es bedeutet, dass sie selbst unrein sind und im Leben ihrer Opfer Unreinheit verbreiten. Die Möglichkeit von dämonischer Besessenheit wird in diesem Abschnitt deutlich. Zuerst schrie der Dämon vor Angst: »Ach, was haben wir mit dir zu schaffen?« Dann zeigte der Dämon, dass er genau wusste, dass Jesus »der Heilige Gottes« ist, der schließlich die Heerscharen Satans vernichten wird.
4,35 Jesus befahl dem Dämon zweierlei: »Verstumme und fahre aus von ihm!« Das tat der Dämon, nachdem er den Mann zu Boden geworfen hatte. Dabei war dem Mann jedoch nichts geschehen.
4,36.37 Die Menschen waren erstaunt. Was war an Jesu Worten so anders, dass ihm die »unreinen Geister« gehorchten? Was war das für eine undefinierbare »Vollmacht und Kraft«, mit der er sprach? Kein Wunder, dass »die Kunde von ihm« sich »in jeden Ort der Umgegend« verbreitete!
Alle Wunder Jesu, die den Leib betreffen, sind Bilder für entsprechende Wunder, die er im geistlichen Bereich tut. So lehren uns die folgenden Wunder bei Lukas diese geistlichen Lektionen: – Austreiben eines unreinen Geistes C. Macht über Krankheit und Dämonen (4,40.41)
4,40 Als der Sabbat sich dem Ende näherte, waren die Menschen von ihrer erzwungenen Untätigkeit befreit. Nun »brachten« sie eine große Menge Behinderter und Besessener »zu ihm«. Niemand kam vergeblich. Er »heilte« jeden Kranken und trieb die Dämonen aus. Viele derjenigen, die von sich behaupten, Glaubensheilungen zu vollbringen, beschränken ihre Wunder auf vorher ausgewählte Kandidaten. Doch Jesus heilte jeden.
4,41 Die ausgetriebenen »Dämonen« wussten, dass Jesus »der Sohn Gottes …, der Christus« ist. Doch er wollte nicht das Zeugnis von Dämonen annehmen. Sie mussten zum Schweigen gebracht werden. »Sie wussten, dass er der« Messias war, doch Gott hat andere und bessere Werkzeuge, um diese Tatsache zu verkünden.
D. Vollmacht durch Wanderpredigt (4,42-44)
4,42-44 Am nächsten Tag zog Jesus sich »an einen einsamen Ort« in der Nähe von Kapernaum zurück. »Die Volksmengen suchten ihn«, bis sie ihn fanden. Sie drängten ihn, nicht zu gehen. »Er aber« erinnerte sie daran, dass er in »den anderen Städten« Galiläas noch eine Aufgabe hatte. So ging er von Synagoge zu Syna goge und »predigte« die Gute Nachricht »vom Reich Gottes«. Jesus selbst war der König. Er wollte die Angehörigen des Volkes gern regieren, doch vorher mussten sie sich bekehren. Er wollte nicht über Menschen herrschen, die an ihren Sünden festhielten. Das war das Hindernis: Sie wollten sich zwar von ihren politischen Problemen erlösen lassen, doch nicht von ihren Sünden.
E. Vollmacht durch die Unterweisung anderer: Die Berufung der Jünger (5,1-11)
5,1-11 Einige wichtige Lehren können wir aus diesem einfachen Bericht über die Berufung des Petrus ziehen: 1. Der Herr benutzte das Schiff des Petrus als Kanzel, von der aus er die »Volksmenge« lehrte. Wenn wir all unseren Besitz und unser Eigentum dem Erlöser ausliefern, ist es wundervoll, wie er beides benutzt und uns auch dafür belohnt.
2. Er konnte Petrus ganz genau sagen, wo es viele Fische zu fangen gab, nachdem Petrus und die anderen sich »die ganze Nacht« ohne Erfolg gemüht hatten. Der allwissende Herr weiß, wo die Fische schwimmen. Dienst, den wir in unserer eigenen Weisheit und Kraft tun, ist vergeblich. Das Geheimnis des Erfolges christlicher Arbeit ist die Leitung durch Jesus.
3. Obwohl Petrus selbst ein erfahrener Fischer war, nahm er den Rat eines Zimmermanns an. Als Ergebnis hatte er volle Netze. »… aber auf dein Wort will ich die Netze hinablassen«. Das zeigt den Wert von Demut, Belehrbarkeit und Gehorsam.
4. In tiefem Wasser wurden die Netze bis zum Zerreißen gefüllt. So sollen auch wir das sichere Ufer loslassen und uns »auf die Tiefe« der vollen Hingabe wagen. Der Glaube hat seine Tiefen in Leid, Angst und Verlust. Doch gerade diese füllen die Netze mit Fruchtbarkeit.
5. »Ihre Netze rissen«, und »sie drohten  zu  sinken«  (V. 6.7).  Dienst  unter der Leitung Christi verursacht Probleme – doch welch schöne Probleme sind das! Das sind die Probleme, die das Herz eines jeden echten Fischers höher schlagen lassen.
6. Die Erkenntnis der Herrlichkeit des Herrn Jesus ließ Petrus seine eigene Unzulänglichkeit spüren. So erging es auch Jesaja (Jes 6,5), und so geht es allen, die »den König schauen in seiner Schönheit« (Jes 33,17). 7. Als Petrus mit seiner gewöhnlichen Arbeit beschäftigt war, wurde er von Christus berufen, Menschenfischer zu werden. Während man auf Führung wartet, sollte man tun, was man gerade kann. Tu es von ganzem Herzen! Tu es von Herzen dem Herrn! So wie ein Ruder nur ein Schiff steuern kann, das sich bewegt, leitet Gott nur Menschen, wenn sie in Bewegung sind. 8. Christus berief Petrus vom Fischfang dazu, »Menschen (zu) fangen«, oder wörtlicher: »zum Einfangen lebendiger Menschen«. Was sind alle Fische des Ozeans verglichen mit dem unvergleichlichen Vorrecht, auch nur einen Menschen zu sehen, der für Christus und für die Ewigkeit errettet wird! 9. Petrus, Jakobus und Johannes zogen ihre Boote an den Strand und »verließen alles und folgten« Jesus an einem ihrer besten Geschäftstage nach. Und wie viel hing von ihrer Entscheidung ab! Wir hätten vermutlich nie von ihnen gehört, wenn sie bei ihren Booten geblieben wären.
F. Macht über den Aussatz (5,12-16)
5,12 Der Arzt Lukas erwähnt nun besonders die Tatsache, dass der hier beschriebene »Mann voll Aussatz« war. Es war ein fortgeschrittenes Stadium der Krankheit, menschlich gesprochen ziemlich aussichtslos. Der Glaube des Aussätzigen war bemerkenswert. Er sagte: »Du kannst mich reinigen.« Er hätte das zu keinem anderen Menschen der Welt sagen können. Doch er hatte absolutes Vertrauen auf die Macht des Herrn. Als er sagte: »Wenn du willst …«, drückte er damit keinen Zweifel an der Bereitschaft Jesu aus. Er kam als Bittsteller, der kein Recht auf Heilung hatte, sich jedoch ganz auf die Gnade und Barmherzigkeit des Herrn warf.
5,13 Einen Aussätzigen zu berühren, war medizinisch gesehen nicht ganz ungefährlich, verunreinigte religiös und entehrte sozial. Doch der Erlöser zog sich keinerlei Verunreinigung zu. Stattdessen strömte in den Körper des Aussätzigen eine Welle von Heilung und Gesundheit. Es war keine allmähliche Heilung: »Sogleich wich der Aussatz von ihm.« Man denke, was das für diesen hoffnungsund hilflosen Aussätzigen bedeutet haben muss, in einem einzigen Augenblick geheilt zu sein!
5,14 Jesus »gebot ihm, … niemand« von seiner Heilung zu erzählen. Der Herr wollte nicht lauter Neugierige anlocken oder eine Volksbewegung in Gang setzen, die ihn zum König machen wollte. Stattdessen gab er ihm den Auftrag, zum »Priester« zu gehen und das von »Mose gebotene« Opfer zu bringen (3. Mose 14,4). Jede Einzelheit dieses Opfers spricht von Christus. Es war die Aufgabe des Priesters, den Aussätzigen zu untersuchen und zu bestimmen, ob er wirklich geheilt worden war. Der Priester konnte nicht heilen, sondern nur für geheilt erklären. Dieser Priester hatte nie zuvor einen geheilten Aussätzigen gesehen. Dieser Anblick war einzigartig; dadurch hätte der betreffende Priester erkennen sollen, dass der Messias gekommen war. Es hätte ein »Zeugnis« für alle Priester sein müssen. Doch ihre Herzen waren durch ihren Unglauben verblendet.
5,15.16 Trotz des Verbotes, das Wunder öffentlich weiterzusagen, verbreitete sich die Nachricht davon schnell und »große Volksmengen versammelten sich, ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden«. Jesus »zog sich« oft »in einsame Gegenden« zurück, um eine Zeit im Gebet zu verbringen. Es ist angemessen, dass dieses Evangelium, das ihn als Menschensohn darstellt, mehr über sein Gebetsleben aussagt als jedes andere. G. Macht über Lähmung (5,17-26)
5,17 Als sich die Nachricht über den Dienst Jesu verbreitete, wurden ihm die »Pharisäer und Gesetzeslehrer« zunehmend feindlich gesinnt. Hier sehen wir, wie sie aus ganz »Galiläa« und aus anderen Gegenden gekommen waren und sich versammelten, offensichtlich mit dem Ziel, irgendeine Anklage gegen ihn zu finden. »Des Herrn Kraft war da«, um die Kranken zu heilen. In Wirklichkeit hatte Jesus immer die Heilungsmacht, doch waren die Umstände nicht immer günstig. In Nazareth zum Beispiel konnte er wegen des Unglaubens der Menschen nicht viele Machttaten vollbringen (Matth 13,58).
5,18.19 Vier »Männer« brachten einen Gelähmten »auf einem Bett« in das Haus, in dem Jesus lehrte. »Wegen der Volksmenge« konnten sie nicht zu ihm gelangen, deshalb kletterten sie über die Außentreppe auf das Dach des Hauses. Dann ließen sie den Mann durch eine Öffnung hinab, die sie gemacht hatten, indem sie einige Ziegel abdeckten.
5,20.21 Jesus »sah ihren Glauben«, der sie solche Mittel ergreifen ließ, um einen Not Leidenden zu ihm zu bringen. »Als er ihren Glauben sah«, das heißt den Glauben der vier und des Gelähmten, »sprach er« zu dem Gelähmten: »Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.« Diese bisher beispiellose Aussage verärgerte die »Schriftgelehrten und die Pharisäer«. Sie wussten, dass niemand außer »Gott … Sünde vergeben« kann. Da sie nicht zugeben wollten, dass Jesus Gott ist, erhoben sie ein Geschrei, dass Jesus lästere.
5,22.23 Der Herr jedoch fuhr fort, um ihnen zu beweisen, dass er dem Mann wirklich die Sünden vergeben hatte. Erst fragte er sie, was »leichter zu sagen« sei: »Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher?« In gewissem Sinne kann man das eine wie das andere leicht sagen, obwohl beides menschlich gesprochen unmöglich ist. Es geht hier darum, dass es einfacher ist, »Dir sind deine Sünden vergeben« zu sagen, weil man nicht nachweisen kann, dass es geschehen ist. Wenn man sagt: »Steh auf und geh umher«, dann ist es ganz leicht zu sehen, ob der Patient geheilt ist.
Die Pharisäer konnten nicht sehen, dass die Sünden des Mannes vergeben waren, deshalb wollten sie es nicht glauben. Daher vollbrachte Jesus ein Wunder, das sie sehen konnten, um ihnen zu beweisen, dass er dem Mann wirklich die Sünden vergeben hatte. Er gab dem Gelähmten die Fähigkeit zum Gehen zurück.
5,24 »Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben …« Der Titel »Sohn des Menschen« betont das vollkommene Menschsein des Herrn. In gewissem Sinne sind wir alle Menschensöhne, doch dieser Titel »der Sohn des Menschen« setzt Jesus von jedem anderen Menschen ab, der bisher gelebt hat. Er bezeichnet ihn als Menschen nach den Gedanken Gottes, einen, der moralisch vollkommen ist, der leiden, sein Blut vergießen und sterben würde, und als den Einen, dem die allumfassende Macht gegeben ist.
5,25 Im Gehorsam gegenüber Jesu Wort stand der Gelähmte auf, nahm seine Schlafmatte und ging nach Hause »und verherrlichte Gott«.
5,26 Die Angehörigen der Menge wurden buchstäblich von einem »Staunen« ergriffen und »verherrlichten Gott«, weil sie anerkannten, dass sie an diesem Tag Unglaubliches gesehen hatten, nämlich die Verkündigung der Vergebung und das Wunder, das die Vergebung bewies. V. Der Menschensohn erklärt seinen Dienst (5,27 – 6,49)
A. Die Berufung Levis (5,27.28)
5,27.28 Levi war ein jüdischer »Zöllner« der römischen Verwaltung. Solche Männer wurden von ihren jüdischen Landsleuten nicht nur aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Rom, sondern auch wegen ihrer Betrügereien gehasst. Eines Tages war Levi wieder bei der Arbeit, als Jesus vorbeikam und ihn einlud, sein Nachfolger zu werden. Es ist erstaunlich, wie spontan Levi »alles verließ, aufstand und ihm nachfolgte«. Man denke an die außerordentlichen Konsequenzen, die diese einfache Entscheidung nach sich zog. Levi (oder Matthäus) wurde der Autor des ersten Evangeliums. Es zahlt sich aus, auf Jesu Ruf zur Nachfolge zu hören. B. Warum der Menschensohn Sünder beruft (5,29-32)
5,29.30 Die Ausleger glauben, dass Levi drei Gründe gehabt hat, dieses »große Mahl« zu veranstalten. Er wollte den Herrn ehren, öffentlich seine neue Zugehörigkeit zu ihm bekennen und seine Freunde mit Jesus bekannt machen. Die meisten Juden hätten niemals mit einer Gruppe von »Zöllnern« gegessen. Jesus verband sich natürlich nicht mit ihren Sünden, noch tat er irgendetwas, das sein Zeugnis infrage stellen konnte, sondern er benutzte diese Gelegenheit, um zu lehren, zu ermahnen und zu segnen. »Und die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten«13 murrten dagegen, dass Jesus und seine Jünger mit diesen Verachteten, dem Abschaum der damaligen Gesellschaft, verkehrten.
5,31 Doch »Jesus antwortete«, dass seine Handlungen ganz im Einklang mit seiner Aufgabe in dieser Welt standen. Gesunde brauchen keinen Arzt, nur »die Kranken«.
5,32 Die Pharisäer betrachteten sich selbst als »gerecht«. Sie hatten kein Empfinden für ihre Sünde oder ihre Not. Deshalb konnten sie nicht von den Vorzügen des Dienstes unseres »großen Arztes« profitieren. Doch die Zöllner und Sünder erkannten, dass sie »Sünder« waren und von ihren Sünden errettet werden mussten. Für solche Leute ist der Heiland gekommen. Natürlich waren die Pharisäer nicht gerecht. Sie brauchten ebenso wie die Zöllner die Vergebung ihrer Sünde. Doch sie wollten ihre Sünden nicht bekennen und ihre Schuld zugeben. Und deshalb kritisierten sie den Arzt dafür, dass er zu ernsthaft kranken Menschen ging.
C. Warum die Jünger Jesu nicht fasteten (5,33-35)
5,33 Der nächste Schritt der Pharisäer bestand darin, Jesus über das Fasten zu befragen. »Die Jünger des Johannes« waren schließlich dem asketischen Leben ihres Meisters gefolgt. Und die Anhänger der Pharisäer hielten verschiedene Fastenzeiten ein. Doch die Jünger Jesu taten das nicht. Warum?
5,34-35 Die Antwort des Herrn lief darauf hinaus, dass es keinen Grund für seine Jünger zum Fasten gab, solange er noch »bei ihnen« war. Er verbindet hier das Fasten mit Leid und Trauer. Wenn er »von ihnen weggenommen sein« würde (das heißt gewalttätig, und zwar durch seinen Tod), dann würden seine Jünger als Ausdruck ihrer Trauer fasten. D. Drei Gleichnisse über das neue Zeitalter der Gnade (5,36-39)
5,36 Drei Gleichnisse folgen nun, die lehren, dass ein neues Zeitalter begonnen hat und es keine Vermischung des alten und des neuen geben kann.
Im ersten Gleichnis spricht das »alte Kleid« vom alten Zeitalter des Gesetzes, während das »neue Kleid« für das neue Zeitalter der Gnade steht. Sie sind nicht miteinander zu vereinbaren. Der Versuch, Gnade und Gesetz miteinander zu vermischen, verdirbt das neue Zeitalter, und die Gnade »passt nicht« zum alten, weder im Aussehen noch in der Vollmacht. J. N. Darby drückt das sehr gut aus: »Jesus wollte nicht das Christentum an das Judentum anflicken. Fleisch und Gesetz gehören zusammen, doch Gesetz und Gnade, Gottes Gerechtigkeit und diejenige des Menschen lassen sich nie miteinander vermischen.«
5,37.38 Das zweite Gleichnis lehrt, dass es töricht ist, »neuen Wein in alte Schläuche« zu füllen. Die Gärung des neuen Weines würde Druck auf die Schläuche ausüben, die nicht mehr elastisch und stark genug sind, um ihn auszuhalten. Die Schläuche bersten, und der Wein »selbst wird verschüttet«. Die veralteten Formen, Vorschriften, Traditionen und Riten des Judentums waren zu eng, um die Freude, den Überschwang und die Kraft des neuen Zeitalters auszuhalten. Der neue Wein wird in diesem Kapitel im unkonventionellen Handeln der vier Männer gesehen, die den Gelähmten zu Jesus brachten. Man sieht ihn auch in der Frische und dem Eifer Levis. »Die alten Schläuche« sind ein Bild für die Schwerfälligkeit und den kalten Formalismus der Pharisäer.
5,39 Das dritte Gleichnis sagt aus, dass keiner, der »alten« Wein »getrunken hat, neuen« bevorzugt, »denn er spricht: Der alte ist milde«. Dies ist ein Bild für das natürl iche Zögern der Menschen, das Alte für das Neue aufzugeben, das Judentum für das Christentum, das Gesetz für die Gnade, den Schatten für die Wirklichkeit. Wie Darby sagt: »Ein Mensch, der an die Formen, menschl ichen Einrichtungen und an die Religion der Vorväter gewöhnt ist, liebt selten die neuen Prinz ipien und die neue Macht des Reiches.«
E. Der Menschensohn ist der Herr des Sabbats (6,1-11)
6,1.2 Zwei Ereignisse, die beide an einem Sabbat geschahen, werden nun erzählt, um uns zu zeigen, dass der wachsende Widerstand der religiösen Führer seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das erste Ereignis fand am »zweitersten Sabbat« statt (so die wörtliche Übersetzung). Das erklärt sich wie folgt: Der erste Sabbat war der erste nach dem Passah. Der zweite war der nächste. Am zweiten Sabbat nach dem ersten gingen der Herr »und seine Jünger … durch die Saaten«. Die Jünger »pflückten« einige »Ähren« ab, rieben sie in ihren Handflächen »und aßen«. Die »Pharisäer« konnten eigentlich nichts dagegen haben, dass das Korn genommen wurde, das wurde im Gesetz eindeutig erlaubt  (5. Mose  23,25).  Sie  kritisierten, dass es »am Sabbat« geschah. Sie bezeichneten das Ährenpflücken als Erntearbeit und das Zerreiben als Drescharbeit.
6,3-5 Die Antwort des Herrn lautete, dass es niemals verboten ist, eine notwendige Arbeit am Sabbat zu tun. Er gebrauchte dazu ein Beispiel aus Davids Leben. Als David abgelehnt und verfolgt wurde, wurden er und seine Männer hungrig. Sie gingen »in das Haus Gottes« und aßen »die Schaubrote«, die normalerweise für die Priester bestimmt waren. Gott machte in Davids Fall eine Ausnahme. Israel lebte in Sünde. Es hatte seinen König abgelehnt. Das Gesetz über das Schaubrot sollte nie so sklavisch eingehalten werden, dass der von Gott eingesetzte König verhungern musste. Hier war nun eine ähnliche Situation. Christus und seine Jünger waren hungrig. Die Pharisäer hätten sie eher verhungern lassen, als sie am Sabbat Weizenähren pflücken zu sehen. Doch »der Sohn des Menschen ist Herr des Sabbats«. Er war derjenige, der das Gesetz gegeben hatte, und niemand war qualifizierter als er, seine wahre geistliche Bedeutung zu erkennen und es von Missverständnissen zu befreien.
6,6-8 Ein zweites Ereignis geschah »an einem anderen Sabbat« und betraf eine Wunderheilung. »Die Schriftgelehrten und die Pharisäer aber lauerten« und beobachteten Jesus ganz genau, um zu sehen, »ob er am Sabbat« einen Mann mit einer verdorrten Hand heilen würde. Aus ihrer vorherigen Erfahrung und ihrem Wissen über ihn hatten sie guten Grund, das von ihm anzunehmen. Der Herr enttäuschte sie nicht. Zuerst befahl er dem Mann, sich »in die Mitte« der Menge in der Synagoge zu stellen. Diese dramatische Handlung zog alle Aufmerksamkeit auf das folgende Geschehen.
6,9 Dann fragte Jesus seine Kritiker, ob es »erlaubt ist, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun«. Als korrekte Antwort hätten sie sagen müssen, dass es richtig war, am Sabbat Gutes zu tun, und verkehrt, Böses zu tun. Wenn es richtig war, Gutes zu tun, dann war es richtig, den Mann zu heilen. Wenn es verkehrt war, am Sabbat Böses zu tun, dann brachen sie das Sabbatgebot, indem sie am Sabbat seinen Tod planten.
6,10 Von seinen Feinden antwortete keiner. Jesus befahl dem Mann, seine verdorrte rechte Hand auszustrecken. (Nur der Arzt Lukas erwähnt, dass es die rechte Hand war.) Mit dem Gebot war auch die Kraft dazu verbunden. Als der Mann gehorchte, »wurde seine Hand wiederhergestellt«.
6,11 Die Pharisäer und Schriftgelehrten »wurden mit Unverstand erfüllt«. Sie wollten Jesus dafür verurteilen, dass er den Sabbat gebrochen habe. Er hatte nur ein paar Worte gesprochen, und der Mann war geheilt. Es war keine anstrengende Arbeit geleistet worden. Und doch planten sie, wie sie ihn fangen könnten.
Der Sabbat war von Gott zum Wohl des Menschen gedacht. Wenn es richtig verstanden wird, lässt das Sabbatgebot notwendige Arbeiten oder barmherzige Taten zu.
F. Berufung der zwölf Apostel (6,12-19)
6,12 Jesus »verbrachte die Nacht im Gebet zu Gott«, ehe er die Zwölf erwählte. Welch ein Tadel ist das für unsere Voreiligkeit und Unabhängigkeit von Gott! Lukas ist der einzige Evangelist, der diese Gebetsnacht erwähnt.
6,13-16 Die »Zwölf« aus dem weiteren Jüngerkreis, die Jesus »erwählte«, waren: 1. »Simon, den er auch Petrus nannte«, Sohn des Jona und einer der bekanntesten Apostel.
2. »Andreas, sein Bruder.« Es war Andreas gewesen, der Petrus zum Herrn geführt hatte.
3. »Jakobus«, Sohn des Zebedäus. Er hatte das Vorrecht, mit Petrus und Johannes auf den Berg der Verklärung zu steigen. Er wurde von Herodes Agrippa I. ermordet.
4. »Johannes«, Sohn des Zebedäus. Jesus nannte Jakobus und Johannes »Donnersöhne«. Dieser Johannes schrieb das Evangelium und die Briefe, die seinen Namen tragen, sowie die Offenbarung.
5. »Philippus«, gebürtig aus Betsaida, der Nathanael zu Jesus brachte. Er ist nicht mit Philippus, dem Evangelisten in der Apostelgeschichte, zu verwechseln.
6. »Bartholomäus«, wahrscheinlich ein anderer Name für Nathanael. Er wird nur in der Liste der zwölf Apostel genannt.
7. »Matthäus«, der Zöllner, auch Levi genannt. Er schrieb das erste Evangelium.
8. »Thomas«, auch Zwilling genannt. Er sagte, er könne nicht glauben, dass der Herr auferstanden sei, ehe er keine Beweise gesehen habe.
9. »Jakobus, des Alphäus Sohn.« Er könnte einer von denen sein, die in der Jerusalemer Gemeinde die Verantwortung übernahmen, nachdem Jakobus, der Sohn des Zebedäus, von Herodes getötet worden war. 10. »Simon, genannt Eiferer.« Über ihn ist aus der Schrift nur wenig bekannt. 11. »Judas, des Jakobus Sohn.« Die meisten sind der Auffassung, dass er mit Lebbäus identisch ist, dessen Vorname Thaddäus lautete (Matth 10,3; Mk 3,18).
12. »Judas Iskariot«, der wahrscheinlich aus Keriot in Juda stammte und so der einzige Apostel war, der nicht aus Galiläa kam. Er war der »Verräter« unseres Herrn, weshalb er auch »Sohn des Verderbens« genannt wurde. Die Jünger hatten nicht alle einen hervorragenden Intellekt oder außerordentliche Fähigkeiten. Sie repräsentierten den Durchschnitt der Menschheit. Was sie groß machte, war ihre Beziehung zu Jesus und ihre Hingabe an ihn. Sie waren wahrscheinlich in den Zwanzigern, als der Herr sie erwählte. Die Jugend ist die Zeit, in der die Menschen am eifrigsten und leichtesten zu belehren sind. Außerdem halten sie Schwierigkeiten in dieser Zeit am leichtesten durch. Er wählte nur zwölf Jünger aus. Er war mehr an Qualität als an Quantität interessiert. Wenn er sie mit den richtigen Eigenschaften ausstatten würde, könnte er sie aussenden und so die gesamte Welt dadurch evangelisieren, dass sie zu geistlichen Vätern würden.
Als die Jünger erwählt waren, war es wichtig, dass sie gründlich in den Grundsätzen des Reiches Gottes ausgebildet wurden. Der Rest dieses Kapitels betrachtet jene Charaktereigenschaften und jenes Verhalten, das die Jünger des Herrn Jesus an den Tag legen sollten.
6,17-19 Die folgende Predigt ist nicht dieselbe wie die Bergpredigt (Matth 5 – 7). Jene wurde auf einem Berg gehalten, diese auf einem »ebenen Platz«. Jene enthält nur Seligpreisungen, aber keine Wehe rufe; diese enthält beides. Es gibt noch mehr Unterschiede – in der Wortwahl, der Länge und der Gewichtung.14
Man beachte, dass diese Predigt über konsequente Nachfolge sowohl vor einer »Menge« als auch vor den Zwölfen gehalten wurde. Es scheint so, dass Jesus, wann immer ihm eine große Menschenmenge folgte, die Aufrichtigkeit ihrer Nachfolge prüfen wollte, indem er sehr hart und offen zu ihnen sprach. Jemand sagte einmal dazu: »Erst wirbt Jesus, dann sichtet er.« Menschen waren aus »ganz Judäa und Jerusalem« im Süden gekommen, aus »Tyrus und Sidon« im Nordwesten, und zwar sowohl Juden als auch Heiden. Kranke und Besessene drängten vorwärts, um Jesus anzurühren, denn sie wussten, dass eine heilende »Kraft von ihm … ausging«.
Es ist wichtig zu erkennen, wie revolutionär die Lehren unseres Erlösers sind. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass er den Gang ans Kreuz vor Augen hatte. Er wusste, dass er getötet, begraben und auferweckt werden und anschließend in den Himmel zurückkehren würde. Die gute Nachricht von der Erlösung ohne Gegenleistung musste in die Welt gebracht werden. Die Erlösung von Menschen hing davon ab, dass sie die Botschaft zu hören bekamen. Wie würde man die Welt evangelisieren können? Scharfsinnige Führer dieser Welt würden eine riesige Armee aufstellen, ihr ausreichend Geld zur Verfügung stellen, sie großzügig verpflegen, ihr Unterhaltung zur Wahrung der Truppenmoral bieten und eine gute Öffentlichkeitsarbeit leisten.
G. Seligpreisungen und Weherufe (6,20-26)
6,20 Jesus erwählte zwölf seiner »Jünger« und sandte sie als Arme, Hungernde sowie Verfolgte aus. Kann man die Welt auf diese Weise evangelisieren? Ja, und zwar nur so! Der Heiland begann mit vier Seligpreisungen und vier Weherufen. »Glückselig ihr Armen.« Glückselig sind nicht die Armen, sondern ihr Armen. Armut an sich ist kein Segen, viel öfter ist sie ein Fluch. Hier sprach Jesus von der selbst auferlegten Armut um seinetwillen. Er sprach nicht von Menschen, die arm sind, weil sie faul sind, weil eine Tragödie in ihrem Leben stattgefunden hat, oder aus Gründen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Vielmehr bezog er sich auf diejenigen, die absichtlich arm sein wollten, um anderen Menschen ihren Erlöser bringen zu können. Und wenn man darüber nachdenkt, ist dies der einzig vernünftige Ansatz. Man stelle sich vor, die Jünger wären reich gewesen. Die Menschen hätten sich unter der Fahne Jesu versammelt, um reich zu werden. Doch so konnten die Jünger ihnen weder Silber noch Gold bieten. Wenn die Menschen also kommen würden, dann wegen des geistlichen Segens. Auch hätten die Jünger den Segen nicht gehabt, der darin liegt, ständig vom Herrn abhängig zu sein und seine Treue täglich zu spüren. Das Reich Gottes gehört denen, die damit zufrieden sind, dass ihre jeweiligen Bedürfnisse gedeckt sind, sodass alles, was sie darüber hinaus bekommen, in das Werk des Herrn fließen kann.
6,21 »Glückselig, die ihr jetzt hungert.« Wieder geht es nicht um die Menschenmassen der Erde, die unterernährt sind oder verhungern. Es geht um Jünger Christi, die mit Absicht ein Leben der Selbstverleugnung führen, um menschliche Nöte befriedigen zu können, und zwar auf geistlichem und leiblichem Gebiet. Es geht um Menschen, die bereit sind, einfach und billig zu leben, um andere nicht durch ihre Völlerei des Evangeliums zu berauben. Solche Selbstverleugnung wird an einem zukünftigen Tag belohnt werden.
»Glückselig, die ihr jetzt weint.« Leid an sich ist kein Segen, das Weinen unerretteter Menschen hat keine besondere Verheißung. Hier spricht Jesus von Tränen, die um seinetwillen vergossen werden. Tränen über die verlorene Menschheit. Tränen über die Spaltungen und über das Unvermögen der Gemeinde Christi. Tränen über das Leid im Dienst für den Herrn Jesus Christus. Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
6,22 »Glückselig seid ihr, wenn die Menschen euch hassen, … absondern, … schmähen und euren Namen als böse verwerfen werden.« Diese Seligpreisung gilt nicht für diejenigen, die wegen ihrer eigenen Sünde oder infolge ihrer Torheit leiden. Sie gilt für diejenigen, die verachtet, ausgeschlossen, verleumdet und beschimpft werden, weil sie Christus treu sind.
Der Schlüssel zum Verständnis dieser vier Seligpreisungen liegt in dem Satz: »um des Sohnes des Menschen willen«. Die aufgezählten Dinge an sich wären ein Fluch, werden jedoch zum Segen, wenn sie freiwillig für Jesus erduldet werden. Doch das Motiv muss Liebe zu Christus sein, sonst werden die heroischsten Opfer wertlos.
6,23 Verfolgung um Christi willen ist Grund zu großer Freude. Erstens wird sie großen »Lohn« im Himmel einbringen. Zweitens verbindet sie den Leidenden mit den treuen Zeugen Jesu der vergangenen Zeiten.
Die vier Seligpreisungen beschreiben den Idealbürger des Reiches Gottes – denjenigen, der opferbereit, fest, nüchtern und ausdauernd ist.
6,24 »Aber« auf der anderen Seite haben wir die vier Weherufe über diejenigen, die in der neuen Gesellschaft Christi am wenigsten geschätzt werden. Tragischerweise sind es genau diejenigen, die in unserer heutigen Welt etwas gelten! »Wehe euch Reichen!« Mit dem Aufhäufen von Reichtümern sind ernsthafte sittliche Probleme in einer Welt verbunden, in der täglich viele Tausend Menschen an Hunger sterben und in der so viele Menschen die gute Nachricht von der Errettung durch Glauben an Jesus Christus nicht hören können. Diese Worte des Herrn Jesus sollten sorgfältig von allen Christen bedacht werden, die versucht sind, sich Schätze auf der Erde zu sammeln, die für schlechte Tage Geld horten und knausrig sind. Wer das tut, lebt für die verkehrte Welt. Übrigens ist dieses Wehe nur eine Konsequenz aus Jesu Wort in Vers 20 (»Glückselig ihr Armen«), wo er nicht die Armen im Geist meint. And erenfalls müsste Vers 24 bedeuten: »Wehe euch, ihr Reichen im Geist.« Eine solche Bedeutung kommt jedoch nicht infrage. Diejenigen, die Reichtümer besitzen und sie nicht für das ewige Wohlergehen der Menschen einsetzen, haben den einzigen Lohn schon erhalten, den sie je bekommen werden – die selbstsüchtige Erfüllung ihrer Begierden.
6,25 »Wehe euch, die ihr voll seid.« Das sind die Gläubigen, die in teuren Restaurants essen gehen, die von feinsten Delikatessen leben, die nicht sparen, wenn es um ihren Speisezettel geht. Ihr Motto lautet: »Für die Kinder Gottes ist nichts zu gut.« Der Herr sagt, dass sie in Zukunft »hungern« werden, das heißt, wenn den treuen, aufopferungsbereiten Jüngern ihr Lohn ausgeteilt wird. »Wehe euch, die ihr jetzt lacht.« Dieses Wehe richtet sich gegen die, deren Leben sich nur um Vergnügungen, Unterhaltung und Wohlleben dreht. Sie handeln, als ob das Leben zum Spaß und zur Ausgelassenheit da wäre, und werden nicht vom verzweifelten Zustand der Menschheit ohne Christus berührt. Wer »jetzt lacht«, wird »trauern und weinen«, wenn er auf verpasste Gelegenheiten, selbstsüchtigen Genuss und seine eigene geistliche Verarmung zurückblicken wird.
6,26 »Wehe, wenn alle15 Menschen gut von euch reden.« Warum? Weil es ein sicheres Anzeichen dafür ist, dass wir weder das rechte Leben führen noch die Botschaft treu verkündigen. Es liegt in der Natur des Evangeliums, dass es die Gottlosen ärgert. Wer ihren Beifall erntet, gehört in die Gemeinschaft der »falschen Propheten« des AT, die den Menschen Ohrenkitzel boten, indem sie ihnen nach dem Mund redeten. Sie waren mehr am Ansehen bei Menschen als an der Anerkennung durch Gott interessiert. H. Die Geheimwaffe des
Menschensohnes: Liebe (6,27-38)
6,27-29a Nun enthüllt der Herr Jesus seinen Jüngern eine Geheimwaffe aus dem Arsenal Gottes – die Waffe der »Liebe«. Diese Waffe sollte eine der effektivsten bei der Evangelisation der Welt werden. Doch wenn Jesus von Liebe spricht, bezieht er sich nicht auf das menschliche Gefühl mit dem gleichen Namen. Er spricht von übernatürlicher Liebe. Nur diejenigen, die wiedergeboren sind, können sie kennen oder erweisen. Sie kann von keinem, der nicht den Heiligen Geist besitzt, empfunden werden. Ein Mörder kann auch seine Kinder lieben, doch das ist nicht die Liebe, die Jesus gemeint hat. Es gibt einerseits menschliche Zuneigung, auf der anderen Seite steht die göttliche Liebe. Die erste erfordert nur leibliches Leben, die zweite göttliches. Die erste ist größtenteils eine Sache des Gefühls, die zweite eher eine Sache des Willens. Jeder kann seine Freunde lieben, doch braucht man übernatürliche Kraft, um seine Feinde zu lieben. Und das ist die Liebe (gr. agapē) des NT. Sie bedeutet: »Tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch fluchen; betet für die, die euch beleidigen«, und haltet immer wieder die andere Backe hin. F. B. Meyer erklärt:
Die Liebe ist in ihrem tiefsten Sinne … Christentum. Diese Liebe fühlt gegenüber ihren Feinden, was andere ihren Freunden gegenüber empfinden. Sie lässt sich wie Sonne und Regen mit Gerechten wie mit Ungerechten ein und dient sowohl denen, die weniger angenehm oder sogar abstoßend sind, als auch denjenigen, die anziehend und gefällig sind. Sie ist immer gleich und unterwirft sich nicht Stimmungen, Vorstellungen sowie Launen. Sie ist langmütig, rechnet das Böse nicht zu, freut sich mit der Wahrheit, erträgt alles, glaubt alles, hofft alles und erduldet alles. Sie hört niemals auf – das ist Liebe, und solche Liebe kann nur im Heiligen Geist erreicht werden. Wir können sie nicht selbst erlangen.16
Eine solche Liebe ist unschlagbar. Die Welt kann normalerweise die Menschen erobern, die zurückschlagen. Ihr ist das Gesetz des Dschungels vertraut, ebenso das Prinzip der Vergeltung. Doch sie weiß nicht, wie sie mit einem Menschen umgehen soll, der jedes Unrecht, das ihm zugefügt wird, mit einer Freundlichkeit erwidert. Sie reagiert außerordentlich verwirrt auf solches Verhalten, das einer anderen Welt entstammt.
6,29b-31 Wenn die Liebe ihres Mantels beraubt wird, dann bietet sie auch noch das Unterkleid an. Sie wendet sich nie von echter Not ab. Wenn sie ungerechterweise ihres Eigentums beraubt wird, dann bittet sie nicht um Rückgabe. Ihre goldene Regel lautet, andere mit derselben Freundlichkeit und Beachtung zu bedenken, die sie selbst gerne erfahren würde.
6,32-34 Unerrettete können diejenigen »lieben, die sie lieben«. Das ist ein natürliches Verhalten, und so allgemein, dass es auf die Welt der gottfernen Menschen keinen Eindruck macht. Banken und andere Kreditgeber verleihen Geld in der Hoffnung, Zinsen einzunehmen. Das erfordert kein Leben aus Gott.
6,35 Deshalb wiederholte Jesus, dass wir unsere »Feinde« lieben sollen, Gutes tun und leihen, »ohne etwas wieder zu erhoffen«. Solches Verhalten ist ausschließlich christlich und kennzeichnet die, welche »Söhne des Höchsten« sind. Natürlich ist das keine Methode, wie Menschen »Söhne des Höchsten« werden können. Das kann nur geschehen, indem man den Herrn Jesus Christus als Herrn und Erlöser annimmt (Joh 1,12). Doch ist es die Art und Weise, mit der echte Gläubige zeigen, dass sie Kinder Gottes sind. Gott hat uns auf die Weise behandelt, wie sie in Vers 27-35 beschrieben ist. »Er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.« Wenn wir so handeln, dann zeigt sich bei uns die Familienähnlichkeit. Wir zeigen damit, dass wir aus Gott geboren sind.
6,36 Barmherzig zu sein, heißt, zu vergeben, auch wenn es in unserer Macht steht, zurückzuschlagen. Der Vater erzeigte uns Barmherzigkeit, indem er uns nicht so bestrafte, wie wir es verdient hätten. Er möchte, dass wir auch anderen gegenüber barmherzig sind.
6,37 Es gibt zweierlei, das die Liebe nicht tut – sie »richtet« nicht, und sie »verurteilt« nicht. Jesus sagte: »Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden.« Als Allererstes sollen wir nie versuchen, die Beweggründe eines Menschen zu beurteilen. Wir können nicht ins Herz sehen und wissen deshalb nicht, warum jemand in einer bestimmten Weise handelt. Dann geht es darum, dass wir nicht den Dienst eines anderen Christen beurteilen sollen (1 Kor 4,1-5), weil allein Gott dies richten wird. Und ganz allgemein sollen wir nicht tadelsüchtig sein. Ein kritischer Geist, der überall Fehler findet, verletzt das Gesetz der Liebe.
Es gibt jedoch bestimmte Gebiete, auf denen der Christ urteilen muss. Wir müssen oft beurteilen, ob andere Menschen echte Christen sind, anderenfalls könnten wir nie erkennen, ob wir nicht mit an einem fremden Joch ziehen (2. Kor 6,14). Sünde muss im eigenen Leben und in der Gemeinde verurteilt werden. Kurz gesagt: Wir müssen zwischen Gut und Böse unterscheiden, doch wir dürfen nie die Motive eines Menschen infrage stellen oder seinen Charakter beurteilen. »Vergebt, so wird euch vergeben« (LU 1984).  Es  hängt  von  unserer  Vergebungsbereitschaft anderen gegenüber ab, ob uns selbst vergeben wird. Doch andere Schriftstellen scheinen zu lehren, dass uns, wenn wir Jesus Christus im Glauben annehmen, ohne Vorbedingung vergeben wird. Wie kann man diesen scheinbaren Widerspruch auflösen? Die Antwort lautet, dass es sich hier um zweierlei Arten der Vergebung handelt – die juristische und die väterliche. Die juristische Vergebung ist diejenige, die Gott, der Richter, jedem schenkt, der an den Herrn Jesus Christus glaubt. Sie bedeutet, dass die Strafe für die Sünden von Christus bezahlt worden ist und der gläubige Sünder nicht mehr bestraft wird. Sie wird ohne Bedingung gewährt.
Die väterliche Vergebung ist diejenige, die Gott der Vater seinem abgewichenen Kind gewährt, wenn es seine Sünde bekennt und loslässt. Diese Vergebung bewirkt, dass die Gemeinschaft in der Familie Gottes wiederhergestellt wird, und hat nichts mit der Strafe für die Sünde zu tun. Als Vater kann Gott uns nicht vergeben, wenn wir nicht bereit sind, einander zu vergeben. Er selbst handelt nicht so, und er kann deshalb auch nicht Gemeinschaft mit denen haben, deren Vergebungsbereitschaft fehlt. Und auf diese väterliche Vergebung bezieht Jesus sich, wenn er sagt: »So wird euch vergeben.«
6,38 Die Liebe zeigt sich im Geben (s. Joh 3,16; Eph 5,25). Der christliche Dienst ist ein Dienst des Gebens. Wer großzügig gibt, wird großzügig belohnt werden. Jesus benutzt hier das Bild eines Menschen, der sein Gewand vorne wie eine Schürze ausbreitet, um darin Samen zu transportieren. Je großzügiger er den Samen ausstreut, desto reichlicher wird seine Ernte sein. Er wird mit einem »guten, gedrückten und gerüttelten und überlaufenden Maß« belohnt werden. Er erhält es in seinen Schoß, d. h. in die Falte seines Gewandes hinein. Es ist ein feststehendes Lebensprinzip, dass wir entsprechend unserer Saat ernten, dass unsere Taten Rückwirkungen auf uns selbst haben und dass wir mit »demselben Maß, mit dem« wir messen, »wieder gemessen werden«. Wenn wir irdische Güter säen, dann ernten wir geistliche Schätze unermesslichen Wertes. Und es stimmt auch, dass wir verlieren, was wir festhalten, und besitzen, was wir geben. I. Das Gleichnis vom blinden Heuchler (6,39-45)
6,39 Im vorhergehenden Abschnitt gibt der Herr den Jüngern den Dienst des Gebens als Auftrag mit. Nun weist er nachdrücklich darauf hin, dass das Ausmaß, in welchem sie anderen Menschen zum Segen werden können, durch ihren eigenen geistlichen Zustand begrenzt wird. »Ein Blinder« kann keinen anderen »Blinden leiten«. Beide werden schließlich »in eine Grube fallen«. Wir können nicht geben, was wir selbst nicht besitzen. Wenn wir blind gegenüber bestimmten Lehren des Wortes Gottes sind, können wir auf diesem Gebiet keinem anderen helfen. Wenn es in unserem geistlichen Leben »blinde Flecken« gibt, dann können wir sicher sein, dass dies auch die »blinden Flecken« derer sind, die wir lehren.
6,40 »Ein Jünger ist nicht über dem Lehrer; jeder aber, der vollendet ist, wird sein wie sein Lehrer.« Jemand kann nicht lehren, was er nicht gelernt hat. Er kann seine Schüler nicht auf eine höhere Ebene bringen, als diejenige, die er selbst erreicht hat. Je mehr er sie lehrt, desto ähnlicher werden die Schüler ihm sein. Doch sein eigener Stand im Wachstum ist die Grenze, zu der er seine Schüler führen kann. Ein Schüler ist als Jünger »vollendet«, wenn er wie sein Lehrer wird. Fehler im Leben oder in der Lehre des Lehrers werden seine Jünger übernehmen, und wenn die Lehrzeit der Jünger beendet ist, dann kann man von ihnen nicht erwarten, dass sie mehr als ihre Lehrer können.
6,41.42 Diese wichtige Wahrheit wird noch eindrücklicher in dem Bild vom »Splitter« und vom »Balken« ausgedrückt. Eines Tages geht ein Mann an einer Tenne vorbei, wo gerade Korn gedroschen wird. Ein Windstoß fegt einen kleinen Strohsplitter in sein Auge. Er reibt sein Auge, um den Splitter wieder loszuwerden, doch je mehr er reibt, desto mehr entzündet sich das Auge. Da kommt gerade ein anderer Mann vorbei, sieht die Not des ersten und bietet seine Hilfe an. Doch dieser Mann hat im eigenen Auge einen Balken! Er wird kaum helfen können, da er nicht sieht, was er tut. Die offensichtliche Lehre ist, dass ein Lehrer nicht mit seinen Jüngern über Fehler in ihrem Leben sprechen kann, wenn er denselben Fehler in noch größerem Ausmaß in seinem Leben toleriert und nicht sieht. Wenn wir anderen eine Hilfe sein wollen, dann muss unser Leben vorbildlich sein. Anderenfalls wird man uns raten: »Arzt, heile dich selbst« (4,23).
6,43-45 Das vierte Bild, das unser Herr benutzt, betrifft den »Baum« und seine »Frucht«. Jeder Baum bringt Früchte, gute oder faule. Das hängt davon ab, wie er selbst beschaffen ist. Wir beurteilen einen Baum nach der Art und Qualität der Früchte, die er trägt. Genauso ist es auf dem Gebiet der Jüngerschaft. Ein Mensch, der sittlich rein und geistlich gesund ist, kann »aus dem guten Schatz seines Herzens« Segen für andere hervorbringen. Auf der anderen Seite wird ein Mensch, der im Grunde unrein lebt, nur »Böses hervorbringen«.
J. Der Herr verlangt Gehorsam (6,46-49)
6,46 »Was nennt ihr mich aber: Herr, Herr! und tut nicht, was ich sage?« Das Wort Herr bedeutet hier so viel wie Meister; es bedeutet, dass er vollständige Autorität über unser Leben hat, dass wir ihm gehören und dass wir verpflichtet sind, alles zu tun, was er uns sagt. Ihn »Herr« zu nennen und nicht zu gehorchen, ist ein absurder Widerspruch. Es reicht nicht, wenn wir seine Herrschaft nur äußerlich bekennen. Echte Liebe und echter Glaube beinhalten Gehorsam. Wir lieben ihn nicht wirklich und wir glauben ihm nicht wirklich, wenn wir nicht tun, was er uns sagt.
Ihr nennt mich »Weg«
und geht mich nicht,
Ihr nennt mich »Leben«
und lebt mich nicht,
Ihr nennt mich »Meister« und gehorcht mir nicht,
Wenn ich euch verurteile, tadelt mich nicht.
Ihr nennt mich »Brot«
und esst mich nicht,
Ihr nennt mich »Wahrheit« und glaubt mir nicht,
Ihr nennt mich »Herr«
und dient mir nicht,
Wenn ich euch verurteile, tadelt mich nicht.
Geoffrey O’Hara
6,47-49 Um diese wichtige Wahrheit weiter auszuführen, erzählt der Herr die Geschichte von zwei Bauherren. Wir wenden diese Geschichte normalerweise auf das Evangelium an. Wir sind der Ansicht, dass der weise Mann eine Beschreibung desjenigen ist, der glaubt und errettet wird, der törichte Mann dagegen ist derjenige, der Christus ablehnt und verlorengeht. Dies ist eine richtige Anwendung. Doch wenn wir diese Geschichte in ihrem Zusammenhang auslegen, dann finden wir noch eine tiefer gehende Bedeutung. Der weise Mann ist derjenige, der »zu« Jesus »kommt« (Erlösung), der seine »Worte hört« (Lehre) »und sie tut« (Gehorsam). Er ist derjenige, der sein Leben auf solchen Grundsätzen der Jüngerschaft aufbaut, wie sie in diesem Kapitel beschrieben sind. Das ist die richtige Weise, sein Leben zu führen. Wenn das Haus von Überschwemmungen erschüttert wird, dann steht es fest, weil »es auf den Felsen gegründet« ist, auf Christus und seine Lehre.17
Der Törichte ist jemand, der hört (Lehre) doch der Lehre nicht folgt (Ungehorsam). Er baut sein Leben auf einen Grund, den er nach Gutdünken auswählt, und folgt damit den fleischlichen Grundsätzen der Welt. Wenn die Stürme des Lebens wüten, dann ist sein Haus »ohne Grundmauer« und wird weggeschwemmt. Es mag sein, dass seine Seele gerettet ist, doch sein Leben ist verloren. Der Weise ist derjenige, der auch arm und hungrig ist und der trauert und verfolgt wird – alles um des Menschensohnes willen. Die Welt würde ihn töricht nennen, doch Jesus nennt ihn weise. Der törichte Mensch ist der Reiche, der in Luxus und in Freuden lebt und der bei allen beliebt ist. Die Welt nennt ihn weise, doch Jesus nennt ihn töricht. VI. Der Menschensohn dehnt seinen Dienst aus (7,1 – 9,50)
A. Heilung des Dieners eines Hauptmanns (7,1-10)
7,1-3 Am Ende seiner Predigt verließ Jesus die Volksmenge und »ging hinein nach Kapernaum«. Dort wurde er von den »Ältesten der Juden« belagert, die gekommen waren, um für den heidnischen Knecht eines Hauptmannes (Zenturio) um Hilfe zu bitten. Dieser Hauptmann war anscheinend zu den Juden besonders freundlich gewesen und war sogar so weit gegangen, dass er ihnen eine Synagoge gebaut hatte. Wie alle anderen Hauptmänner im NT wird er in einem guten Licht dargestellt (Lk 23,47; Apg 10,1-48).
Es ist für einen Herrn sehr ungewöhnlich, sich so besorgt um einen Sklaven zu zeigen, wie es dieser Zenturio tat. Als der »Knecht … krank war«, bat der Zenturio die »Ältesten der Juden«, bei Jesus zu bitten, dass er ihn heile. Dieser römische Soldat ist der Einzige, der von Jesus Hilfe für einen »Knecht« erbat, soweit uns bekannt ist.
7,4-7 Das war für die Ältesten eine seltsame Situation. Sie glaubten nicht an Jesus, doch ihre Freundschaft zu dem Hauptmann zwang sie, in der Zeit der Not zu Jesus zu gehen. Sie sagten über den Hauptmann: »Er ist würdig.« Doch als der Hauptmann Jesus begegnete, sagte er: »Ich bin nicht würdig.« Damit meinte er: »Ich bin nicht wichtig genug.« Nach Matthäus ging der Hauptmann direkt zu Jesus. Hier in Lukas sendet er die Ältesten. Beide haben recht. Erst sandte er die Ältesten, dann ging er selbst zu Jesus hinaus.
Die Demut und der Glaube des Hauptmannes sind bemerkenswert. Er war der Meinung, »nicht würdig« genug zu sein, dass Jesus in sein Haus käme. Auch fühlte er sich »selbst … nicht würdig«, persönlich zu Jesus zu kommen. Doch er glaubte, dass Jesus heilen konnte, ohne leiblich anwesend zu sein. Ein »Wort« von ihm würde reichen, um die Krankheit zu vertreiben.
7,8 Der Hauptmann erklärte weiter, dass er etwas über »Befehlsgewalt« und Verantwortung wusste. Er selbst hatte genügend Erfahrung auf diesem Gebiet. Er selbst stand »unter Befehlsgewalt« der Römer und war verantwortlich, ihre Anweisungen zu verwirklichen. Außerdem hatte er »Soldaten unter« sich, die seinen Befehlen sofort gehorchten. Er erkannte, dass Jesus dieselbe Befehlsgewalt, die das Römische Reich über ihn selbst hatte und die er gegenüber seinen Untergebenen ausübte, über Krankheiten besaß.
7,9.10 Es ist nicht weiter erstaunlich, dass Jesus sich »über« den Glauben dieses heidnischen Hauptmannes »wunderte«. Keiner »in Israel« hatte solch ein mutiges Zeugnis über die absolute Autorität Jesu vorgebracht. Ein »so großer Glaube« konnte nicht unbelohnt bleiben. Als die Abgesandten zum »Haus« des Zenturio zurückkehrten, »fanden sie den kranken Knecht gesund«.
Das ist eines der beiden Ereignisse, bei denen von Jesus gesagt wird, dass er sich wunderte. Er wunderte sich über den Glauben dieses heidnischen Hauptmannes, und er wunderte sich über den Unglauben Israels (Mk 6,6). B. Die Auferweckung des Jünglings von Nain (7,11-17)
7,11-15 »Nain« war eine kleine Stadt südwestlich von Kapernaum. Als Jesus zu dieser Stadt kam, sah er eine Beerdigungsprozession aus der Stadt kommen. Der Tote war »der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Witwe«. Der Herr war »innerlich bewegt über« die trauernde Mutter. Er »rührte die Bahre an«, worauf man den Leichnam trug – offensichtlich, um die Prozession anzuhalten. Dann befahl er dem »Jüngling« aufzus tehen. Sofort kehrte Leben in den Leichnam zurück, und der Junge »setzte sich auf«. So »gab« der Herr über Tod und Krankheit »ihn seiner Mutter« wieder.
7,16.17 »Furcht« ergriff die Menschen. Sie hatten ein vollmächtiges Wunder gesehen. Der Tote war zum Leben auferweckt worden. Sie glaubten, dass der Herr Jesus »ein großer Prophet« war, der von Gott gesandt wurde. Doch als sie sagten: »Gott hat sein Volk besucht«, da erkannten sie wahrscheinlich nicht, dass Jesus selbst Gott ist. Sie waren der Meinung, dass das Wunder ein Beweis dafür war, dass Gott in ihrer Mitte auf eine unpersönliche Art und Weise am Werk war. Ihre »Rede« über das Wunder verbreitete sich »in der ganzen Umgegend«. Die Aufzeichnungen des Arztes Lukas enthalten die Auferweckung bzw. Heilung von drei Kindern, die jeweils das einzige Kind ihrer Eltern waren: der Jüngling zu Nain, Jairus’ Tochter (8,42) und das Kind, das von Dämonen besessen war (9,38).
C. Der Menschensohn ermutigt seinen Vorläufer (7,18-23)
7,18-20 Die Nachricht von den Wundern Jesu gelangte auch zu »Johannes« dem Täufer im Gefängnis der Feste Machärus am Ostufer des Toten Meeres. Wenn Jesus wirklich der Messias war, warum gebrauchte er dann nicht seine Macht, um Johannes aus den Händen des Herodes zu befreien? Deshalb sandte Johannes »zwei seiner Jünger«, um Jesus zu fragen, ob er wirklich der Messias sei, oder ob der Christus erst noch kommen müsse. Es mag seltsam erscheinen, dass Johannes hier anzweifelte, dass Jesus der Messias ist. Doch wir müssen uns daran erinnern, dass auch die gläubigsten Menschen Tiefpunkte in ihrem Glauben erleben. Auch körperliches Leiden kann zu schweren geistlichen Depressionen führen.
7,21-23 Jesus beantwortete die Frage des Johannes, indem er ihn daran erinnerte, dass er diejenigen Wunder tat, die der Messias nach den Prophezeiungen vollbringen sollte (Jes 35,5; 61,1). Dann fügte er gewissermaßen als für Johannes bestimmten Nachsatz hinzu: »Glückselig ist, wer sich nicht an mir ärgern wird.« Das kann man als Tadel verstehen, denn Johannes hatte sich an der Tatsache geärgert, dass Jesus nicht die Zügel der Herrschaft in seine Hand genommen und sich den Menschen in der Weise offenbart hatte, wie sie es von ihm erwarteten. Doch kann man diese Stelle auch als Ermutigung an Johannes auffassen, seinen Glauben nicht aufzugeben. C. G. Moore sagt dazu:
Ich kenne keine für den Glauben schwierigeren Zeiten, als die, in denen Jesus zwar jede Menge Beweise seiner Macht liefert, sie jedoch nicht gebraucht … Man braucht viel Gnade, wenn die Boten zurückkommen und sagen: »Ja, er hat alle Macht, und er ist genau der, für den du ihn hältst, doch er hat nichts davon gesagt, dass er dich aus dem Gefängnis holen wolle …« Keine Erklärung, der Glaube zwar bestätigt, doch die Gefängnistüren noch immer verschlossen, und dann die Botschaft: »Glückselig ist, wer sich nicht an mir ärgern wird.« Das ist alles!18
D. Der Menschensohn lobt seinen Vorläufer (7,24-29)
7,24 Was immer Jesus Johannes unter vier Augen zu sagen hatte, er hatte für ihn in der Öffentlichkeit nur Lob. Als die Menschen hinaus in die Wüste an den Jordan geströmt waren, was hatten sie denn erwartet? Einen Schwächling, der bei jeder Gelegenheit umkippte? Niemand konnte Johannes je anklagen, »ein Rohr, vom Wind hin und her bewegt«, zu sein.
7,25 Hatten sie etwa erwartet, einen Hollywood-Playboy zu finden, der modisch gekleidet war und in Luxus und Bequemlichkeit schwelgte? Nein, das sind diejenigen Menschen, die an »königlichen Höfen« herumlungern, alle Bequemlichkeit des Palastes suchen und jede »Beziehung«, die sie dorthin haben, zu ihren Gunsten und ihrem Gewinn ausnutzen.
7,26 Oder wollten sie »einen Propheten« sehen? Da waren sie an der richtigen Adresse – er war das personifizierte Gewissen, das das Wort des lebendigen Gottes weitersagte, ganz gleich, was es ihn kosten würde. Er war sogar »mehr als ein Prophet«.
7,27 Er selbst war von den Propheten vorhergesagt worden, und er hatte das einzigartige Vorrecht, den König anzukündigen. Jesus zitierte aus Maleachi 3,1. Damit wollte er zeigen, dass Johannes im AT vorausgesagt worden war, doch dabei veränderte er auf interessante Weise die entsprechenden Pronomen. In Maleachi 3,1 lesen wir: »Siehe, ich sende meinen Boten, damit er den Weg vor mir her bereite.« Doch Jesus zitierte: »Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird.« Das Pronomen mein wird durch »dein« ersetzt.
Godet erklärt diese Veränderung folgendermaßen:
Aus der Sicht des Propheten waren der Sendende und der, dem der Weg bereitet wurde, ein und dieselbe Person, nämlich Jahwe. Daher erscheint die Wendung »vor mir« bei Maleachi. Doch für Jesus, der, wenn er von sich selbst sprach, sich nie mit dem Vater verwechselte, wird eine Unterscheidung notwendig. Hier spricht Jahwe nicht von sich selbst, sondern Jahwe spricht von Jesus, daher wird hier die Form »deinen« benutzt. Wenn wir diese Beweise betrachten, folgt dann nicht aus diesem Zitat, dass sowohl nach Ansicht des Propheten als auch in den Augen Jesu die Erscheinung des Messias dem Erscheinen Jahwes entspricht?19
7,28 Jesus lobt Johannes weiter, indem er versichert, dass »unter den von Frauen Geborenen kein Größerer als Johannes der Täufer« war. Doch die Segnungen des »Reiches Gottes« zu erfahren, ist »größer«, als Vorläufer des Königs zu sein.
7,29 Jesus spricht eventuell noch in Vers 29. Das Wort »ihn«, das in vielen Übersetzungen aus Verständnisgründen eingefügt ist, bezieht sich dann wahrscheinlich auf Johannes. Lukas erinnert hier an die Aufnahme der Predigt des Johannes. Die einfachen Leute wie »die Zöllner« wurden im Jordan getauft. Indem sie der Botschaft des Johannes glaubten und danach handelten, gaben sie »Gott recht«. Damit erkannten sie an, dass Gott gerecht ist, wenn er vom Volk Israel verlangte, dass es erst Buße tun solle, ehe Christus über sie regieren könne. E. Der Menschensohn kritisiert die Menschen seiner Zeit (7,30-35)
7,30-34 »Die Pharisäer … und die Gesetzesgelehrten« weigerten sich, sich der Taufe des Johannes zu unterziehen, und so lehnten sie Gottes Plan für ihr Wohlergehen ab. Es war sogar unmöglich, »dieses Geschlecht« zufriedenzustellen, deren Führer sie waren. Jesus vergleicht sie mit »Kindern«, die »auf dem Markt« spielen. Sie wollten weder Hochzeit noch Begräbnis spielen. Sie waren verstockt, verwöhnt, unberechenbar und störrisch. Ganz gleich, wie Gott unter ihnen wirkte, sie nahmen daran Anstoß. »Johannes der Täufer« gab ihnen ein Beispiel der Entbehrung, der Askese und der Selbstverleugnung. Sie mochten es nicht, sondern beschuldigten ihn, von Dämonen besessen zu sein. Der »Sohn des Menschen« aß und trank mit den »Zöllnern und Sündern«, d. h. er identifizierte sich mit denen, die er segnen wollte. Doch noch immer waren die Pharisäer nicht zufrieden und nannten ihn einen »Fresser und Weinsäufer«. Fasten oder Feiern, Begräbnis oder Hochzeit, Johannes oder Jesus – niemand konnte es ihnen recht machen! Ryle ermahnt uns:
Wir müssen den Gedanken aufgeben, jedem gefallen zu können. Das ist unmöglich und allein der Versuch ist Zeitverschwendung. Wir müssen zufrieden sein, in den Fußstapfen Jesu zu gehen und die Welt sagen zu lassen, was sie will. Wir können tun, was wir wollen, wir werden sie nie befriedigen noch ihr den bösen Mund stopfen können. Sie kritisierte zuerst Johannes den Täufer und dann seinen wunderbaren Herrn. Und sie wird weiter nörgeln und auch an den Jüngern des Meisters kein gutes Haar lassen, solange noch einer von ihnen auf der Erde lebt.20
7,35 Doch »die Weisheit ist gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern«. »Weisheit« steht hier für den Retter selbst. Die kleine Minderheit seiner Jünger, die ihn ehrt, umfasst die »Kinder« der Weisheit. Auch wenn die Masse ihn ablehnt, so werden doch seine echten Nachf olger seine Ansprüche durch ein Leben voll Liebe, Heiligung und Hingabe rechtfertigen.
F. Eine Sünderin salbt den Erlöser (7,36-39)
7,36 In dem folgenden Ereignis haben wir ein Bild davon, wie die Weisheit von einem ihrer Kinder gerechtf ertigt wird, nämlich durch eine Sünderin. Dr. H. C. Woodring sagt dazu so treffend: »Wenn es Gott nicht gelingt, die relig iösen Führer dazu zu bringen, Jesus zu ehren, dann wird es ihm bei den Huren gelingen.« Simon, der Pharisäer, hatte Jesus eingeladen, »mit ihm« zu »essen«, vielleicht aus Neugier, vielleicht aber auch aus Feindschaft.
7,37.38 Eine sündige »Frau« kam währenddessen herein. Wir wissen nicht, wer sie war. Die Überlieferung, dass es sich um Maria Magdalena handle, findet in der Schrift keine Unterstützung. Diese Frau »brachte eine« weiße durchscheinende »Alabasterflasche« mit Salböl. Da Jesus sich zum Essen mit dem Kopf in Richtung des Tisches auf eine Liege legte, »trat (sie) von hinten an seine Füße heran«. Sie wusch »seine Füße mit Tränen …, trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes« und »küsste« sie immer wieder. Dann »salbte sie« sie mit dem kostbaren Salböl. Diese Verehrung und Opferbereitschaft offenbarte, dass ihr für Jesus nichts zu kostbar war.
7,39 Die Haltung Simons war ganz anders. Er war der Ansicht, dass sich Propheten wie die Pharisäer von den Sündern absondern sollten. Wenn Jesus »ein Prophet wäre«, so schloss er, dann hätte er nicht zugelassen, dass »eine Sünderin« ihm solche Liebe erwies. G. Das Gleichnis von den zwei Schuldnern (7,40-50)
7,40-43 Jesus konnte seine Gedanken lesen und bat Simon höflich um Erlaubnis, ihm etwas sagen zu dürfen. Mit unübertroffener Fertigkeit erzählte der Herr die Geschichte vom »Gläubiger«, der »zwei Schuldner« hatte. »Der eine schuldete« hundert Denare, der andere zehn. Als »beide nicht zahlen konnten«, erließ er beiden die Schuld. An diesem Punkt fragte Jesus Simon, welcher von den beiden Schuldnern den Gläubiger »am meisten lieben« wird. Der Pharisäer antwortete ganz richtig: »Ich nehme an, dem er das meiste geschenkt hat.« Indem er das zugab, verurteilte er sich selbst, wie Jesus ihm nun zeigte.
7,44-47 Von dem Zeitpunkt an, da Jesus »hereingekommen« war, hatte diese Frau ihre Liebe über ihn ausgeschüttet. Der Pharisäer dagegen hatte ihn recht kühl empfangen und ihm noch nicht einmal die üblichen Höflichkeiten erwiesen, wie die Fußwaschung, den Freundschaftskuss und Öl für das Haupt. Warum dieser Unterschied? Die Frau wusste, dass ihr viel »vergeben« worden war, während sich Simon überhaupt nicht als Sünder fühlte. »Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.« Jesus wollte damit nicht sagen, dass der Pharisäer nicht auch ein großer Sünder war, sondern er betonte, dass Simon noch nie seine große Schuld erkannt hatte und ihm vergeben worden war. Wenn das der Fall gewesen wäre, so hätte er den Herrn so sehr wie die Hure geliebt. Wir alle sind große Sünder. Wir können alle die große Vergebung erfahren und den Herrn dadurch »viel lieben«.
7,48 Jesus erklärte dann öffentlich, dass die Sünden der Frau »vergeben« waren. Ihr wurde nicht vergeben, weil sie Jesus liebte, sondern ihre Liebe war die Folge der Vergebung. Sie liebte viel, weil ihr viel vergeben worden war. Jesus nahm diese Gelegenheit wahr, um ihr öffentlich die Vergebung der Sünden zuzusprechen.
7,49.50 Die anderen Gäste stellten bei sich das Recht Jesu infrage, »Sünden« zu vergeben. Das natürliche Herz hasst die Gnade. Doch Jesus versicherte »der Frau« nochmals, dass ihr »Glaube« sie »gerettet« habe und sie »in Frieden« gehen solle. Das ist etwas, das kein Psychiater kann. Sie mögen zwar Schuldkomplexe wegerklären können, doch sie können niemals den Frieden und die Freude geben, die Jesus schenkt.
Das Verhalten unseres Herrn, hier mit einem Pharisäer am Tisch zu sitzen, wird von einigen Menschen in falscher Absicht ins Feld geführt, wenn sie Freundschaften mit unbekehrten Menschen oder die Gewohnheit rechtfertigen wollen, ihren Vergnügungen zu frönen. Ryle warnt hier: Wer ein solches Argument benutzt, sollte wohl daran tun, sich des Verhaltens des Herrn bei dieser Gelegenheit zu erinnern. Er nahm das »Werk seines Vaters« mit an den Tisch des Pharisäers. Er legte gegen die Schuld des Pharisäers Zeugnis ab. Er erklärte dem Pharisäer das Wesen der geschenkten Vergebung der Sünden und das Geheimnis echter Liebe zu ihm. Wenn Christen, die für enge Freundschaften zu Unbekehrten plädieren, ihre Häuser im Geist unseres Herrn besuchen, so reden und sich verhalten, wie er es tat, dann sollen sie auf jeden Fall damit fortfahren. Doch reden und verhalten sie sich am Tisch ihrer unbekehrten Freunde so wie Jesus am Tisch Simons? Diese Frage sollten sie vorher beantworten.21
H. Einige Frauen dienen Jesus (8,1-3)
8,1-3 Es ist immer gut, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Evangelien nur einige Ereignisse des Lebens und Dienstes unseres Herrn berichten. Der Heilige Geist wählte die Themen, die ihm gut erschienen, doch viele andere ließ er aus. Hier haben wir die einfache Feststellung, dass Jesus mit seinen Jüngern in den »Städten und Dörfern« Galiläas diente. Bei seiner Predigt verkündigte er die Gute Nachricht »vom Reich Gottes«. Während dieser Predigtreisen »dienten« ihm einige »Frauen«, die durch ihn gesegnet worden waren, wahrscheinlich, indem sie ihm Essen und Unterkunft boten. Da war zum Beispiel »Maria, genannt Magdalena«. Einige denken, dass sie eine hochstehende Frau aus Magdala (heute Migdol) war. Wie auch immer, sie war auf wunderbare Weise von »sieben Dämonen« befreit worden. Dann war da Johanna, deren Mann »Verwalter (des) Herodes« war. Susanna war eine weitere, und es gab noch »viele andere«. Ihre Freundlichkeit gegenüber dem Herrn blieb nicht unbeachtet. Sie dachten wahrscheinlich kaum daran, dass Christen aller Zeitalter von ihrer Großzügigkeit und Gastfreundschaft lesen würden.
Das Thema der Predigt des Herrn Jesus war die Gute Nachricht »vom Reich Gottes«. Das »Reich Gottes« umfasst den Bereich, sichtbar oder unsichtbar, in welchem die Herrschaft Gottes anerkannt wird. Matthäus verwendet den Ausdruck »Reich der Himmel«, doch das ist im Wesentlichen dasselbe. Es bedeutet einfach, »dass der Höchste Macht hat über das Königtum der Menschen« (Dan 4,14) oder dass »die Himmel herrschen« (Dan 4,23). Es gibt verschiedene Phasen bei der Herausbildung des Reiches im NT: 1. Erstens wurde das Reich von Johannes dem Täufer angekündigt, dass es »nahe« gekommen sei (Matth 3,1.2). 2. Dann war das Reich wirklich anwesend in der Person des Königs (»das Reich Gottes ist mitten unter euch«; Lk 17,21). Das war die Gute Nachricht des Reiches, die Christus verkündigte. Er bot sich selbst als König Israels an (Lk 23,3).
3. Als Nächstes sehen wir, wie das Reich vom Volk Israel abgelehnt wird (Lk 19,14; Joh 19,15).
4. Heute besteht das Reich in einer geheimnisvollen Form (Matth 13,11). Christus, der König, ist zur Zeit abwesend, doch seine Herrschaft wird in den Herzen einiger Menschen auf der Erde anerkannt. In gewissem Sinne gehören zum Reich Gottes alle, die sich zur Herrschaft Gottes bekennen, auch wenn sie nicht wirklich bekehrt sind. Das ist der Bereich des äußeren Bekenntnisses, den wir im Gleichnis vom Sämann (Lk 8,4-15), vom Unkraut und Weizen (Matth 13,2430) und im Gleichnis vom Fischnetz (Matth 13,47-50) sehen. Doch in seinem tieferen, genaueren Sinne gehören zum Reich nur die Bekehrten (Matth 18,3) oder Wiedergeborenen (Joh 3,3). Das ist der Bereich der inneren Redlichkeit (siehe auch das Schaubild bei Matthäus 3,1.2). 5. Das Reich wird eines Tages im wörtlichen Sinne hier auf Erden errichtet werden, und der Herr Jesus wird tausend Jahre als König der Könige und Herr der Herren regieren (Offb 11,15; 19,16; 20,4).
6. Die abschließende Phase ist unter dem Namen »das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus« (2. Petr 1,11) bekannt. Das ist das Reich der Ewigkeit.
I. Das Gleichnis vom Sämann (8,4-15)
8,4-8 Das »Gleichnis« vom »Sämann« beschreibt das Reich, wie es jetzt aussieht. Es lehrt uns, dass das Reich Gottes sowohl äußerliche Bekenner als auch echte Gläubige enthält. Und es ist die Grundlage für eine äußerst ernste Warnung davor, das Wort Gottes nicht recht »zu hören«. Es ist Vera ntwortung damit verbunden, das Wort Gottes gepredigt und gelehrt zu bekommen. Wer zuhört, wird für mehr verantwortlich sein als je zuvor. Wer über die Botschaft leichtfertig hinweggeht oder den Gehorsam ihr gegenüber zwar als Möglichkeit, jedoch nicht als Notwendigkeit betrachtet, wird das zum eigenen Schaden tun. Doch wer hört und gehorcht, wird mehr Licht von Gott erh alten. Das Gleichnis wurde vor einer »großen Volksmenge« erzählt, später dann den Jüngern erklärt. In dem Gleichnis geht es um einen »Sämann«, »seinen Samen«, vier verschiedene Ackerböden, die den Samen aufnehmen, und vier Ergebnisse. Art des
Ackerbodens Ergebnis
1. Weg Von Menschen »zertreten« und von Vögeln
gefressen.
2. Fels »Verdorrt« wegen mangelnder »Feuchtigkeit«.
3. Dornen Wachstum durch Dornen … erstickt«.
4. Gute Erde Für jedes gesäte Korn »hundertfache Frucht«.
Der Herr beendete das Gleichnis mit den Worten: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Mit anderen Worten, wenn du das Wort Gottes hörst, achte darauf, wie du es aufnimmst! Die Saat muss auf »gute Erde« fallen, damit sie Frucht bringt.
8,9.10 Als seine Jünger den Herrn fragten, »was dieses Gleichnis bedeute«, erklärte er, dass nicht jeder »die Geheimnisse des Reiches Gottes« versteht. Weil die Jünger bereit waren, zu vertrauen und zu gehorchen, sollte ihnen die Fähigkeit »gegeben« werden, die Lehren Christi zu verstehen. Doch Jesus kleidete absichtlich viele Wahrheiten in die Form von »Gleichnissen«, damit diejenigen, die ihn nicht wirklich liebten, sie »nicht verstehen« würden, sodass sie »sehend nicht sehen und hörend nicht verstehen« konnten. In gewissem Sinne konnten diese Menschen natürlich sehen und hören. Sie verstanden zum Beispiel, dass Jesus von einem Sämann und seiner Saat geredet hatte. Doch sie verstanden die tiefere Bedeutung des Bildes nicht. Sie erkannten nicht, dass ihre Herzen verhärtet, starrsinnig und wie dorniger Boden waren und sie keinen Nutzen von dem Wort haben würden, das sie hörten.
8,11-15 Nur den Jüngern legte Jesus das Gleichnis aus. Sie hatten schon die Lehren angenommen, die sie bisher gehört hatten, und deshalb sollten sie noch mehr erfahren. Jesus erklärte, dass der Same »das Wort Gottes« ist, d. h. die Wahrheit Gottes – seine Lehre. Die Hörer »an dem Weg« hörten das Wort zwar, doch nur sehr oberflächlich. Es blieb an der Oberfläche ihres Lebens. Das machte es dem »Teufel« (für den die Vögel des Himmels ein Bild sind) möglich, das Wort wieder wegzunehmen. Die Hörer »auf dem Felsen« hatten auch das Wort gehört, doch sie ließen es nicht zu, dass es sie zerbricht. Sie wollten sich nicht bekehren. Für den Samen wurden keine entsprechenden Bedingungen (Feuchtigkeit) geschaffen, so welkte er dahin und starb. Vielleicht bekannten sie zuerst eifrig ihren Glauben, doch ihr Glaube war nicht echt und tief. Scheinbar lebten sie, doch unter der Oberfläche hatten sie »keine Wurzel«. Als Probleme kamen, verließen sie ihr christliches Bekenntnis. Die Hörer auf dem dornigen Boden schienen für eine Weile ganz gut vorwärtszukommen, doch sie bewiesen, dass sie keine echten Gläubigen waren, indem sie nicht unerschütterlich weitergingen. »Sorgen und Reichtum und Vergnügungen des Lebens« gewannen die Oberhand, und das Wort wurde erstickt und verdrängt.
»Die gute Erde« steht für die Gläubigen, deren Herzen »redlich und gut« waren. Sie hörten das Wort nicht nur, sondern erlaubten ihm auch, ihr Leben zu verändern. Sie waren belehrbar und gehorsam, und entwickelten eine wahre christliche Wesensart und brachten »die Frucht« für Gott.
Darby fasste die Botschaft dieses Abschnittes wie folgt zusammen: Wenn ich nach dem Hören das Gehörte besitze, und nicht nur Freude daran habe, es zu besitzen, sondern es als mein Eigentum in Anspruch nehme, dann wird es ein Teil meiner Seele, und ich werde mehr empfangen, denn wenn die Wahrheit Bestandteil meiner Seele geworden ist, dann ist Platz für Weiteres geworden.22
J. Die Verantwortung der Zuhörer (8,16-18)
8,16 Auf den ersten Blick scheint zwischen diesem und dem vorhergehenden Abschnitt keine Beziehung zu bestehen. Doch in Wirklichkeit haben wir hier einen durchgehenden Gedankengang. Der Erlöser redet immer noch von der Bedeutung dessen, was seine Jünger mit seinen Lehren anfangen. Er vergleicht sich selbst mit einem Mann, »der eine Lampe angezündet hat«, die man nicht unter »ein Gefäß« oder »ein Bett« stellt, sondern auf ein »Lampengestell«, damit alle »das Licht sehen«. Als Jesus den Jüngern die Grundsätze des Reiches Gottes lehrte, zündete er eine Lampe an. Was sollten sie nun damit tun?
Erstens sollten sie diese nicht »mit einem Gefäß« bedecken. In Matthäus 5,15, Markus 4,21 und Lukas 11,33 wird statt des Gefäßes von einem Scheffel gesprochen. Dies ist natürlich eine Maßeinheit, die in der Geschäftswelt verwendet wird. So könnte das Bild von der unter dem Scheffel versteckten Lampe davon sprechen, dass man sein Zeugnis durch das harte Geschäftsleben verzerren oder verdunkeln lässt. Es wäre besser, die Lampe auf den Scheffel zu stellen, das heißt, das Christentum mit auf den Marktplatz zu nehmen und das Geschäft als Kanzel zur Verkündigung des Evangeliums zu nutzen.
Zweitens sollten die Jünger die Lampe nicht »unter einem Bett« verstecken. Das Bett spricht von Ruhe, Bequemlichkeit, Faulheit und Vernachlässigung der Alltagspflichten. Wie sehr können sie das Licht hindern zu scheinen! Der Jünger sollte seine Lampe auf ein »Lampengestell« stellen. Mit anderen Worten, er sollte die Wahrheit so ausleben und predigen, dass alle sie sehen können.
8,17 Vers 17 scheint Folgendes nahezulegen: Wenn wir die Botschaft durch unser Geschäft oder unsere Faulheit beschränken wollen, wird unsere Vernachlässigung herausgestellt werden. Verborgene Wahrheit wird »offenbar« werden und trotz Geheimhaltung wird sie »ans Licht kommen«.
8,18 Deshalb sollten wir sehr sorgfältig darauf achten, »wie« wir »hören«. Wenn wir die Wahrheit treu anderen Menschen weitersagen, dann wird Gott uns neue und tiefere Wahrheiten offenbaren. Wenn wir auf der anderen Seite diesen Geist evangelistischen Eifers nicht haben, wird uns Gott der Wahrheit berauben, die wir meinen zu haben. Was wir nicht nützen, verlieren wir. G. H. Lang kommentiert:
Die Jünger hörten mit einem Geist, der gerne verstehen wollte, und in der Bereitschaft zu Glaube und Gehorsam. Die anderen hörten entweder teilnahmslos oder aus Neugier bzw. aus offener Feindschaft zu. Den Jüngern sollte mehr Wissen geschenkt werden, die anderen sollten auch noch das Wissen verlieren, das sie schon hatten.23 Gib es doch weiter,
was dir ward von Gott –
Liebe, wie Jesus gelehrt. Lind’re die Not nur
und teile dein Brot,
so wird noch mancher bekehrt. Verfasser unbekannt
K. Die wahren Verwandten Jesu (8,19-21)
8,19-21 An diesem Punkt seiner Rede wird Jesus gesagt, dass »seine Mutter und seine Brüder« auf ihn warteten, um ihn zu besuchen. »Sie konnten wegen der Volksmenge nicht zu ihm gelangen.« Die Antwort des Herrn lautete, dass echte Verwandtschaft zu ihm nicht von leiblicher Verwandtschaft abhängt, sondern vom Gehorsam gegenüber dem »Wort Gottes«. Er erkennt alle als Glieder seiner Familie an, die vor dem Wort Gottes zittern, es in Demut annehmen und ihm bedingungslos gehorchen. Keine Volksmenge kann seine geistliche Familie von einer Audienz bei ihm abhalten.
L. Der Menschensohn stillt den Sturm (8,22-25)
8,22 In den restlichen Versen des Kapitels sehen wir, wie Jesus seine Herrschaft über Naturgewalten, Dämonen, Krankheit und sogar über den Tod ausübt. Diese alle gehorchen seinem Wort, nur der Mensch weigert sich. Auf dem See Genezareth kommen oft sehr plötzlich Stürme auf, die für die kleineren Boote sehr gefährlich werden können. Doch vielleicht hatte dieser Sturm einen satanischen Ursprung, möglicherweise war es der vergebliche Versuch Satans, den Heiland der Welt zu vernichten.
8,23 Jesus »schlief«, während der Sturm losbrach. Die Tatsache, dass er schlief, zeigt sein echtes Menschsein. Der Sturm musste sich beruhigen, als Jesus sprach; das zeigt seine vollkommene Göttlichkeit.
8,24 Die Jünger »weckten« den Heiland und sprachen von ihrer Furcht um ihre eigene Sicherheit. Völlig ruhig »bedrohte er den Wind« und die Wellen, »und es trat Stille ein«. Was er auf dem See Genezareth getan hat, das kann er für den besorgten, vom Sturm gebeutelten Jünger auch heute noch tun.
8,25 Er fragte die Jünger: »Wo ist euer Glaube?« Sie hätten sich keine Sorgen machen müssen. Sie hätten ihn nicht wecken müssen. »Kein Wasser kann das Boot verschlingen, in dem der Herr des Ozeans, der Erde und des Himmels liegt.« Wer bei Christus im Boot sitzt, ist absolut sicher und geborgen.
Die Jünger erkannten nicht die ganze Macht ihres Meisters. Ihr Verständnis von ihm war äußerst unvollkommen. Sie »erstaunten« über die Tatsache, dass die Naturgewalten ihm gehorchten. Sie sind nicht anders als wir selbst. In den Stürmen des Lebens verzweifeln wir oft. Wenn dann der Herr uns zu Hilfe kommt, dann sind wir erstaunt, wie er seine Macht zeigt. Und wir fragen uns, warum wir ihm nicht mehr vertraut haben. M. Die Heilung eines besessenen Geraseners (8,26-39)
8,26.27 Als Jesus und seine Jünger das Ufer erreichten, waren sie in der Landschaft »der Gerasener«.24 Sie begegneten »einem Mann«, der von »Dämonen« besessen war. Matthäus erwähnt zwei Besessene, während Markus und Lukas nur einen erwähnen. Solche scheinbaren Diskrepanzen könnten darauf hinweisen, dass es sich hier in Wirklichkeit um zwei verschiedene Ereignisse handelt, oder dass ein Autor einen vollständigeren Bericht als die anderen liefert. Dieser besondere Fall von Besessenheit ließ das Opfer ohne Kleider herumlaufen, die menschliche Gesellschaft meiden und »in den Grabstätten« leben.
8,28.29 »Als er aber Jesus sah«, bat er ihn, ihn in Ruhe zu lassen. Natürlich war das der »unreine Geist«, der durch den bedauernswerten Mann sprach. Besessenheit gibt es wirklich. Diese Dämonen waren nicht nur »schlechte Einflüsse«. Sie sind übernatürliche Wesen, die in Menschen wohnen können und dann deren Gedanken, Äußerungen und ihr Verhalten kontrollieren. Die Dämonen, um die es sich hier handelt, waren die Ursache dafür, dass dieser Mann extrem gewalttätig war, so sehr, dass er, als er einen seiner Anfälle hatte, Fesseln »zerbrochen« hatte, die ihn zähmen sollten. Anschließend war er »in die Wüsten« gerannt. Das ist nicht weiter erstaunlich, wenn man erfährt, dass in diesem Mann genug Dämonen saßen, um eine Herde von zweitausend Schweinen zu töten (s. Mk 5,13).
8,30.31 Der Name des Mannes war »Legion«, weil er von einer Legion »Dämonen« besessen war. Diese Dämonen erkannten Jesus als Sohn Gottes, des Höchsten. Sie wussten auch, dass ihre Bestimmung unausweichlich war. Doch sie baten um Begnadigung und bettelten darum, »dass er ihnen nicht gebieten möchte«, sofort »in den Abgrund zu fahren«.
8,32.33 Sie baten um Erlaubnis, in eine »Herde von vielen Schweinen« zu fahren, die in der Nähe an einem Berg »weideten«. Das wurde ihnen mit dem Ergebnis gewährt, dass »die Herde … sich den Abhang hinab in den See (stürzte) und ertrank«. Heutzutage klagt man den Herrn an, dass er das Eigentum fremder Menschen dadurch vernichtet hätte. Wenn diese Schweinezüchter jedoch Juden gewesen sind, dann hatten sie ein unreines und dem Gesetz widersprechendes Gewerbe. Und ob sie nun Juden oder Heiden waren, ihnen sollte ein Mensch mehr wert sein als zweitausend Schweine.
8,34-39 Die Nachricht verbreitete sich schnell in der ganzen Gegend. Als sich eine große Menge versammelte, sahen sie den ehemals Besessenen vollkommen geheilt und ordentlich. »Die ganze Menge aus der Umgegend der Gerasener« war so aufgeregt darüber, dass sie Jesus baten, »von ihnen wegzugehen«. Sie dachten mehr an ihre Schweine als an den Erlöser, mehr an ihre Sauen als an ihre Seelen. Darby beobachtete:
Die Welt bittet Jesus, wegzugehen, da sie ihre eigene Bequemlichkeit liebt, die durch die Gegenwart und Macht Gottes mehr gestört wird als durch eine Legion Dämonen. Jesus geht weg. Der Geheilte … würde gerne bei ihm bleiben, doch Jesus sendet ihn zurück …, damit er ein Zeugnis der Gnade und Macht ist, die ihn geheilt hat.25 Als Jesus später noch einmal das Gebiet der Zehn Städte besucht, empfängt ihn eine wohlgesonnene Menge (Mk 7,3137). Lag das an dem treuen Zeugnis des Mannes, der von den Dämonen befreit worden war?
N. Jesus heilt die Unheilbaren und erweckt Tote zum Leben (8,40-56)
8,40-42 Jesus fuhr über den See Genezareth zurück ans Westufer. Dort »erwartete« ihn schon wieder eine Menschenmenge. Besonders »Jairus«, der »Vorsteher der Synagoge«, wartete auf ihn, denn er hatte eine »Tochter von etwa zwölf Jahren, und diese lag im Sterben«. Er bat Jesus dringlich, schnell mit ihm zu kommen. Doch »die Volksmengen drängten ihn« und hinderten ihn am Vorwärtskommen.
8,43 In der Menge war ein furchtsame, aber zu allem entschlossene »Frau, die seit zwölf Jahren« an »Blutfluss« litt. Lukas, der Arzt, gibt zu, dass sie »ihren ganzen Lebensunterhalt« und ihre Ersparnisse »an die Ärzte verwandt hatte«, ohne Hilfe zu erlangen. (Markus fügt als Laie die Aussage hinzu, dass es ihr sogar schlechter ging!)
8,44.45 Sie fühlte, dass Jesus die Macht hatte, sie zu heilen, und so bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge bis zu ihm. Sie beugte sich nieder und »rührte die Quaste seines Kleides an«, den Saum oder die Fransen, die den unteren Abschluss eines jüdischen Gewandes bildeten (4. Mose 15,38.39; 5. Mose 22,12). »Sogleich hörte ihr Blutfluss auf«, und sie war vollständig geheilt. Sie versuchte, sich still wegzustehlen, doch ihre Flucht wurde von der Frage Jesu gestoppt: »Wer ist es, der mich angerührt hat?« Petrus und die anderen Jünger dachten, dass dies eine recht müßige Frage sei, da alle Menschen ihn drängten, schoben und drückten!
8,46 »Jesus aber« hatte eine besondere Berührung bemerkt. Jemand sagte einmal dazu: »Das Fleisch bedrängt, aber der Glaube berührt.« Er wusste, dass ihn jemand im Glauben »angerührt« hatte, weil er spürte, »dass Kraft von« ihm »ausgegangen« war – die Kraft, die die Frau geheilt hatte. Nicht dass er in irgendeiner Weise weniger stark gewesen wäre als vorher, sondern es kostete ihn einfach etwas, zu heilen. Er hatte etwas dafür aufgewendet.
8,47.48 »Die Frau … kam … zitternd« zu ihm und entschuldigte sich, dass »sie ihn angerührt habe«, und gab ein dankbares Zeugnis des Geschehens. Ihr öffentliches Bekenntnis wurde von Jesus mit einem öffentlichen Lob für ihren »Glauben« belohnt, und er erklärte öffentlich seinen »Frieden« über sie. Niemand hat Jesus jemals im Glauben angerührt, ohne dass dieser es wusste und ihn segnete. Niemand hat je von Jesus öffentlich Zeugnis abgelegt, ohne in der Zuversicht seiner Erlösung bestärkt zu werden.
8,49 Die Heilung der Frau mit dem Blutfluss hat Jesus wahrscheinlich nicht lange aufgehalten, doch reichte die Unterbrechung, dass ein Bote mit der Nachricht kommen konnte, dass Jairus’ Tochter »gestorben« sei und man deshalb die Dienste des Lehrers nicht mehr benötige. Man hatte den Glauben, dass er heilen könne, doch glaubte nicht, dass er die Toten auferwecken könne.
8,50 Jesus jedoch ließ sich nicht so einfach fortschicken. Er antwortete mit tröstlichen Worten: »Fürchte dich nicht, glaube nur! Und sie wird gerettet werden.«
8,51-53 Sobald er in dem Haus ankam, ging er mit den Eltern und mit »Petrus und Johannes und Jakobus« in den Raum, in dem das Kind lag. Alle klagten voller Verzweiflung, doch Jesus sagte ihnen, dass sie damit aufhören sollten, weil sie »nicht gestorben« sei, sondern nur schlafe. Da »lachten sie ihn aus«, weil sie sich sicher waren, »dass sie gestorben war«.
War sie nun wirklich tot, oder lag sie nur in einem tiefen Schlaf, der einem Koma ähnelte? Die meisten Ausleger sind der Meinung, dass sie tot war. Sie weisen darauf hin, dass Jesus auch von Lazarus sagte, er schlafe, und damit meinte, dass er gestorben sei. Sir Robert Anderson ist jedoch der Ansicht, dass das Mädchen nicht tot war.26 Er argumentiert wie folgt: 1. Jesus sagte, dass das Mädchen »gerettet« werden würde. Das Wort, das er verwendete, ist dasselbe wie in Vers 48 dieses Kapitels, wo es sich auf Heilung und nicht auf Auferstehung bezieht. Das Wort wird im NT niemals für die Auferstehung der Toten benutzt.
2. Jesus benutzte bei Lazarus ein anderes Wort für schlafen.
3. Die Menschen waren der Überzeugung, dass das Mädchen tot war. Jesus wollte jedoch nicht den Ruhm dafür ernten, dass er sie aus den Toten auferweckt hatte, während er in Wirklichkeit wusste, dass sie nur geschlafen hatte.
Anderson sagt, es geht einfach daru m, wem man glauben will. Jesus sagte, sie schlafe. Die anderen meinten zu wissen, dass sie tot war.
8,54-56 Jedenfalls sagte Jesus zu ihr: »Kind, steh auf! … sogleich stand sie auf.« Nachdem er sie ihren Eltern zurückgegeben hatte, befahl Jesus ihnen, das Wunder nicht zu verbreiten. Er war nicht an Berühmtheit, dem schwankenden Eifer der Menge und an eitler Neugier interessiert. So endet das zweite Jahr des Dienstes Jesu. In Kapitel 9 beginnt das dritte Jahr mit der Aussendung der Zwölf. O. Der Menschensohn sendet seine Jünger aus (9,1-11)
9,1.2 Dieses Ereignis ähnelt sehr der Aussendung der Zwölf in Matthäus 10,1-15, doch gibt es bemerkenswerte Unterschiede. Zum Beispiel werden in Matthäus die Jünger beauftragt, nur zu den Juden zu gehen, sie sollten Tote auferwecken und »Krankheiten« heilen. Es gibt offensichtlich einen Grund für die gekürzte Version bei Lukas, doch ist dieser Grund nicht offensichtlich. Der Herr hatte nicht nur die Macht und Autorität, Wunder zu tun, sondern er übertrug diese »Kraft und Vollmacht« auch auf andere. »Kraft« bedeutet die Stärke oder auch die Möglichkeit zur Tat. »Vollmacht« ist das Recht, sie auch zu gebrauchen. Die Botschaft der Jünger wurde durch Zeichen und Wunder bestätigt (Hebr 2,3.4), als die Bibel noch nicht vollständig in schriftlicher Form vorlag. Gott kann auf wunderbare Weise heilen, doch ob Heilungen heute noch immer mit der Predigt des Evangeliums einhergehen sollen, ist sehr infrage zu stellen.
9,3-5 Nun sollten die Jünger eine Gelegenheit erhalten, die Prinzipien in die Praxis umzusetzen, die Jesus sie gelehrt hatte. Sie sollten ihm in Bezug auf materielle Versorgung vertrauen – sie sollten keine »Tasche«, kein Essen und kein »Geld« mitnehmen. Sie sollten sehr einfach leben – sie brauchten weder einen Stab noch zusätzliche Kleidungsstücke. Sie sollten im ersten Haus bleiben, das sie aufnehmen würde, und nicht in der Hoffnung umherziehen, irgendwo bequemer unterzukommen. Sie sollten weder bei denen, die ihre Botschaft ablehnten, länger bleiben, noch sollten sie Druck ausüben, sondern sollten »auch den Staub von« ihren »Füßen (schütteln), zum Zeugnis gegen sie«.
9,6 Wahrscheinlich predigten die Jünger in den »Dörfern« Galiläas »die gute Botschaft« und heilten die Kranken. Es sollte hier erwähnt werden, dass ihre Botschaft vom Reich handelte – sie kündigten die Anwesenheit des Königs in ihrer Mitte und seine Bereitschaft an, über ein bußfertiges Volk zu herrschen.
9,7 »Herodes« Antipas war zu dieser Zeit »Vierfürst« über Galiläa und Peräa. Er regierte über ein Viertel des Gebietes seines Vaters, Herodes’ des Großen. Ihn erreichte die Botschaft, dass jemand in seinem Gebiet große Wunder tat. Sofort fing sein Gewissen an zu fragen. Er kam noch immer nicht davon los, an Johannes denken zu müssen. Herodes hatte diese furchtlose Stimme zum Schweigen gebracht, indem er Johannes enthaupten ließ, doch wurde er noch immer von der Kraft dieses Mannes verfolgt. Wer war das, der Herodes immer wieder an Johannes denken ließ? »Von einigen wurde gesagt, dass Johannes aus den Toten auferweckt worden sei.«
9,8.9 Andere sagten dagegen, dass es »Elia« oder »einer der« anderen »Propheten« sei. Herodes versuchte seine Angst zu überwinden, indem er die Menschen am Hof daran erinnerte, dass er den Täufer »enthauptet« habe. Doch die Furcht blieb. »Wer aber ist dieser? … Er suchte ihn zu sehen«, doch das sollte ihm bis kurz vor der Kreuzigung nicht gelingen. Hier sieht man die Macht eines geisterfüllten Lebens! Der Herr Jesus, der merkwürdige Zimmermann aus Nazareth, ließ Herodes zittern, ohne dass dieser ihn je zu Gesicht bekommen hatte. Man sollte nie den Einfluss eines Menschen unterschätzen, der voll des Heiligen Geistes ist!
9,10 »Als die Apostel zurückkehrten«, erzählten sie dem Herrn Jesus sofort die Ergebnisse ihres Einsatzes. Vielleicht wäre dies eine gute Arbeitsweise für alle christlichen Arbeiter. Zu oft führt die Veröffentlichung von Erfolgen zu Eifersucht und Spaltung. Und G. Campbell Morgan kommentiert, dass »unsere Vorliebe für Statistiken sehr selbstbezogen und fleischlich, jedoch nicht geistlich ist«. Unser Herr »nahm« die Jünger mit an eine einsame Stätte in der Gegend von Betsaida (Haus des Fischens). Anscheinend gab es zu dieser Zeit zwei Orte namens Betsaida, einer am Westufer und einer am Ostufer des Sees Genezareth. Die genaue Lage ist unbekannt.
9,11 Schon bald wurde die Aussicht auf eine ruhige Zeit zusammen wieder zerstreut. Rasch versammelte sich eine Menschenmenge. Der Herr Jesus ist immer für die Menschen da. Er betrachtete ihre Anwesenheit nicht als störende Unterbrechung. Er war nie zu beschäftigt, um andere zu segnen. In der Tat heißt es sogar ausdrücklich, dass er »sie aufnahm« (oder sie willkommen hieß), sie über das »Reich Gottes« belehrte und »gesund machte, die Heilung brauchten«. P. Die Speisung der Fünftausend (9,12-17)
9,12 Als es später wurde, wurden »die Zwölf« unruhig. So viele Menschen, die Nahrung brauchten! Eine unmögliche Situation. Sie baten deshalb den Herrn, »die Volksmenge« wegzuschicken. Wie sehr ähneln wir ihnen doch im Herzen! In Angelegenheiten, die uns selbst betreffen, sagen wir wie Petrus: »Befiehl mir, zu dir zu kommen.« Doch wie leicht geht es uns von den Lippen, wenn es um andere geht: »Entlass« sie!
9,13 Jesus wollte sie nicht in die umliegenden Dörfer schicken, damit sie sich dort Essen besorgen konnten. Waru m sollten die Jünger auf Predigtreisen durch die Lande ziehen und die vernachlässigen, die vor ihrer eigenen Haustür lebten? Die Jünger sollten dieser Menge Nahrung beschaffen. Die Jünger wandten ein, dass sie nur »fünf Brote und zwei Fische« hätten, und vergaßen dabei, dass sie sich auf die unerschöpflichen Vorräte des Herrn Jesus verlassen konnten.
9,14-17 Er bat die Jünger einfach, die Menge von »fünftausend Männern« plus Frauen und Kinder sich lagern zu lassen. Dann dankte er, »brach« das Brot und gab es »den Jüngern«. Sie wiederum vert eilten es an die Menschen. Für jeden war genügend Speise vorhanden. Als das Mahl vorüber war, war sogar mehr Essen übrig geblieben, als am Anfang da gewesen war. Die Überreste füllten »zwölf Handkörbe«, für jeden Jünger einen. Wer versucht, dieses Wunder wegzuerklären, der füllt vergeblich das Papier mit wirren Aussagen.
Dieser Vorfall ist für die Jünger voller Bedeutung, die mit der Evangelisation der Welt beauftragt sind. Die Fünftausend stehen für die verlorene Menschheit, die nach dem Brot Gottes hungert. Die Jünger sind das Bild für hilflose Christen, die scheinbar begrenzte Mittel haben, diese jedoch nicht teilen wollen. Das Gebot des Herrn: »Gebt ihr ihnen zu essen«, ist nur eine Wiederholung des Missionsbefehls. Hier soll uns Folgendes gelehrt werden: Wenn wir Jesus geben, was wir haben, kann er es vermehren, um eine geistlich hungrige Menge damit zu sättigen. Man denke nur an den Diamantring, die Lebensversicherung, das Bankkonto und die Sportausrüstung! Der Erlös dafür kann zum Beispiel für evangelistische Literatur verwendet werden, die zur Errettung von Seelen führen kann, die wiederum Anbeter des Lammes Gottes in der Ewigkeit werden.
Die Welt könnte noch in dieser Generation evangelisiert werden, wenn die Christen alles, was sie sind und haben, hingeben würden. Das ist die bleibende Lektion der Speisung der Fünftausend. Q. Das Bekenntnis des Petrus (9,18-22)
9,18 Sofort nach der Speisung der Fünftausend finden wir das große Bekenntnis des Petrus, das er in Cäsarea Philippi ablegte. Hatte das Wunder mit den Broten und Fischen den Jüngern die Augen geöffnet, sodass sie die Herrlichkeit des Herrn Jesus als Gottes Gesalbten erkannten? Dieses Ereignis in Cäsarea Philippi wird allgemein als Wendepunkt im Lehrdienst Jesu seinen Jüngern gegenüber angesehen. Bis zu diesem Punkt hatte er ihnen geduldig gezeigt, wer er ist und was er in ihnen und durch sie tun konnte. Nun hatte er dieses Ziel erreicht, und von nun an bewegte er sich entschlossen auf das Kreuz zu. Jesus betete »für sich allein«. Es wird nicht berichtet, dass der Herr Jesus jemals gemeinsam mit seinen Jüngern gebetet hätte. Er betete für sie, er betete in ihrer Gegenwart, und er lehrte sie beten, doch sein eigenes Gebetsleben fand ohne sie statt. Nach einer seiner Gebetszeiten fragte er seine Jünger, was »die Volksmengen« sagten, wer er sei.
9,19.20 Sie berichteten von verschiedenen Ansichten: Einige sagten: »Johannes der Täufer«, andere sagten, er sei »Elia«, und wieder andere sagten, er sei ein auferstandener »Prophet« des AT. Doch als Jesus seine Jünger fragte, bezeugte Petrus ihn mutig als den »Christus (oder Messias) Gottes«.
James Stewart kommentiert dieses Ereignis in Cäsarea Philippi so exzellent, dass wir ihn hier in voller Länge zitieren wollen:
Er begann mit der unpersönlichen Frage: »Was sagen die Volksmengen, wer ich bin?« Das war jedenfalls keine Frage, die schwer zu beantworten gewesen wäre. Denn überall sprachen die Menschen über Jesus. Meinungen wurden zu Dutzenden verbreitet. Alle Arten von Gerüchten und Ansichten schwirrten herum. Jesus war in aller Munde. Und die Menschen redeten nicht nur über ihn, nein: Er war in ihren Augen ein großartiger Mensch. Einige waren der Meinung, dass er der wiederauferstandene Johannes der Täufer sei. Andere sagten, er erinnere sie an Elia. Andere sprachen von Jeremia oder anderen Propheten. Mit anderen Worten, man war sich zwar nicht einig, wer Jesus war, doch man stimmte im Blick darauf überein, dass er sehr bedeutend war. Er hatte seinen Platz unter den Helden seines Volkes gefunden. Es ist wichtig zu sehen, wie sich hier die Geschichte wiederholt. Wieder einmal ist Jesus in aller Munde. Er wird heute weit über den Kreis der christlichen Kirchen hinaus diskutiert. Man hat eine Menge verschiedener Urteile über ihn auf Lager. Papini sieht Jesus als den Poeten. Bruce Barton sieht in ihm den Mann der Tat. Middleton Murry sieht ihn als Mystiker. Männer, die alles andere als evangelikal sind, sind bereit, Jesus als das Vorbild für jeden Heiligen und als Führer von sämtlichen moralischen Führern aller Zeiten herauszustellen. Wie die Männer seiner Tage, die Jesus für Johannes, Elia oder Jeremia hielten, so sind sich die Menschen heute einig, dass unter den Heiligen und Helden aller Zeiten Jesus an der ersten Stelle steht. Doch Jesus gab sich mit einer derartigen Anerkennung nicht zufrieden. Die Menschen sagten, dass er Johannes, Elia oder Jeremia sei. Doch das bedeutete, dass er einer unter vielen war. Es bedeutete, dass es ähnliche wie ihn gab, dass er zwar in der ersten Reihe stand, doch nur primus inter pares, der Erste unter Gleichen, war. Doch ganz sicher kommt dies nicht dem gleich, was der Christus des Neuen Testaments für sich beanspruchte. Die Menschen können Jesu Anspruch zustimmen oder ihn ablehnen, doch hinsichtlich dieses Anspruchs als solchen gibt es keinerlei Zweifel. Christus beanspruchte, im Blick auf sein Werk und seine Person beispiellos, einmalig, unvergleichlich und einzigartig zu sein (z. B. in Matth 11,27; 24,35; Joh 10,30; 14,6).27
9,21.22 Nach dem historischen Bekenntnis des Petrus gab der Herr den Jüngern den Auftrag, »dies niemand zu sagen«, da nichts seinen Weg zum Kreuz behindern durfte. Dann offenbarte ihnen der Erlöser seine nächste Zukunft. Jesus musste »vieles leiden«, musste von den religiösen Führern Israels »verworfen werden, … getötet und am dritten Tag auferweckt werden«. Das war eine erstaunliche Ankündigung. Wir sollten nicht vergessen, dass diese Worte von dem einzigen sündlosen, gerechten Menschen gesprochen wurden, der je auf dieser Erde lebte. Sie wurden vom wahren Messias Israels geäußert. Es waren Worte des fleischgewordenen Gottes. Sie sagen uns, dass das Leben der Erfüllung, das vollkommene Leben, das Leben des Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes Leiden, Ablehnung und Tod in der einen oder anderen Form und eine Auferstehung zu einem Leben beinhaltet, das keinen Tod mehr kennt. Es ist ein Leben, das für andere ausgegossen wird. Das war natürlich das genaue Gegenteil der gängigen Messiasvorstellung. Die Menschen sehnten sich nach einem säbelrasselnden, den Feind bekämpfenden Volksführer. Diese Aussage Jesu muss für die Jünger ein Schock gewesen sein. Doch wenn Jesus, wie sie bekannt hatten, wirklich der Christus Gottes war, dann hatten sie keinen Grund, desillusioniert oder enttäuscht zu sein. Wenn er der Gesalbte Gottes war, dann konnte er sein Ziel nie verfehlen. Ganz gleich, was ihm oder ihnen geschehen würde, sie waren immer auf der Seite des Gewinners. Sieg und Überwindung waren unausweichlich. R. Einladung, das Kreuz auf sich zu nehmen (9,23-27)
9,23 Nachdem er seine eigene Zukunft umrissen hatte, lud der Herr seine Jünger ein, ihm nachzufolgen. Das würde bedeuten, sich selbst zu verleugnen und »sein Kreuz« auf sich zu nehmen. Sich »verleugnen« bedeutet, freiwillig auf jedes sogenannte Recht auf Planung oder Entscheidung zu verzichten und Jesu Herrschaft in jedem Bereich des Lebens anzuerkennen. »Sein Kreuz aufnehmen« heißt, freiwillig das Leben zu führen, das auch er führte. Dazu gehört:
– Der Widerstand derer, die man liebt. – Die Verachtung der Welt. – Das Verlassen von Familie, Haus, Land und den Bequemlichkeiten des Lebens.
– Vollständige Abhängigkeit von Gott. – Gehorsam gegenüber der Führung des Heiligen Geistes.
– Verkündigung einer unbeliebten Botschaft.
– Ein Weg der Einsamkeit. – Organisierte Angriffe von etablierten religiösen Autoritäten.
– Leiden um der Gerechtigkeit willen. – Üble Nachrede und Schmach. – Die Hingabe des eigenen Lebens für andere.
– Die Tatsache, dass man gegenüber dem Ich und der Welt abgestorben ist. Doch dazu gehört auch, das wahre Leben zu ergreifen! Es bedeutet, letztlich den Grund unserer Existenz zu erkennen. Und es bedeutet ewige Belohnung. Wir schrecken instinktiv vor einem Leben zurück, in welchem wir unser Kreuz auf uns nehmen. Unser Verstand zögert zu glauben, dass dies der Wille Gottes für uns sein könnte. Doch die Worte Christi: »Wenn jemand mir nachkommen will«, bedeuten, dass niemand ausgenommen oder entschuldigt ist.
9,24 Unsere natürliche Absicht besteht darin, unser Leben durch selbstsüchtige, selbstzufriedene, alltägliche und belanglose Dinge zu »retten«. Wir können unseren Vergnügungen und Begierden frönen, indem wir in Bequemlichkeit, Überfluss und Behaglichkeit schwelgen, nur für den Augenblick leben und mit der Welt schachern: Unsere besten Talente tauschen wir dann gegen einige Jahre scheinbarer Sicherheit ein. Aber dabei »verlieren« wir unser Leben, das heißt, wir verfehlen den wahren Sinn des »Lebens« und die tiefe geistliche Freude, die damit verbunden ist! Auf der anderen Seite können wir unser Leben um des Erlösers willen »verlieren«. Die Menschen werden denken, dass wir verrückt sind, wenn wir unsere selbstsüchtigen Pläne über Bord werfen, wenn wir das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen, wenn wir uns ihm ohne Vorbehalte hingeben. Doch nur dieses Leben der Hingabe ist echtes Leben. Es bietet eine Freude, eine heilige Sorglosigkeit und eine tiefe innere Zufriedenheit, die sich nicht beschreiben lässt.
9,25 Als der Heiland mit den Zwölfen redete, stellte er fest, dass das Streben nach materiellem Besitz ein mächtiges Hindernis für eine völlige Hingabe sein kann. Deshalb sagte er im Grunde: »Stellt euch vor, ihr könntet alles Gold und Silber der ganzen Welt aufhäufen, könntet allen Landbesitz und alle Güter besitzen, alle Aktien und Wertpapiere – alles, was auch nur den geringsten materiellen Wert hat. Stellt euch dann vor, dass ihr in dem verzweifelten Versuch, alle diese Reichtümer anzusammeln, am wahren Sinn eures Lebens vorübergeht, was würde es euch nützen? Ihr könntet alle diese Güter nur kurz besitzen. Es wäre ein verrücktes Geschäft, wenn ihr das eine kurze Leben für ein paar Spielzeuge aus Staub hergeben würdet.«
9,26 Ein anderes Hindernis, sich Christus völlig hinzugeben, ist die Angst vor Verachtung. Es ist völlig irrational, wenn ein Geschöpf sich seines Schöpfers oder ein Sünder seines Heilands schämt. Und doch, wer von uns hat sich dessen noch nicht schuldig gemacht? Der Herr wusste, dass wir uns seiner schämen können, und warnte uns ernstlich davor. Wenn wir der Schande ausweichen, indem wir ein Leben als Namenschrist führen und mit der Masse laufen, dann »wird der Sohn des Menschen sich« unserer schämen, »wenn er kommen wird in seiner Herrlichkeit und der des Vaters und der heiligen Engel«. Er betont die dreifache Herrlichkeit seiner Wiederkunft. Damit wollte er gleichsam sagen, dass jede Schande oder Schmähung, die wir heute für ihn ertragen, bei seiner Erscheinung in Herrlichkeit unbedeutend sein wird, wenn wir sie mit der Schande vergleichen, die jene treffen wird, die ihn heute verleugnen.
9,27 Diese Erwähnung seiner Herrlichkeit bildet die Verbindung zum nun Folgenden. Jesus sagt voraus, dass »einige« der Jünger, die dort standen, »das Reich Gottes« sehen würden, ehe sie sterben. Diese Worte fanden ihre Erfüllung in den Versen 28-36, dem Ereignis der Verklärung. Die erwähnten Jünger waren Petrus, Jakobus und Johannes. Auf dem Berg der Verklärung sahen sie eine Vorschau auf die Zeit, da der Herr Jesus sein Reich auf Erden errichten wird. Petrus schrieb darüber in seinem zweiten Brief: Denn wir haben euch die Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundgetan, nicht indem wir ausgeklügelten Fabeln folgten, sondern weil wir Augenzeugen seiner herrlichen Größe gewesen sind. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit, als von der erhabenen Herrlichkeit eine solche Stimme an ihn erging: »Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.« Und diese Stimme hörten wir vom Himmel her ergehen, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren (2. Petr 1,16-18). Man beachte den inneren Zusammenhang in der Lehre unseres Herrn, der in diesem Abschnitt erkennbar ist. Soeben hat er seine bevorstehende Verwerfung, sein Leiden und seinen Tod angekündigt. Er hat seine Jünger aufgerufen, ihm in ein Leben der Selbstverleugnung, des Leidens und des Opfers zu folgen. Nun sagt er im Grunde: »Aber denkt daran: Wenn ihr mit mir leidet, werdet ihr auch mit mir herrschen. Nach dem Kreuz kommt die Herrlichkeit. Die Belohnung steht in keinem Verhältnis zu den Kosten.« S. Der Sohn des Menschen wird verklärt (9,28-36)
9,28.29 Es war »etwa acht Tage« später, als Jesus »Petrus und Johannes und Jakobus mitnahm und auf den Berg stieg, um zu beten«. Die genaue Lage dieses Berges ist unbekannt, obwohl der hohe, schneebedeckte Hermon wahrscheinlich dieser Berg war. Als der Herr betete, veränderte sich sein »Aussehen«. Es ist eine verblüffende Wahrheit, dass sich durch das Gebet unter anderem das Aussehen eines Menschen verändert. »Sein Angesicht« strahlte in einem hellen Licht, und »sein Gewand« leuchtete in einem blendenden Weiß. Wie schon oben erwähnt, war dies ein Vorgeschmack der Herrlichkeit im künftigen Reich Christi. Während Jesus noch auf der Erde lebte, war seine Herrlichkeit normalerweise in seinem Leib aus Fleisch und Blut verhüllt. Er kam in Erniedrigung als Knecht Gottes. Doch im Tausendjährigen Reich wird seine Herrlichkeit vollkommen offenbar sein. Alle werden ihn in seiner Herrlichkeit und Majestät sehen.
Professor W. H. Rogers drückt das sehr gut aus:
Bei der Verklärung werden alle wichtigen Eigenschaften des zukünftigen Reiches bereits im Ansatz offenbar. Wir sehen den Herrn in seiner Herrlichkeit statt in den Lumpen der Erniedrigung. Wir sehen den verherrlichten Mose, den Vertreter der Wiedergeborenen, die durch den Tod Eingang in das Reich gefunden haben. Wir sehen Elia in Herrlichkeit gekleidet, den Vertreter der Erlösten, die durch die Verwandlung Eingang in das Reich gefunden haben. Und wir sehen die drei Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, die nicht verherrlicht sind, als die Vertreter Israels im Fleisch während des Tausendjährigen Reiches. Dann gibt es noch die Volksmenge am Fuß des Berges, die für die Nationen stehen, die in das Reich gebracht werden, nachdem es eingesetzt worden ist.28
9,30.31 Mose und Elia »redeten mit« Jesus über seinen »Ausgang« (gr. exodus), »den er in Jerusalem erfüllen sollte«. Man beachte, dass hier von seinem Tod als einer Erfüllung gesprochen wird. Auch sollte man beachten, dass der Tod nur ein »Ausgang«, ein exodus, ist – nicht das Aufhören der Existenz, sondern der Aufbruch von einem Ort zu einem anderen.
9,32.33 Die Jünger schliefen währenddessen. Bischof Ryle sagt: Wir sollten festhalten, dass genau dieselben Jünger, die während dieser herrlichen Vision schliefen, auch im Garten Gethsemane während des schrecklichen Kampfes Jesu schlafend gefunden wurden. Fleisch und Blut müssen wirklich verändert werden, ehe sie in den Himmel kommen können. Unsere armen schwachen Leiber können weder mit Christus in der Zeit seiner Versuchung noch seiner Verherrlichung wachen. Unsere leibliche Verfassung muss sehr verwandelt werden, ehe wir den Himmel genießen können.29 »Als sie aber völlig aufgewacht waren, sahen sie« den hellen Schein der Herrlichkeit Christi. In einem Versuch, diesen heiligen Augenblick zu bewahren, schlägt Petrus vor, »drei Hütten« zu bauen, eine für Jesus, eine für Mose und eine für Elia. Doch diese Idee beruhte auf Eifer ohne Erkenntnis.
9,34-36 Gottes »Stimme« kam aus der Wolke, die sie umgab, und bezeichnete Jesus als seinen »auserwählten Sohn«. Sie gab den Jüngern den Auftrag, ihn zu hören,  d. h.  ihm  zu  gehorchen.  Sobald  die Stimme verklungen war, waren Mose und Elia wieder verschwunden. »Jesus (stand) wieder allein« vor ihnen. So wird es auch im Reich Gottes sein: Er wird eine Vorrangstellung über alle Dinge haben. Er wird seine Herrlichkeit mit keinem teilen.
Die Jünger gingen voller Ehrfurcht weg. Sie waren so ergriffen, dass sie vorerst mit niemandem über diesen Vorfall sprachen.
T. Ein besessener Junge wird geheilt (9,37-43a)
9,37-39 Vom Berg der Verklärung kehrten Jesus und die Jünger »am folgenden Tag« in das Tal menschlicher Not zurück. Das Leben bietet Augenblicke geistlicher Erhebung, doch Gott gleicht sie durch die alltägliche Mühe und Arbeit wieder aus. »Aus der Volksmenge« kam Jesus ein Mann entgegen und bat ihn, seinem besessenen »Sohn« zu helfen. Er war der »einzige« Sohn und deshalb die Freude seines Herzens. Welch unaussprechliches Leid bedeutete es für diesen Vater, seinen Jungen von dämonischen Krämpfen ergriffen zu sehen. Diese Anfälle kamen ohne Vorwarnung. Der Junge schrie und hatte Schaum vor dem Mund. Erst nach einem fürchterlichen Kampf ließ ihn der Dämon schwer verletzt zurück.
9,40 Der verzweifelte Vater hatte bereits die »Jünger« um Hilfe gebeten, aber sie waren machtlos. Warum konnten die Jünger dem Jungen nicht helfen? Vielleicht übten sie ihren Dienst routinemäßig aus. Vielleicht dachten sie, sie könnten sich auf einen geisterfüllten Dienst ohne ständige geistliche Übung verlassen. Vielleicht nahmen sie alles ein wenig zu selbstverständlich.
9,41 Der Herr Jesus war über das gesamte Spektakel traurig. Ohne jemanden direkt anzusprechen, sagte er: »O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht …« Das kann sich an die Jünger, die Menschenmenge, den Vater des Jungen oder an alle drei Gruppen richten. Sie waren angesichts menschlicher Not alle hilflos, obwohl sie seine unendliche Macht in Anspruch nehmen konnten. »Bis wann« sollte Jesus noch gezwungen sein, bei ihnen zu sein und sie zu ertragen? Dann befahl er dem Vater: »Bring deinen Sohn her!«
9,42.43a »Noch während (der Sohn) herbeikam«, wurde er von dem »Dämon« ergriffen und auf die Erde geworfen. Doch Jesus konnte dieser Machtbeweis eines bösen Geistes nicht beeindrucken, es war eher der Unglaube der Menschen, der ihn hinderte, als die Macht der Dämonen. Er trieb den »unreinen Geist« aus, »heilte den Jungen und gab ihn seinem Vater zurück«. Alle Menschen »erstaunten«. Sie erkannten, dass Gott hier ein Wunder getan hatte. Sie sahen in dem Wunder einen Erweis der »herrlichen Größe Gottes«.
U. Der Menschensohn sagt seinen Tod und seine Auferstehung voraus (9,43b-45)
9,43b.44 Die »Jünger« hätten nun denken können, dass ihr Meister weiter solche Wunder täte, bis das ganze Volk ihn als König ausrufen würde. Um sie von diesem Irrtum abzubringen, erinnerte sie der Herr nochmals daran, dass »der Sohn des Menschen überliefert werden« musste »in die  Hände  der  Menschen«,  d. h.  dass  er umgebracht würde.
9,45 Warum »verstanden« sie diese Vorhersage nicht? Einfach deshalb, weil sie immer noch von dem Messias als Volksheld träumten. Sein Tod wäre in dieser Hinsicht ihrer Meinung nach eine Niederlage. Ihre eigene Hoffnung war so stark, dass sie außerstande waren, eine andere Ansicht anzunehmen. Nicht Gott verhüllte ihnen die Wahrheit, sondern ihre entschlossene Weigerung, Jesu Voraussagen zu glauben. »Sie fürchteten sich« sogar, ihn um Klärung »zu fragen« – als ob ihnen bange davor war, ihre Ängste bestätigt zu bekommen. V. Echte Größe im Reich Gottes (9,46-48)
9,46 Die Jünger erwarteten nicht nur, dass in Kürze ein herrliches Reich errichtet werden würde, sondern sie wollten auch in diesem Reich die höchsten Positionen bekleiden. Schon stritten sie unter sich, »wer wohl der Größte unter ihnen sei«.
9,47.48 Jesus wusste, welche Frage sie umtrieb, und stellte »ein Kind … neben sich«. Dann erklärte er, dass jeder, der »ein Kind in« seinem »Namen« aufnehmen wird, ihn selbst aufnehmen würde. Auf den ersten Blick scheint diese Äußerung nichts mit der Frage zu tun zu haben, wer der Größte unter den Jüngern sei. Doch obwohl es nicht offensichtlich ist, scheint die Verbindung folgende zu sein: Echte Größe sieht man an liebevoller Fürsorge für die Kleinen, die Hilflosen, an denen die Welt einfach vorübergeht. Jesus hatte gesagt: »Wer der Kleinste ist unter euch allen, der ist groß.« Deshalb bezog er sich bei dieser Aussage auf denjenigen, der sich selbst demütigte und sich mit unscheinbaren, unbedeutenden und verachteten Gläubigen verband. In Matthäus 18,4 sagte der Herr, dass der Größte im Reich der Himmel sein wird, wer sich wie ein kleines Kind demütigt. Hier im Lukasevangelium geht es darum, sich mit den einfachsten der Kinder Gottes eins zu machen. In beiden Fällen geht es darum, sich zu demütigen, wie der Heiland selbst es getan hat. W. Der Menschensohn verbietet eine sektiererische Gesinnung (9,49.50)
9,49 Dieser Vorfall zeigt anscheinend das Verhalten, von dem der Herr den Jüngern gerade eben gesagt hatte, dass sie es vermeiden sollten. Sie hatten jemanden gefunden, der »in deinem Namen Dämonen« austrieb. Sie »wehrten ihm« nur deshalb, weil er keiner ihrer Nachfolger war. Mit anderen Worten, sie weigerten sich, ein Kind Gottes in Jesu Namen aufzunehmen. Sie waren sektiererisch und engherzig. Sie hätten froh sein sollen, dass der Dämon ausgetrieben worden war. Sie hätten niemals auf einen Mann oder eine Gruppe neidisch sein dürfen, die vielleicht mehr Dämonen austrieb als sie selbst. Aber in diesem Fall muss sich jeder Jünger vor diesem Verlangen nach Exklusivität, nach einer Monopolstellung im Blick auf geistliche Macht und geistliches Ansehen hüten.
9,50 Die Antwort Jesu war: »Wehrt nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, ist für euch.« Soweit die Person und das Werk Christi betroffen sind, kann es keine Neutralität geben. Wenn Menschen nicht für Christus sind, sind sie gegen ihn. Doch wenn es um christlichen Dienst geht, sagt A. L. Williams:
Ernsthafte Christen müssen sich an Folgendes erinnern: Wenn Außenseiter irgendetwas in Jesu Namen tun, muss es im Ganzen gesehen seine Sache fördern … Die Antwort des Meisters enthielt eine große, weitreichende Wahrheit. Keine christliche Gemeinschaft auf dieser Erde, wie heilig auch immer sie sein mag, könnte je göttliche Vollmacht für sich allein beanspruchen, die nur mit einem echten und glaubensvollen Gebrauch des Namens Jesu einhergeht.30 VII. Wachsender Widerstand gegen den Menschensohn (9,51 – 11,54) A. Samaria lehnt den Menschensohn ab (9,51-54)
9,51 »Die Tage« der Himmelfahrt Jesu kamen näher. Er wusste das sehr gut. Er wusste auch, dass dazwischen noch das Kreuz lag; deshalb näherte er sich entschlossen »Jerusalem« und allem, was ihn dort erwartete.
9,52.53 Ein samaritisches »Dorf«, das auf seinem Weg lag, erwies sich gegenüber dem Sohn Gottes als wenig gastfreundlich. Weil die Menschen wussten, dass er auf dem Weg »nach Jerusalem« war, hatten sie vermeintlich Grund genug, ihn nicht aufzunehmen, soweit es um ihr Dorf ging. Es gab immerhin einen erbitterten Hass zwischen Samaritern und Juden. Infolge ihrer sektiererischen Gesinnung, ihrer Engherzigkeit, ihrer von Rassenhass geprägten Haltung und ihres Stolzes auf ihre Volkszugehörigkeit nahmen diese Samariter den Herrn der Herrlichkeit nicht auf.
9,54-56 »Jakobus und Johannes« waren durch diese Unhöflichkeit so erbost, dass sie am liebsten »Feuer vom Himmel« auf diese Menschen herabgerufen hätten. Sofort tadelte der Herr sie. Er war »nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten« (LU 1912). Es war das »Gnadenjahr des Herrn« und nicht der »Tag der Rache für unseren Gott« (Jes 61,2). Die Jünger hätten sich durch Barmherzigkeit, nicht durch Rachsucht auszeichnen sollen. B. Hindernisse für die Jüngerschaft (9,57-62)
9,57 In diesen Versen begegnen wir drei Möchtegernjünger, deren Verhalten drei Haupthindernisse für hingegebene Jüngerschaft veranschaulichen. Der Erste war sich ganz sicher, dass er Jesus überall hin »nachfolgen« wolle. Er wartete nicht, bis er gerufen wurde, sondern bot sich an, ohne zu überlegen. Er hatte großes Selbstvertrauen sowie übermäßigen Eifer und war sich der Kosten nicht bewusst. Er wusste nicht, was er sagte.
9,58 Auf den ersten Blick scheint die Antwort Jesu keinen Bezug auf das Angebot des Mannes zu haben. Aber in Wirklichkeit gibt es eine sehr enge Verbindung. Jesus sagte im Grunde: »Weißt du eigentlich, was es bedeutet, mir nachzufolgen? Es bedeutet, die Bequemlichkeiten und Vorzüge des Lebens hinter sich zu lassen. Ich habe keine Wohnung, die ich mein eigen nennen könnte. Diese Erde bietet mir keinerlei Ruhestatt. Füchse und Vögel haben mehr natürliche Annehmlichkeit und Sicherheit als ich. Bist du gewillt, mir zu folgen, auch wenn es bedeutet, Dinge aufzugeben, deren Besitz die meisten Menschen für ihr unveräußerliches Recht halten?« Wenn wir lesen: »Der Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlegt«, so sind wir versucht, ihn zu bedauern. Ein Ausleger bemerkt dazu: »Er braucht unser Bedauern nicht. Wir sollten uns lieber selbst bedauern, wenn wir ein Haus haben, das uns zurückhält, wenn Jesus uns dort haben möchte, wo der Pulsschlag dieser Zeit zu spüren ist.« Wir hören von diesem Menschen nichts mehr und müssen annehmen, dass er nicht bereit war, die gewöhnlichen Bequemlichkeiten des Lebens aufzugeben, um dem Sohn Gottes nachzufolgen.
9,59 Der Zweite hatte den Ruf Christi vernommen, ihm zu »folgen«. Er war dazu in gewisser Weise bereit, doch wollte er »vorher« noch etwas erledigen. Er wollte »hingehen« und seinen »Vater begraben«. Man beachte, wie er sich ausdrückt: »Herr, erlaube mir, vorher …«, mit anderen Worten: »Herr, ich zuerst.« Er nannte Jesus zwar »Herr«, doch er stellt seine eigenen Interessen an die erste Stelle. Die Worte »Herr« und »ich zuerst« stehen im völligen Widerspruch zueinander, wir müssen uns für das eine oder das andere entscheiden. Ob der »Vater« schon tot war, oder ob der Sohn solange zu Hause bleiben wollte, bis er starb, spielt keine Rolle. Er räumte einer anderen Angelegenheit den Vorrang gegenüber Jesu Ruf ein. Es ist vollkommen legitim und gut, seinem sterbenden oder toten Vater Ehre zu erweisen, doch wenn irgendetwas oder irgendwer höher als Christus steht, dann wird es eindeutig zur Sünde. Dieser Mann ließ sich von etwas anderem – wir könnten sagen, von einem Beruf oder einer Aufgabe – vereinnahmen, und das hielt ihn von einem Weg hingegebener Jüngerschaft ab.
9,60 Der Herr tadelte diese Unentschlossenheit mit den Worten: »Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.« Die geistlich Toten können die leiblich Toten begraben, doch sie können nicht das Evangelium predigen. Jünger sollten nicht Aufgaben Vorrang geben, die unerlöste Menschen genauso gut tun können wie Christen. Der Gläubige sollte sich vergewissern, dass er unentbehrlich ist, soweit es die Hauptsache des Lebens betrifft. Seine vorrangige Beschäftigung sollte die Sache Christi auf Erden weiterbringen.
9,61 Der Dritte, der gerne ein Jünger geworden wäre, war dem Ersten dari n ähnlich, dass er auf Christus zukam und ihm »nachfolgen« wollte. Er war dem Zweiten darin ähnlich, dass auch er »vorher« noch von seiner Familie Abschied nehmen wollte. An sich war dieses Vorhaben vernünftig und gut, doch sogar die normale Höflichkeit im Alltagsleben ist verkehrt, wenn sie über sofortigen und völligen Gehorsam gestellt wird.
9,62 Jesus sagte ihm, dass er, sobald er »seine Hand an den Pflug« der Jüngerschaft »gelegt« habe, nicht »zurückblicken«31 dürfe, sonst sei er nicht »tauglich für das Reich Gottes«. Christi Nachfolger sind nicht halbherzig oder sentimental. Keine Rücksichtnahme auf Familie oder Freunde, so berechtigt sie auch sein mag, darf sie von der völligen Hingabe an ihn ablenken. Der Ausdruck nicht »tauglich für das Reich Gottes« bezieht sich nicht auf die Erlösung, sondern auf den Dienst. Es geht nicht um den Zugang zum Reich, sondern um den Dienst, nachdem man hine ingekommen ist. Unsere Tauglichkeit für den Zugang zum Reich ist allein die Person und das Werk unseres Herrn Jesus Christus. Sie wird uns durch den Glauben an ihn geschenkt.
So haben wir hier nun die drei Haupthindernisse für die Jüngerschaft in der Erfahrung dieser drei Männer beschrieben:
1. Materielle Bequemlichkeit. 2. Ein Beruf oder eine Aufgabe. 3. Familie und Freunde. Christus duldet keinen neben sich, wenn er im Herzen eines Menschen herrscht. Alle anderen Vorlieben oder Bindungen müssen an zweiter Stelle stehen.
C. Die Aussendung der Siebzig (10,1-16)
10,1-12 Dies ist der einzige Evangelienbericht über die Aussendung von »siebzig«32 Jüngern. Er ähnelt stark der Aussendung der Zwölf in Matthäus 10. Doch dort wurden die Jünger nach Norden gesandt, während die Siebzig hier südwärts jenen Weg vorausgeschickt wurden, den der Herr nach Jerusalem gehen würde. Dieser Auftrag sollte scheinbar den Weg des Herrn bereiten, den er auf seiner Reise von Cäsarea Philippi im Norden über Galiläa und Samaria, über den Jordan, südwärts durch Peräa und dann wieder über den Jordan nach Jerusalem nahm. Obwohl der entsprechende Dienst und Auftrag der Siebzig zeitlich begrenzt war, deuten die Anweisungen unseres Herrn an diese Männer auf viele Lebensgrundsätze hin, die für Christen in jedem Zeitalter gelten.
Einige dieser Grundsätze könnte man so zusammenfassen:
1.  Er sandte sie »zu je zwei« aus (V. 1). Es geht dabei um gültige Zeugenschaft. »Durch zweier oder dreier Zeugen Mund wird jede Sache festgestellt werden« (2. Kor 13,1). 2. Der Diener des Herrn sollte ständig »bitten, … dass er Arbeiter aussende in  seine  Ernte«  (V. 2).  Der  Bedarf  ist immer größer als die Zahl der Arbeiter. Wer für Arbeiter betet, muss offensichtlich auch bereit sein, selbst zu gehen. Man beachte die Worte »bittet« (V. 2) und »geht« (V. 3). 3. Die Jünger Jesu werden in eine feindlich gesinnte Umgebung gesandt (V. 3).  Sie  sind  ihrem  äußeren  Anschein nach so hilflos »wie Lämmer mitten unter Wölfen«. Sie können nicht erwarten, von der Welt wie Könige behandelt zu werden, sondern würden eher verfolgt und sogar getötet zu werden.
4. Sie dürfen keinerlei Rücksicht auf ihre persönliche Bequemlichkeit nehmen (V. 4a). »Tragt weder Börse noch Tasche noch Sandalen.« Die Börse spricht von Geldreserven. Die Tasche spricht von Nahrungsvorräten. Die Sandalen bedeuten entweder ein Ersatzpaar oder Schuhe, die zusätzliche Bequemlichkeit bieten. Alle drei Gegenstände sprechen von der Armut, die, obwohl sie nichts hat, alles besitzt und viele reich macht (2. Kor 6,10). 5. »Grüßt niemand auf dem Weg« (V. 4b).  Christi  Diener  sollen  keine Zeit mit langen, förmlichen Begrüßungen verschwenden, wie sie in den Ländern des Ostens üblich waren. Sie sollen zwar höflich sein, doch sollen sie ihre Zeit damit verbringen, die herrlichen Wahrheiten des Evangeliums zu verkündigen, statt nutzlos zu schwatzen. Es ist keine Zeit für nutzlose Verzögerungen.
6. Sie sollen Gastfreundschaft annehmen, wo immer sie ihnen entgegengebracht  wird  (V. 5.6).  Wenn  ihre Begrüßung wohlwollend aufgenommen wird, dann ist der Gastgeber ein »Sohn des Friedens«. Er hat den Charakterzug der Friedfertigkeit und ist einer, der die Friedensbotschaft annimmt. Wenn die Jünger abgelehnt werden, sollen sie sich nicht entmutigen lassen, ihr Friede wird zu ihnen »zurückkehren«,  d. h.  es  gibt  keine Verschwendung und keinen Verlust, und andere werden ihn empfangen. 7. Die Jünger sollen »in diesem Haus bleiben«, das ihnen als Erstes Unterkunft  gewährt  (V. 7).  Wenn  sie  von Haus zu Haus gehen, dann könnte sie das in den Ruf bringen, nur nach der luxuriösesten Unterkunft zu suchen, während sie doch einfach und dankbar leben sollen.
8. Sie sollen nicht zögern, alles zu essen und zu trinken, was ihnen angeboten wird (V. 7). Als Diener des Herrn werden sie ihren Unterhalt empfangen. 9. Dörfer und Städte entscheiden sich entweder für oder gegen den Herrn, so wie es einzelne Menschen tun (V. 8.9).  In  einem  Gebiet,  in  dem  die Botschaft angenommen wird, sollen die Jünger predigen, Gastfreundschaft annehmen und die Segnungen des Evangeliums überbringen. Die Diener Christi sollen essen, »was (ihnen) vorgesetzt wird«, nicht wählerisch hinsichtlich des Essens sein und den Gastgebern keine Unannehmlichkeiten bereiten. Schließlich ist Essen nicht die Hauptsache in ihrem Leben. In Städten, welche die Boten des Herrn trotz Ablehnung anderenorts aufnehmen, werden die Einwohner von der Krankheit der Sünde geheilt. Auch kommt ihnen der König sehr »nahe« (V. 9).
10. Eine Stadt kann das Evangelium auch ablehnen, dann wird ihr das Vorrecht verweigert, es noch einmal zu hören  (V. 10-12).  Es  gibt  im  Handeln Gottes mit den Menschen einen Zeitpunkt, zu dem sie die Botschaft zum letzten Mal hören. Die Menschen sollen mit dem Evangelium nicht spielen, weil es ihnen sonst für immer genommen werden könnte. Wer das Licht ablehnt, dem wird es vorenthalten. Städte und Dörfer, die das Vorrecht haben, die Gute Nachricht zu hören und die sie ablehnen, werden härter als »Sodom« bestraft werden. Je größer das Vorrecht, desto größer ist auch die Verantwortung.
10,13.14 Als Jesus diese Worte sprach, erinnerte er sich an drei galiläische Städte, die mehr als alle anderen bevorrechtigt worden waren. Sie hatten ihn mächtige Wunder auf ihren Straßen tun sehen. Sie hatten seine gnadenreiche Lehre gehört. Sie hatten ihn abgelehnt. Wenn die Wunder, die er in »Chorazin« oder »Betsaida« getan hatte, in »Tyrus und Sidon … geschehen wären«, hätten diese Küstenstädte wahrscheinlich von Herzen Buße getan. Weil die Städte Galiläas von Jesu Werk unbeeindruckt waren, wird ihr Gericht am letzten Tag sehr viel strenger ausfallen als das von »Tyrus und Sidon«. Die historische Tatsache bleibt bestehen, dass Chorazin und Betsaida so gründlich zerstört worden sind, dass ihre genaue Lage heute nicht mehr bekannt ist.
10,15 Kapernaum wurde Jesu Heimatstadt, nachdem er aus Nazareth weggezogen war. Die Stadt war durch dieses Vorrecht »bis zum Himmel erhöht worden«. Doch sie verachtete ihren wunderbarsten Bürger und verpasste so den Tag des Heils. Deshalb wird sie »bis zum Hades … hinabgestoßen werden«.
10,16 Jesus schloss seine Anweisungen an die Siebzig mit der Feststellung, dass sie seine Boten waren. Sie abzulehnen, hieß, ihn abzulehnen, und ihn ablehnen, bedeutet, Gott den Vater abzulehnen.
Ryle kommentiert:
Es gibt wohl keine eindeutigeren Aussagen im Neuen Testament über die Ehre des treu verwalteten Hirtendienstes und über die Schuld, die diejenigen auf sich ziehen, die sich der Botschaft verweigern. Diese Aussagen – das sollten wir nicht verg essen – wurden nicht über die zwölf Apos tel, sondern über siebzig Jünger gemacht, deren Namen und deren späteres Schicksal wir nicht kennen. Scott bemerkt dazu: »Einen Boten abzulehnen oder ihn verächtlich zu behandeln, ist ein Affront gegen den Herrscher, der ihn beauftragt und gesandt hat und den er vertritt. Die Apostel und die siebzig Jünger waren die Boten und Vertreter Christi. Diejenigen, die sie ablehnten und verach teten, verwarfen in Wirklichkeit ihn und lehnten ihn ab.«33 D. Die Rückkehr der Siebzig (10,17-24)
10,17.18 Als sie von ihrer Reise »zurückkehrten«, freuten sich »die Siebzig«, dass ihnen sogar »die Dämonen … untertan« waren. Die Antwort Jesu kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Erstens kann sie bedeuten, dass er in ihrem Erfolg den Anfang des endgültigen Falls »Satans … vom Himmel« sah. Jamieson, Fausset und Brown umschreiben seine Worte folgendermaßen:
Ich bin euch bei eurer Mission gefolgt und habe auch die Siege gesehen, die ihr errungen habt. Während ihr euch über die Unterwerfung der Dämonen in meinem Namen gewundert habt, bot sich mir ein großartigeres Schauspiel. So schnell, wie ein Blitz vom Himmel auf die Erde hinabzuckt, siehe, so schnell sah ich Satan vom Himmel herabfallen.
Dieser Fall Satans liegt noch in der Zukunft. Er wird von Michael und seinen Engeln aus dem Himmel geworfen werden (Offb 12,7-9). Das wird während der Drangsalszeit geschehen, bevor Jesus in Herrlichkeit über die Erde regieren wird. Eine zweite mögliche Auslegung der Worte Jesu ist eine Warnung vor Stolz. Es ist, als ob er sagen wollte: »Ja, ihr seid ganz begeistert, weil euch sogar die Dämonen untertan sind. Doch denkt daran, die erste Sünde war der Stolz. Es war der Stolz, der zum Fall Luzifers und seinem Sturz aus dem Himmel führte. Seht zu, dass ihr diesem Schicksal entgeht.«
10,19 Der Herr hatte seinen Jüngern »die Macht« über die bösen Mächte gegeben. Ihnen wurde während ihres Auftrages Schutz davor gewährt. Das gilt für alle Diener Gottes: Sie werden beschützt.
10,20 Doch sie sollten sich »nicht« über ihre Macht über »die Geister … freuen«, sondern über ihre eigene Errettung. Das ist das einzige Mal, dass berichtet wird, dass der Herr Jesus seinen Jüngern befohlen hat, sich nicht zu freuen. Mit Erfolg im christlichen Dienst sind ganz subtile Gefahren verbunden, wohingegen die Tatsache, dass unsere »Namen in den Himmeln angeschrieben sind«, uns an unsere unendliche Schuld vor Gott und seinem Sohn erinnert. Man kann sich mit Sicherheit an der Errettung durch seine Gnade freuen.
10,21 Jesus wurde zwar von der Masse der Menschen abgelehnt, doch als er seine demütigen Nachfolger ansah, »frohlockte Jesus im Geist« und dankte dem Vater für seine unvergleichliche Weisheit. Die Siebzig gehörten nicht zu den »Weisen und Verständigen« dieser Welt. Sie waren weder Intellektuelle noch Gelehrte. Sie waren nur »Unmündige«! Doch diese Unmündigen hatten Glauben, Hingabe und einen uneingeschränkten Gehorsam. Die Intellektuellen waren zu schlau, zu gebildet und zu gelehrt, um zu sehen, was ihnen tatsächlich zum Nutzen gewesen wäre. Ihr Stolz verblendete sie gegenüber dem wirklichen Wert des geliebten Sohnes Gottes. Oftmals kann der Herr am besten durch »Unmündige« wirken. Unser Herr freute sich über alle, die der Vater ihm gegeben hatte, und über diesen anfänglichen Erfolg der Siebzig, der den endgültigen Sturz Satans andeutete.
10,22 »Alles« war dem Sohn von seinem »Vater« übergeben, ob es sich nun um Dinge im Himmel, auf Erden oder unter der Erde handelte. Gott hat Jesus das gesamte Universum als Machtbereich gegeben. »Niemand erkennt, wer der Sohn ist, als nur der Vater.« Mit der Menschwerdung Jesu ist ein Geheimnis verbunden, das niemand als nur »der Vater« ergründen kann. Wie Gott Mensch werden und in einem menschlichen Leib wohnen konnte, geht über das Verständnis der Geschöpfe Gottes hinaus. Niemand weiß, »wer der Vater ist, als nur der Sohn, und wem der Sohn ihn offenbaren will«. Ja, Gott selbst ist für den menschlichen Verstand unergründlich. Der Sohn kennt ihn vollkommen, und der Sohn hat ihn den schwachen, armen und verachteten Menschen offenbart, die an ihn glauben  (1. Kor  1,26-29).  Diejenigen,  die  den Sohn gesehen haben, haben auch den Vater gesehen. »Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht« (Joh 1,18).
Kelly sagt: »Der Sohn offenbart den Vater, doch der Geist des Menschen scheitert an dem Versuch, das unlösbare Rätsel der Herrlichkeit Christi zu ergründen.«
10,23.24 »Zu seinen Jüngern allein« sagte der Herr, dass sie nie da gewesene Privilegien genossen. Die »Propheten und Könige« des AT haben »begehrt«, die Tage des Messias »zu sehen, … und haben es nicht gesehen«. Der Herr Jesus beansprucht hier, derjenige zu sein, den die Propheten des AT erwartet haben – der Messias. Die Jünger hatten das Vorrecht, die Wunder zu »sehen« und die Lehre Jesu, der Hoffnung Israels, zu »hören«. E. Der Gesetzesgelehrte und der barmherzige Samariter (10,25-37)
10,25 »Ein Gesetzesgelehrter«, der sich im mosaischen Gesetz auskannte, war bei seiner Frage vermutlich nicht aufrichtig. Er wollte den Heiland mit einer listigen Frage gründlich auf die Probe stellen. Vielleicht dachte er, dass der Herr das Gesetz aufheben würde. Für ihn war Jesus nur ein »Lehrer«, und das »ewige Leben« etwas, das man sich verdienen konnte.
10,26-28 Der Herr berücksichtigte all dies bei seiner Antwort. Wenn der Gesetzesgelehrte demütig und bußfertig gewesen wäre, hätte der Heiland ihm direkter geantwortet. Unter den gegebenen Umständen lenkte Jesus seine Aufmerksamkeit auf das »Gesetz«. Was verlangte es? Es verlangte vom Menschen, »Gott« über alles und seinen »Nächsten« wie sich selbst zu lieben. Jesus sagte ihm, dass er »leben« würde, wenn er dies täte. Zunächst mag es so scheinen, dass der Herr hier lehrte, man könne die Erlösung durch Halten des Gesetzes erlangen. Doch das war nicht der Fall. Gott hatte nie vor, irgendjemanden durch das Halten des Gesetzes zu retten. Die Zehn Gebote wurden Menschen gegeben, die schon Sünder waren. Der Zweck des Gesetzes ist nicht die Erlösung von der Sünde, sondern die Sündenerkenntnis. Die Aufgabe des Gesetzes ist es, dem Menschen zu zeigen, wie schuldig er ist. Es ist unmöglich, dass ein sündiger Mensch Gott von »ganzem Herzen« und seinen »Nächsten wie sich selbst« liebt. Wenn er das von seiner Geburt an bis zu seinem Tode tun würde, dann bräuchte er keine Erlösung. Er wäre nicht verloren. Doch auch dann wäre seine Belohnung nur ein langes Leben auf Erden, kein ewiges Leben im Himmel. Solange er ohne Sünde leben würde, wäre ihm weiteres Leben sicher. Das ewige Leben ist nur für Sünder bestimmt, die ihre Verlorenheit einsehen und durch Gottes Gnade erlöst werden.
Deshalb war die Aussage Jesu: »Tu dies, und du wirst leben« rein hypothetisch. Wenn seine Erwähnung des Gesetzes die gewünschte Wirkung auf den Gesetzesgelehrten gehabt hätte, dann hätte dieser gesagt: »Wenn Gott das verlangt, dann bin ich verloren, hilflos und ohne Hoffnung. Ich werfe mich auf deine Liebe und Barmherzigkeit. Rette mich durch deine Gnade!«
10,29 Stattdessen wollte er »sich selbst rechtfertigen«. Warum? Es hatte ihn doch niemand angeklagt. Obwohl er sich der Schuld bewusst war, erhob sich stolz sein Herz mit der Haltung eines Aufbegehrenden. Er fragte: »Und wer ist mein Nächster?« Er wollte hier einfach den Tatsachen ausweichen.
10,30-35 Auf diese Frage hin antwortete der Herr Jesus mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Die Einzelheiten der Geschichte sind allgemein bekannt. Das Opfer des Überfalls (mit ziemlicher Sicherheit ein Jude) lag »halb tot« am Rand der Straße »nach Jericho«. Die beiden Juden, ein »Priester« und ein »Levit«, weigerten sich, ihm zu helfen. Vielleicht fürchteten sie eine Falle oder hatten Angst, dass sie auch ausgeraubt würden, wenn sie anhielten. Es war einer der verhassten »Samariter«, der den Mann rettete, ihm Erste Hilfe leistete, ihn in eine »Herberge« brachte und für ihn sorgte. Für den Samariter war ein in Not geratener Jude sein Nächster.
10,36.37 Dann stellte der Heiland die unausweichliche Frage. »Wer von diesen dreien« erwies sich dem Mann als Nächster? Natürlich derjenige, »der die Barmherzigkeit an ihm übte«. Ja, natürlich. Dann sollte der Gesetzesgelehrte hingehen und ebenso handeln. »Wenn ein Samariter sich als wahrer Nächster für einen Juden erweisen konnte, dann sind alle Menschen Nächste.«34 Es ist für uns nicht schwer, im Priester und im Leviten ein Bild für die Machtlosigkeit des Gesetzes zu sehen, das nicht in der Lage ist, dem toten Sünder zu helfen. Das Gesetz gebot: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, doch es gab nicht die Kraft zum Gehorsam. Auch ist es nicht schwer, in dem barmherzigen Samariter den Herrn Jesus zu sehen, der zu uns kam, uns von unseren Sünden erlöste und für uns auf dem Weg von der Erde zum Himmel und in alle Ewigkeit in jeder Beziehung sorgt. Priester und Leviten mögen uns enttäuschen, doch der barmherzige Samariter niemals. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter gab der Angelegenheit eine unerwartete Wendung. Sie begann mit der Frage: »Wer ist mein Nächster?« Doch sie endete mit der Frage: »Wem gegenüber erweist du dich als Nächster?« F. Maria und Marta (10,38-42)
10,38-41 Der Herr Jesus lenkt seine Aufmerksamkeit nun auf das Wort Gottes und das Gebet, den beiden wichtigsten Mitteln, durch die Gott uns segnen möchte (10,38 – 11,13). »Maria setzte sich … zu den Füßen Jesu nieder«, während »Marta … sehr beschäftigt« durch ihre Vorbereitungen für den königlichen Gast war. Marta wollte, dass der Herr ihre »Schwester« dafür tadelte, doch der Herr tadelte stattdessen Marta liebevoll deswegen, weil sie um vieles besorgt war!
10,42 Unser Herr schätzt unsere Liebe mehr als unseren Dienst. Dienst kann durch Stolz und Selbstsucht gefärbt sein. Doch die Beschäftigung mit Jesus selbst ist das »eine«, das »nötig ist, … das gute Teil, das« keinem genommen werden wird. »Der Herr will dich von einer Marta zu einer Maria machen«, kommentiert C. A. Coates, »so wie er uns von Ges etzesgelehrten zu Nächsten machen will«.35
Charles R. Erdman schreibt: Der Meister schätzt zwar alles, was wir für ihn tun, doch er weiß, dass wir es am nötigsten haben, zu seinen Füßen zu sitzen und seinen Willen zu erkennen. Dann werden wir bei unseren Aufgaben ruhig, friedlich und freundlich, und schließlich wird unser Dienst die Vollkommenheit der Maria erreichen, die einige Zeit später das Salböl über die Füße Jesu ausgießt, dessen Wohlgeruch noch immer die Welt erfüllt.36
G. Das Gebet der Jünger (11,1-4) Zwischen den Kapiteln 10 und 11 liegt eine Zeitspanne,  die  in  Johannes  9,1 – 10,21 beschrieben ist.
11,1 Hier haben wir wieder eine der häufigen Erwähnungen des Gebetslebens unseres Herrn bei Lukas. Lukas beabsichtigte, uns Christus als Menschensohn zu zeigen, der immer in Abhängigkeit vom Vater lebte. Die Jünger merkten, dass das Gebet eine tatsächliche und entscheidende Wirkung im Leben Jesu zeigte. Als sie ihn beten hörten, wollten sie auch beten lernen. Und deshalb »sprach, als er aufhörte, einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten«. Er sagte nicht: »Lehre uns, wie wir beten sollen«, sondern: »Lehre uns beten.« Doch beinhaltet diese Bitte sowohl die Frage nach dem Beten an sich als auch nach der Art und Weise des Gebets.
11,2 Das Mustergebet, das der Herr Jesus den Jüngern hier gibt, unterscheidet sich etwas vom sogenannten »Gebet des Herrn« im Matthäusevangelium. Diese Unterschiede haben einen Zweck und eine Bedeutung. Kein einziger Unterschied ist bedeutungslos. Als Allererstes lehrte der Herr die Jünger, Gott als »Unser Vater« (LU 1912) anzusprechen. Diese enge familiäre Beziehung war den Gläubigen des AT unbekannt. Es bedeutet einfach, dass die Gläubigen nun zu Gott als ihrem liebenden himmlischen Vater reden sollen. Als Nächstes lernen wir, dass Gottes Name »geheiligt« werden soll. Das drückt die Sehnsucht des Gläubigen aus, dass Gott verehrt, erhöht und angebetet werden soll. In der Bitte »dein Reich komme« haben wir ein Gebet, dass der Tag bald komme möge, an dem Gott die Mächte des Bösen besiegen und in der Person Christi über die »Erde« herrschen wird. Dann wird dort sein »Wille« geschehen, wie es jetzt schon im »Himmel« der Fall ist (vgl. LU 1912).
11,3 Nachdem der Bittende so zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gesucht hat, wird er nun gelehrt, seine eigenen Bedürfnisse und Nöte vor Gott zu bringen. Ein immer wiederkehrendes Bedürfnis wird hier vorgebracht: die Speise, sowohl leibliche Speise als auch geistliche. Wir sollen in täglicher Abhängigkeit von Gott leben und ihn als Geber aller guten Gaben anerkennen.
11,4 Als Nächstes kommt das Gebet um die Vergebung der »Sünden«, das auf der Tatsache beruht, dass wir auch anderen vergeben haben. Offensichtlich bezieht sich das nicht auf die Vergebung, die mit der ewigen Strafe für unsere Sünden in Verbindung steht. Diese Vergebung basiert auf dem vollbrachten Werk Christi auf Golgatha und wird allein durch den Glauben empfangen. Nachdem wir aber gerettet sind, behandelt uns Gott als Kinder. Wenn der Vater merkt, dass wir einen harten und nicht vergebungsbereiten Geist in unseren Herzen hegen, dann straft er uns, bis wir gebrochen und in die Gemeinschaft mit ihm zurückgeführt sind. Diese Vergebung betrifft die Gemeinschaft mit Gott dem Vater, nicht unsere Beziehung zu ihm.
Die Bitte »und führe uns nicht in Versuchung« stellt für einige Ausleger eine Schwierigkeit dar. Wir wissen, dass Gott niemanden zur Sünde verführt. Doch er erlaubt, dass wir im Leben Prüfungen und Versuchungen begegnen, und sie sind zu unserem Nutzen da. Hier ist scheinbar daran gedacht, dass wir uns ständig unserer Neigung bewusst sein müssen, vom Pfad abzukommen und in Sünde zu fallen. Wir sollten den Herrn bitten, uns davor zu bewahren, in Sünde zu fallen, auch wenn wir selbst dem Hang zur Sünde gerne nachgeben würden. Wir sollten bitten, dass die Gelegenheit und die Bereitschaft zur Sünde nie zur gleichen Zeit gegeben sind. Das Gebet drückt ein gesundes Misstrauen gegen unsere Fähigkeit aus, der Versuchung zu widerstehen. Das Gebet endet mit der Bitte um Befreiung »von dem Übel« (LU 1912).37 H. Zwei Gleichnisse als Ermutigung zum beharrlichen Beten (11,5-13)
11,5-8 Der Herr behandelt weiter das Thema Gebet und erzählt nun ein Gleichnis, um Gottes Bereitschaft zum Hören und Erhören der Bitten seiner Kinder zu beschreiben. Die Geschichte dreht sich um einen Mann, bei dem »um Mitternacht« ein Gast ankommt. Unglücklicherweise hat er nicht genug Essen im Haus. So geht er zu einem Nachbarn, klopft an der Tür und bittet um »drei Brote«. Zuerst ärgert sich der Nachbar darüber, im Schlaf gestört worden zu sein, und will nicht aufstehen. Doch weil der besorgte Gastgeber immer weiter anklopft und ruft, steht er schließlich auf und »gibt ihm, so viel er braucht«. Wenn wir dieses Bild übertragen, müssen wir sorgfältig einige falsche Schlüsse vermeiden. Es bedeutet nicht, dass Gott sich über unsere anhaltenden Bitten ärgert. Und es geht auch nicht dar um, dass die einzige Möglichkeit für die Erh örung unserer Gebete darin besteht, dass wir immer wieder dasselbe bitten. Das Gleichnis will uns lehren, dass Gott noch viel mehr auf das Rufen seiner Kinder hören will, wenn schon ein Mann bereit ist, seinem Freund wegen dessen Zudringlichkeit zu helfen.
11,9 Außerdem lehrt das Gleichnis, dass wir in unserem Gebetsleben nicht müde oder entmutigt werden sollen. »Bittet ständig, … sucht ständig, … klopft ständig.«38 Manchmal beantwortet Gott unsere Gebete sofort. Doch in anderen Fällen antwortet er nur, wenn wir ihn immer wieder bitten.
Gott erhört Gebet:
Manchmal, wenn die Herzen schwach sind,
gibt er sofort genau die Gaben, um die die Gläubigen bitten,
doch oft muss der Glaube einen tieferen Frieden kennenlernen
und Gottes Schweigen vertrauen, wenn er nicht redet,
denn der, dessen Name Liebe ist, wird das Beste schicken;
Sterne mögen vergehen oder Berge wanken,
doch Gott ist treu, seine Verheißungen fest.
Er ist unsere Stärke.
M. G. P.
Das Gleichnis lehrt verschiedene Stufen der Beharrlichkeit – bitten, suchen, klopfen.
11,10 Es lehrt, dass »jeder Bittende empfängt«, jeder »Suchende findet« und jedem »Anklopfenden geöffnet werden« wird. Das ist die Verheißung, dass Gott uns immer gibt, worum wir im Gebet bitten, oder aber etwas Besseres. Ein Nein als Antwort zeigt nur sein Wissen, dass die Erfüllung unserer Bitte nicht das Beste für uns wäre. Wenn er uns deshalb etwas vorenthält, ist das besser, als unsere Bitte zu erfüllen.
11,11.12 Das Gleichnis lehrt, dass Gott uns niemals täuschen wird, indem er uns »einen Stein« gibt, wenn wir um »Brot« (LU 1912) bitten. Brot hatte zu dieser Zeit die Form eines flachen Fladens, die einem Stein ähnelte. Gott wird uns niemals betrügen, indem er uns etwas Ungenießbares gibt, wenn wir um Nahrung bitten. Wenn wir »um einen Fisch bitten«, wird er uns doch nicht »eine Schlange geben«, d. h. etwas, das uns töten wird. Und wenn wir »um ein Ei« bitten, dann gibt er uns keinen  »Skorpion«,  d. h.  etwas,  das  uns schlimme Schmerzen bereiten würde.
11,13 Ein menschlicher Vater würde keine schlechten Gaben geben. Auch wenn er sündig ist, weiß er, seinen »Kindern gute Gaben zu geben«. »Wie viel mehr wird« unser himmlischer »Vater« bereit sein, »den Heiligen Geist … denen« zu geben, »die ihn bitten«! J. G. Bellet sagt dazu: »Es ist von Bedeutung, dass er als Gabe, die wir am meisten brauchen und die er uns am liebsten geben will, den Heiligen Geist auserwählt.« Als Jesus diese Worte sprach, war der Heilige Geist noch nicht gegeben (Joh 7,39). Wir sollten heute nicht darum bitten, dass der Heilige Geist in uns wohnen möge, weil er schon bei unserer Bekehrung gekommen ist, um in uns Wohnung zu nehmen (Röm 8,9b; Eph 1,13.14). Doch es ist sicherlich angemessen und notwendig für uns, auf andere Weise um den Heiligen Geist zu bitten. Wir sollten beten, dass wir bereit sind, vom Heiligen Geist zu lernen, dass wir uns von ihm führen lassen und dass seine Macht bei jedem Dienst für Jesus Christus auf uns ausgegossen wird.
Möglicherweise bezog sich Jesus, als er die Jünger lehrte, um »den Heiligen Geist« zu bitten, auf dessen Kraft des Geistes. Dadurch konnten sie die Jüngerschaft auf eine Weise leben, die nicht von dieser Welt ist und die er sie in den vorhergehenden Kapiteln gelehrt hatte. Zu dieser Zeit spürten sie vermutlich bereits, dass es völlig unmöglich war, die an sie gestellten jüngerschaftlichen Anforderungen aus eigener Kraft zu erfüllen. Das ist natürlich wahr. »Der Heilige Geist« ist die Macht, die es uns ermöglicht, ein christliches Leben zu führen. Deshalb zeigte Jesus uns, dass Gott uns diese Kraft gerne gibt, wenn wir ihn darum bitten. Im griechischen Original heißt es in Vers 13 nicht, dass Gott uns den Heiligen Geist geben will, sondern dass er »Heiligen Geist geben« will (ohne Artikel). Professor H. B. Swete zeigte auf, dass der Artikel, wenn er gebraucht wird, auf die Person hinweist, wenn er jedoch fehlt, verweist das auf seine Gaben oder Handlungen für uns. Deshalb betrifft das Gebet in diesem Abschnitt eher das Wirken des Geistes in unserem Leben als die Person des Heiligen Geistes an sich. Das wird durch die Parallele in Matthäus 7,11 bestätigt und näher ausgeführt, wo es heißt: »… wie viel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten!«
I. Jesus antwortet seinen Kritikern (11,14-26)
11,14-16 Indem Jesus »einen Dämon austrieb«, der sein Opfer »stumm« gemacht hatte, verursachte er unter den Menschen eine gewisse Aufregung. Während »die Volksmengen sich wunderten«, feindeten andere den Herrn immer offener an. Die Feindschaft nahm zwei verschiedene Formen an. »Einige« klagten ihn an, »die Dämonen … durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen«, auszutreiben. »Andere« hingegen verlangten, dass er ein »Zeichen aus dem Himmel« vollbringen solle, vielleicht wollten sie damit die Anklage aus dem Weg räumen, die gegen ihn erhoben wurde.
11,17.18 Die Anklage, dass Jesus die Dämonen austreibe, weil er selbst von Beelzebul besessen sei, wird in den Versen 17-26 beantwortet. Auf die Bitte um ein Zeichen reagiert der Herr Jesus in V. 29.  Zuerst  erinnerte  er  seine  Feinde dara n, dass »jedes Reich, das mit sich selbst entzweit ist«, zerstört wird, und dass, wenn »Haus gegen Haus entzweit« ist, alles einstürzt. Wenn er ein Werkzeug »Satans« war und Dämonen austrieb, dann kämpfte »Satan« gegen seine eigenen Untertanen. Es ist lächerlich zu denken, dass der Teufel so gegen sich selbst kämpfen und seine Ziele vereiteln würde.
11,19 Zweitens erinnerte der Herr seine Kritiker daran, dass einige ihrer eigenen Landsleute zur gleichen Zeit böse Geister austrieben. Wenn er dies durch die Macht Satans täte, dann würde daraus konsequenterweise folgen, dass sie die Dämonen durch dieselbe Kraft austrieben. Natürlich würden die Juden das niemals zugeben. Doch wie konnten sie abstreiten, dass Jesu Argumentation stichhaltig war? Die Vollmacht, Dämonen auszutreiben, musste entweder von Gott oder von Satan kommen. Einer von beiden musste diese Kraft verleihen, beide konnten es nicht sein. Wenn Jesus durch die Macht Satans handelte, dann waren die jüdischen Exorzisten von derselben Macht abhängig. Wer also Jesus verurteilte, verurteilte auch diese.
11,20 Die Wahrheit war, dass Jesus »durch den Finger Gottes die Dämonen« austrieb. Was meint Jesus hier mit »Finger Gottes«? Im Bericht des Matthäusevangeliums (12,28) lesen wir: »Wenn ich aber durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen.« Daraus schließen wir, dass der »Finger Gottes« dasselbe wie der Geist Gottes ist. Die Tatsache, dass Jesus die Dämonen durch den Geist Gottes austrieb, war in der Tat ein Beweis, dass »das Reich Gottes zu« den Menschen dieser Generation »gekommen« war. Das Reich war in der Person des Königs selbst gekommen. Die einfache Tatsache, dass der Herr Jesus anwesend war und solche Wunder tat, war ein Beweis dafür, dass der von Gott gesalbte Herrscher auf der Weltbühne der Geschichte erschienen war.
11,21.22 Bis dahin war Satan ein »Starker«, der »bewaffnet« war und der über seinen »Hof« unangefochten herrschte. Wer von Dämonen besessen war, blieb in seinen Fängen, und keiner konnte Satan bisher den Kampf ansagen. »Seine Habe« war »in Frieden«, d. h. niemand hatte die Macht, seine Beute zu fordern. Der Herr Jesus aber war der »Stärkere«, kam »über ihn, … besiegte« ihn, nahm ihm »seine ganze Waffenrüstung weg« und verteilte »seine Beute«.
Noch nicht einmal seine Feinde leugneten, dass Jesus böse Geister austrieb. Das konnte nur bedeuten, dass Satan besiegt worden war und seine Opfer nun befreit wurden. Darum geht es in diesen Versen.
11,23 Dann fügte Jesus noch hinzu, dass jeder, »der nicht mit« ihm ist, »gegen« ihn ist, und dass jeder, der »nicht mit« ihm »sammelt, zerstreut«. Jemand hat einmal dazu gesagt: »Man ist entweder auf demselben Weg oder steht im Weg.« Wir haben schon den scheinbaren Widerspruch dieses Verses zu 9,50 erwähnt. Wenn es um die Person und das Werk Christi geht, gibt es keine neutrale Zone. Jeder Mensch ist entweder für oder gegen Christus. Wer nicht für Christus ist, ist damit automatisch gegen ihn. Doch wenn es um den christlichen Dienst geht, dann sind diejenigen, die nicht gegen die Diener Christi sind, für sie. Im ersten Fall geht es um die Erlösung, im zweiten um den Dienst.
11,24-26 Es scheint so, als ob der Herr nun den Spieß umdreht. Seine Kritiker hatten ihn angeklagt, dass er von Dämonen besessen sei. Nun vergleicht er ihr Volk mit einem Mann, der zeitweilig von dämonischer Besessenheit geheilt worden ist. Das traf auf die Geschichte Israels zu. Vor seiner Gefangenschaft war Israel vom Dämon des Götzendienstes besessen. Doch die Gefangenschaft befreite es von diesem »unreinen Geist«, und seitdem haben die Juden nie wieder Götzendienst betrieben. Ihr Haus war »gekehrt und geschmückt«, doch sie weigerten sich, den Herrn Jesus einzulassen, um es in Besitz zu nehmen. Deshalb sagte Jesus voraus, dass »der unreine Geist« eines Tages »sieben andere Geister« sammeln werde, die »böser als er selbst« sind. Sie werden in das Haus »hineingehen und dort wohnen«. Das bezieht sich auf die schreckliche Form des Götzendienstes, der die Angehörigen des jüdischen Volkes während der Drangsal verfallen werden. Sie werden den Antichristen als Gott anbeten (Joh 5,43) und die Strafe für diese Sünde wird schlimmer sein als alles, was dieses Volk je vorher erduldet hat. Während dieses Bild sich in erster Linie auf die nationale Geschichte Israels bezieht, weist es auch darauf hin, dass einfache Buße oder Erneuerung im Leben eines Einzelnen nicht ausreicht. Es reicht nicht, eine neue Seite im Buch seines Lebens aufzuschlagen. Der Herr Jesus muss ins Herz und ins Leben eingeladen werden. Anderenfalls ist das Leben offen für schlimmere Formen der Sünde als diejenigen, denen man zuvor gefrönt hat. J. Glückseliger als Maria (11,27.28)
11,27.28 »Eine Frau aus der Volksmenge« jubelte Jesus mit den Worten zu: »Glückselig der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast!« Die Antwort unseres Herrn war von größter Bedeutung. Er bestritt nicht, dass Maria, seine Mutter, glückselig war, doch er ging darüber hinaus und sagte, dass es noch wichtiger ist, »das Wort Gottes zu hören und zu befolgen«. Mit anderen Worten, sogar die Jungfrau Maria wurde durch den Glauben an Christus und in seiner Nachfolge glückseliger als durch die Tatsache, dass sie seine Mutter war. Natürliche Beziehungen sind nicht so wichtig wie geistliche. Das sollte ausreichen, um alle die zum Schweigen zu bringen, die in Maria eine anbetungswürdige Person sehen. K. Das Zeichen Jonas (11,29-32)
11,29 In Vers 16 hatten einige Menschen den Herrn Jesus versucht, indem sie »ein Zeichen aus dem Himmel« von ihm forderten. Er beantwortet ihr Ansinnen nun, indem er ihre Forderung einem »bösen Geschlecht« zuschreibt. Er spricht in erster Linie vom jüdischen »Geschlecht«, das zu dieser Zeit lebte. Die Menschen hatten das Vorrecht, dass der Sohn Gottes unter ihnen war. Sie hatten seine Worte gehört und seine Wunder gesehen. Doch damit waren sie nicht zufrieden. Sie gaben nun vor, dass sie ihm nur dann glauben würden, wenn sie ein mächtiges, übernatürliches Werk im Himmel sehen könnten. Die Antwort des Herrn lautete, dass es »kein« weiteres »Zeichen« für sie geben würde »als nur das Zeichen Jonas«.
11,30 Jesus sprach von seiner Auferstehung aus den Toten. So »wie Jona« aus dem Meer gerettet wurde, nachdem er drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches verbracht hatte, so würde der Herr Jesus aus den Toten auferstehen, nachdem er drei Tage und drei Nächte im Grab gelegen habe. Mit anderen Worten, das letzte und größte Wunder des irdischen Dienstes des Herrn Jesus würde seine Auferstehung sein. »Jona war den Niniviten ein Zeichen.« Als er in die heidnische Metropole ging, um dort zu predigen, ging er als einer, der, zumindest bildlich gesprochen, aus den Toten auferstanden war.
11,31.32 Die »Königin des Südens«, die heidnische Königin von Saba, reiste von weit her nach Jerusalem, »um die Weisheit Salomos zu hören«. Sie sah kein einziges Wunder. Wenn sie das Vorrecht gehabt hätte, zur Zeit unseres Herrn zu leben, wie bereitwillig hätte sie ihn angenommen! Deshalb wird sie »im Gericht« gegen diese bösen Menschen »auftreten«, die die übernatürlichen Werke des Herrn Jesus gesehen und ihn dennoch abg elehnt haben. Jemand, der »mehr als Salomo« und »mehr als Jona« war, hatte den Schauplatz der menschlichen Geschichte betreten. Während die »Männer von Ninive … Buße taten auf die Predigt Jonas hin«, weigerten sich die Israeliten, auf die Predigt dessen hin Buße zu tun, der »mehr als Jona« war. Die Ungläubigen heute spotten über die Geschichte Jonas und wollen daraus eine jüdische Legende machen. Jesus sprach genauso von Jona als einer wirklichen Person, wie er von Salomo redete. Menschen, die behaupten, sie würden glauben, wenn sie nur ein Wunder sähen, irren sich. Glaube gründet sich nicht auf die Beweise durch sinnliche Erfahrung, sondern auf das lebendige Wort Gottes. Wenn ein Mensch dem Wort Gottes nicht glaubt, dann würde er auch nicht glauben, wenn jemand aus den Toten auferstünde. Die Haltung, die Zeichen fordert, gefällt Gott nicht. Es geht dann nicht um Glauben, sondern um Sehen. Der Unglaube sagt: »Lass mich erst sehen, dann will ich glauben.« Gott antwortet darauf: »Glaube, dann wirst du sehen.« L. Das Gleichnis von der angezündeten Lampe (11,33-36)
11,33 Zuerst mögen wir denken, dass zwischen diesen und den vorhergehenden Versen kein Zusammenhang besteht. Wenn wir jedoch genauer hinschauen, sehen wir eine sehr wichtige Verbindung. Jesus erinnert seine Zuhörer daran, dass niemand eine angezündete Lampe in den Keller oder »unter den Scheffel« stellt. Er stellt sie auf ein »Lampengestell«, wo sie gesehen wird und für alle Eintretenden Licht spendet.
Die Anwendung ist folgende: Gott ist derjenige, der die Lampe angezündet hat. In der Person und dem Werk des Herrn Jesus gab Gott uns ein helles Licht zur Erleuchtung der Welt. Wenn jemand dieses Licht nicht sieht, ist das nicht Gottes Schuld. In Kapitel 8 hat der Herr Jesus von der Verantwortung derer gesprochen, die schon Jünger sind, den Glauben weiterzugeben und nicht unter einem Scheffel zu verstecken. Hier in 11,33 stellt er den Unglauben seiner wundersüchtigen Kritiker bloß, der durch ihre Begierde und ihre Angst vor Schande verursacht war.
11,34 Ihr Unglaube war die Folge ihrer falschen Motive. Wenn wir z. B. einen Körper nehmen, ist das »Auge« das Organ, das dem »ganzen Leib« Licht gibt. Wenn das Auge gesund ist, kann der Mensch das Licht sehen. Doch wenn das Auge krank ist und Blindheit vorliegt, dann kann kein Licht hinein gelangen. Genauso ist es im geistlichen Bereich. Wenn ein Mensch ehrlich erkennen will, ob Jesus der Christus Gottes ist, dann wird Gott es ihm offenbaren. Doch wenn seine Beweggründe unecht sind, wenn er an seiner Habgier festhalten will, wenn er immer noch vor dem Gerede der anderen Angst hat, dann ist er gegen über dem wahren Wert des Heilands verblendet.
11,35 Die Männer, die Jesus anspricht, meinten, dass sie sehr weise seien. Sie dachten, dass sie sehr viel Licht hätten. Doch der Herr Jesus riet ihnen, die Tatsache zu bedenken, dass das »Licht«, das sie hatten, in Wirklichkeit »finster« war. Ihre vermeintliche Weisheit und Überlegenheit hielt sie von ihm fern.
11,36 Der Mensch, dessen Motive rein sind und der sein ganzes Wesen Jesus als dem Licht der Welt öffnet, wird mit geistlicher Erleuchtung durchflutet. Sein Inneres wird von Christus erleuchtet – so wie der Leib erleuchtet wird, wenn er direkt im Lichtstrahl einer Lampe sitzt. M. Äußere und innere Reinheit (11,37-41)
11,37-40 Als Jesus die Einladung »eines Pharisäers« zum Mittagessen annahm, war sein Gastgeber schockiert, weil »er sich nicht erst vor dem Essen gewaschen hatte«. Jesus las seine Gedanken und ermahnte ihn ernsthaft wegen dieser Heuchelei. Jesus erinnerte ihn daran, dass nicht zählt, wenn das »Äußere des Bechers« rein ist. Vielmehr geht es um das »Innere«. Nach außen hin erschienen die Pharisäer ziemlich gerecht, doch innerlich waren sie unehrlich und böse. Derselbe Gott, »welcher das Äußere« des Menschen »gemacht hat«, hat »auch das Innere gemacht« und ist daran interessiert, dass unser inneres Leben rein ist. »Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, aber der Herr sieht auf das Herz« (1. Sam 16,7).
11,41 Der Herr wusste, wie habgierig und selbstsüchtig diese Pharisäer waren, deshalb forderte er seinen Gastgeber zuerst auf, »als Almosen« zu geben, »was darin ist«. Wenn er diese erste Erprobung seiner Liebe zu anderen bestehen würde, dann würde ihm »alles … rein« sein. H. A. Ironside kommentiert: Wenn die Liebe Gottes unser Herz so erfüllt, dass wir uns um die Bedürfnisse von anderen kümmern, dann allein hat die Einhaltung dieser Äußerlichkeiten echten Wert. Derjenige, der immer nur für sich selbst sammelt und den Armen sowie Bedürftigen gegenüber gleichgültig ist, zeigt, dass die Liebe zu Gott nicht in ihm wohnt.39 Ein unbekannter Schreiber fasst zusammen:
Die harten Aussagen in Vers 39-52 gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten wurden am Mittagstisch eines Pharisäers geäußert (Vers 37). Was wir »guten Geschmack« nennen, wird oft als Ersatz für Wahrheitstreue missbraucht. Wir lächeln, wenn wir etwas missbilligen sollten, während wir schweigen, wo wir reden sollten. Man sollte eher eine Party platzen lassen, als die Treue zu Gott zu verraten.
N. Weherufe gegen die Pharisäer (11,42-44)
11,42 Die Pharisäer achteten sehr auf Äußerlichkeiten. Sie achteten genau auf die kleinsten Einzelheiten des Zeremonialgesetzes, wie etwa darauf, den Zehnten vom kleinsten »Kraut« zu geben. Doch in ihrer Beziehung zu Gott und Menschen waren sie nachlässig. Sie unterdrückten die Armen und liebten Gott nicht. Der Herr tadelte sie nicht dafür, dass sie »Minze und Raute« und jedes Kräutlein verzehnteten. Vielmehr wies er darauf hin, dass nicht ihr Eifer hinsichtlich dieser Einzelheiten, sondern ihre Ernsthaftigkeit gegenüber den grundlegenden Dingen des Lebens wie »dem Gericht und der Liebe Gottes« zählte. Sie betonten das Untergeordnete, übersahen aber die Hauptsache. Sie zeichneten sich in allem aus, was andere sehen konnten, doch sie waren nachlässig bei Handlungen, die nur Gott sehen konnte.
11,43 Sie liebten es, sich selbst darzustellen, »in den Synagogen« wichtige Plätze innezuhaben und so viel wie möglich Aufmerksamkeit »auf den Märkten« auf sich zu ziehen. Sie machten sich damit nicht nur der Oberflächlichkeit, sondern auch des Stolzes schuldig.
11,44 Schließlich verglich der Herr sie mit verborgenen »Grüften«. Im Rahmen des mosaischen Gesetzes machte sich jeder für sieben Tage unrein, der ein Grab berührte (4. Mose 19,16), auch wenn er nicht wusste, dass es sich um ein Grab handelte. Die Pharisäer erweckten nach außen den Anschein, dass sie hingegebene religiöse Führer waren. Doch sie hätten eigentlich ein Schild tragen müssen, das die Menschen warnte, weil man sich verunreinigte, sobald man mit ihnen in Kontakt kam. Sie waren »wie die Grüfte, die verborgen sind«, voll Unreinheit und Verdorbenheit, und steckten andere mit ihrer Oberflächlichkeit und ihrem Stolz an.
O. Gegen die Gesetzesgelehrten (11,45-52)
11,45 Die »Gesetzesgelehrten« waren die Schriftgelehrten. Sie waren Experten auf dem Gebiet der Auslegung und Erklärung des mosaischen Gesetzes. Doch ihre Fähigkeiten beschränkten sich darauf, anderen zu sagen, was sie zu tun hatten. Sie handelten selbst jedoch nicht danach. Einer der Gesetzesgelehrten bemerkte die Schärfe der Worte Jesu und erinnerte ihn daran, dass er, als er gegen die Pharisäer redete, auch die Gesetzesgelehrten beleidigte.
11,46 Der Herr benutzte dies als Gelegenheit, auch einige der Sünden der Gesetzesgelehrten zu brandmarken. In erster Linie bedrückten sie die Menschen mit allerlei gesetzlichen »Lasten«, doch halfen sie ihnen nicht beim Tragen dieser Lasten. Kelly merkt dazu an: »Sie waren bekannt für die Verachtung der Menschen, von denen sie sich rühmen ließen.«40 Viele ihrer Regeln waren reines Menschenwerk und beschäftigten sich im Grunde mit Nebensächlichkeiten.
11,47.48 Die Gesetzesgelehrten waren heuchlerische Mörder. Sie gaben vor, die Propheten Gottes zu bewundern. Sie gingen sogar so weit, Denkmäler über den »Grabmälern der Propheten« zu errichten. Dies schien zweifellos ein Beweis für ihren tiefen Respekt vor den alttestamentlichen Propheten zu sein. Doch der Herr Jesus wusste es besser. Während sie sich äußerlich von ihren jüdischen Vorfahren distanzierten, die die Propheten »getötet« hatten, traten sie in Wahrheit in ihre Fußstapfen. Während sie »die Grabmäler der Propheten« bauten, planten sie den Tod des größten aller Propheten Gottes, nämlich des Herrn Jesus selbst. Und sie würden auch in Zukunft die treuen Propheten und Apostel Gottes ermorden.
11,49 Wenn wir Vers 49 mit Matthäus 23,34 vergleichen, sehen wir, dass Jesus selbst »die Weisheit Gottes« ist. Hier zitiert er »die Weisheit Gottes«: »Ich werde Propheten und Apostel zu ihnen senden.« Im Matthäusevangelium sagt Jesus das nicht, indem er aus dem AT oder aus einer anderen Quelle zitiert. Vielmehr legt er es lediglich als seine eigene Aussage dar. (Siehe auch 1. Korinther 1,30. Dort wird von Christus als der Weisheit gesprochen.) Der Herr Jesus verheißt, dass er »Propheten und Apostel« zu den Menschen seiner Generation »senden« werde und dass diese Menschen sie »töten und vertreiben« würden.
11,50.51 Er würde »von diesem Geschlecht … das Blut aller Propheten« Gottes fordern, angefangen vom ersten Fall, der im AT verzeichnet ist, »dem Blut Abels«, bis hin zum letzten Fall, »dem Blut des Secharja, der zwischen dem Altar und dem Haus umkam« (2. Chron 24,21). Das 2. Chronikbuch war das letzte Buch in der jüdischen Reihenfolge der Bücher des AT. Deshalb meinte der Herr Jesus alle alttestamentlichen Märtyrer, als er Abel und Secharja erwähnte. Als er diese Worte aussprach, wusste er genau, dass die Angehörigen der zu seiner Zeit lebenden Generation ihn am Kreuz töten würden und so die Verfolgungsgeschichte der Männer Gottes einen entsetzlichen Höhepunkt erreichen würde. Weil sie ihn ermorden wollten, würde »das Blut aller« vorhergehenden Zeitalter über sie kommen.
11,52 Schließlich beschuldigt der Herr Jesus die »Gesetzesgelehrten«, dass sie »den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen« hätten, d. h. dass sie den Menschen das Wort Gottes vorenthalten hätten. Obwohl sie sich nach außen hin zur Schrifttreue bekannten, weigerten sie sich jedoch hartnäckig, den Einen anzunehmen, von dem die Schrift spricht, und sie »hinderten« andere daran, zu Christus zu kommen. Sie wollten ihn selbst nicht haben, und sie waren auch dagegen, dass andere ihn annahmen.
P. Die Antwort der Schriftgelehrten und Pharisäer (11,53.54)
11,53.54 Die »Schriftgelehrten und Pharisäer« waren offensichtlich durch die offenen Anklagen des Herrn verärgert. Sie »fingen … an, hart auf ihn einzudringen«, und vermehrten ihre Bemühungen, ihn mit seinen eigenen Worten zu fangen. Mit allen möglichen Tricks versuchten sie, ihn dazu zu verführen, »etwas« zu sagen, weswegen sie ihn zum Tode verurteilen konnten. Indem sie das taten, bewiesen sie nur, wie genau Jesus ihr wahres Wesen erkannt hatte. VIII. Lehren und Heilen auf dem Weg nach Jerusalem (Kap. 12 – 16) A. Warnungen und Ermutigungen (12,1-12)
12,1 »Viele Tausende der Volksmenge … hatten sich versammelt«, während Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten verurteilte. Jede Diskussion zieht normalerweise viele Menschen an, doch diese Menge war zweifellos durch Jesu furchtlose Bloßstellung dieser heuchlerischen religiösen Führer angezogen worden. Obwohl eine kompromisslose Haltung gegenüber der Sünde nicht immer gefragt ist, spricht sie doch das Herz des Menschen durch ihre Gerechtigkeit an. Die Wahrheit beweist sich immer selbst. Jesus wandte sich nun »seinen Jüngern« zu und warnte sie: »Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer.« Er erklärte, dass Sauerteig ein Bild für »Heuchelei« ist. Ein Heuchler ist jemand, der eine Maske trägt und dessen äußere Erscheinung sich vom Inneren völlig unterscheidet. Die Pharisäer wollten als tugendhafte Vorbilder gelten, doch in Wahrheit waren sie nur Meister der Verstellung.
12,2.3 Der Tag ihrer Entlarvung wird kommen. Alles, was sie »verdeckt« haben, wird »aufgedeckt« werden, und alles, was sie »in der Finsternis gesprochen haben«, wird ans »Licht« gebracht werden.
Ebenso unausweichlich wie die Aufdeckung der Heuchelei ist der Sieg der Wahrheit. Bis dahin wurde die Botschaft, welche die Jünger verkündigten, mehr im Verborgenen und nur wenigen Menschen weitergesagt. Doch nach der Verwerfung des Messias durch Israel und dem Kommen des Heiligen Geistes würden die Jünger ohne Furcht im Namen Jesu losziehen und die Gute Nachricht überall verkündigen. Dann würde die Botschaft im Vergleich zum gegenwärtigen Zeitpunkt »auf den Dächern ausgerufen werden«. Godet bemerkt dazu: »Diejenigen, deren Stimmen jetzt nicht gehört werden, außer in begrenzten und vielfach unbekannten Kreisen, sollen die Lehrer der Welt werden.«41
12,4.5 Mit den ermutigenden und herzlichen Worten »meine Freunde« warnt Jesus seine Jünger davor, sich dieser unbezahlbaren Freundschaft in Bedrängnissen zu schämen. Die weltweite Verkündigung der christlichen Botschaft würde den treuen Jüngern Tod und Verfolgung einbringen. Doch es gibt eine Grenze für das, was Menschen wie die Pharisäer ihnen antun konnten. Die Grenze ist der leibliche Tod. Den sollten sie nicht fürchten. Gott würde ihre Verfolger weitaus schlimmer strafen, nämlich mit ewigem Tod in der »Hölle«. Und deshalb sollten die Jünger Gott mehr fürchten als die Menschen.
12,6.7 Um zu betonen, dass Gott daran interessiert ist, die Jünger zu beschützen, erwähnt der Herr die Fürsorge des Herrn für die »Sperlinge«. In Matthäus 10,29 lesen wir, dass zwei Sperlinge für ein paar Pfennige verkauft werden. Hier erfahren wir, dass man »fünf Sperlinge für zwei Pfennig« verkauft. Das heißt, dass man einen als »Mengenrabatt« bekommt, wenn man vier kauft. Und doch ist sogar dieser einzelne Sperling, der so gut wie keinen Geldwert hat, von Gott nicht vergessen. Wenn Gott für diesen einzelnen Sperling sorgt, wie viel mehr wird er dann über denen wachen, die das Evangelium seines Sohnes verbreiten! Er zählt sogar »die Haare« auf ihrem »Haupt«.
12,8 Der Heiland sagte den Jüngern, dass er sich »vor den Engeln Gottes« zu jedem bekennen wird, der sich jetzt zu ihm »bekennen wird«. Hier spricht er von allen wahren Gläubigen. Ihn zu bekennen, heißt, ihn als den einzigen Herrn und Erretter anzunehmen.
12,9 Wer ihn »vor den Menschen verleugnet haben wird, der wird vor den Engeln Gottes verleugnet werden«. In erster Linie scheint es hier um die Pharisäer zu gehen, doch natürlich umfasst der Satz alle, die Christus ablehnen und sich schämen, ihn zu bekennen. An jenem Tag wird er sagen: »Ich kenne euch nicht.«
12,10 Als Nächstes erklärte der Heiland den Jüngern, dass es ein Unterschied ist, ob man ihn selbst kritisiert oder »gegen den Heiligen Geist lästert«. Wer »gegen den Sohn des Menschen« spricht, dem kann »vergeben« werden, wenn er bereut und glaubt. Doch Lästerung »gegen den Heiligen Geist« ist die Sünde, die nicht vergeben werden kann. Dieser Sünde hatten sich die Pharisäer schuldig gemacht (s. Matth 12,2232). Was ist aber diese Sünde? Sie besteht darin, die Wunder des Herrn Jesus dem Teufel zuzuschreiben. Das ist Lästerung »gegen den Heiligen Geist«, weil Jesus alle seine Wunder in der Kraft des Heiligen Geistes tat. Deshalb sagt man damit also, dass der Heilige Geist satanischen Ursprungs sei. Es gibt für diese Sünde weder in diesem noch im künftigen Zeitalter Ver gebung.
Diese Sünde kann nicht von einem echten Gläubigen begangen werden, auch wenn einige sich mit Ängsten quälen, dass sie diese Sünde begangen haben könnten, indem sie rückfällig wurden. Rückfall hat mit der unvergebbaren Sünde nichts zu tun. Jemand, der rückfällig geworden ist, kann wieder in die Gemeinschaft des Herrn aufgenommen werden. Die bloße Tatsache, dass sich ein Mensch Sorgen macht, er könne diese Sünde begangen haben, ist ein Beweis dafür, dass er sie nicht begangen hat. Auch entspricht die Verwerfung Christi durch einen Ungläubigen nicht der unvergebbaren Sünde. Ein Mensch mag Jesus immer wieder verschmähen, doch später kann er sich zum Herrn wenden und sich bekehren. Wenn er natürlich im Unglauben stirbt, kann er sich nicht mehr bekehren. Dadurch kann seine Sünde tatsächlich nicht mehr vergeben werden. Doch die Sünde, die unser Herr als unvergebbare Sünde beschreibt, umfasst jene Sünde, welche die Pharisäer begingen, als sie sagten, dass Jesus seine Wunder in der Macht Beelzebuls, des Fürsten der Dämonen, vollbrachte.
12,11.12 Es war unausweichlich, dass die Jünger dereinst vor »die Obrigkeiten und die Machthaber« geführt würden, um dort verurteilt zu werden. Der Herr Jesus sagte ihnen nun, dass es unnötig sei, sich im Voraus zurechtzulegen, was sie »sagen sollten«. »Der Heilige Geist« würde ihnen die richtigen Worte in den Mund legen, wann immer das nötig werden würde. Das bedeutet nicht, dass Diener des Herrn keine Zeit im Gebet und Bibelstudium verbringen sollten, bevor sie das Evangelium verkündigen oder das Wort Gottes lehren. Man darf diesen Vers nicht als Entschuldigung für Faulheit missbrauchen! Aber wir haben hier eine ausdrückliche Verheißung des Herrn, dass diejenigen, die wegen ihres Zeugnisses für Christus verurteilt werden, die besondere Hilfe des »Heiligen Geistes« erhalten werden. Und es ist eine allgemeine Verheißung für alle Kinder Gottes, dass ihnen, wenn sie im Geist wandeln, die richtigen Worte in den Krisenzeiten ihres Lebens gegeben werden.
B. Warnung vor Habsucht (12,13-21)
12,13 Nun trat »einer aus der Volksmenge« vor und bat den Herrn, einen Erbstreit zwischen ihm und seinem »Bruder« zu schlichten. Man hat oft gesagt, wo es ein Testament gibt, gibt es auch viele Verwandte. Das scheint hier zuzutreffen. Uns wird allerdings nicht gesagt, ob dem Mann sein rechtmäßiger Anteil vorenthalten werden sollte oder ob er nach mehr als seinem Anteil gierte.
12,14 Der Heiland erinnerte ihn gleich daran, dass er nicht in die Welt gekommen sei, sich mit solch belanglosen Streitereien abzugeben. Der Zweck seines Kommens war die Erlösung sündiger Menschen. Er wollte sich nicht von dieser großen und herrlichen Aufgabe abbringen lassen, um ein erbärmliches Erbe aufzuteilen. (Außerdem war er nicht befugt, solche Streitigkeiten zu schlichten. Seine Entscheidung wäre nicht rechtsverbindlich gewesen.)
12,15 Doch der Herr benutzte diesen Vorfall, um seine Hörer vor einem der schlimmsten Laster des menschlichen Herzens zu warnen, nämlich vor der »Habsucht«. Das unersättliche Streben nach materiellem Besitz ist einer der stärksten Antriebe im menschlichen Leben. Und doch verfehlt es den Sinn menschlicher Existenz völlig. »Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat« (LU 1984). J. R. Miller betont dazu: Das ist eines der Warnzeichen, die unser Herr aufgestellt hat, die die meisten Menschen heute anscheinend nicht mehr beachten. Christus sagte sehr viel über die Gefahren des Reichtums, doch es gibt nur wenige Menschen, die sich vor Reichtum fürchten. Habsucht wird heutzutage kaum noch als Sünde angesehen. Wenn jemand das sechste oder achte Gebot bricht, dann wird er als Krimineller hingestellt und mit Schande überschüttet, doch wenn er das zehnte bricht, dann ist er nur geschäftstüchtig. Die Bibel sagt, dass die Geldliebe die Wurzel allen Übels ist. Jeder, der diesen Vers zitiert, betont jedoch immer das Wort »Liebe« und erklärt schnell, dass nicht das Geld an sich, sondern die Liebe zum Geld eine so furchtbare »Wurzel« ist. Wenn man sich umschaut, dann hat man den Eindruck, dass der Mensch doch davon lebt, dass er viele Güter hat. Die Menschen denken, dass ihre Größe von ihrem Reichtum abhängt. Und das scheint auch so zu sein, denn die Welt misst Menschen nach ihrem Bankkonto. Und doch hat es nie einen schlimmeren Fehler gegeben. Ein Mensch wird im Gericht danach beurteilt, was er ist, nicht danach, was er hat.42
12,16-18 Das »Gleichnis« vom reichen Toren verdeutlicht die Tatsache, dass Besitz nicht das Wichtigste im Leben ist. Weil ein reicher Bauer eine außerordentlich gute Ernte hatte, schien er mit einem sehr schwierigen Problem konfrontiert zu sein: Er wusste nicht mehr, wo er all das Korn unterbringen sollte. Alle seine Scheunen und Silos waren voll. Da dachte er nach. Er löste sein Problem. Er entschied sich, seine »Scheunen niederzureißen und größere zu bauen«. Er hätte sich die Ausgabe und die Mühe dieses riesigen Bauprojektes sparen können, wenn er nur die Not leidenden Menschen um sich herum gesehen und seinen Reichtum benutzt hätte, um ihren Hunger zu stillen, sowohl den geistlichen als auch den leiblichen. Ambrosius hat gesagt: »Der Schoß der Armen, die Häuser der Witwen und die Münder der Kinder sind die Scheunen, die für immer bestehen.«
12,19 Als seine neuen Scheunen fertig waren, plante er, sich zur Ruhe zu setzen. Man beachte seinen Geist der Unabhängigkeit: »Meine Scheunen, mein Korn, meine Güter, meine Seele.« Er hatte seine Zukunft schon geplant. Er wollte »ausruhen, essen, trinken und fröhlich sein«.
12,20.21 Doch als er dachte, dass auch die Zeit ihm gehöre, gerieten seine Ziele mit Gottes Autorität in Konflikt, sodass er sich ewiges Verderben zuzog. Gott sagte ihm, dass er noch »in dieser Nacht« sterben müsse. Dann würde er all seinen irdischen Besitz verlieren. Er würde anderen gehören. Jemand hat einmal einen Toren als jemanden beschrieben, der nur bis zu seinem Grab plant. Dieser Mann war ganz sicher ein Tor.
»Für wen wird es sein?«, fragte Gott ihn. Wir könnten uns auch selbst die Frage stellen: »Wenn Jesus heute wiederkommen würde, wem würde all mein Besitz zufallen?« Wie viel besser, wenn wir ihn heute für Gott benutzen, als ihn morgen in die Hände Satans fallen zu lassen. Wir können uns jetzt im Himmel Schätze sammeln und so »reich im Blick auf Gott« werden. Oder wir können sie für unser Fleisch verschwenden und so vom Fleisch Verderben ernten.
C. Angst kontra Glaube (12,22-34)
12,22.23 Eine der größten Gefahren des christlichen Lebens ist, dass die Beschaffung von Essen und Kleidung das erste und wichtigste Ziel in unserem Leben wird. Wir sind dann so damit beschäftigt, für diese Dinge Geld zu verdienen, dass das Werk des Herrn auf den zweiten Platz verdrängt wird. Das NT betont, dass die Sache Christi in unserem Leben den ersten Platz einnehmen sollte. »Essen« und »Kleidung« sollten untergeordnet bleiben. Wir sollten hart arbeiten, um für das Lebensnotwendige aufkommen zu können. Hinsichtlich der Zukunft sollten wir dann auf Gott vertrauen, wenn wir uns seinem Dienst widmen. Das ist das Leben aus Glauben.
Als unser Herr sagte, wir sollten nicht um Nahrung und Kleidung »besorgt« sein, meinte er damit nicht, dass wir faul herumsitzen und darauf warten sollten, dass wir versorgt werden. Das Christentum ist keine Ermutigung für Faulheit! Aber er meinte zweifellos, dass die Arbeit keine unangemessene Bedeutung erhalten darf, wenn wir unser tägliches Brot verdienen. Es gibt schließlich Wichtigeres im Leben als Essen und Kleidung. Wir sind hier als Botschafter des Königs, und all unsere persönliche Annehmlichkeit sowie unser Auftreten müssen der einen herrlichen Aufgabe untergeordnet werden, ihn bekannt zu machen.
12,24 Jesus benutzte »die Raben« als Beispiel, wie »Gott« für seine Geschöpfe sorgt. Sie verbringen ihr Leben nicht mit der verzweifelten Jagd nach Essen noch mit dem Aufhäufen von Besitz für ihren zukünftigen Bedarf. Die Tatsache, dass sie »nicht säen noch ernten«, sollte nicht bis zu der Lehre ausgedehnt werden, dass die Menschen sich keinen weltlichen Arbeiten mehr zuwenden dürften. Es bedeutet nur, dass Gott die Bedürfnisse derjenigen kennt, die er geschaffen hat. Er wird sie versorgen, wenn sie in Abhängigkeit von ihm leben. Wenn »Gott« die Raben »ernährt«, wie viel mehr wird er jenen Speise geben, die er geschaffen, aus Gnade errettet und zu seinen Dienern berufen hat. Die Raben haben keine Scheunen und Vorratskammern, und doch sorgt Gott jeden Tag für sie. Warum sollten wir dann unser Leben damit verbringen, größere Scheunen und Vorratskammern zu bauen?
12,25.26 Jesus fragte dann: »Wer aber unter euch kann mit Sorgen seiner Lebenslänge eine Elle zusetzen?« Es geht hier darum, wie töricht es ist, sich wegen Angelegenheiten Sorgen zu machen (etwa bezüglich der Zukunft), die wir nicht beeinflussen können. Niemand »kann mit Sorgen« seiner Körpergröße (wie man auch übersetzen kann) oder seiner Lebenslänge etwas hinzufügen. Wenn das so ist, warum machen wir uns dann immer Sorgen um die Zukunft? Wir sollten lieber unsere Kraft und unsere Zeit einsetzen, um Jesus zu dienen, und die Zukunft getrost ihm überlassen.
12,27.28 Als Nächstes werden die »Lilien« angeführt, um zu zeigen, wie töricht es ist, die besten Fähigkeiten für die Beschaffung von Kleidung zu verwenden. Mit »Lilien« sind wahrscheinlich wilde scharlachrote Anemonen gemeint. »Sie mühen sich nicht und spinnen auch nicht.« Trotzdem haben sie eine natürliche Schönheit, die »Salomo in all seiner Herrlichkeit« übertrifft. »Wenn aber Gott« solche Schönheit an Blumen verschwendet, die heute blühen und morgen verbrannt werden, wird er dann die Bedürfnisse seiner Kinder nicht erfüllen? Wir beweisen, dass wir »Kleingläubige« sind, wenn wir uns sorgen und jammern und uns in unaufhörlicher Mühe plagen, um immer mehr materiellen Reichtum aufzuhäufen. Wir verschwenden unser Leben damit, das zu tun, was Gott eigentlich für uns tun wollte, wenn wir nur unsere Zeit und unsere Fähigkeiten ihm mehr überlassen hätten.
12,29-31 In Wirklichkeit sind unsere täglichen Bedürfnisse gering. Es ist wunderbar, wie einfach wir leben können. Warum sollten wir dann Essen und Kleidern solch einen wichtigen Platz in unserem Leben einräumen? Und wieso sollten wir »in Unruhe« sein und uns wegen unserer Zukunft Sorgen machen? So leben nur Menschen, die nicht errettet sind. Die »Nationen der Welt«, die Gott nicht als ihren Vater kennen, konzentrieren sich auf Essen, auf Kleidung und auf ihr Vergnügen. Diese Dinge bilden das Zentrum und den Rahmen ihres Lebens. Doch Gott hatte nie im Sinn, dass seine Kinder ihre Zeit in der Jagd nach irdischer Bequemlichkeit vergeuden sollten. Er hat noch ein Werk auf Erden zu vollbringen, und er hat verheißen, für diejenigen zu sorgen, die sich ihm von ganzem Herzen hingeben. Wenn wir nach »seinem Reich« trachten, dann wird er uns niemals verhungern oder nackt herumlaufen lassen. Wie traurig wäre es, am Ende des Lebens anzukommen und zu erkennen, dass wir die meiste Zeit damit verbracht haben, uns für etwas abzuarbeiten, das schon mit der Fahrkarte in die himmlische Heimat verbunden war!
12,32 Die Jünger bildeten eine »kleine Herde« von hilflosen Schafen, die mitten in eine unfreundliche Welt hinausgesandt wurden. Es ist wahr, dass sie keine sichtbaren Mittel zu ihrem Unterhalt oder ihrer Verteidigung hatten. Doch diese bedrängte Gruppe junger Männer war dazu berufen, »das Reich« mit Christus zusammen zu erben. Sie würden eines Tages mit ihm über die ganze Erde regieren. Angesichts dessen ermutigte sie der Herr, sich nicht zu fürchten. Weil der »Vater« solche wunderbaren Ehren für sie bereit hielt, brauchten sie sich um den dazwischenliegenden Weg nicht zu sorgen.
12,33.34 Statt materielle Reichtümer anzuhäufen und für das irdische Leben zu planen, sollten sie diesen Besitz in das Werk des Herrn einbringen. Auf diese Weise würden sie für den Himmel und die Ewigkeit investieren. Die Zerstörung durch das Alter konnte ihrem Besitz dann nichts anhaben. Himmlische Schätze sind völlig gegen Verderb und Diebstahl versichert. Das Problem bei materiellem Reichtum ist, dass man ihn normalerweise nicht besitzen kann, ohne auch darauf zu vertrauen. Deshalb sagte der Herr Jesus: »Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.« Wenn wir unser Geld für himmlische Ziele arbeiten lassen, dann wird unsere Liebe vom vergänglichen Besitz dieser Welt weggewendet. D. Das Gleichnis vom wachsamen Knecht (12,35-40)
12,35 Die Jünger sollten ihrem Herrn nicht nur in Bezug auf ihre Versorgung vertrauen, sondern auch in ständiger Erwartung seiner Wiederkunft leben. Sie sollten ihre »Lenden umgürten« und ihre »Lampen brennend« erhalten. In östlichen Ländern wurde ein Gürtel um die Taille geschlungen, um die langen, weiten Gewänder zu halten, wenn ein Mensch schnell gehen oder laufen wollte. Die umgürtete Lende spricht von einem Auftrag, der zu erfüllen ist, die brennende Lampe kündet vom Zeugnis, das zu erhalten ist.
12,36 Die Jünger sollten jeden Augenblick die Wiederkunft des Herrn erwarten, als ob er ein Mann wäre, der »von der Hochzeit« kommt. Kelly merkt dazu an: Sie sollten von allen irdischen Belastungen frei sein, sodass sie sofort, wenn der Herr wie in dem Gleichnis anklopft, aufmachen können – ohne Ablenkung und ohne sich erst fertig machen zu müssen. Ihre Herzen warten auf ihn, ihren Herrn, sie lieben ihn und sie warten auf ihn. Er klopft an und sie öffnen ihm sofort.43
Die Einzelheiten dieses Gleichnisses bezüglich des »Herrn«, der »von der Hochzeit« kommt, sollten nicht so weit strapaziert werden, dass sie zu Prophetien werden. Wir sollten hier die Hochzeit nicht mit dem Hochzeitsmahl des Lammes oder der Entrückung gleichsetzen. Diese Geschichte des Herrn sollte nur die einfache Wahrheit lehren, dass wir für seine Wiederkehr bereit sein sollen. Sie war nicht dazu bestimmt, die Reihenfolge der Ereignisse bei seiner Wiederkunft darzulegen.
12,37 Bis der Herr von der Hochzeit zurückkommt, »warteten« seine »Knechte« bereitwillig auf ihn, um auf seinen Befehl hin sofort tätig zu werden. Er ist mit ihnen so zufrieden, dass er hier die Rollen tauscht. Er »gürtet« sich selbst mit einem Sklavenschurz, lässt »sie sich zu Tisch legen« und »bedient« sie. Das ist eine sehr bewegende Hinweis darauf, dass er, der in diese Welt als Knecht gekommen ist, sich in seiner Gnade herablassen wird, sein Volk in dessen himmlischer Heimat zu bedienen. Der fromme deutsche Bibelausleger Bengel war der Meinung, dass Vers 37 die größte Verheißung des Wortes Gottes sei.
12,38 Die »zweite Wache« ging von 21 Uhr bis Mitternacht. Die »dritte Wache« ging von Mitternacht bis 3 Uhr. Gleich, zu welcher Nachtwache der Herr wiederkam, seine Knechte warteten auf ihn.
12,39.40 Der Herr benutzt nun ein anderes Bild. Er beschreibt nämlich einen Mann, in dessen Haus in einem unbewachten Augenblick eingebrochen wird. »Der Dieb« kam völlig unerwartet. »Wenn der Hausherr« davon »gewusst hätte«, so hätte er »nicht erlaubt, dass sein Haus durchgraben würde«. Die Lehre hier ist, dass die Zeit des Kommens Christi unsicher ist, und niemand kennt den Tag oder die Stunde seines Erscheinens. Wenn er kommen wird, dann werden die Gläubigen, die sich auf Erden einen Schatz aufgehäuft haben, alles verlieren, weil, wie jemand einmal gesagt hat: »der Christ entweder seinen Besitz verlässt oder sich ihm hingibt«. Wenn wir die Wiederkunft Christi wirklich erwarten, dann verkaufen wir alles, was wir haben und legen uns im Himmel Schätze an, wo kein Dieb sie erreichen kann.
E. Vom treuen und vom untreuen Knecht (12,41-48)
12,41.42 An diesem Punkt fragte Petrus, ob das »Gleichnis« über die Wachsamkeit nur für die Jünger oder für »alle« bestimmt ist. Der Herr antwortete, dass es für alle gilt, die bekennen, Gottes Verwalter zu sein. »Der treue und kluge Verwalter« ist derjenige, der über den Haushalt des Meisters gestellt ist und Gottes Volk »Speise« gibt. Die Hauptverantwortung des Verwalters gilt hier Menschen, nicht Gegenständen. Das steht im Einklang mit dem Gesamtzusammenhang, in dem die Jünger vor Materialismus und Habsucht gewarnt werden. Nicht Dinge, sondern Menschen sind wichtig.
12,43.44 »Wenn« der Herr »kommt« und sieht, dass sein »Knecht« echtes Interesse am geistlichen Wohlergehen der Menschen hat, wird er ihn freigebig belohnen. Die Belohnung hängt wahrscheinlich mit der Herrschaft Christi während des Tausendjährigen Reiches zusammen (1. Petr 5,1-4).
12,45 Der Knecht in diesem Vers bekennt, für Christus zu arbeiten, doch in Wirklichkeit ist er ungläubig. Statt die Angehörigen des Volkes Gottes zu weiden, schlägt er sie, beraubt sie und lebt maßlos. (Das könnte ein Hinweis auf die Pharisäer sein.)
12,46 Das Kommen des Herrn wird seinen Unglauben entlarven, und er wird »mit den Ungläubigen« bestraft werden. Der Ausdruck »entzweischneiden« kann auch mit »hart strafen« (HfA) übersetzt werden.
12,47.48 In den Versen 47 und 48 wird ein grundlegendes Prinzip für jeden Dienst dargelegt. Das Prinzip lautet, dass die Verantwortung umso größer ist, je größere Vorrechte man genießt. Für die Gläubigen heißt das, dass im Himmel den Betreffenden Belohnungen in verschiedenen Stufen zuteilwerden. Für die Ungläubigen heißt es, dass es in der Hölle verschiedene Strafmaße geben wird. Diejenigen, die Gottes »Willen« kennen, wie er in der Heiligen Schrift offenbart ist, haben die große Verantwortung, ihm zu gehorchen. Ihnen ist »viel gegeben … – viel wird von« ihnen »verlangt werden«. Diejenigen, die dieses Vorrecht nicht hatten, werden ebenfalls für ihre Sünden bestraft, doch ihre Bestrafung wird nicht so hart sein.
F. Die Auswirkungen des ersten Kommens Christi (12,49-53)
12,49 Der Herr Jesus wusste, dass sein Kommen »auf die Erde« zunächst keinen Frieden bringen würde. Zuerst musste es Spaltung, Zwietracht, Verfolgung und Blutvergießen hervorrufen. Er kam zwar nicht mit dem erklärten Ziel, dieses »Feuer auf die Erde zu werfen«, doch dies war das Ergebnis oder die Auswirkung seines Kommens. Obwohl Verfolgung und Zwistigkeiten während seines irdischen Dienstes auftraten, wurde das Herz des Menschen erst am Kreuz wirklich entlarvt. Der Herr wusste, dass dies alles geschehen musste, und er wünschte sich, dass das »Feuer« der Verfolgung so bald wie nötig gegen ihn hervorbrechen würde.
12,50 Er hatte »eine Taufe, womit« er »getauft werden« musste. Das bezieht sich auf seine Taufe bis zum Tod am Kreuz. Er stand unter dem ungeheuren Zwang, ans Kreuz zu gehen, um die Erlösung für die verlorene Menschheit zu erreichen. Die Schande, das Leid und der Tod waren des Vaters Wille für ihn, und er wollte unbedingt gehorchen.
12,51-53 Er wusste sehr gut, dass sein Kommen zu dieser Zeit keinen »Frieden auf der Erde zu geben« vermochte. Und deshalb warnte er die Jünger im Voraus, dass die Menschen, die zu ihm kommen würden, von ihren Familien verfolgt und ausgestoßen werden würden. Wenn das Christentum in eine Familie mit »fünf« Menschen kam, dann würde es die Familie spalten. Es ist ein merkwürdiges Zeichen der verdorbenen Natur des Menschen, dass nicht bekehrte Eltern ihren Sohn oft lieber als Trinker und losen Burschen sähen, als von ihm das öffentliche Bekenntnis zu hören, ein Jünger des Herrn Jesus Christus zu sein! Dieser Abschnitt widerlegt die Theorie, dass Jesus gekommen sei, um die ganze Menschheit (Gottlose und gottgemäß Lebende) zu einer einzigen »allgemeinen Bruderschaft der Menschen« zu vereinigen. Stattdessen trennte er sie mehr als je zuvor! G. Die Zeichen der Zeit (12,54-59)
12,54.55 Die vorhergehenden Verse waren an die Jünger gerichtet. Doch jetzt wandte sich Jesus wieder »den Volksmengen zu«. Er erinnert sie an ihre Fähigkeit, das Wetter vorherzusagen. Sie wussten, dass es einen Regenschauer geben würde, wenn sie »eine Wolke von Westen aufsteigen« sahen (über dem Mittelmeer). Andererseits würde ihnen der »Südwind« sengende Hitze und Trockenheit bringen. Die Menschen konnten es aufgrund ihres Verstands wissen. Aber es lag nicht nur am Verstand: Sie wollten es wissen.
12,56 In geistlichen Angelegenheiten war es jedoch ganz anders. Obwohl sie ein normales Verständnis hatten, erkannten sie nicht, welch eine bedeutende »Zeit« der menschlichen Geschichte angebrochen war. Der Sohn Gottes war auf diese Erde gekommen und stand nun mitten unter ihnen. Der Himmel war noch nie näher gewesen. Aber sie erkannten die Zeit ihrer Heimsuchung nicht. Sie hatten zwar die entsprechende intellektuelle Erkenntnisfähigkeit, doch sie wollten nicht erkennen, und deshalb betrogen sie sich selbst.
12,57-59 Hätten sie wirklich die Bedeutung der Zeit, in der sie lebten, erkannt, hätten sie sich beeilt, sich mit ihrem »Gegner« zu versöhnen. Hier werden vier juristische Ausdrücke benutzt: Gegner, Obrigkeit, Richter und Gerichtsdiener – und alle beziehen sich auf Gott. Zu dieser Zeit ging Gott unter ihnen ein und aus. Er bat sie inständig und gab ihnen die Möglichkeit, sich erretten zu lassen. Sie sollten Buße tun und an ihn glauben. Wenn sie sich weigerten, würden sie vor Gott als ihrem Richter stehen müssen. Der Fall würde mit Sicherheit zu ihren Ungunsten ausgehen. Sie würden für schuldig befunden und für ihren Unglauben veru rteilt werden. Sie würden »ins  Gefängnis«  geworfen  werden,  d. h. in die ewige Verdammnis kommen. Sie würden nicht herauskommen, bis sie nicht »auch den letzten Heller bezahlt« hätten – was bedeutet, dass sie niemals wieder herauskämen, da man eine solch riesige Schuld niemals begleichen kann. Deshalb sagte Jesus ihnen, dass sie die Zeit erkennen sollten, in der sie lebten. Dann sollten sie mit Gott ins Reine kommen, indem sie ihre Sünden bereuen und sich ihm völlig ausliefern. H. Die Bedeutung der Buße (13,1-5)
13,1-3 Kapitel 12 schloss damit, dass die Israeliten nicht die Zeit erkannten, in der sie lebten. Der Herr hatte sie nachdrücklich darauf hingewiesen, schnell Buße zu tun, da sie sonst ewig verloren wären. Kapitel 13 führt dieses allgemeine Thema fort und richtet sich im Wesentlichen an Israel als Volk, obwohl die entsprechenden Grundsätze auch für einzelne Menschen gelten. Zwei nationale Katastrophen bildeten die Grundlage für das hier aufgezeichnete Gespräch. Das erste war ein Massaker an einigen »Galiläern«, die nach Jerusalem gekommen waren, um dort anzubeten. »Pilatus«, der Statthalter von Judäa, hatte angeordnet, sie zu töten, während sie »Schlachtopfer« darbrachten. Sonst ist über diese Gräueltat nichts bekannt. Wir nehmen an, dass die Opfer Juden waren, die in Galiläa lebten. Die Juden in Jerusalem mochten denken, »dass diese Galiläer« schlimme Sünden begangen haben mussten und ihr Tod ein Beweis für Gottes Missfallen war. Doch der Herr Jesus korrigierte diese Ansicht, indem er die Juden warnte, dass sie »alle ebenso umkommen« würden, wenn sie nicht »Buße« täten.
13,4.5 Bei der anderen Tragödie handelte es sich um den Einsturz des »Turmes in Siloah«, bei dem »achtzehn« Menschen getötet wurden. Über diesen Unfall ist nur der hier aufgezeichnete biblische Bericht bekannt. Glücklicherweise ist es nicht notwendig, weitere Einzelheiten darü ber zu erfahren. Jesus stellte heraus, dass diese Katastrophe nicht als besonderes Gericht für schwere Ungerechtigkeit gedeutet werden sollte. Sie sollte vielmehr als Warnung an alle Angehörigen des Volkes Israel gesehen werden, dass ihnen eine ähnlich schlimme Bestimmung zugedacht werden würde, wenn sie »nicht Buße tun« würden. Dieses Schicksal ereilte das Volk im Jahre 70 n. Chr., als Titus Jerusalem eroberte. I. Das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum (13,6-9)
13,6-9 In engem Zusammenhang mit dem Vorangehenden erzählte der Herr Jesus das »Gleichnis« vom »Feigenbaum«. Es ist nicht schwierig, in dem »Feigenbaum« Israel zu erkennen, das in Gottes »Weinberg gepflanzt« war, d. h. in die Welt. Gott »suchte Frucht«, aber er »fand keine«. So sagte er »zu dem Weingärtner« (Jesus), dass er schon »drei Jahre« vergeblich »Frucht an diesem Feigenbaum suche«. Die einfachste Auslegung deutet die drei Jahre als die ersten drei Jahre des öffentlichen Auftretens Jesu. In diesem Abschnitt ist daran gedacht, dass dem Feigenbaum genug Zeit gegeben worden war, Frucht zu bringen. Wenn in drei Jahren keine Frucht käme, dann war es vernünftig zu folgern, dass er nie Frucht bringen würde. Wegen seiner Fruchtlosigkeit ordnete der Herr an, den Baum abzuhauen. Er nahm nur »Land« weg, das ertragreicher genutzt werden konnte. Der Weingärtner trat für den Baum ein und bat, ihm noch ein weiteres Jahr zu gewähren. Wenn er am Ende dieser Zeit immer noch fruchtlos wäre, könnte man »ihn abhauen«. Und genau das geschah. Nachdem das vierte Jahr des Dienstes Jesu begonnen hatte, lehnte Israel den Herrn Jesus ab und kreuzigte ihn. Als Folge davon wurden seine Hauptstadt zerstört und die Menschen zerstreut. G. H. Lang erklärt das so: Der Sohn Gottes kannte den Willen seines Vaters, des Herrn des Weinberges, und die Tatsache, dass die gefürchtete Anweisung (»hau ihn ab«) gegeben worden war. Israel hatte die Geduld Gottes überstrapaziert. Weder ein Volk noch ein einzelner Mensch darf Gottes Fürsorge für sich in Anspruch nehmen, ohne Früchte der Gerechtigkeit zur Ehre und zum Lob Gottes zu bringen. Der Mensch lebt zur Ehre und zum Wohlg efallen des Schöpfers: Wenn er diesem berechtigten Zweck nicht dient, stellt sich die Frage: Waru m sollte seinem Versagen als Sünder nicht die Todesstrafe folgen und er von seinem bevorrechtigten Platz nicht entfernt werden?44 J. Die Heilung der zusammengekrümmten Frau (13,10-17)
13,10-13 Die wirkliche Haltung Israels gegenüber dem Herrn Jesus sehen wir im Synagogenvorsteher. Die »Frau« hatte »achtzehn Jahre« lang eine schlimme Verkrümmung der Wirbelsäule. Ihre Entstellung war schlimm, sie konnte sich noch nicht einmal »aufrichten«. Ohne darum gebeten worden zu sein, sprach der Herr Jesus das heilende Wort zu ihr, »legte ihr die Hände auf« und richtete damit ihre Wirbelsäule auf.
13,14 »Der Synagogenvorsteher« sagte ungehalten, dass die Leute an den ersten »sechs« Tagen der Woche kommen sollten, um sich heilen zu lassen, aber nicht am siebten. Er war von Berufs wegen fromm und hatte kein Herz für die Nöte der Menschen. Auch wenn sie an den ersten sechs Tagen der Woche gekommen wären, hätte er ihnen nicht helfen können. Er war ein Verfechter der äußerlichen Gesetzesvorschriften, doch sein Herz kannte weder Liebe noch Barmherzigkeit. Wenn er achtzehn Jahre lang eine verkrümmte Wirbelsäule gehabt hätte, wäre es ihm auch gleichgültig gewesen, an welchem Tag er geheilt würde!
13,15.16 »Der Herr« tadelte die bei ihm und den anderen Obersten erkennbare Heuchelei. Er erinnerte sie daran, dass sie nicht zögerten, »am Sabbat« ihren »Ochsen oder Esel von der Krippe« loszubinden, um ihn trinken zu lassen. Wenn sie sich so am Sabbat um vernunftlose Tiere kümmern konnten, war es dann falsch, dass Jesus diese Frau heilte, »die eine Tochter Abrahams« war? Der Ausdruck »eine Tochter Abrahams« zeigt, dass sie nicht nur eine Jüdin, sondern auch eine echte Gläubige war, eine fromme Frau. Die Verkrümmung der Wirbelsäule hatte Satan verursacht. Wir wissen aus anderen Bibelstellen, dass in einigen Fällen Krankheit eine direkte Auswirkung der Machenschaften Satans war. Satan suchte zum Beispiel Hiob mit Beulen heim. Paulus’ Dorn im Fleisch war ein Bote Satans, um ihn zu schlagen. Der Teufel darf dies aber einem Gläubigen nie ohne die Erlaubnis des Herrn antun. Und Gott erweist sich in solchen Krankheiten und Leiden zu seiner eigenen Ehre als der Stärkere.
13,17 Die Kritiker unseres Herrn wurden durch seine Worte gründlich »beschämt«. Die kleinen Leute »freuten sich«, weil sie wussten, dass ein »herrliches« Wunder geschehen war. K. Die Gleichnisse vom Reich (13,18-21)
13,18.19 Nachdem die Menschen dieses wunderbare Heilungswunder ges ehen hatten, konnten sie versucht sein zu denken, dass das Reich nun sofort errichtet werden würde. Der Herr Jesus belehrte sie jedoch durch zwei Gleichnisse über das »Reich Gottes« eines Besseren. Sie beschreiben das Bestehen dieses Reiches in der Zeit zwischen der Verwerfung des Königs und seiner Rückkehr auf die Erde, wenn er als der Herrscher erscheint. Sie sind ein Bild für das Wachstum des Christentums und beschreiben sowohl den echten Glauben als auch das Namenschristentum (s. Anmerkungen zu 8,1-3). Als Erstes verglich Jesus das »Reich Gottes« mit »einem Senfkorn«, eines der kleinsten Samenkörner. Wenn es in die Erde geworfen wird, wird es zu einem Busch, aber nicht zu einem Baum. Als Jesus sagte, dass der Same »zu einem großen Baum« wurde, meinte er damit, dass dieses Wachstum im höchsten Maße unnormal war. Die Pflanze wurde so groß, dass »die Vögel des Himmels« in ihren Zweigen nisten konnten. Hier liegt der Gedanke zugrunde, dass das Christentum einen bescheidenen Anfang nahm, so klein wie ein Senfkorn. Doch als es wuchs, wurde das Christentum überall bekannt, und die Christenheit, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich. Die Christenheit besteht aus allen Menschen, die bekennen, dem Herrn zu folgen, ob sie nun wiedergeboren sind oder nicht. »Die Vögel des Himmels« sind Geier oder andere Raubvögel. Sie sind Symbole des Bösen und ein Bild für die Tatsache, dass sich im Christentum verschiedene Formen des Verderbens eingeschlichen haben.
13,20.21 Das zweite Gleichnis vergleicht das »Reich Gottes« mit Sauerteig, den eine Frau »unter drei Maß Mehl mengte«. Wir sind der Meinung, dass Sauerteig in der Bibel immer ein Symbol des Bösen ist. Hier ist der Gedanke, dass die verderbliche Lehre in die reine Speise des Gottesvolkes gemischt wurde. Diese verderbliche Lehre ist nicht nur einfach da, sie birgt in sich auch die heimtückische Macht, sich zu verbreiten. L. Die enge Pforte in das Reich (13,22-30)
13,22.23 Als Jesus »nach Jerusalem« zog, trat jemand aus der Menge vor, um ihn zu fragen, ob es nur »wenige« seien, »die errettet werden«. Es mag sein, dass dies eine müßige Frage war, die nur aus Neugier gestellt wurde.
13,24 Der Herr beantwortete diese spekulative Frage mit einem direkten Gebot. Er befahl dem Fragenden, sicherzustellen, dass er selbst »durch die enge Pforte« hineingehen würde. Als Jesus sagte, wir sollten danach »ringen …, durch die enge Pforte hineinzugehen«, meinte er damit nicht, dass die Errettung eine Anstrengung unsererseits erfordert. Die enge Pforte ist hier die Wiedergeburt – die gnadenreiche Errettung durch den Glauben. Jesus ermahnte den Mann, dafür zu sorgen, nur durch diese Pforte hineinzugehen. »Viele … werden einzugehen suchen und werden es nicht können«, wenn die Tür einmal geschlossen wird. Das bedeutet nicht, dass sie versuchen werden, durch die Tür der Bekehrung zu kommen. Vielmehr bedeutet es, dass sie am Tag der Macht und Herrlichkeit Christi den Zutritt zum Reich fordern werden, doch dann wird es zu spät sein. Die Zeit der Gnade, in der wir heute leben, wird dann zu Ende sein.
13,25-27 »Der Hausherr« wird sich erheben und »die Tür« verschließen. Die Angehörigen des jüdischen Volkes werden hier im Bild dargestellt, wie sie »an der Tür« klopfen und den Herrn bitten, zu öffnen. Er wird sie ablehnen, weil er sie nicht kennt. Sie werden dagegen Einspruch erheben und vorgeben, dass sie gut mit ihm bekannt gewesen seien. Doch er wird sich durch diese anmaßende Behauptung nicht bewegen lassen. Sie sind »Übeltäter« und dürfen nicht eintreten.
13,28-30 Seine Weigerung wird zu »Weinen und Zähneknirschen« führen. Das »Weinen« zeugt von Reue und das »Zähneknirschen« von großem Hass gegen Gott. Das zeigt, dass die Leiden der Hölle das Herz des Menschen nicht verändern. Die ungläubigen Israeliten werden »Abraham und Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes sehen«. Sie selbst erwarteten, dort zu sein, weil sie mit Abraham, Isaak und Jakob verwandt sind, doch sie werden »hinausgeworfen« werden. Heiden werden zur Herrlichkeit des Reiches Christi von allen Enden der Erde angereist kommen und seine wunderbaren Segnungen genießen. So werden viele Juden, die bisher nach Gottes Plan gesegnet werden sollten, verworfen, während die Heiden, auf die man wie auf Hunde herabsah, die Segnungen der tausendjährigen Herrschaft Jesu erleben werden.
M. Klage über Jerusalem (13,31-35)
13,31 Zu dieser Zeit befand sich der Herr Jesus offensichtlich schon im Machtbereich des Herodes. »Einige Pharisäer … kamen … herbei« und rieten ihm, »hinauszugehen«, weil Herodes ihn »töten« wolle. Die Pharisäer scheinen hier ganz gegen ihre Gewohnheit ein Interesse am Wohlergehen und an der Sicherheit Jesu zu haben. Vielleicht hatten sie mit Herodes einen Plan ausgeheckt, ihn einzuschüchtern, damit er nicht nach Jerusalem ging, wo er ganz sicher von den Menschen ergriffen worden wäre.
13,32 Unser Herr ließ sich jedoch von dieser Bedrohung in Form körperlicher Misshandlung nicht beeinflussen. Er erkannte sie als Teil einer Verschwörung des Herodes und sagte den Pharisäern, sie sollten »hingehen und diesem Fuchs« eine Botschaft überbringen. Einige Ausleger haben Schwierigkeiten mit der Tatsache, dass der Herr Jesus Herodes eine »Füchsin« nannte (die Form ist im Gr. weiblich). Sie sind der Meinung, dass es eine Verletzung der Schrift sei, die es verbietet, böse von einem Herrscher zu reden (2. Mose  22,27). Doch dies hier ist nicht üble Nachrede, sondern die reine Wahrheit. Jesu Botschaft besagte im Wesentlichen, dass er noch eine kurze Zeit zu wirken hatte. Er wollte »Dämonen austreiben« und Heilungswunder in der kurzen Zeit vollbringen, die ihm noch blieb. Dann, am dritten Tag, d. h. am letzten, würde er das Werk vollendet haben, das mit seinem irdischen Dienst verbunden war. Keine Macht auf Erden konnte ihm vor der festgesetzten Zeit schaden.
13,33 Außerdem konnte er nicht in Galiläa umgebracht werden. Diese Bestimmung war Jerusalem vorbehalten. Es war diese Stadt, die immer die Diener Gottes, des Höchsten, ermordet hatte. Jerusalem hatte mehr oder weniger ein Monopol auf die Tötung der Propheten Gottes. Das war gemeint, als der Herr Jesus sagte: »Es geht nicht an, dass ein Prophet außerhalb Jerusalems umkomme.«
13,34.35 Nachdem er so die Wahrheit über diese böse Stadt gesagt hatte, wandte sich Jesus ergriffen ab und weinte über die Stadt. Diese Stadt, die »da tötet die Propheten« und Gottes Boten »steinigt«, wurde von ihm sehr geliebt. »Wie oft« hatte er die Bewohner der Stadt »versammeln wollen wie eine Henne ihre Brut unter die Flügel«, doch sie haben »nicht gewollt«. Das Problem war ihr Eigenwille. Als Folge davon würden ihre Stadt, ihr Tempel und ihr Land »öde gelassen« werden (vgl. die Parallelstelle in Matth 23,38). Sie würden lange im Exil bleiben müssen. Sie würden sogar den Herrn »nicht sehen«, bis sie ihre Haltung ihm gegenüber änderten. Vers 35b bezieht sich auf die Wiederkunft Christi. Ein Überrest des Volkes Israel wird zu dieser Zeit Buße tun und sprechen: »Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!« Sein Volk wird am Tag seiner Macht bereit sein. N. Heilung eines Wassersüchtigen (14,1-6)
14,1-3 An einem »Sabbat« bat ein »Oberster der Pharisäer« den Herrn in sein Haus zum Mahl. Es war keine echte Geste der Gastfreundschaft, sondern ein Versuch vonseiten der religiösen Führer, den Menschensohn einer Sünde zu überführen. Jesus sah einen »wassersüchtigen Menschen«,  d. h.  jemanden,  der  davon aufschwillt, dass sich Wasser in seinem Körpergewebe ansammelt. Weil der Heiland die Gedanken seiner Kritiker kannte, fragte er sie ausdrücklich, ob es »erlaubt« sei, »am Sabbat zu heilen«.
14,4-6 So gerne sie gesagt hätten, dass es nicht erlaubt sei, konnten sie doch ihre Antwort nicht begründen, und daher »schwiegen sie«. Jesus »heilte« deshalb den Mann »und entließ ihn«. Für ihn war es ein Werk der Barmherzigkeit, und die göttliche Liebe hört nie zu wirken auf, auch nicht an einem Sabbat (Joh 5,17). Dann wandte er sich an die Juden und erinnerte sie daran, dass sie bestimmt eines ihrer Tiere »am Tag des Sabbats« herausziehen, wenn es »in einen Brunnen fällt«. Es lag in ihrem eigenen Interesse, denn das Tier war viel Geld wert. Wenn es jedoch um das Leiden eines Mitmenschen ging, scherten sie sich nicht darum, und sie hätten Jesus gerne dafür verurteilt, dass er dem Wassersüchtigen geholfen hat. Obwohl sie dem Heiland »darauf nicht antworten (konnten)«, waren sie nach unserer festen Überzeugung umso mehr über ihn erbost.
O. Das Gleichnis vom ehrsüchtigen Gast (14,7-11)
14,7-11 Als der Herr Jesus das Haus des Pharisäers betrat, hatte er vielleicht gesehen, wie die Gäste sich bemühten, die »besten Plätze« zu erhaschen. Sie wollten die angesehenen und ehrenvollen Plätze besetzen. Die Tatsache, dass auch Jesus ein Gast war, hielt ihn nicht davon ab, freimütig und in rechtschaffener Gesinnung zu sprechen. Er warnte sie vor dieser Art der Selbstsucht. Wenn sie zu einer »Hochzeit« eingeladen seien, sollten sie eher einen niedrigeren »Platz« einnehmen als einen höheren. Wenn wir die besonders angesehenen Plätze anstreben, dann besteht immer wieder die Gefahr der »Schande«, an einen niedrigeren Platz zurückgesetzt zu werden. Wenn wir wirklich demütig vor Gott sind, dann gibt es nur eine Richtung, in die wir uns bewegen können, und die ist aufwärts. Jesus lehrte, dass es besser ist, auf einen Ehrenplatz geholt zu werden, statt einen Platz zu ergattern, den man bald wieder verlassen muss. Er selbst ist das lebendige Beispiel der Selbsterniedrigung (Phil 2,5-8). »Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird« von Gott »erniedrigt werden«. P. Gottes Gästeliste (14,12-14)
14,12-14 Der Oberste der Pharisäer hatte zweifellos lauter örtlich bekannte Persönlichkeiten zu seinem Mahl geladen. Jesus bemerkte dies sofort. Er sah, dass die Minderbemittelten des Ortes nicht mit einbezogen waren. Er ergriff deshalb die Gelegenheit, einen der großen Grundsätze des Christentums zu verkündigen – nämlich die Tatsache, dass wir diejenigen lieben sollen, die nicht liebenswert sind und uns nichts zurückgeben können. Normalerweise lädt man seine »Freunde, … Brüder, … Verwandten« oder »reiche Nachbarn« ein, immer in der Hoffnung, dass einem dafür vergolten wird. Man braucht nicht wiedergeboren zu sein, um so zu handeln. Doch es ist ausgesprochen übernatürlich, freundlich zu den »Armen, Krüppeln, Lahmen« und »Blinden« zu sein. Gott hat für diejenigen, die diesen Menschen Barmherzigkeit erweisen, einen besonderen Lohn vorgesehen. Auch wenn diese Gäste uns nicht »vergelten« können, verspricht Gott selbst, uns »bei der Auferstehung der Gerechten« zu belohnen. Die »Auferstehung der Gerechten« ist in der Schrift auch als die erste Auferstehung bekannt, bei der alle wahren Gläubigen auferweckt werden. Sie findet bei der Entrückung statt und, unserer Ansicht nach, nochmals am Ende der Drangsal. Das heißt, die erste Auferstehung ist nicht ein einzelnes Ereignis, sondern sie findet in zwei Phasen statt.
Q. Das Gleichnis vom großen Gastmahl (14,15-24)
14,15-18 Einer der Gäste, die sich mit Jesus beim Mahl niederließen, bemerkte, wie wunderbar es doch wäre, an den Segnungen des »Reiches Gottes« teilzuhaben. Vielleicht war er von den Verhaltensregeln beeindruckt, die der Herr gelehrt hatte. Oder vielleicht war es nur eine allgemeine Bemerkung, die er ohne weiteres Nachdenken machte. Jedenfalls antwortete der Herr folgendermaßen: So wundervoll es sein mag, »im Reich Gottes« zu »essen«, die traurige Tatsache besteht dar in, dass diejenigen, die eingeladen sind, alle möglichen dummen Ausreden finden, um die Einladung abzulehnen. Jesus stellt Gott als Menschen dar, der »ein großes Gastmahl machte und viele« Gäste einlud. Als das Essen fertig war, befahl er seinem Diener, »den Eingeladenen zu sagen«, dass »alles bereit« sei. Das erinnert uns an die großartige Tatsache, dass der Herr Jesus das Werk der Erlösung auf Golgatha vollbracht hat und die Einladung des Evangeliums aufgrund dieses vollendeten Werkes ergeht. Einer der Eingeladenen entschuldigte sich, weil er »einen Acker gekauft« hatte und »ihn besehen« wollte. Normalerweise hätte er ihn ansehen sollen, bevor er ihn kaufte. Doch selbst dann hätte er die Liebe zum Irdischen der gnadenreichen Einladung vorgezogen.
14,19.20 Der nächste Eingeladene hatte »fünf Joch Ochsen gekauft« und wollte sie »erproben«. Jesus zeigt uns hier im Bild diejenigen, die ihre Arbeit, ihren Beruf oder das Geschäft wichtiger nehmen als den Ruf Gottes. Der Dritte sagte, er »habe eine Frau geheiratet« und könne deshalb »nicht kommen«. Familienbande und gesellschaftliche Beziehungen hindern Menschen oft daran, die Einladung des Evangeliums anzunehmen.
14,21-23 Als »der Knecht … seinem Herrn« berichtete, dass alle die Einladung ablehnten, sandte ihn der Herr in die »Stadt«, um »die Armen und Krüppel und Blinden und Lahmen« einzuladen. »Sowohl der Natur als auch der Gnade ist das Vakuum zuwider«, sagte Bengel. Vielleicht stehen die zuerst Geladenen für die Führer des jüdischen Volkes. Als sie das Evangelium ablehnten, sandte es Gott zu den einfachen Leuten Jerusalems. Viele von ihnen reagierten auf diesen Ruf, doch es war immer »noch Raum« im Haus des Herrn. Und deshalb befahl der Herr dem Knecht, »auf die Wege und an die Zäune« zu gehen und Menschen zu »nötigen, hereinzukommen«. Das ist zweifellos ein Bild für das Evangelium, das den Heiden verkündigt wird. Sie mussten nicht durch Waffengewalt genötigt werden (wie es in der Geschichte des Christentums oft vorgekommen ist), sondern durch Überzeugungskraft. Liebevolle Überredung sollte verwendet werden, um sie hereinzuholen, damit das »Haus« des Herrn »voll werde«.
14,24 So war die ursprüngliche Gästeliste wertlos geworden, als das Mahl gehalten wurde, weil »nicht einer« der ursprünglich Geladenen gekommen war. R. Die Kosten echter Jüngerschaft (14,25-35)
14,25 Nun »gingen aber große Volksmengen mit« dem Herrn Jesus. Die meisten Führer wären von einem solch großen Interesse begeistert. Doch der Herr suchte nicht nach Menschen, die ihm aus Neugier und ohne echtes Interesse im Herzen folgten. Er suchte nach denjenigen, die bereit waren, ihn hingegeben und leidenschaftlich zu lieben und sogar für ihn zu sterben, wenn das notwendig wäre. Deshalb begann er nun, die Menge zu sichten, indem er ihnen die harten Grundsätze der Jüngerschaft nannte. Manchmal warb der Herr um Menschen, doch wenn sie ihm folgten, sichtete er sie. Das machte er an dieser Stelle.
14,26 Als Erstes sagte er denen, die ihm folgten, dass sie ihn über alles lieben müssten, wenn sie ihm folgen wollten. Er meinte jedoch nicht, dass man einen bitteren Hass in seinem Herzen gegen »seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern« hegen sollte. Vielmehr betonte er, dass die Liebe zu Christus so groß sein muss, dass alle andere Liebe im Vergleich dazu wie Hass erscheint (vgl. Matth 10,37). Keine Familienbande dürfen einen Jünger von seinem Pfad des völligen Gehorsams gegenüber dem Herrn abbringen.
Das Schwierigste am ersten Grundsatz der Jüngerschaft sind die Worte: »… dazu aber auch sein eigenes Leben«. Wir müssen nicht nur unsere Verwandten weniger lieben, sondern auch unser »eigenes Leben« hassen! Statt ein Leben zu führen, das sich um uns selbst dreht, muss Christus im Mittelpunkt unseres Lebens stehen. Statt zu fragen, wie jede Handlung uns selbst betrifft, müssen wir sorgfältig fragen, wie sie sich auf Christus und seine Herrlichkeit auswirkt. Überlegungen zur eigenen Bequemlichkeit und Sicherheit müssen dem großen Ziel untergeordnet werden, Christus zu verherrlichen und ihn bekannt zu machen. Die Worte des Herrn sind absolut. Er sagte, wenn wir ihn nicht mehr als alles andere lieben, mehr als unsere Familien und unser eigenes Leben, dann können wir nicht seine Jünger sein. Es gibt keinen Mittelweg.
14,27 Zweitens lehrte Jesus, dass ein echter Jünger »sein Kreuz« auf sich nehmen und ihm »nachkommen« müsse. Das Kreuz ist nicht irgendeine Krankheit oder Betrübnis, sondern ein Weg der Schande, des Leidens, der Einsamkeit und sogar des Todes, den ein Mensch freiwillig um Christi willen wählt. Nicht alle Gläubigen tragen ein Kreuz. Es ist möglich, es zu umgehen, indem man als Namenschrist lebt. Doch wenn wir uns entscheiden, alles für Christus hinzugeben, dann werden wir den gleichen satanischen Widerstand erleben, den der Sohn Gottes hier auf Erden zu erdulden hatte. Das ist das Kreuz. Der Jünger muss Jesus »nachkommen«. Das bedeutet, dass er ein Leben führt, wie Jesus es auf dieser Erde geführt hat – ein Leben der Selbstverleugnung, der Demütigung, der Verfolgung, der Schande, der Versuchung und des Widerspruchs der Sünder gegen sich selbst.
14,28-30 Dann benutzte der Herr zwei Bilder, um die Notwendigkeit zu betonen, »die Kosten« zu überschlagen, ehe man ihm nachfolgt. Er verglich das christliche Leben zuerst mit einem Bauprojekt und danach mit einem Krieg. Ein Mann, der »einen Turm bauen will, setzt sich … zuvor hin und berechnet die Kosten«. Wenn er nicht genug Geld »zur Ausführung« hat, macht er nicht weiter. Anderenfalls muss die Arbeit abgebrochen werden, wenn »der Grund« gelegt ist, und die Zuschauer fangen an, »ihn« zu »verspotten und« zu »sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und konnte nicht vollenden«. So ist es auch bei den Jüngern. Sie sollten zuerst die Kosten überschlagen, ob sie wirklich ihr Leben von ganzem Herzen Christus übergeben wollen. Anderenfalls werden sie vielleicht mit viel Herrlichkeit anfangen und dann ausbrennen. Wenn das so ist, werden die Zuschauer sie verhöhnen, dass sie gut angefangen, aber schmählich geendet haben. Die Welt hat für halbherzige Christen nichts als Verachtung übrig.
14,31.32 Ein »König, der auszieht, um sich mit einem anderen König in Krieg einzulassen«, der zahlenmäßig stärker ist als er selbst, muss sorgfältig nachdenken, ob seine kleinere Truppe eine Chance hat, den Feind zu besiegen. Er erkennt klar, dass er entweder gewinnen oder eine elende Niederlage einstecken muss. Genauso ist es mit dem Christentum. Man kann hier keine halben Sachen machen.
14,1-3 An einem »Sabbat« bat ein »Oberster der Pharisäer« den Herrn in sein Haus zum Mahl. Es war keine echte Geste der Gastfreundschaft, sondern ein Versuch vonseiten der religiösen Führer, den Menschensohn einer Sünde zu überführen. Jesus sah einen »wassersüchtigen Menschen«,  d. h.  jemanden,  der  davon aufschwillt, dass sich Wasser in seinem Körpergewebe ansammelt. Weil der Heiland die Gedanken seiner Kritiker kannte, fragte er sie ausdrücklich, ob es »erlaubt« sei, »am Sabbat zu heilen«.
14,33  V.   33  ist  wohl  einer  der  unbeliebtesten Verse der Bibel. Er sagt ausdrücklich, dass »keiner von euch, der nicht allem entsagt, was er hat, mein Jünger sein« kann. Man kann der Bedeutung dieses Verses nicht ausweichen. Es geht hier nicht darum, dass man bereit sein müsse, alles zu verlassen, sondern es heißt, dass man alles verlassen muss. Wir sollten annehmen, dass der Herr Jesus wusste, was er sagte. Er erkannte, dass sonst niemand so handeln würde, wenn er sich nicht genau ausdrücken würde. Er möchte Männer und Frauen, die ihn mehr als alles andere in der Welt schätzen. Ryle beobachtet:
Wer gut für sich selbst sorgt, ist derjenige, der alles um Christi willen aufgibt. Er macht das beste Geschäft: Er trägt wenige Jahre in dieser Welt sein Kreuz und hat in der zukünftigen Welt das ewige Leben. Er bekommt den besten Besitz, er nimmt seine Reichtümer über das Grab hinaus mit. Er ist hier reich an Gnade und im Himmel reich an Herrlichkeit. Und das Beste von allem ist, dass er alles, was er durch den Glauben an Christus gewinnt, niemals verlieren kann. Es ist »das gute Teil«, »das nicht von (ihm) genommen werden wird«.45
14,34.35 »Salz« ist ein Bild für den Jünger. Ein Mensch, der hingegeben und aufopferungsbereit für den Herrn lebt, hat etwas Schönes und Angenehmes an sich. Doch dann lesen wir davon, dass »das Salz kraftlos geworden ist«. Modernes Tafelsalz kann seinen Geschmack nicht verlieren, weil es sich um reines Salz handelt. Doch in den biblischen Ländern war Salz oft auf verschiedene Weise verunreinigt. Deshalb war es möglich, dass die Salzkraft dahinschwand und doch etwas Salz im Gefäß übrig blieb. Dieser Rest war wertlos. Er konnte noch nicht einmal zur Düngung des Landes verwendet werden. Er musste weggeworfen werden.
In diesem Bild geht es um einen Jünger, der einen glänzenden Anfang im Glauben macht, dann aber sein entsprechendes Gelöbnis zurücknimmt. Der Jünger hat nur eine Aufgabe in seinem Leben, wenn er diese verfehlt, dann ist er wirklich bedauernswert. Wir lesen von dem Salz, dass man es hinauswirft. Es heißt nicht, dass Gott es hinauswirft, weil das nicht geschehen kann. Doch die Menschen  »werfen  es  hinaus«,  d. h.  sie treten das Zeugnis dessen, der zu bauen beg onnen hat und nicht vollenden kann, mit Füßen. Kelly merkt an: Hier wird die Gefahr gezeigt, dass das, was gut begann, sich zum Schlechten wendet. Was gibt es auf der Welt wertloseres als Salz, das die Kraft verloren hat, wegen der es geschätzt wird? Es ist mehr als nutzlos für alle anderen Zwecke. So ist es mit dem Jünger, der nicht mehr Christi Jünger ist. Er ist für die Zwecke der Welt nicht mehr geeignet, und Gottes Zweck erfüllt er ebenfalls nicht. Er hat zu viel Licht oder Erkenntnis, um die Eitelkeiten und Sünden der Welt mitzumachen, und er hat keine Freude an der Gnade und Wahrheit, die ihn auf dem Weg Christi halten. … Geschmackloses Salz wird vera chtet und unterliegt dem Gericht.46 Der Herr Jesus schließt seine Predigt über die Jüngerschaft mit den Worten: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Diese Worte bedeuten, dass nicht jeder bereit ist, die strengen Bedingungen der Jüngerschaft zu hören. Doch wenn jemand gewillt ist, dem Herrn Jesus nachzufolgen, ganz gleich, was es ihn kosten mag, dann sollte er hören und folgen. Johannes Calvin sagte: »Ich habe für Christus alles aufgegeben, und was habe ich gefunden? Ich habe alles in Christus gefunden.« Henry Drummond bemerkte: »Der Eintritt ins Reich der Himmel kostet nichts: Die ständige Hingabe kostet alles.«
S. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (15,1-7)
15,1.2 Die Lehre unseres Herrn in Kapitel 14 hat anscheinend die verachteten »Zöllner« und andere angezogen, die nach außen hin als »Sünder« erkennbar waren. Obwohl Jesus ihre Sünden tadelte, gaben viele von ihnen zu, dass er recht hatte. Sie stellten sich auf Christi Seite gegen sich selbst. In echter Buße erkannten sie ihn als Herrn an. Wo immer Jesus Menschen fand, die bereit waren, ihre Sünde zu bekennen, ging er auf sie zu, indem er ihnen geistliche Hilfe erwies und seinen Segen zueignete. »Die Pharisäer und die Schriftgelehrten« stießen sich daran, dass Jesus mit Menschen Umgang pflegte, die doch bekanntermaßen »Sünder« waren. Sie kannten keine Gnade mit diesen sozial und moralisch Aussätzigen, und sie ärgerten sich, dass Jesus es tat. Und so schleuderten sie ihm ihre Anklage entgegen: »Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen.« Diese als Anschuldigung gedachte Aussage war zweifellos wahr. Sie dachten, dieses Verhalten sei tadelnswert, aber in Wirklichkeit erfüllte sich dadurch nur ebenjener Ratschluss, hinsichtlich dessen Jesus auf die Erde kam! Als Antwort auf diese Anklage erzählte der Herr Jesus die Gleichnisse vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn. Diese Geschichten zielten direkt auf die Pharisäer und Schriftgelehrten, die vor Gott nicht zerbrochen waren und daher ihren Zustand als Verlorene nicht zugaben. Sie waren ebenso verloren wie die Zöllner und Sünder, doch sie weigerten sich starrsinnig, das einzugestehen. Die drei Gleichnisse sollen zeigen, dass Gott echte Freude empfindet und völlig zufriedengestellt ist, wenn er sieht, dass Sünder Buße tun, während er keine Freude über selbstgerechte Heuchler empfindet, die zu stolz sind, ihre erbärmliche Sündhaftigkeit zuzugeben.
15,3.4 Hier wird der Herr Jesus im Bild des Hirten dargestellt. Die »neunundneunzig« Schafe stehen für die Schriftgelehrten und Pharisäer. Das »verlorene« Schaf ist ein Bild für einen Zöllner oder notorischen Sünder. Wenn der Hirte bemerkt, dass »eins« von seinen Schafen »verloren« ist, dann »lässt« er »die Neunundneunzig in der Wüste« (nicht im Stall) und »geht dem verlorenen nach, bis er es findet«. Für den Herrn Jesus bedeutete diese Reise sein Kommen auf die Erde, seine Jahre des öffentlichen Wirkens, seine Ablehnung, sein Leiden und seinen Tod. Wie wahr sind doch die Zeilen aus dem Lied »Neunundneunzig der Schafe«: Doch keiner dort oben wusst’ es je, in welch tiefe Kluft er ging, noch, wie bitter und schwer war das Todesweh,
das den Hirten für uns umfing. Elizabeth C. Clephane
15,5 Nachdem er sein Schaf »gefunden« hat, »legt er es … auf seine Schultern« und nimmt es mit nach Hause. Das bedeutet, dass das gerettete Schaf einen bevorrechtigten Platz erhält und eine Nähe zum Herrn, die es nicht kannte, als es noch zu den anderen Schafen gehörte.
15,6 Der Hirte fordert seine »Freunde und die Nachbarn« auf, sich mit ihm über die Rettung seines verlorenen Schafes zu »freuen«. Das bedeutet, dass der Herr sich freut, wenn ein Sünder Buße tut.
15,7 Die Lehre hier ist eindeutig: »Im Himmel« ist »Freude über einen Sünder, der Buße tut«, doch keine Freude über die 99 Sünder, die nie ihre Verlorenheit erkannt haben. Vers 7 bedeutet nicht, dass es einige Menschen gibt, die keine Buße notwendig haben. Alle Menschen sind Sünder, und alle müssen Buße tun, um errettet zu werden. Dieser Vers beschreibt diejenigen, die nach ihrer eigenen Ansicht »die Buße nicht nötig haben«. T. Das Gleichnis von der verlorenen Drachme (15,8-10)
15,8-10 Die »Frau« in dieser Geschichte könnte für den Heiligen Geist stehen, der die Verlorenen mit der »Lampe« des Wortes Gottes sucht. Die neun Drachmen sind die Unbußfertigen, während die eine verlorene Drachme für die Menschen steht, die bereit sind zu bekennen, dass sie den Kontakt zu Gott verloren haben. Im vorhergehenden Gleichnis ging das Schaf aus eigenem Antrieb von der Herde weg. Ein Geldstück ist jedoch ein unbelebtes Ding und könnte hier für den toten Zustand des Sünders stehen. Der Sünder ist tot in seinen Sünden.
Die Frau »sucht« so lange »sorgfältig« nach der Münze, »bis sie sie findet«. Dann »ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen«, um mit ihnen zu feiern. Das verlorene Geldstück, das sie wiedergefunden hat, brachte ihr mehr echte Freude als die neun, die nie verloren gegangen sind. So ist es auch bei Gott. Der »Sünder«, der sich selbst demütigt und seine Verlorenheit eingesteht, bringt dem Herzen Gottes Freude. Gott hat keine Freude an denen, die niemals die Notwendigkeit der Buße bemerkt haben. U. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (15,11-32)
15,11-16 Gott der Vater wird hier als Mensch dargestellt, der »zwei Söhne hatte«. »Der jüngere« verkörpert den Sünder, der Buße tut, während der ältere für die Schriftgelehrten und Pharisäer steht. Die letzteren sind durch die Schöpfung Kinder Gottes, nicht jedoch durch Erlösung. Der jüngere Sohn ist auch als der »verschwenderische« Sohn bekannt. Ein »Verschwender« ist jemand, der ausschweifend lebt und dabei sein Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswirft. Dieser Sohn wurde seines Vaterhauses müde und entschied sich, den Vater zu verlassen. Er konnte nicht darauf warten, dass sein Vater starb, und verlangte deshalb vorzeitig seinen »Teil des Vermögens«. Darauf gab der Vater seinen Söhnen die ihnen zustehenden Anteile. Kurz danach machte sich der Sohn »in ein fernes Land« auf und gab sein Geld freizügig für sündige Vergnügungen aus. Sobald seine Mittel erschöpft waren, kam eine schlimme »Hungersnot« über das Land, und er sah sich völlig verarmt. Die einzige Arbeit, die er bekommen konnte, war als Schweinehirt – eine Arbeit, die den meisten Juden völlig zuwider gewesen wäre. Als er die Schweine ihre Futterschoten fressen sah, beneidete er sie. Sie konnten ihren Hunger besser stillen als er selbst, und »niemand« schien ihm helfen zu wollen. Die Freunde die er hatte, als er sein Geld verprasste, waren alle verschwunden.
15,17-19 Die Hungersnot erwies sich im Nachhinein als Segen. Sie ließ ihn nachdenklich werden. Er erinnerte sich, dass die »Tagelöhner« seines »Vaters« weitaus bequemer lebten als er. Sie hatten genug zu essen, während er »vor Hunger« fast starb. Als er darüber nachdachte, beschloss er, daran etwas zu ändern. Er entschied sich, zu seinem Vater zu gehen, seine Sünde zu bekennen und Vergebung zu erbitten. Er erkannte, dass er »nicht mehr würdig« war, seines Vaters »Sohn zu heißen«, und wollte um eine Stelle als »Tagelöhner« bitten.
15,20 Lange bevor er sein Vaterhaus erreicht hatte, »sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn zärtlich«. Das ist wohl das einzige Mal in der Bibel, wo Eile im Blick auf Gott im positiven Sinne verwendet wird. Stewart gibt das gut wieder:
Jesus stellte Gott hier auf unerwartete Weise dar – als denjenigen, der nicht auf sein beschämtes Kind wartet, bis es nach Hause geschlichen kommt, und nicht auf seiner Würde beharrt, als der Sohn erscheint. Vielmehr läuft er hinaus, um den Sohn in die Arme zu nehmen, so beschämt, zerlumpt und schmutzig er auch war. Der Name »Vater« hat sowohl die Sünde dunkler gemacht als auch gleichzeitig die wunderbare Herrlichkeit der Vergebung verstärkt.47
15,21-24 Der Sohn bekennt seine Sünde bis zu dem Punkt, wo er um Arbeit bitten will. »Der Vater aber« unterbricht ihn, indem er den Sklaven befiehlt, seinem Sohn »das beste Kleid« anzuziehen, »einen Ring an seine Hand« und »Sandalen an seine Füße« zu tun. Er befiehlt auch ein großes Festmahl, um die Wiederkehr seines Sohnes zu feiern, der »verloren war und gefunden worden ist«. Für den Vater war er »tot« gewesen, und nun war er »wieder lebendig«. Jemand hat einmal gesagt: »Der junge Mann suchte nach einem guten Leben, aber er fand es nicht in einem fernen Land. Er fand es erst, als er den guten Einfall hatte, in seines Vaters Haus zurückzukehren.« Man hat auch darauf hingewiesen, dass sie »anfingen, fröhlich zu sein«, doch nirgends berichtet wird, dass sie wieder aufhörten. So ist es bei der Errettung des Sünders.
15,25-27 Als der »ältere Sohn« vom »Feld« zurückkommt und den Festlärm hört, fragt er einen Sklaven, »was das wäre«. Der erzählt ihm, dass sein jüngerer »Bruder« wiedergekommen ist und sein »Vater« sich überschwänglich freue.
15,28-30 Der ältere Sohn geriet, von Eifersucht verzehrt, in Wut. Er weigerte sich, an der Freude seines Vaters teilzuhaben. J. N. Darby hat es sehr gut ausgedrückt: »Wo Gottes Freude ist, kann es keine Selbstgerechtigkeit geben. Wenn Gott dem Sünder gegenüber gütig ist, was nützt mir meine Gerechtigkeit?« Als »sein Vater« ihn drängte, am Fest teilzunehmen, weigerte er sich und klagte, dass der Vater ihn »niemals« für seinen treuen Dienst und seinen Gehorsam belohnt habe. Er habe nie »ein Böckchen« empfangen, noch viel weniger ein gemästetes Kalb. Er beklagte sich, dass der Vater nicht zögerte, ein großes Fest zu feiern, nachdem der verschwenderische Sohn zurückgekehrt ist, der das Geld seines Vaters »mit Huren durchgebracht« hatte. Man beachte, dass er sagt: »dieser dein Sohn«, und nicht: »mein Bruder«.
15,31.32 Die Antwort des Vaters zeigt, dass mit der Wiederherstellung eines Verlorenen Freude verbunden ist, während ein widerspenstiger, undankbarer und unversöhnter Sohn kein Grund zum Feiern ist.
Der ältere Sohn ist ein sprechendes Bild für die Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie ärgerten sich, dass Gott den abscheulichen Sündern Gnade erwies. Ihrer Meinung nach hatten sie, auch wenn Gott es anders sah, ihm treu gedient, seine Gebote niemals übertreten und waren doch für all dies nie gebührend belohnt worden. Die Wahrheit war jedoch, dass sie religiöse Heuchler und schuldige Sünder waren. Ihr Stolz verblendete sie, sodass sie weder ihre Entfremdung von Gott noch die Tatsache sahen, dass er Segen über Segen über sie ausgegossen hatte. Wenn sie nur willig gewesen wären, Buße zu tun und ihre Sünden zu bekennen, wäre das Herz des Vaters erfreut worden, und auch sie hätten Anlass für ein großes Fest geboten. V. Das Gleichnis vom ungerechten Verwalter (16,1-13)
16,1.2 Der Herr Jesus wendet sich nun von den Pharisäern und Schriftgelehrten an die Jünger mit einer Lektion über die Verwalterschaft. Dieser Abschnitt ist zugegebenermaßen einer der schwierigsten bei Lukas. Der Grund für diese Schwierigkeit ist, dass die Geschichte des ungerechten Verwalters scheinbar Unehrlichkeit empfiehlt. Während wir weitergehen, werden wir sehen, dass das jedoch nicht der Fall ist. Der »reiche Mann« ist ein Bild für Gott selbst. Ein »Verwalter« ist jemand, der mit der Verwaltung des Besitzes eines anderen beauftragt ist. In dieser Geschichte ist jeder Jünger des Herrn auch ein Verwalter. Dieser bestimmte Verwalter war angeklagt, seines Herrn Güter zu veruntreuen. Er wurde aufgefordert, »Rechnung« abzulegen, und ihm wurde gedroht, entlassen zu werden.
16,3-6 »Der Verwalter« dachte schnell nach. Er erkannte, dass er für seine Zukunft Vorsorge tragen musste. Doch er war zu alt, um noch körperlich hart zu arbeiten, und er war zu stolz, »zu betteln« (aber nicht zum Stehlen). Wie konnte er für seine soziale Sicherheit vorsorgen? Er fasste einen Plan, durch den er Freunde gewinnen konnte, die ihm Freundlichkeit erweisen würden, wenn er in Not geriete. Der Plan war folgender: Er ging zu einem »Schuldner seines Herrn« und fragte ihn, wie viel er schulde. Als der Schuldner sagte: »Hundert Bat Öl«, sagte ihm der Verwalter, dass er fünfzig zahlen solle, und die Sache wäre erledigt.
16,7 Ein anderer Schuldner war »hundert Kor Weizen« schuldig. Der Verwalter sagte ihm, er solle achtzig bezahlen, und damit hätte es sein Bewenden.
16,8 Der schockierende Teil der Geschichte kommt, als »der Herr den ungerechten Verwalter lobte, weil er klug gehandelt hatte«. Warum sollte man solch eine Unehrlichkeit loben? Was der Verwalter getan hatte, war Unrecht. Die folgenden Verse zeigen, dass der Verwalter keinesfalls für seine Bosheit, sondern für seine Vorsicht gelobt wurde. Er hatte umsichtig gehandelt. Er hatte für die Zukunft vorgesorgt. Er hatte gegenwärtigen Gewinn für eine zukünftige Belohnung aufgegeben. Wenn wir das auf unser eigenes Leben übertragen wollen, dann müssen wir uns jedoch über diesen einen Punkt klar sein: Die Zukunft des Kindes Gottes beinhaltet nicht ein Erdendasein, sondern ein Leben im Himmel. So wie der Verwalter Schritte unternimmt, dass er Freunde hat, wenn er sich hier unten zur Ruhe setzt, so sollte der Christ die Güter seines Herrn benutzen, sodass ihm ein Willkommensfest sicher ist, wenn er in den Himmel kommt.
Der Herr sagte: »Die Söhne dieser Welt sind klüger als die Söhne des Lichts gegen ihr eigenes Geschlecht.« Das bedeutet, dass die Gottlosen – nicht wiedergeborenen Menschen – mehr Weisheit hinsichtlich der Vorsorge für ihre Zukunft in dieser Welt erkennen lassen, als wahre Gläubige beim Sammeln von Reichtümern im Himmel.
16,9 Wir sollten uns »Freunde mit« Hilfe des »ungerechten Mammons« machen. Das heißt, wir sollten unser Geld und anderen Besitz so verwenden, dass wir Seelen für Christus gewinnen, und so Freundschaften schließen, die in Ewigkeit fortbestehen. Pierson stellte klar fest: Geld kann benutzt werden, Bibeln, Bücher und Traktate zu kaufen und damit, jedenfalls indirekt, der Gewinnung menschlicher Seelen dienen. So wird, was einst materiell und zeitlich begrenzt war, unsterblich, geistlich und ewig. Hier haben wir einen Mann, der hundert Dollar hat. Er kann sie ausgeben, um ein Essen oder eine Party zu geben. Dann ist am nächsten Tag nichts mehr davon übrig. Andererseits kann er Bibeln zu 1 Dollar das Stück kaufen. Dann kann er hundert Exemplare des Wortes Gottes erwerben. Diese sät er als Saat des Reiches sorgfältig aus, und aus dieser Saat wächst eine Ernte, nicht in Form von Bibeln, sondern in Gestalt erretteter Menschen. Aus dem Ungerechten hat er sich unsterbliche Freunde geschaffen, die ihn, wenn es mit ihm auf Erden zu Ende geht, in die ewigen Zelte aufnehmen werden.48
Das ist die Lehre unseres Herrn. Durch die weise Investition unseres materiellen Besitzes können wir an der ewigen Segnung von Menschen teilhaben. Wir können dafür sorgen, dass uns ein Empfangskomitee derer im Himmel empfängt, die durch unser aufopferndes Geben und unsere Gebete errettet worden sind. Diese Menschen werden uns danken, indem sie sagen: »Du warst es, der uns hierher eingeladen hat.« Darby kommentiert:
Der Mensch ist ganz allgemein Gottes Verwalter. In anderem Sinne und auf andere Art war auch Israel Gottes Verwalter. Israel war in Gottes Weinberg gesetzt worden; ihm waren das Gesetz, die Verheißungen, die Bündnisse und der Gottesdienst anvertraut worden. Doch aufs Ganze gesehen hatte Israel die Güter Gottes vergeudet. Auch der Mensch, der Gottes Verwalter sein sollte, ist ausgesprochen untreu gewesen. Nun, was sollte geschehen? Gott erscheint und verwandelt in der Souveränität seiner Gnade dasjenige, was der Mensch auf Erden missbraucht, in ein Mittel zur Erlangung himmlischer Frucht. Das Materielle soll vom Menschen nicht für den gegenwärtigen Genuss dieser Welt verwendet werden, die von Gott völlig getrennt ist. Vielmehr soll er es hinsichtlich der Zukunft einsetzen. Wir sollen anstreben, nicht das Gegenwärtige zu besitzen, sondern durch dessen richtigen Gebrauch für spätere Zeiten vorsorgen. Es ist besser, bezüglich eines zukünftigen Tages alles in einen Freund zu investieren, als jetzt das Geld zu besitzen. Der Mensch ist hier auf Erden zum Verderben bestimmt. Deshalb ist der Mensch hier ein Verwalter am falschen Ort.49
16,10 Wenn wir in unserer Verwalterschaft des »Geringsten … treu« sind (Geldangelegenheiten), dann werden wir auch treu sein, wenn es um »viel« geht (geistliche Schätze). Wenn andererseits ein Mensch im Umgang mit dem von Gott anvertrauten Geld unehrlich ist, dann ist er auch unehrlich, wenn größere Dinge auf dem Spiel stehen. Dass Geld relativ unbedeutend ist, wird durch den Ausdruck »im Geringsten« betont.
16,11 Jemand, der »nicht« ehrlich im Umgang »mit dem ungerechten Mammon« ist, kann kaum erwarten, dass ihm »das Wahrhaftige« anvertraut wird. Geld wird hier »ungerechter Mammon« genannt. Es ist nicht an sich schlecht. Doch wäre vielleicht Geld gar nicht nötig, wenn die Sünde nicht in die Welt gekommen wäre. Und Geld ist »ungerecht«, weil es normalerweise für Zwecke benutzt wird, die ganz und gar nicht der Verherrlichung Gottes dienen. Es steht hier im Gegensatz zum »Wahrhaftigen«. Der Wert des Geldes ist unsicher und zeitlich, der Wert geistlicher Reichtümer ist unveränderlich und ewig.
16,12 Vers 12 unterscheidet zwischen dem, was »dem Fremden« gehört, und dem »Euren«. Alles, was wir haben, gehört dem Herrn – unser Geld, unsere Zeit und unsere Fähigkeiten. Das »Unsere« bezieht sich auf die Belohnung, die wir in diesem und dem zukünftigen Leben als Ergebnis unseres treuen Dienstes für Christus ernten. Wenn wir mit Gottes Eigentum nicht treu umgehen, wie kann er uns Eigenes geben?
16,13 Es ist völlig unmöglich, für Gott und gleichzeitig für etwas anderes zu leben. Wenn wir vom Geld beherrscht werden, können wir dem Herrn nicht wirklich dienen. Um Reichtum anzuhäufen, müssen wir unsere besten Bemühungen diesem Ziel widmen. Wenn wir das tun, dann berauben wir Gott dessen, was ihm zusteht. Es geht hier um eine geteilte Loyalität. Die Motive sind dann mehrschichtig. Entscheidungen sind nicht mehr unvoreingenommen. Wo unser Schatz ist, da ist auch unser Herz. Beim Versuch, Reichtum zu scheffeln, dienen wir »dem Mammon«. Und es ist unmöglich, dabei gleichzeitig »Gott« zu »dienen«. Der Mammon verlangt von uns alles, was wir haben und sind – unseren Feierabend, unsere Wochenenden und die Zeit, die wir dem Herrn geben sollten. W. Die habgierigen Pharisäer (16,14-18)
16,14 »Die Pharisäer« waren nicht nur stolz und heuchlerisch, sondern auch habgierig. Sie waren der Auffassung, dass Gottesfurcht eine Verdienstmöglichkeit sei. Sie wählten Religion als Beruf, so wie man einen anderen Beruf wählt, um viel Geld zu verdienen. Ihr Dienst zielte nicht darauf ab, Gott zu verherrlichen und ihren Nächsten zu helfen, sondern darauf, sich selbst zu bereichern. Als sie den Herrn Jesus lehren »hörten«, dass sie den Reichtum dieser Welt aufgeben und ihre Reichtümer im Himmel sammeln sollten, »verhöhnten sie ihn«. Für sie war Geld realer als die Verheißungen Gottes. Nichts würde sie daran hindern, Reichtümer aufzuhäufen.
16,15 Äußerlich erschienen die Pharisäer fromm und geistlich. Sie meinten, dass sie »vor den Menschen« gerecht wären. Doch hinter dieser betrügerischen Maske sah »Gott« die Habsucht in ihren »Herzen«. Er wurde durch ihr Äußeres nicht irregeführt. Das Leben, das sie führten und das andere an ihnen schätzten (Psalm 49,19), war »ein Gräuel vor Gott«. Sie meinten, dass sie erfolgreich seien, weil sie einen religiösen Beruf mit finanziellem Überfluss vereinigen konnten. Doch in Gottes Augen waren sie geistliche Ehebrecher. Sie behaupteten, Jahwe zu lieben, doch in Wirklichkeit war der Mammon ihr Gott.
16,16 Der Zusammenhang der Verse 16-18 ist schwierig zu verstehen. Wenn man sie oberflächlich liest, scheinen sie weder mit dem Vorhergehenden noch mit dem Folgenden in Beziehung zu stehen. Doch wir sind der Auffassung, dass sie am besten verstanden werden können, wenn wir uns erinnern, dass das Thema von Kapitel 16 die Habgier und die Untreue der Pharisäer ist. Gerade diejenigen, die stolz darauf waren, dass sie sorgfältig dem Gesetz gehorchten, werden hier als habsüchtige Heuchler entlarvt. Der Geist des Gesetzes steht im scharfen Kontrast zum Geist der Pharisäer. »Das Gesetz und die Propheten gehen bis auf Johannes.« Mit diesen Worten beschreibt der Herr das Zeitalter des Gesetzes, das mit Mose begann und mit Johannes dem Täufer endete. Doch nun sollte ein neues Zeitalter beginnen. Von der Zeit des Johannes an »wird das Evangelium des Reiches Gottes verkündigt«. Der Täufer ging aus, um die Ankunft des rechtmäßigen Königs Israels zu verkündigen. Er sagte den Menschen, dass der Herr Jesus über sie herrschen würde, wenn sie Buße tun würden. Als Ergebnis dieser Verkündigung sowie der späteren Predigten des Herrn selbst und der Jünger reagierten viele Menschen bereitwillig.
»Jeder dringt mit Gewalt hinein« bedeutet, dass diejenigen, die auf die Botschaft reagierten, das Reich regelrecht erstürmten. Die Zöllner und Sünder zum Beispiel mussten über die Hindernisse springen, die die Pharisäer ihnen aufgerichtet hatten. Andere mussten die Geldliebe in ihren Herzen mit Gewalt bezwingen. Vorurteile mussten überwunden werden.
16,17.18 Doch das neue Zeitalter bedeutete nicht, dass die grundsätzlichen moralischen Wahrheiten nun nicht mehr gelten würden. »Es ist aber leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Strichlein des Gesetzes wegfalle.« Ein »Strichlein des Gesetzes« kann mit dem Querbalken des kleinen »t« oder einem i-Punkt verglichen werden. Die Pharisäer meinten, zum Reich Gottes zu gehören, doch der Herr sagte ihnen im Grunde: »Ihr könnt nicht das großartige Moralgesetz Gottes verletzen und noch immer einen Platz im Reich Gottes beanspruchen.« Vielleicht fragten sie: »Welches moralische Gesetz haben wir denn verletzt?« Der Herr wies sie darauf hin, dass das Ehegesetz niemals vergehen würde. Jeder Mann, »der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch; und jeder, der die von einem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehebruch«. Genau das taten die Pharisäer auf geistlichem Gebiet. Das jüdische Volk hatte von Gott einen Bund erhalten. Doch diese Pharisäer kehrten Gott den Rücken, indem sie wie verrückt nach materiellem Reichtum strebten. Und vielleicht legt dieser Vers auch nahe, dass sie sich im wörtlichen Sinne des Ehebruchs schuldig gemacht hatten, nicht nur des geistlichen.
X. Der reiche Mann und der arme Lazarus (16,19-31)
16,19-21 Der Herr beendete seine Rede über die Verwaltung der materiellen Güter mit diesem Bericht über zwei Menschen, wobei er ihr Leben, ihren Tod und ihre endgültige Bestimmung beschreibt. Es muss angemerkt werden, dass hier nicht von einem Gleichnis die Rede ist. Wir erwähnen das, weil einige Kritiker die ernsten Schlussfolgerungen dieser Geschichte abwenden wollen, indem sie diese zu einem bloßen Gleichnis herabwürdigen.
Zu Beginn sollte deutlich gemacht werden, dass der »reiche Mann« nicht wegen seines Reichtums in den Hades kam. Der Grund für die Errettung eines Menschen ist der Glaube an den Herrn, wobei Menschen verurteilt werden, weil sie nicht an ihn glauben. Doch dieser reiche Mann zeigte, dass er nicht den errettenden Glauben hatte, weil er achtlos gegenüber dem »Armen« war, der »an dessen Tor lag«. Hätte er die Liebe Gottes in sich gehabt, so hätte er nicht in Luxus und Bequemlichkeit leben können, während ein Mitmensch vor seiner Tür lag und um einige »Abfälle vom Tisch des Reichen« bat. Er hätte das Reich mit Gewalt Gottes erstürmt, indem er seine Liebe zum Geld aufgegeben hätte.
Ebenso gilt, dass Lazarus nicht errettet wurde, weil er arm war. Er hatte dem Herrn im Blick darauf vertraut, dass dieser seine Seele errettet. Nun betrachte man das Bild des Reichen, das manchmal »Dives« genannt wird (lat. für reich). Er trug nur kostbarste maßgeschneiderte Gewänder, und sein Tisch war mit den erlesensten Speisen bedeckt. Er lebte nur für sich selbst und sorgte für seinen leiblichen Genuss. Er hatte keine echte Liebe zu Gott und kümmerte sich nicht um seinen Mitmenschen. Den krassen Gegensatz dazu bildet Lazarus. Er war ein erbarmungswürdiger Bettler, der jeden Tag vor der Tür des Reichen abgesetzt wurde, »voller Geschwüre«, vor Hunger ausgemergelt und von unreinen Hunden belästigt, die »kamen und seine Geschwüre leckten«.
16,22 Als der »Arme starb«, wurde er »von den Engeln in Abrahams Schoß getragen«. Viele bezweifeln, dass die Engel Anteil daran haben, die Seelen der Gläubigen in den Himmel zu bringen. Wir sehen jedoch keinen Grund, diese einfachen Worte zu bezweifeln. Die Engel dienen dem Gläubigen während seines Lebens, und es gibt keinen Grund dafür, warum sie es nicht auch bei seinem Tod noch tun sollten. »Abrahams Schoß« ist ein Bild für den Ort der Glückseligkeit. Für jeden Juden wäre der Gedanke der Gemeinschaft Abrahams ein unaussprechliches Glück. Wir sind der Ansicht, dass »Abrahams Schoß« das Gleiche wie »Himmel« bedeutet. Als »der Reiche« starb, wurde sein Leib »begraben« – der Leib, den er gepflegt und für den er so viel Geld ausgegeben hatte.
16,23.24 Doch das war nicht alles. Seine Seele (oder sein bewusstes Ich) kam in den »Hades«. »Hades« steht im Griechischen für das alttestamentliche Wort Scheol, das den Ort der Abgeschiedenen bezeichnet. Zur Zeit des AT bezeichnete Scheol den Aufenthaltsort sowohl der Erretteten als auch der Verlorenen. Hier ist damit der Aufenthaltsort der Verlorenen gemeint, weil wir lesen, dass der Reiche »in Qualen« war.
Es muss ein Schock für die Jünger gewesen sein zu sehen, dass dieser reiche Jude in den Hades kam. Sie waren anhand des AT gelehrt worden, dass Reichtum ein Zeichen von Gottes Segen und Gunst war. Ein Israelit, der dem Herrn gehorchte, hatte die Verheißung, materiell reich zu werden. Wie konnte dann dieser reiche Jude in den Hades kommen? Der Herr Jesus hatte gerade eben angekündigt, dass mit der Predigt des Johannes eine neue Ordnung begonnen hatte. Daher war Reichtum nicht länger ein Zeichen für Segen. Er ist eine Prüfung für die Treue in der Verwalterschaft des Menschen. Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert werden. Vers 23 widerlegt die Vorstellung eines »Seelenschlafs«, nämlich die Theorie, dass die Seele zwischen Tod und Auferstehung kein Bewusstsein hat. Er beweist, dass es eine bewusste Existenz jenseits des Grabes gibt. Wir sind sogar über das Ausmaß des Wissens des Reichen erstaunt. Er sah »Abraham von fern und Lazarus in seinem Schoß«. Er war sogar in der Lage, sich mit Abraham zu verständigen. Er sprach ihn als »Vater Abraham« an und bat um Gnade. Er solle Lazarus »senden«, damit der ihm mit Wasser die »Zunge kühle«. Man muss sich jedoch die Frage stellen, wie eine Seele ohne Leib Durst und »Pein« in einer »Flamme« spüren kann. Wir können hier nur schließen, dass die Sprache hier bildhaft ist, doch das bedeutet nicht, dass sein Leiden nicht echt war.
16,25 Abraham sprach ihn als »Kind« an. Damit meinte er, dass er sein leiblicher Nachkomme war, nicht jedoch sein geistlicher Nachkomme. Der Patriarch erinnerte ihn an sein »Leben« in Luxus, Trägheit und Verwöhntheit. Er erinnerte ihn auch an die Armut des Lazarus. Im Jenseits nun waren die Rollen vertauscht. Die Ungleichheit, die auf der Erde bestanden hatte, war nun vertauscht.
16,26 Wir lernen hier, dass die Entscheidungen unseres Lebens unser ewiges Schicksal bestimmen und dass nach dem Tod dieses Schicksal »festgelegt« ist. Es gibt keinen Weg vom Aufenthaltsort der Erlösten zu dem Bestimmungsort der Verlorenen und umgekehrt.
16,27-31 Im Tod wurde der Reiche auf einmal zum Evangelisten. Er wollte zu seinen »fünf Brüdern« gehen und sie davor warnen, »an diesen Ort der Qual zu kommen«. Abrahams Antwort lautete, dass diese fünf Brüder das AT hatten, weil sie Juden waren, und dieses sollte zur Warnung ausreichen. Der Reiche widersprach Abraham und behauptete, dass sie sicherlich »Buße tun« würden, »wenn jemand von den Toten zu ihnen geht«. Doch Abraham hatte hier das letzte Wort. Er legte dar, dass die Weigerung, auf das Wort Gottes zu hören, endgültig ist. Wenn Menschen nicht auf die Bibel hören, dann werden sie auch nicht glauben, wenn jemand »aus den Toten aufersteht«. Das lässt sich durch den »Fall« Jesu am besten belegen. Er stand aus den Toten auf, und doch wollten die Menschen nicht an ihn glauben. Aus dem NT wissen wir, dass der Leib eines Gläubigen, wenn er stirbt, ins Grab gelegt wird, seine Seele jedoch in den Himmel kommt, um bei Christus zu sein (2. Kor 5,8; Phil 1,23). Wenn ein Ungläubiger stirbt, dann kommt sein Leib ebenfalls ins Grab, doch seine Seele gelangt in den Hades. Für ihn ist der Hades ein Ort des Leidens und der Reue.
Bei der Entrückung werden die Leiber der Gläubigen aus dem Grab auferweckt und mit ihrem Geist und ihrer Seele wiedervereinigt (1. Thess 4,13-18). Die Gläubigen werden dann ewig bei Christus wohnen. Beim Gericht vor dem großen weißen Thron werden der Leib, der Geist und die Seele der Ungläubigen wiedervereinigt werden (Offb 20,12.13). Sie werden dann in den Feuersee geworfen, den Ort der ewigen Verdammnis. Und so endet Kapitel 16 mit einer äußerst ernsten Warnung an die Pharisäer und alle, die gerne für den Reichtum leben möchten. Sie werden dabei an ihrer Seele Schaden nehmen. Es ist besser, auf Erden um Brot zu betteln, als in der Hölle nach Wasser zu verlangen. IX. Der Menschensohn unterweist seine Jünger (17,1 – 19,27) A. Über die Gefahr der Verführung (17,1.2)
17,1.2 Der Gedankengang dieses Kapitels lässt sich nicht völlig klären. Es scheint fast so, als ob Lukas hier verschiedene Themen, die nichts miteinander zu tun haben, verbindet. Dennoch könnten die Anfangsworte Jesu über die Gefahr der Verführung mit der Geschichte vom reichen Mann am Ende von Kapitel 16 zusammenhängen. In Luxus, Selbstgefälligkeit und Behaglichkeit zu leben, könnte sehr wohl ein Anstoß für Menschen sein, die noch jung im Glauben sind. Be sonders wenn jemand als Christ an gesehen ist, wird sein Beispiel von anderen befolgt. Wie schlimm ist es, wenn man auf diese Weise verheißungsvolle Jünger des Herrn Jesus Christus zu einem materialistischen Lebensstil und einer Vere hrung des Mammons verführt. Natürlich gilt dieses Prinzip auch viel allgemeiner. Die »Kleinen« können zu Fall gebracht werden, indem man sie ermutigt, ein weltliches Leben zu führen. Sie können zu Fall gebracht werden, indem sie in sexuelle Sünden verwickelt werden. Sie können durch jede Lehre zu Fall gebracht werden, die die offenkundige Bedeutung der Schrift verwässert. Alles, was sie von einem Weg des einfachen Glaubens, von der Hingabe und der Heiligung wegführt, ist ein Stein des Anstoßes.
Da Jesus die menschliche Natur und die auf der Welt herrschenden Umstände kannte, sagte er voraus, dass es unausweichlich sei, »dass … Verführungen kommen«. Doch das vermindert nicht die Schuld derer, die für Verführungen verantwortlich sind. Für solch einen Menschen »wäre es nützlicher, wenn ein Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde«. Eine so deutliche Sprache scheint ohne Zweifel nicht nur ein Bild für den leiblichen Tod, sondern auch für die ewige Verdammnis zu sein.
Als der Herr Jesus davon spricht, »einen dieser Kleinen« zu verführen, meint er sicherlich mehr als nur Kinder. Dieser Vers bezieht sich anscheinend auch auf Jünger, die noch jung im Glauben sind. B. Über die Notwendigkeit eines vergebungsbereiten Geistes (17.3.4)
17,3.4 Im christlichen Leben gibt es nicht nur die Gefahr, andere zu verführen. Es gibt auch die Gefahr, Bitterkeit anzuhäufen und sich zu weigern, einem anderen zu vergeben, obwohl er sich entschuldigt hat. Darum geht es dem Herrn hier. Das NT lehrt zu diesem Thema die folgende Vorgehensweise:
1. Wenn einem Christen von einem anderen Unrecht geschieht, dann sollte er als Erstes dem Schuldigen in seinem Herzen vergeben (Eph 4,32). Das hält seine eigene Seele frei von Groll und Bosheit.
2. Dann sollte er persönlich zu dem anderen hingehen und ihn »zurechtweisen«  (V. 3;  s.  a.  Matth  18,15).  »Wenn er bereut«, so soll er ihm vergeben. Auch wenn er immer wieder sündigt und bereut, soll ihm vergeben werden (V. 4).
3. Wenn eine persönliche Ermahnung nicht hilft, dann sollte derjenige, dem Unrecht geschehen ist, einen oder zwei Zeugen mitnehmen (Matth 18,16). Wenn er auf sie nicht hören will, dann sollte die Angelegenheit vor der gesamten Gemeinde verhandelt werden. Wenn der Schuldige dann immer noch nicht hört, dann soll er aus der Gemeinde ausgeschlossen werden (Matth 18,17).
Der Zweck der Zurechtweisung und anderer disziplinarischer Maßnahmen besteht nicht darin, Genugtuung zu erlangen oder den Schuldigen zu demütigen, sondern darin, seine Gemeinschaft mit dem Herrn und seinen Geschwistern wiederherzustellen. Zurechtweisungen sollten im Geist der Liebe ausgesprochen werden. Wir haben keine Möglichkeit festzustellen, ob die Buße eines Schuldigen echt ist. Wir müssen uns auf sein Wort verlassen. Deshalb sagt Jesus: »Und wenn er siebenmal am Tag an dir sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben.« So gnädig behandelt der Vater auch uns. Ganz gleich, wie oft wir gegen ihn sündigen – wir haben immer noch folgende Zusicherung: »Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von jeder Ungerechtigkeit« (1. Joh 1,9). C. Über den Glauben (17,5.6)
17,5 Der Gedanke, jemandem siebenmal an einem Tag zu vergeben, stellte für die »Apostel« eine Schwierigkeit, wenn nicht sogar eine Unmöglichkeit, dar. Sie spürten, dass sie nicht in der Lage waren, so barmherzig zu sein. Und so baten sie den Herrn: »Mehre uns den Glauben!«
17,6 Die Antwort des Herrn zeigte, dass es beim Glauben nicht so sehr auf Quantität, sondern auf Qualität ankommt. Auch ging es nicht darum, mehr Glauben zu bekommen, sondern darum, den Glauben, den sie hatten, anzuwenden. Es ist unser eigener Stolz und Hochmut, der uns davon abhält, unserem Bruder zu vergeben. Dieser Stolz muss aus unserem Herzen ausgerissen und hinausgeworfen werden. Wenn Glaube von der Größe eines »Senfkorns« in der Lage ist, einen »Maulbeerfeigenbaum« auszureißen und ins »Meer« zu verpflanzen, dann kann er uns noch viel leichter Sieg über die Verhärtung und die Widerspenstigkeit unseres Herzens geben, die uns daran hindern, unserem Bruder unbegrenzt zu vergeben.
D. Über nützliche Sklaven (17,7-10)
17,7-9 Der echte Sklave Christi hat keinen Grund zum Stolz. Selbstgefälligkeit muss mit der Wurzel ausgerissen werden, und stattdessen müssen wir einen echten Sinn dafür bekommen, dass wir unwürdig sind. Das lernen wir aus der Geschichte vom Sklaven. Dieser Sklave hat den ganzen Tag »gepflügt oder gehütet«. »Wenn er vom Feld hereinkommt«, am Ende eines langen Tages, dann bittet ihn sein Herrn nicht »zu Tisch«. Stattdessen wird er ihm befehlen, seine Schürze umzubinden und das Abendessen zu bereiten. Erst nachdem er das getan hat, darf der Sklave »essen und trinken«. Der Herr »dankt« ihm nicht dafür. Es wird vom Sklaven einfach erwartet. Schließlich gehört ein Sklave seinem Herrn und seine Hauptaufgabe ist Gehorsam.
17,10 Genauso sind Jünger Sklaven des Herrn Jesus Christus. Sie gehören ihm mit Leib, Seele und Geist. Im Lichte von Golgatha können sie nichts für den Heiland tun, was je ausreichend wäre, um ihm seine Tat zu vergelten. Deshalb muss ein Jünger Jesu, nachdem er »alles getan hat, was« im NT »befohlen ist«, eingestehen, dass er ein »unnützer« Knecht war, der nur getan hat, was er »zu tun schuldig« war.
Nach Roy Hession gibt es folgende fünf Kennzeichen eines Sklaven: 1. Er muss bereit sein, dass ihm eine um die andere Aufgabe aufgeladen wird, ohne dass er dafür belohnt wird. 2. Wenn er seine Aufgaben erfüllt, muss er es ertragen können, dass niemand ihm dafür dankt.
3. Wenn er all das getan hat, darf er seinen Herrn nicht des Egoismus beschuldigen.
4. Er muss bekennen, dass er ein unnützer Knecht ist.
5. Er muss eingestehen, dass er nicht mehr als seine Pflicht getan hat, wenn er alles in Demut und Sanftmut ertragen und getan hat.50
E. Jesus reinigt zehn Aussätzige (17,11-19)
17,11 Die Sünde der Undankbarkeit ist eine andere Gefahr im Leben eines Jüngers. Das wird in der Geschichte der zehn Aussätzigen deutlich. Wir lesen, dass der Herr Jesus auf dem Weg »nach Jerusalem« an der Grenze von »Samaria und Galiläa« entlangging.
17,12-14 »Als er in ein Dorf einzog, begegneten ihm zehn aussätzige Männer.« Wegen ihrer Krankheit kamen sie nicht näher, sondern riefen aus einiger Entfernung, er möge sie heilen. Er belohnte ihren Glauben, indem er sie zu »den Priestern« schickte, damit sie sich dort zeigten. Das bedeutete, dass sie vom Aussatz geheilt sein würden, wenn sie dort ankamen. Der betreffende Priester hatte keine Macht, sie zu heilen, sondern sollte sie für »gereinigt« erklären. Die Aussätzigen gehorchten dem Wort des Herrn und machten sich auf zu den Priestern, und »während sie hingingen, wurden sie« von der Krankheit »gereinigt«.
17,15-18 Sie alle hatten Glauben, um geheilt zu werden, doch nur einer der Zehn kam zurück, um dem Herrn zu danken. Dieser eine war interessanterweise »ein Samariter«, einer der verachteten Nachbarn der Juden, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Er fiel »zu seinen Füßen« (dem wahren Anbetungsort) »aufs Angesicht« (in der wahren Anbetungshaltung). Jesus fragte, ob nicht zehn gereinigt worden seien, doch nur »dieser Fremdling« war zurückgekehrt, um sich dafür zu bedanken. Wo waren die anderen geblieben? Keiner kam zurück, »um Gott Ehre zu geben«.
17,19 Jesus wandte sich an den Samariter und sagte: »Steh auf und geh hin! Dein Glaube hat dich gerettet.« Nur die dankbaren zehn Prozent der zu Christus Gekommenen erben seinen wahren Reichtum. Jesus erwidert unsere Umkehr (V. 15) und unseren Dank (V. 16) mit neuem Segen. »Dein Glaube hat dich gerettet« bedeutet, dass zwar die anderen ebenfalls von ihrem Aussatz befreit waren, aber der zehnte auch von der Sünde gereinigt wurde.
F. Über das Kommen des Reiches (17,20-37)
17,20.21 Man kann kaum sagen, ob die »Pharisäer« wirklich etwas über »das Reich Gottes« wissen wollten, oder ob sie einfach nur spotteten. Doch wir wissen, dass sie als Juden die Hoffnung auf ein Reich hatten, das mit großer Macht und Herrlichkeit beginnen würde. Sie erwarteten äußere Zeichen und große politische Umwälzungen. Der Heiland erklärte ihnen: »Das Reich Gottes kommt nicht so, dass  man  es  beobachten  könnte«,  d. h. zumindest in seiner gegenwärtigen Form kam Gottes Reich nicht mit äußeren Zeichen. Es war nicht ein sichtbares, irdisches und zeitliches Reich, worauf man mit den Worten »hier« und »dort« hinweisen könnte. Der Heiland sagte, dass »das Reich Gottes« stattdessen »mitten unter« ihnen war. Der Herr Jesus konnte nicht meinen, dass es in den Herzen der Pharisäer war, wie einige Übersetzungen nahezulegen scheinen, weil diese verhärteten religiösen Heuchler keinen Platz für Christus, den König, hatten. Er war der rechtmäßige König Israels und hatte die entsprechenden Wunder gewirkt, und er hatte seine Beglaubigung für alle sichtbar vorgelegt. Doch die Pharisäer hatten kein Bedürfnis, ihn aufzunehmen. Und so hatte sich ihnen das Reich Gottes selbst vorgestellt und doch hatten sie es überhaupt nicht wahrgenommen.
17,22 Als der Herr zu den Pharisäern sprach, stellte er das Reich Gottes als etwas dar, das bereits gekommen war. Als er sich »zu den Jüngern« wandte, sprach er vom Reich als einer zukünftigen Zeit, die bei seiner Wiederkunft beginnen würde. Doch zunächst beschrieb er noch die Zeit zwischen seinem ersten und seinem zweiten Kommen. »Es werden Tage kommen«, an denen die Jünger gerne »einen der Tage des Sohnes des Menschen« sehen würden, es jedoch nicht möglich wäre. Mit anderen Worten, sie würden sich nach einem der Tage sehnen, an denen er auf Erden bei ihnen war und sie seine Gemeinschaft genossen. Diese Tage waren gewissermaßen ein Vorgeschmack hinsichtlich der Zeit seiner Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit.
17,23.24 Viele falsche Christusse würden aufstehen und die Herrschenden würden ankündigen, dass der Messias gekommen sei. Doch Jesu Jünger sollten sich nicht durch solche falschen Warnmeldungen täuschen lassen. Die Wiederkunft Jesu wird so sichtbar und unverwechselbar »wie der Blitz« sein, der »von einem Ende … des Himmels bis zum anderen Ende« leuchtet.
17,25 Und wieder erklärte der Herr Jesus den Jüngern, dass er »vieles leiden und verworfen werden« müsse »von diesem Geschlecht«, ehe das Vorhergesagte geschehen würde.
17,26.27 Dann kam Jesus auf das Thema seiner zukünftigen Herrschaft zurück und lehrte, dass die Tage unmittelbar vor diesem herrlichen Ereignis »wie« die Tage »Noahs« werden würden. Die Menschen zur Zeit Noahs »aßen, sie tranken, sie heirateten« und »sie wurden verheiratet«. Diese Dinge sind an sich nichts Falsches, sie sind normale, legitime menschliche Handlungen. Das Böse daran war, dass die Menschen für diese Dinge lebten und keinen Gedanken und keine Zeit für Gott übrig hatten. Nachdem Noah mit seiner Familie »in die Arche« gegangen war, »kam die Flut und brachte« den Rest der Bevölkerung »um«. So wird die Wiederkunft Jesu das Gericht für alle diejenigen bedeuten, die sein Gnadenangebot ausschlagen.
17,28-30 Weiter erklärte der Herr, dass die Tage vor seiner Wiederkunft »den Tagen Lots« gleichen würden. Die Zivilisation war zu dieser Zeit schon etwas fortgeschrittener, die Menschen »aßen und tranken« nicht nur, »sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten«. Die Menschen versuchten, ein goldenes Zeitalter des Friedens und des Wohlstandes ohne Gott aufzurichten. Genau »an dem Tag aber, da Lot« mit seiner Frau und seinen Töchtern »von Sodom hinausging, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte« in dieser gottlosen Stadt »alle um«. »Ebenso wird es an dem Tag sein, da der Sohn des Menschen geoffenbart wird.« Diejenigen, die sich nur auf das Vergnügen, die Befriedigung eigener Bedürfnisse sowie auf Geld und Geschäft konzentrieren, werden vernichtet werden.
17,31 Das wird ein Tag sein, an dem die Bindung an irdische Dinge die Menschen in Gefahr bringen wird. Wenn jemand »auf dem Dach« sein wird, dann soll er nicht versuchen, irgendwelchen Besitz aus seinem Haus zu retten. Wenn er »auf dem Feld ist«, soll er nicht zu seinem Haus umkehren. Er soll von den Orten fliehen, die unter dem Gericht stehen.
17,32 Obwohl »Lots Frau« geradezu mit Gewalt aus Sodom hinausgeführt wurde, blieb ihr Herz in der Stadt. Das zeigte sich darin, dass sie zurückblickte. Wenngleich sie Sodom verlassen hatte, war sie noch dem Wesen Sodoms verhaftet. Infolgedessen richtete Gott sie, indem er sie zur Salzsäule erstarren ließ.
17,33 »Wer sein Leben zu retten sucht«, indem er nur für seine Sicherheit in körperlicher und materieller Hinsicht sorgt, sich aber nicht um seine Seele kümmert, »wird es verlieren«. Andererseits wird jeder, der sein Leben in jenen Tagen der Drangsal um des Herrn willen »verliert«, es in Wirklichkeit für die Ewigkeit »erhalten«.
17,34-36 Das Kommen des Herrn wird eine Zeit der Trennung sein. »Zwei« werden »auf einem Bett« schlafen. »Einer wird« zum Gericht »genommen« werden, der andere, ein Gläubiger, »wird gelassen werden«, damit er in Christi Reich eingehen kann. »Zwei werden zusammen mahlen, die eine«, eine Ungläubige, wird im Sturm des Zornes Gottes »genommen, die andere«, ein Kind Gottes, wird »gelassen« werden, damit sie die Segnungen des Tausendjährigen Reiches mit Christus genießen kann.
Übrigens passen die Verse 34 und 35 zu der Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist. Es wird in einem Teil der Welt Nacht und in anderen Teilen Tag sein, wie es durch die verschiedenen Aktivitäten angedeutet wird. Das zeigt, dass hier wissenschaftliches Wissen verborgen ist, das erst viele Jahrhunderte später entdeckt wurde.
17,37 Die Jünger verstanden durch die Worte des Heilands vollkommen, dass seine Wiederkunft das vernichtende Gericht sein würde, das aus dem Himmel über eine abgefallene Welt hereinbrechen würde. Deshalb fragten sie den Herrn, »wo« dieses Gericht niedergehen würde. Seine Antwort lautete: »Wo der Leichnam ist, da sammeln sich auch die Adler.« Die »Adler« oder Geier symbolisieren das bevorstehende Gericht. Die Antwort lautet deshalb, dass das Gericht über jede Form des Unglaubens und der Rebellion gegen Gott verhängt werden würde, ganz gleich, wo man sie fände. In Kapitel 17 warnte der Herr die Jünger, dass Anfechtungen und Verfolgung auf sie zukommen würden. Vor der Zeit seiner Wiederkunft in Herrlichkeit müssten sie schwere Prüfungen durchleben. Um sie darauf vorzubereiten, unterweist der Heiland sie nun im Gebet. In den folgenden Versen finden wir eine Witwe, einen Pharisäer, einen Zöllner und später einen Bettler, wobei es jedes Mal ums Bitten bzw. Beten geht.
G. Das Gleichnis vom ungerechten Richter (18,1-8)
18,1 Dieses Gleichnis wird auch »Gleichnis von der bittenden Witwe« genannt. Es lehrt, dass man »allezeit beten und nicht ermatten« soll. Das gilt ganz allgemein für alle Menschen und für jede Art des Gebets. Doch wie es hier im engeren Sinne verwandt wird, geht es um das Gebet um Rettung durch Gott in Zeiten der Prüfung. Es geht um das Beten, das auch in der langen Zeit zwischen den beiden Kommen Christi nicht »ermatten« soll.
18,2.3 In dem Gleichnis finden wir einen ungerechten Richter, der normalerweise »Gott nicht fürchtete und vor keinem Menschen sich scheute«. Wir haben aber auch eine Witwe, die von einem ungenannten »Widersacher« bedrängt wurde. Diese Witwe kam immer wieder zu dem Richter und bat ihn um »Recht«, damit sie aus der Gewalt ihres Widersachers befreit würde.
18,4.5 Der Richter ließ sich von der Berechtigung der Klage der Witwe nicht beeindrucken. Die Tatsache, dass sie ungerecht behandelt wurde, bewegte ihn zu keiner Handlung zu ihren Gunsten. Doch die Regelmäßigkeit, mit der sie immer wieder zu ihm kam, ließ ihn schließlich handeln. Ihre Zudringlichkeit und Beharrlichkeit bewirkten eine Entscheidung zu ihren Gunsten.
18,6.7 Dann erklärte »der Herr« den Jüngern das Gleichnis vom »ungerechten Richter«, der für die Witwe einschritt, weil sie so zudringlich war. Wie viel mehr wird der gerechte Gott zugunsten »seiner Auserwählten« eingreifen! Die Bezeichnung »die Auserwählten« könnte sich hier im engeren Sinne auf den jüdischen Überrest während der Drangsalszeit beziehen, doch es gilt auch für alle unterdrückten Gläubigen aller Zeita lter. Der Grund, waru m Gott nicht schon lange eingeschritten ist, lautet, dass er mit den Menschen viel Geduld hat und nicht möchte, dass einer von ihnen verlorengehe.
18,8 Doch es wird der Tag kommen, an dem sein Geist nicht länger den Menschen nachgehen wird, und dann wird er die bestrafen, die seine Anhänger verfolgen. Der Herr Jesus schloss das Gleichnis mit einer Frage: »Doch wird wohl der Sohn des Menschen, wenn er kommt, den Glauben finden auf der Erde?« Damit ist wahrscheinlich die Art des Glaubens der Witwe gemeint. Doch es kann auch bedeuten, dass bei der Wiederkunft des Herrn ihm nur noch ein Überrest treu geblieben ist. In der Zwischenzeit sollte jeder von uns zu dem Glauben angeregt werden, der Tag und Nacht zu Gott schreit.
H. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (18,9-14)
18,9-13 Das nächste Gleichnis ist an Menschen gerichtet, die stolz darauf sind, »dass sie gerecht seien«, und die alle anderen verachten, weil sie ihrer Meinung nach niedriger in Gottes Gunst stünden. Indem der Heiland den ersten Mann als »Pharisäer« bezeichnete, lässt er keinen Zweifel daran, welche Gruppe von Menschen er ansprach. Obwohl der Pharisäer ein Gebet sprach, sprach er doch nicht wirklich mit Gott. Er rühmte sich nur seiner eigenen moralischen Stärke und seiner frommen Lebensweise. Statt sich an Gottes vollkommenem Maßstab zu messen und zu sehen, wie sündig er in Wirklichkeit war, verglich er sich mit anderen Menschen seiner Umgebung und war stolz darauf, besser zu sein. Seine häufige Verwendung des Pronomens »ich« enthüllt den wirklichen Zustand seines Herzens, das stolz und selbstzufrieden war.
18,13 Der Zöllner war das genaue Gegenteil. Er »stand« vor Gott und bemerkte dabei seine eigene Unwürdigkeit. Er war tief gedemütigt. Er »wollte sogar die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust« und rief Gott um Gnade an: »O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!« Er meinte nicht, dass er ein Sünder unter vielen wäre, sondern der Sünder, der nicht würdig war, auch nur das Geringste von Gott zu empfangen. 8,14 Der Herr Jesus erinnerte seine Zuhörer daran, dass nur der Geist des Demütigen und Bußfertigen vor Gott angenehm ist. Im Gegensatz zu dem, was man nach außen hin annehmen mochte, war es der Zöllner, der »gerechtfertigt hinab in sein Haus« ging. Gott erhöht die Demütigen, doch er demütigt diejenigen, die sich selbst erhöhen.
I. Jesus und die Kinder (18,15-17)
18,15-17 Dieser Vorfall bekräftigt, was wir soeben gelesen haben, nämlich die Tatsache, dass die Demut eines kleinen Kindes notwendig ist, um Eingang in »das Reich Gottes« zu erhalten. Viele Mütter versammelten sich um den Herrn Jesus mit ihren Kindern, damit sie gesegnet würden. Seine »Jünger« ärgerten sich über diese Beanspruchung der Zeit ihres Meisters. Aber Jesus tadelte die Jünger, »rief« die Kinder liebevoll »herbei« und sprach: »Solchen gehört das Reich Gottes.« Vers 16 gibt Antwort auf die Frage: »Was geschieht mit Kindern, wenn sie sterben?« Die Antwort lautet, dass sie in den Himmel kommen. Der Herr sagte ausdrücklich: »Solchen gehört das Reich Gottes.« Kinder können schon in sehr zartem Alter gerettet werden. Das Alter ist bei jedem Kind sehr unterschiedlich, doch bleibt die Tatsache bestehen, dass jedem Kind, das zum Herrn Jesus kommen will, erlaubt werden sollte, das zu tun, ganz gleich wie klein es ist. Man sollte es im Glauben ermutigen.
Kleine Kinder müssen nicht erst erwachsen werden, um sich retten zu lassen, doch die Erwachsenen brauchen den einfachen Glauben und die Demut »eines Kindes, um in »Gottes Reich … hineinzukommen«.
J. Der reiche Jüngling (18,18-30)
18,18.19 Dieser Abschnitt behandelt den Fall eines Mannes, der das Reich Gottes nicht wie ein Kind annehmen wollte. Eines Tages kam ein »Oberster« zum Herrn Jesus, nannte ihn »guter Lehrer« und fragte, was er tun müsse, »um ewiges Leben zu erben«. Der Herr stellt zunächst einmal seine Verwendung des Ausdruckes guter Lehrer infrage. Jesus erinnerte ihn daran, dass nur »Gott … gut ist«. Unser Herr wollte damit nicht bestreiten, dass er Gott ist, sondern er wollte den Obersten dazu bringen, diese Tatsache zu bekennen. Wenn Jesus gut war, dann musste er Gott sein, weil nur Gott von seinem Wesen her gut ist.
18,20 Dann behandelte Jesus die Frage: »Was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu erben?« Wir wissen, dass man das ewige Leben nicht »erben« kann, und es wird ebenfalls nicht durch gute Werke erlangt. Ewiges Leben ist das Geschenk Gottes in Jesus Christus. Als Jesus den Obersten auf die Zehn »Gebote« hinweist, will er nicht sagen, dass dieser Mann durch das Halten des Gesetzes gerettet werden könne. Er wollte damit den Mann zur Sündenerkenntnis bringen. Der Herr Jesus zitierte die fünf »Gebote«, Gebote der sogenannten »zweiten Tafel«, die sich mit unseren Pflichten unseren Mitmenschen gegenüber befassen.
18,21-23 Es ist offensichtlich, dass das Gesetz seine Aufgabe im Leben dieses Obersten nicht erfüllen konnte, weil er ganz stolz verkündet, dass er »dies alles von« seiner »Jugend an … befolgt« habe. Jesus erklärte ihm, dass ihm »eins« fehle – Liebe zu seinem Nächsten. Wenn er wirklich diese Gebote gehalten hätte, dann hätte er all seinen Besitz »verkauft« und »an die Armen … verteilt«. Doch es war eine traurige Tatsache, dass er seinen Nächsten nicht wie sich selbst liebte. Er führte ein selbstsüchtiges Leben, in dem echte Liebe zu anderen Menschen keinen Platz hatte. Das wurde durch die Tatsache bewiesen, dass er, »als er aber dies hörte, … sehr betrübt« wurde, »denn er war sehr reich«.
18,24 Als der Herr Jesus ihn betrachtete, machte er eine Bemerkung darüber, »wie schwer« die Reichen »in das Reich Gottes hineinkommen«. Die Schwierigkeit liegt darin, reich zu sein, ohne diesem Reichtum zu vertrauen oder ihn zu lieben.
Dieser ganze Abschnitt wirft für Christen beunruhigende Fragen auf. Wie können wir sagen, dass wir wirklich unseren Nächsten lieben, wenn wir in Reichtum und Bequemlichkeit leben, während andere verlorengehen, weil sie die Botschaft des Evangeliums Christi nicht hören?
18,25 Jesus sagte: »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt.« Viele Erklärungen sind zu dieser Aussage gefunden worden. Einige sind der Meinung, dass das »Nadelöhr« ein kleines Tor in der Mauer einer Stadt sei und ein Kamel dort nur durchkommen könne, wenn es niederkniete. Doch der Arzt Lukas benutzt ein Wort, das die Nadel eines Chirurgen bezeichnet, und die Bedeutung der Aussage unseres Herrn ist doch recht eindeutig. Mit anderen Worten: So wie es unmöglich ist, »dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht«, so unmöglich ist es, »dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt«. Es reicht nicht zu erklären, dass der Reiche nur durch seine eigenen Bemühungen nicht in das Reich Gottes kommen kann, das gilt sowohl für Reiche als auch Arme. Die Bedeutung ist, dass es unmöglich ist, als reicher Mann »in das Reich Gottes« zu kommen. Solange der Reichtum sein Gott ist und er ihn zwischen sich und der Errettung seiner Seele stehen lässt, kann er nicht bekehrt werden. Die einfache Tatsache bleibt bestehen, dass sich nicht viele Reiche retten lassen und dass diejenigen, die gerettet werden, erst von Gott zerbrochen werden müssen.
18,26.27 Als die Jünger darüber nachdachten, fragten sie sich, »wer dann errettet werden kann«. Für sie war Reichtum immer ein Zeichen des Segens Gottes gewesen (5. Mose 28,1-8). Wenn ein reicher Jude nicht gerettet werden konnte, wer dann? Der Herr Jesus antwortete, dass »Gott« tun kann, was der Mensch nicht vermag. Mit anderen Worten, Gott kann einen habsüchtigen, raffgierigen und rücksichtslosen Materialisten ergreifen, ihm seine Liebe zum Gold nehmen und sie durch echte Liebe zum Herrn ersetzen. Das ist ein Wunder göttlicher Gnade. Und wieder wirft dieser Abschnitt beunruhigende Fragen für das Kind Gottes auf. Der Diener steht nicht über dem Herrn. Der Herr Jesus verließ seine himmlischen Reichtümer, um unsere schuldigen Seelen zu erretten. Es ist unpassend, wenn wir in der Welt, in der er arm war, reich sind. Der Wert von Seelen, »das baldige Kommen Christi« und die Liebe Christi sollten uns dazu führen, jedes irgendwie entbehrliche Gut in das Werk des Herrn zu investieren.
18,28-30 Als Petrus den Herrn dara n erinnerte, dass die Jünger ihre Familien und ihre Häuser »verlassen« hatten, um ihm nachzufolgen, antwortete der Herr, dass solch ein Opfer in diesem Leben großzügig belohnt werden und in der Ewigkeit noch weiteren Lohn empfangen wird. Der zweite Teil von Vers 30 (»und in dem kommenden Zeitalter ewiges Leben«) bedeutet nicht, dass man das ewige Leben erlangt, indem man alles verlässt. Vielmehr bezieht er sich darauf, die Herrlichkeiten des Himmels besser genießen und eine höhere Bel ohnung im himmlischen Reich empfangen zu können. Es bedeutet »die völlige Verwirkl ichung des Lebens, das zur Zeit der Bekehrung erworben  wurde,  d. h.  Leben  in  seiner Fülle«.
K. Jesus sagt nochmals seinen Tod und seine Auferstehung voraus (18,31-34)
18,31-33 Zum dritten Mal »nahm« Jesus »die Zwölf zu sich« und sagte ihnen ausführlich voraus, was ihn erwartete (s. Kap. 9,22.44). Er sagte voraus, dass sein Leiden eine Erfüllung dessen wäre, was »die Propheten« des AT »geschrieben« hatten. Mit göttlicher Voraussicht prophezeite er in großer innerer Ruhe, dass er »den Nationen überliefert« werden würde. »Es war wahrscheinlicher, dass man ihn insgeheim ermorden oder in einem Aufruhr steinigen würde«.52 Doch die Propheten hatten seinen Verrat vorhergesagt, dass er »verspottet und geschmäht und angespien werden« würde, und deshalb musste es so kommen. Er sollte gegeißelt und getötet werden, doch »am dritten Tag« würde er wieder »auferstehen«.
Die verbleibenden Kapitel entfalten uns das dramatische Geschehen, das Jesus schon vorher kannte und uns vorausgesagt hat:
»Wir gehen hinauf nach Jerusalem« (18,35 – 19,46). Der Sohn des Menschen »wird den Nationen überliefert werden« (19,47 – 23,1). Er »wird verspottet und geschmäht werden« (23,1-32).
Sie »werden ihn töten« (23,33-56). »Am dritten Tag wird er auferstehen« (24,1-12).
18,34 Erstaunlicherweise »verstanden« die Jünger »nichts von diesen Worten«. Die Bedeutung der Worte Jesu »war vor ihnen verborgen«. Wir können es kaum verstehen, warum sie in dieser Angelegenheit so schwer von Begriff waren, doch der Grund ist wahrscheinlich folgender: Ihre Gedanken waren so erfüllt von einem diesseitigen Befreier, durch den sie das Joch Roms abschütteln konnten und der sofort das verheißene Reich aufrichten würde, sodass sie eine andere Reihenfolge nicht mehr verstehen konnten. Wir glauben oft, was wir glauben wollen, und widerstehen der Wahrheit, wenn sie nicht in unsere vorgefassten Vorstellungen passt.
L. Die Heilung eines blinden Bettlers (18,35-43)
18,35-37 Der Herr Jesus hatte nun Peräa verlassen, indem er den Jordan überquert hatte. Lukas sagt, dass der folgende Vorfall »geschah, als er Jericho nahte«. Matthäus und Markus sagen, dass er sich zutrug, als er Jericho verließ (Matth 20,29; Mk 10,46). Bei Matthäus heißt es außerdem, dass es zwei Blinde waren, bei Markus und Lukas ist es nur einer. Es ist möglich, dass Lukas von der neuen Stadt spricht, während Matthäus und Markus sich auf die alte Stadt beziehen. Es ist auch möglich, dass hier von mehr als einem Wunder berichtet wird, bei dem Blinde ihr Augenlicht an diesem Ort wiedererhielten.
18,38 Auf irgendeine Weise erkannte der Blinde Jesus als Messias, weil er ihn als »Sohn Davids« anspricht. Er bat den Herrn,  sich  seiner  zu  »erbarmen«,  d. h. ihm das Augenlicht wiederzugeben.
18,39 Trotz der Versuche, ihn zum Schweigen zu bringen, »schrie« der Blinde »umso mehr« zum Herrn Jesus. Die Menschen waren an einem Bettler nicht interessiert, aber Jesus war es.
18,40.41 »Jesus aber blieb stehen.« Darby kommentiert mit großem Einblick: »Josua bat einst die Sonne, am Himmel stillzustehen, doch hier steht auf Bitten eines blinden Bettlers der Herr der Sonne, des Mondes und des Himmels still.« Auf den Befehl Jesu hin wurde der Bettler zu ihm gebracht. Jesus »fragte ihn«, was er wolle. Ohne Zögern und umständliche Umschreibung wiederholte der Bettler seine Bitte, dass er wieder »sehend werde«. Sein Gebet war kurz, eindeutig und glaubensvoll.
18,42.43 Jesus erhörte seine Bitte und »sofort wurde er sehend«. Nicht nur das, sondern »er folgte ihm nach und verherrlichte Gott«. Wir können aus diesem Vorfall lernen, dass wir wagen sollten zu glauben, dass Gott das Unmögliche tun kann. Großer Glaube ehrt Gott sehr. Wie der Dichter geschrieben hat: Gleich Tau und Regen feuchtet ein Gnadenstrom uns an
und herrlicher beleuchtet seh’n wir die Himmelsbahn. Erhört wird jede Bitte,
die auf zum Throne geht, und sanft wird unsre Mitte vom Friedenshauch durchweht. Verfasser unbekannt
M. Die Bekehrung des Zachäus (19,1-10) Die Bekehrung des Zachäus veranschaulicht die Wahrheit aus Lukas 18,27: »Was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott.« Zachäus war ein reicher Mann, und normalerweise ist es unmöglich, dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt. Doch Zachäus demütigte sich vor dem Heiland und ließ es nicht mehr zu, dass sein Reichtum zwischen ihm und Gott stand.
19,1-5 Es geschah, als der Herr »durch Jericho zog«, auf seiner dritten und letzten Reise nach Jerusalem, dass Zachäus »Jesus zu sehen suchte«. Das war zweifellos das Suchen eines Neugierigen. Obwohl er »Oberzöllner« war, schämte er sich nicht, etwas so Ungewöhnliches zu tun, wie auf einen Baum zu klettern, um den Heiland zu sehen. Weil er »klein von Gestalt« war, wusste er, dass er Jesus anders nicht gut sehen könnte. So »lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum«, der an dem Weg stand, den der Herr nehmen wollte. Diese Glaubenshandlung wurde nicht übersehen. Als er sich näherte, »sah Jesus auf und erblickte« Zachäus. Er befahl ihm, schnell von dem Baum zu steigen, und lud sich selbst in das Haus des Zöllners ein. Das ist der einzige Bericht, in dem der Herr sich selbst in ein Haus eingeladen hat.
19,6 Zachäus tat, wie ihm geheißen war, und »nahm ihn auf mit Freuden«. Wir können mit einiger Sicherheit seine Bekehrung auf diesen Zeitpunkt datieren.
19,7 Die Kritiker des Heilands »murrten alle« gegen ihn, weil er hinging, »um bei einem … Mann zu herbergen«, der bekanntermaßen ein Sünder war. Sie übersahen dabei die Tatsache, dass Jesus, als er in unsere Welt kam, nur auf Häuser von Sündern beschränkt war!
19,8 Die Errettung brachte eine radikale Veränderung im Leben dieses Zöllners mit sich. Er berichtete dem Heiland, dass er nun vorhatte, »die Hälfte« seiner »Güter … den Armen« zu geben. (Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er versucht, aus den Armen so viel Geld wie nur möglich herauszupressen.) Er plante auch, jeden Betrag »vierfach« zurückzuerstatten, den er auf unehrliche Weise eingenommen hatte. Das war mehr, als das Gesetz verlangte  (2. Mose  22,4.6;  3. Mose  5,24; 4. Mose 5,7). Es zeigte, dass Zachäus nun von der Liebe bestimmt wurde, während er früher von der Habgier beherrscht worden war.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Zachäus sich auf betrügerische Weise Geld angeeignet hatte. Wuest übersetzt V. 8b  folgendermaßen:  »Und  weil ich … durch falsche Anklage genommen habe …« Es gibt hier kein »Wenn«. Es klingt fast so, als ob sich Zachäus seiner guten Werke hier rühmte und auf sie vertraute, dass sie ihn retteten. Doch darum geht es hier gar nicht. Er sagte damit, dass sein neues Leben in Christus in ihm das Verlangen weckte, das in der Vergangenheit unrechtmäßig Angeeignete zurückzuzahlen. Aus Dankbarkeit gegenüber Gott wollte er sein Geld nun zur Ehre Gottes und zum Segen seiner Mitmenschen einsetzen.
Vers 8 ist einer der deutlichsten Verse zum Thema Entschädigung in der ganzen Bibel. Die Erlösung befreit einen Menschen nicht davon, Unrecht, das er in der Vergangenheit angerichtet hat, so gut wie möglich wieder zu bereinigen. Schulden, die man in der Zeit gemacht hat, als man noch nicht errettet war, werden durch die neue Geburt nicht hinfällig. Und wenn man vor der Bekehrung Geld gestohlen hat, dann ist es erforderlich, dass man das Geld zurückgibt, nachdem man die Gnade Gottes wahrhaft erfahren hat und zu einem Kind Gottes geworden ist.
19,9 Jesus verkündigte schlicht, dass dem Haus des Zachäus »Heil widerfahren« sei, »weil auch er ein Sohn Abrahams ist«. Er wurde nicht errettet, weil er von Geburt aus Jude war. Hier bedeutet der Ausdruck »Sohn Abrahams« mehr als natürliche Verwandtschaft, es bedeutet, dass Zachäus denselben Glauben an den Herrn hatte, den auch Abraham hatte. Auch kam die Errettung oder das Heil nicht in das Haus des Zachäus, weil er so viel den Armen gab oder seine alten Schulden wiedergutgemacht hatte (V. 8). Solche Taten sind das Ergebnis der Errettung, aber nicht ihre Ursache.
19,10 Als Antwort an diejenigen, die ihn kritisierten, weil er bei einem Sünder aß, sagte Jesus: »Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist.« Mit anderen Worten, die Bekehrung des Zachäus war die Erfüllung des eigentlichen Zwecks, zu dem Christus in diese Welt gekommen ist. N. Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (19,11-27)
19,11 Als sich der Heiland Jerusalem von Jericho aus näherte, dachten viele seiner Nachfolger, »dass das Reich Gottes sogleich erscheinen sollte«. Durch das »Gleichnis« von den anvertrauten Pfunden53 befreite er sie von solchen falschen Hoffnungen. Er zeigte, dass es zwischen seinem ersten und zweiten Kommen eine Zeitspanne geben würde, in deren Verlauf seine Jünger für ihn arbeiten sollten.
19,12.13 Das Gleichnis von dem »hochgeborenen Mann« hat eine Parallele in der Geschichte: Archelaus. Von Herodes zu seinem Nachfolger bestimmt, wurde er vom Volk abgelehnt. Er reiste nach Rom, um seinen Thron bestätigen zu lassen, kehrte zurück, belohnte seine Anhänger und vernichtete seine Feinde. Im Gleichnis ist der Herr Jesus selbst der »hochgeborene Mann«, der in den Himmel »zog«, um auf die Zeit zu warten, zu der er »wiederkommen« und sein »Reich« auf Erden aufrichten wird. Die »zehn Knechte« stehen für die Jünger. Er gab jedem von ihnen ein Pfund und befahl ihnen, »damit« zu »handeln«, bis er »wiederkomme«. Während es Unterschiede in den Talenten und Fähigkeiten der Diener des Herrn gibt (siehe auch das Gleichnis von den anvertrauten Talenten in Matth 25,14-30), gibt es einiges, das sie gemeinsam haben, etwa das Vorrecht, das Evangelium weitergeben zu dürfen und Christus vor der Welt zu repräsentieren, oder das Vorrecht des Gebets. Das Gleichnis spricht zweifellos von diesen Vorrechten.
19,14 Die »Bürger« stehen für das jüdische Volk. Sie lehnten den Herrscher nicht nur ab, sondern schickten sogar nach seiner Abreise »eine Gesandtschaft hinter ihm her und ließen sagen: Wir wollen nicht, dass dieser über uns König sei«. Diese Gesandtschaft könnte für die Behandlung der Diener Christi wie Stephanus und anderer Märtyrer stehen.
19,15 Hier sehen wir in einem Vorbild (Typus), wie Christus zurückkehrt und sein »Reich« errichtet. Dann wird er mit denen abrechnen, »denen er das Geld gegeben hatte«.
Die Gläubigen des gegenwärtigen Zeitalters werden vor dem Richterstuhl Christi hinsichtlich ihres Dienstes beurteilt werden. Dieses Gericht findet nach der Entrückung im Himmel statt. Der gläubige jüdische Überrest, der während der »Großen Trübsal« für Christus Zeugnis ablegt, wird bei Christi Wiederkunft beurteilt werden. Das ist das Gericht, das hier in diesem Abschnitt anscheinend so stark im Blick steht.
19,16 »Der erste« Knecht hatte mit dem einen Pfund »zehn Pfunde hinzugewonnen«. Er war sich bewusst, dass es nicht sein Geld war (»dein Pfund«), und er hatte es so gut wie möglich für die Interessen seines Herrn eingesetzt.
19,17 Der Herr lobte ihn, dass er »im Geringsten treu« gewesen sei – eine Erinnerung daran, dass wir »unnütze Knechte« sind, nachdem wir unser Bestes getan haben. Sein Lohn war »Vollmacht über zehn Städte«. Lohn für treuen Dienst ist offensichtlich mit Herrschaft in Christi Reich verbunden. Das Ausmaß, in dem ein Jünger herrschen wird, wird von dem Ausmaß seiner Hingabe und Selbstverleugnung bestimmt.
19,18.19 »Der zweite« Knecht hatte »fünf Pfunde« mit seinem Pfund verdient. Sein Lohn war Vollmacht »über fünf Städte«.
19,20.21 Der dritte »kam« mit nichts als Ausreden. Er gab das Pfund »in einem Schweißtuch verwahrt« zurück. Er hatte damit nichts erwirtschaftet. Warum nicht? Er schob die Schuld dafür dem Herrn zu. Er sagte, dass der Herr »ein strenger Mann« sei, der Gewinn ohne Investition erwarte. Doch seine eigenen Worte verurteilten ihn. Wenn er so von seinem Herrn dachte, hätte er das Pfund wenigstens zur Bank tragen und Zinsen damit verdienen können.
19,22 Nur weil Jesus die Worte des »hochgeborenen Mannes« zitierte, womit dieser die Aussagen des Knechts wiederholte, erkannte er sie nicht als wahr an. Es war einfach das sündige Herz des Knechtes, das dem Herrn die Schuld für seine eigene Faulheit geben wollte. Doch wenn er seine Ausrede wirklich geglaubt hätte, so hätte er entsprechend handeln sollen.
19,23 Vers 23 scheint nahezulegen, dass wir entweder alles, was wir haben, für das Werk des Herrn verwenden sollen, oder aber es jemandem geben sollten, der es für Jesus einsetzt.
19,24-26 Das Urteil des »Hochgeborenen« über den dritten Knecht lautete, »ihm … das Pfund zu nehmen« und es dem ersten Knecht zu geben, »der die zehn Pfunde« verdient hatte. Wenn wir unsere Gelegenheiten nicht für den Herrn nutzen, werden sie uns genommen. Wenn wir andererseits über wenigem treu sind, dann wird Gott darauf achten, dass uns nie die Mittel fehlen, um ihm noch mehr zu dienen. Es mag einigen ungerecht erscheinen, dass das Pfund dem gegeben wurde, der schon zehn hatte, doch es ist ein festes Prinzip im geistlichen Leben, dass diejenigen, die den Herrn Jesus lieben und ihm hingegeben dienen, immer größere Möglichkeiten des Dienstes erhalten. Wer die Möglichkeiten jedoch nicht ausschöpft, verliert sie alle.
Der dritte Knecht verlor seinen Lohn, aber eine andere Strafe wird hier nicht erwähnt. Hinsichtlich seiner Errettung besteht offenbar kein Zweifel.
19,27 Die Bürger, die den »Hochgeborenen« nicht als Herrscher wollten, werden als »Feinde« bezeichnet und zum Tode verurteilt. Das war eine traurige Vorhersage des Schicksals des Volkes, das den Messias weithin abgelehnt hat.
X. Der Menschensohn in Jerusalem und unempfänglich waren – schlimmer als leblose Steine.
B. Der Menschensohn weint über Jerusalem (19,41-44)
19,41.42 Als Jesus sich Jerusalem »näherte«, rief er seine Klage über »die Stadt« aus, die ihre große Gelegenheit verpasst hatte. Wenn die Menschen ihn nur als Messias anerkannt hätten, würde das für sie »Frieden« bedeutet haben. Doch sie erkannten nicht, dass Jesus der Ursprung dieses Friedens war. Jetzt war es zu spät. Sie hatten bereits beschlossen, was sie mit dem Menschensohn machen wollten. Weil sie ihn abgelehnt hatten, waren ihre »Augen« nun verblendet. Weil sie nicht sehen wollten, konnten sie ihn nun nicht mehr sehen.
Man halte hier ein wenig inne, um über die Tränen unseres Heilands nachzudenken. W. H. Griffith Thomas sagte dazu: »Lasst uns zu Christi Füßen sitzen, bis wir das Geheimnis seiner Tränen kennen und die Sünden sowie Leiden der Stadt und des Landes wahrnehmen und auch über sie weinen.«54
19,43.44 Jesus gab nun eine ernste Vorschau auf die Eroberung Jerusalems durch Titus – wie der römische General die Stadt »umzingeln«, die Bewohner einschließen, Jung und Alt erschlagen und die Mauer und die Gebäude »zu Boden werfen« würde. »Nicht ein Stein« würde »auf dem anderen« bleiben. Und alles, weil Jerusalem »die Zeit« seiner »Heimsuchung nicht erkannt« hatte. Der Herr hatte die Stadt mit dem Angebot der Erlösung besucht. Doch die Menschen wollten ihn nicht. Sie hatten für ihn keinen Platz in ihren Plänen und Unternehmungen.
C. Die zweite Tempelreinigung (19,45.46)
19,45.46 Jesus hatte zu Beginn seines Dienstes »den Tempel« gereinigt (Joh 2,14-17). Nun ging sein öffentliches Wirken rasch dem Ende entgegen. Er betrat den heiligen Bezirk und trieb diejenigen aus, die das »Bethaus« zu einer »Räuberhöhle« gemacht hatten. Die Gefahr, den Materialismus in göttliche Angelegenheiten hineinzuholen, ist immer gegeben. Das Christentum heute ist von diesem Übel durchsäuert: Kirchenbasare und Gesellschaftsabende, organisierte Werbeveranstaltungen, Predigen für Geld – und das alles im Namen Jesu. Christus zitierte die Schrift (Jes 56,7 und Jer 7,11), um seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Jede Reformation von Missbräuchen in der Kirche muss auf Gottes Wort gegründet sein. D. Tägliche Lehre im Tempel (19,47.48)
19,47.48 Jesus »lehrte täglich im Tempel« – nicht innerhalb des eigentlichen Tempels, sondern in den Vorhöfen, die der Öffentlichkeit zugänglich waren. Die religiösen Führer ersehnten einen Vorwand, »ihn umzubringen«, doch »das Volk« war noch von dem Wundertäter aus Nazareth ergriffen. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Doch schon bald würde seine Stunde schlagen. Dann würden »die Hohenpriester … und die Schriftgelehrten und die« Pharisäer sich zu dem Mord zusammenschließen. Es war Montag geworden. Der nächste Tag, der Dienstag als letzter Tag seines öffentlichen Lehrens, wird in Kapitel 20,1 bis 22,6 beschrieben. E. Die Vollmacht des Menschensohnes wird infrage gestellt (20,1-8)
20,1.2 Welch ein Bild! Der Meister verkündigt unermüdlich die Gute Nachricht im Schatten des Tempels, und die Führer Israels bezweifeln unverschämt sein Recht zu lehren. Für sie war Jesus nur der einfache Zimmermann aus Nazareth. Er hatte so gut wie keine Schulbildung, keinen akademischen Grad und keine Berufung durch eine religiöse Behörde. Welche Zeugnisse konnte er bringen? Wer gab ihm »diese Vollmacht«, zu lehren, anderen zu predigen und den Tempel zu reinigen? Das wollten sie gerne wissen!
20,3-8 Jesus antwortete, indem er ihnen eine Frage stellte. Wenn sie diese richtig beantwortet hätten, so hätte er ihnen auch ihre Frage beantwortet. »War die Taufe des Johannes« von Gott bestätigt, oder war sie nur in menschlicher Vollmacht geschehen? Damit hatte Jesus sie gefangen. Wenn sie anerkannten, dass Johannes mit göttlicher Salbung predigte, stellte sich die Frage: Warum hatten sie dann nicht seiner Botschaft gehorcht, Buße getan und den Messias angenommen, den er verkündigte? Doch wenn sie sagten, dass Johannes nur ein normaler Lehrer war, dann würden sie sich den Zorn der Massen zuziehen, die noch immer Johannes als »Prophet« ansahen. Deshalb »antworteten sie, sie wüssten nicht, woher« Johannes diese Vollmacht hatte. Jesus sagte: »So sage auch ich euch nicht, in welcher Vollmacht ich dies tue.« Wenn sie ihm noch nicht einmal so viel über Johannes sagen konnten, wie konnten sie dann die Autorität dessen infrage stellen, der so viel größer als Johannes war? Dieser Abschnitt zeigt, dass es sehr wichtig ist, mit dem Heiligen Geist erfüllt zu sein, wenn man das Wort Gottes lehrt. Wer die Salbung hat, kann den Sieg über die Menschen davontragen, deren Macht sich auf akademische Grade, menschliche Titel und gesellschaftliche Anerkennung beschränkt.
»Wo haben Sie Ihren Abschluss gemacht? Wer hat Sie ordiniert?« Diese alten Fragen werden auch heute noch, möglicherweise aus Eifersucht, gestellt. Der erfolgreiche Prediger, der noch nicht die heiligen Hallen der theologischen Fakultät einer bekannten Universität oder einer sonstigen Institution betreten hat, gerät in die Kritik, weil er (angeblich) ungeeignet sei und weil eine Ordination fehle. F. Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (20,9-18)
20,9-12 Das beharrliche Sehnen Gottes nach dem Volk Israel wird in dem Gleichnis vom »Weinberg« wiedergegeben. Gott ist der »Mensch«, der »einen Weinberg« (Israel) »an Weingärtner« (die Führer des Volkes, s. Jes 5,1-7) »verpachtete«. Er sandte Knechte »zu den Weingärtnern«, um etwas »von der Frucht des Weinbergs« zu erhalten. Diese Knechte waren die Propheten Gottes wie Jesaja und Johannes der Täufer, die Israel zur Buße und zum Glauben rufen wollten. Doch Israels Führer verfolgten ausnahmslos die Propheten.
20,13 Schließlich sandte Gott seinen »geliebten Sohn«. Er hoffte, dass sie ihn »scheuen« würden (obwohl Gott natürlich wusste, dass Christus verworfen werden würde). Man beachte, dass Christus sich von allen anderen unterscheidet. Sie waren Knechte, er ist der Sohn.
20,14 Getreu ihrer Vorgeschichte beschlossen »die Weingärtner, … den Erben« loszuwerden. Sie wollten das ausschließliche Recht, das Volk zu führen und zu lehren – »dass das Erbe unser werde«. Sie wollten ihre religiöse Stellung nicht an Jesus verlieren. Wenn sie ihn töteten, wäre ihre Macht in Israel unangefochten – so dachten sie.
20,15-17 »Und als sie ihn aus dem Weinberg hinausgeworfen hatten, töteten sie ihn.« An diesem Punkt fragte Jesus seine jüdischen Zuhörer, was »der Herr des Weinbergs« wohl mit diesen »Weingärtnern« tun werde. In Matthäus verurteilten die Hohenpriester und Ältesten sich selbst, indem sie antworteten, dass er sie töten werde (Matth 21,41). Hier gibt der Herr selbst die Antwort: »Er wird kommen und diese Weingärtner umbringen und den Weinberg anderen geben.« Das bedeutet, dass die Juden, die Christus ablehnten, vernichtet werden würden und Gott »anderen« diese Vorrechtsstellung einräumen würde. Die »anderen« könnten die Heiden oder aber das wiedergeborene Israel der letzten Tage sein. Für die Juden war eine solche Aussage unerhört. »Das sei fern!«, riefen sie. Der Herr bestätigte die Vorhersage, indem er Psalm 118,22 zitierte. Die jüdischen »Bauleute« hatten Christus, »den Stein, … verworfen«. In ihren Plänen war kein Platz für ihn. Doch Gott hatte beschlossen, dass er ihm einen ganz bevorrechtigten Platz einräumen wollte, indem er ihn zum »Eckstein« machte, einem Stein, der unentbehrlich ist und den höchsten Ehrenplatz erhält.
20,18 In Vers 18 werden die beiden Kommen Christi erwähnt.55 Sein erstes Kommen wird als »Stein« dargestellt, der auf dem Boden liegt. Die Menschen stolperten über seine Demut und Niedrigkeit, und sie wurden »zerschmettert«, als sie ihn verwarfen. Im zweiten Teil des Verses sieht man, wie der Stein vom Himmel fällt und die Ungläubigen zu Staub »zermalmt«.
G. Die Frage nach der Steuer (20,19-26)
20,19.20 »Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten« erkannten, dass Jesus »auf sie hin« gesprochen hatte, und deshalb waren sie entschlossener denn je, »die Hände an ihn zu legen«. Sie »sandten Auflauerer aus«, um ihm eine Falle zu stellen, damit er etwas sage, für das er gefangen genommen und vom »Statthalter« verurteilt werden konnte. Diese »Auflauerer« lobten ihn zunächst, dass er Gott um jeden Preis treu sei und nicht auf Menschenmeinung achte – in der Hoffnung, dass er sich gegen den Kaiser aussprechen würde.
20,21.22 Dann »fragten sie ihn«, ob es richtig sei, »dem Kaiser Steuer zu geben oder nicht«. Wenn Jesus Nein sagte, dann konnten sie ihn des Hochverrats anklagen und den Römern zur Verhandlung übergeben. Wenn er Ja sagte, dann würde er die Herodianer (ja, die große Mehrheit des Volkes) verprellen.
20,23.24 Jesus erkannte die Falle. Er bat sie um einen »Denar«, vielleicht besaß er noch nicht einmal selbst einen. Die Tatsache, dass sie diese Münzen besaßen und verwendeten, zeigte ihre Abhängigkeit von einer heidnischen Macht. »Wessen Bild und Aufschrift hat er?«, wollte Jesus wissen. Sie gaben zu, dass es das Bild und die Aufschrift »des Kaisers« sei.
20,25.26 Da brachte Jesus sie mit dem Gebot zum Schweigen: »Gebt daher dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Sie waren anscheinend so an des Kaisers Sache interessiert, doch Gottes Sache interessierte sie nicht annähernd so viel. »Das Geld gehört dem Kaiser, und ihr gehört Gott. Gebt der Welt ihre Münzen, und gebt Gott seine Geschöpfe.« Es ist so leicht, über Unwichtiges zu streiten, während man die Hauptsache vergisst. Und es ist so einfach, unsere Schulden gegenüber unseren Mitmenschen zu begleichen und dabei Gott seiner rechtmäßigen Anteile zu berauben. H. Die Sadduzäer und ihre Fangfrage hinsichtlich der Auferstehung (20,27-44)
20,27 Weil der Versuch, Jesus eine politische Falle zu stellen, fehlgeschlagen war, »kamen aber einige der Sadduzäer herbei« und stellten ihm eine theologische Streitfrage. Sie leugneten die Möglichkeit, dass die Leiber der Toten je wiederauferweckt würden, und deshalb versuchten sie, die Lehre von der »Auferstehung« durch ein extremes Beispiel lächerlich zu machen.
20,28-33 Sie erinnerten Jesus daran, dass nach dem Gesetz des »Mose« ein lediger Mann die Witwe seines Bruders heiraten solle, um den Namen der Familie und das Familieneigentum zu erhalten (5. Mose 25,5). Eine Frau heiratete nun in dieser Geschichte hintereinander »sieben Brüder«. Als der siebte starb, war sie noch immer »kinderlos«. Dann »starb auch die Frau. In der Auferstehung nun, wessen Frau von ihnen wird sie sein?«, wollten die Sadduzäer wissen. Sie hielten sich für sehr schlau dahin gehend, dass sie eine unbeantwortbare Frage gestellt hatten.
20,34 Jesus antwortete, dass die eheliche Beziehung nur für »dieses Leben« gelte und im Himmel nicht fortgesetzt werde. Er sagte damit nicht, dass sich Ehegatten im Himmel nicht mehr erkennen werden, doch wird ihr Verhältnis dort auf ganz anderen Voraussetzungen beruhen.
20,35 Der Ausdruck »die würdig geachtet werden, jener Welt teilhaftig zu sein« bedeutet nicht, dass irgendjemand an sich würdig wäre, in den Himmel zu kommen. Die einzige Würdigkeit, die ein Sünder erlangen kann, ist die Würdigkeit des Herrn Jesus Christus. »Diejenigen werden für würdig erachtet, die sich selbst gerichtet haben, durch Christus gerechtfertigt sind und denen alle Würdigkeit zukommt, die Christus zusteht.«56 Der Ausdruck »Auferstehung aus den Toten« bezieht sich nur auf die Auferstehung der Gläubigen. Er bedeutet wörtlich »Auferstehung aus (gr. ek) den Toten heraus«. Der Gedanke einer allgemeinen Auferstehung, bei der alle Toten (sowohl die Geretteten als auch die Verlorenen) zur gleichen Zeit auferweckt werden, findet sich nicht in der Bibel.
20,36 Die Überlegenheit des himmlischen Zustandes wird in Vers 36 weiter ausgeführt. Es wird keinen Tod mehr geben, und in dieser Hinsicht werden die Menschen »Engeln gleich« sein. Auch werden sie »Söhne Gottes« sein. Die Gläubigen sind schon Söhne Gottes, doch sieht man es nicht. Im Himmel werden sie sichtbar als Söhne Gottes erscheinen. Die Tatsache, dass sie an der ersten Auferstehung teilhatten, beweist das. »Wir wissen, dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1. Joh 3,2). »Wenn der Christus, unser Leben, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit« (Kol 3,4; Schl 2000).
20,37.38 Um die Auferstehung zu beweisen,  zitierte  Jesus  2. Mose  3,6  (wo »Mose … den Herrn« als »den Gott Abrahams und den Gott Isaaks und den Gott Jakobs« bezeichnet). Wenn nun die Sadduzäer einen Augenblick lang nachgedacht hätten, hätten sie erkannt: 1. Gott »ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden«;
2. Abraham, Isaak und Jakob waren tot. Die unumgängliche Schlussfolgerung lautet, dass Gott sie aus den Toten auferwecken muss. Der Herr sagte nicht: »Ich war der Gott Abrahams …«, sondern: »Ich bin der Gott Abrahams. Das Wesen Gottes als ein Gott der Lebenden erfordert die Auferstehung.
20,39-44 »Einige der Schriftgelehrten« mussten zugeben, dass Jesu Argumentation stichhaltig war. Doch Jesus war noch nicht fertig, er zitierte nochmals Gottes Wort. In Psalm 110,1 nannte David den Messias seinen »Herrn«. Die Juden waren allgemein der Ansicht, dass der Messias »Davids Sohn« sei. Wie konnte er gleichzeitig Davids »Herr« und Davids »Sohn« sein? Der Herr Jesus selbst war die Antwort auf die Frage. Als Menschensohn war er ein Nachfahre Davids, und doch war er gleichzeitig Davids Schöpfer. Aber die Schriftgelehrten waren zu verblendet, um das zu erkennen.
I. Warnung vor den Schriftgelehrten (20,45-47)
20,45-47 Darauf warnte Jesus die Menge öffentlich »vor den Schriftgelehrten«. Sie trugen »lange Gewänder« und täuschten damit Frömmigkeit vor. Sie ließen sich gerne mit besonderen Titeln anreden, wenn sie »auf den Märkten« umhergingen. Sie versuchten, wichtige Plätze »in den Synagogen und … bei den Gastmählern« zu erhalten. Doch sie beraubten eine hilflose Witwe der Ersparnisse ihres Lebens und versuchten, ihre Bosheit mit »langen Gebeten« zu übertünchen. Eine solche Heuchelei würde umso schwerer bestraft werden.
J. Das Scherflein der Witwe (21,1-4)
21,1-4 Als Jesus beobachtete, wie »die Reichen ihre Gaben in den Schatzkasten« des Tempels legten, war er von dem Kontrast zwischen »den Reichen« und »einer armen Witwe« beeindruckt. Sie gaben etwas, aber die Witwe gab alles. Vor Gott hat sie »mehr eingelegt als alle«. »Denn alle diese haben von ihrem Überfluss eingelegt zu den Gaben; diese aber hat aus ihrem Mangel heraus« gegeben. Die Reichen gaben, was sie nichts oder nur wenig kostete, doch die Witwe gab »den ganzen Lebensunterhalt, den sie hatte«. »Das Gold des Überflusses, das gegeben wird, weil es nicht gebraucht wird, wirft Gott in den Abgrund. Das Kupfer jedoch, das mit Blut gebracht wird, nimmt er als wahres Opfer an – als Gold für die Ewigkeit.«57
K. Übersicht über die zukünftigen Ereignisse (21,5-11)
21,5-11 Die Verse 5-33 bilden eine große prophetische Rede. Obwohl sie der Ölbergsrede in Matthäus 24 und 25 ähnelt, ist sie nicht identisch. Wieder sollten wir uns daran erinnern, dass die Unterschiede in den Evangelien eine tiefe Bedeutung haben.
In diesem Abschnitt finden wir den Herrn abwechselnd von der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 und dann von den Umständen vor seiner Wiederkunft sprechen. Wir haben hier ein Beispiel für Prophetie, die sich auf mehrere zukünftige Ereignisse bezieht. Jesu Vorhersagen sollten bald eine teilweise Erfüllung durch die Eroberung Jerusalems unter Titus finden, aber sie werden außerdem einer zusätzlichen vollständigen Erfüllung am Ende der Drangsalszeit entgegensehen. Die Gliederung der Rede ist folgende: 1. Jesus sagt die Zerstörung Jerusalems voraus (V. 5.6).
2. Die Jünger fragen, wann das geschehen würde (V. 7).
3. Jesus gibt zunächst ein allgemeines Bild der Ereignisse, die seiner Wiederkunft unmittelbar vorangehen (V. 8-11).
4. Dann beschreibt er die Zerstörung Jerusalems und das darauf folgende Zeitalter (V. 12-24).
5. Schließlich berichtet er von den Zeichen, die seiner Wiederkunft vorausgehen würden, und ermahnt seine Nachfolger, in der Erwartung seiner Wiederkunft zu leben (V. 25.26).
21,5.6 »Als einige« der Menschen die Herrlichkeit des herodianischen »Tempels« priesen, warnte Jesus sie davor, sich zu sehr mit irdischen »Dingen« zu be fassen, die bald vergehen würden. »Tage« sollten kommen, in denen der Tempel dem Erdboden gleichgemacht werden würde.
21,7 Die Jünger wurden sofort neugierig und wollten wissen, »wann« das geschehen würde und »was das Zeichen« sei, das diesen Ereignissen vorangehe. Ihre Frage bezog sich zweifellos ausschließlich auf die Zerstörung Jerusalems.
21,8-11 Die Antwort des Heilands scheint sie zunächst zum Ende des Zeitalters zu führen, wenn der Tempel vor Aufrichtung des Reiches Gottes erneut zerstört werden wird. Es würden falsche Messiasse aufstehen und Gerüchte aufkommen sowie Kriege und Revolutionen ausbrechen. Es würde nicht nur zu Konflikten zwischen den Völkern kommen, sondern auch große Naturkatastrophen geben – »Erdbeben … und Hungersnöte und Seuchen, … Schrecknisse und große Zeichen vom Himmel«.
L. Die Zeit vor dem Ende (21,12-19)
21,12-15 Im vorhergehenden Abschnitt hat Jesus die Ereignisse unmittelbar vor dem Ende des Zeitalter beschrieben. Vers 12 wird eingeleitet mit den Worten: »Vor diesem allem aber …« Wir glauben deshalb, dass die Verse 12-24 die Zeitspanne zwischen dem Zeitpunkt dieser Rede und der zukünftigen Drangsalszeit beschreibt. Seine Jünger würden verhaftet und verfolgt werden, und sie würden vor religiöse und weltliche Gerichte geschleppt und ins Gefängnis geworfen werden. Es mag ihnen wie eine Niederlage erscheinen, doch in Wirklichkeit würde der Herr all dies überwinden, um es »zu einem Zeugnis« für seine Herrlichkeit zu machen. Sie sollten ihre Verteidigungsworte nicht im Voraus planen. Zu jener Stunde würde Gott ihnen besondere »Weisheit« geben, um so zu sprechen, dass ihre »Widersacher« völlig verblüfft wären.
21,16-18 Es wird in den Familien Verrat geben, unerlöste »Verwandte« werden Christen verraten, und »einige« werden sogar für ihr Zeugnis für Christus getötet werden. Zwischen Vers 16 (»und sie werden einige von euch töten«) und Vers 18 (»und nicht ein Haar von eurem Haupt wird verloren gehen«) besteht ein scheinbarer Widerspruch. Das kann nur bedeuten, dass zwar einige als Märtyrer für Christus sterben werden, dass sie jedoch geistlich vollständig bewahrt werden. Sie werden sterben, jedoch nicht verlorengehen.
21,19 Vers 19 weist darauf hin, dass diejenigen, die geduldig für Christus leiden, statt ihn zu verleugnen, dadurch die Echtheit ihres Glaubens beweisen. Diejenigen, die wirklich errettet sind, werden unter allen Umständen treu und hingegeben sein. In der ER heißt es hier: »Gewinnt eure Seelen durch euer Ausharren!« M. Die Zerstörung Jerusalems (21,20-24)
21,20-24 Nun nimmt der Herr eindeutig das Thema der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 auf. Dieses Ereignis sollte dadurch angekündigt werden, dass die Stadt von römischen »Heerscharen umzingelt« würde.
Die Christen der Frühzeit – die Gemeindeglieder des Jahre 70 – hatten ein besonderes Zeichen, das der Zerstörung Jerusalems und des Tempels vorausgehen sollte: »Wenn ihr aber Jerusalem von Heerscharen umzingelt seht, dann erkennt, dass seine Verwüstung nahe gekommen ist.« Dies sollte ein Zeichen für die Zerstörung Jerusalems sein, und auf dieses Zeichen hin sollten sie fliehen. Der Unglaube mag argumentieren, dass eine Flucht nicht möglich sei, wenn ein Heer die Stadt belagert, doch Gottes Wort irrt nie. Der römische General zog seine Armee für eine kurze Zeit ab, sodass die gläubigen Juden die Gelegenheit zur Flucht nutzen konnten. Sie taten das und flohen an einen Ort namens Pella, wo sie bewahrt wurden.58
Jeder Versuch, wieder in die Stadt zu gelangen, würde tödlich sein. Die Stadt sollte für ihre Ablehnung des Sohnes Gottes bestraft werden. »Schwangere« und »Stillende« würden ganz erheblich im Nachteil sein, weil sie gehindert wurden, dem Gericht Gottes zu entgehen, das er »über das Land« und »über das Volk« verhängt hatte. Viele würden erschlagen werden, und die Überlebenden würden als Gefangene in andere Länder verschleppt werden.
Der zweite Teil von Vers 24 ist eine bemerkenswerte Prophezeiung: »Bis die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden«, würde die jahrtausendealte Stadt Jerusalem von diesem Zeitpunkt an der heidnischen Herrschaft unterworfen sein. Das bedeutet nicht, dass die Juden nicht für kurze Zeit über die Stadt herrschen könnten. Der Gedanke hier ist, dass Jerusalem immer wieder heidnischen An- und Übergriffen ausgesetzt sein würde, »bis die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden«.
Das NT unterscheidet zwischen dem »Reichtum der Nationen«, der »Vollzahl der Nationen« und den »Zeiten der Nationen«.
1. Der Reichtum der Nationen (Röm 11,12) bezieht sich auf die Vorrangstellung, die die Heiden gegenwärtig genießen, während Israel zeitweilig von Gott beiseitegesetzt ist. 2. Die Vollzahl der Nationen (Röm 11,25) ist die Zeit der Entrückung, wenn die Braut Christi in Gestalt der Heidenchristen vollendet sein und von der Erde genommen sein wird und Gott wieder mit Israel handelt. 3. Die Zeiten der Nationen (Lk 21,24) begannen eigentlich mit der Babylonischen Gefangenschaft im Jahr 521  v. Chr.  und  werden  bis  zu  dem Zeitpunkt dauern, an dem die heidnischen Nationen nicht länger die Kontrolle über die Stadt Jerusalem ausüben werden.
Seit der Heiland diese Worte sprach, wurde Jerusalem während aller Jahrhunderte im Großen und Ganzen von heidnischen Mächten beherrscht. Kaiser Julian Apostata  (d. h.  Julian  der  Abtrünnige, lebte von 331 bis 363) war darauf bedacht, das Christentum in Misskredit zu bringen, indem er beabsichtigte, diese Prophezeiung des Herrn zu widerlegen. Er ermutigte deshalb die Juden, den Tempel wiederaufzubauen. Sie gingen eifrig ans Werk und benutzten in ihrer Verschwendungssucht sogar silberne Schaufeln und trugen die Erde in Purpurschleiern weg. Doch während sie arbeiteten, wurden sie durch ein Erdbeben und dadurch unterbrochen, dass Feuer aus der Erde hervorbrach. Sie mussten das Projekt aufgeben.59 N. Die Wiederkunft (21,25-28)
21,25-28 Diese Verse beschreiben die Naturkatastrophen »auf der Erde«, die der Wiederkunft Christi vorangehen werden. Es wird Störungen kosmischer Abläufe (hinsichtlich der »Sonne«, des »Mondes« und der »Sterne«) geben, die auf Erden eindeutig sichtbar sein werden. Himmelskörper werden aus ihren Umlaufbahnen geworfen. Es könnte sein, dass sich der Neigungswinkel der Erdachse verändert. Es wird große Flutwellen geben, die riesige Landflächen überschwemmen werden. Panik wird die Menschheit ergreifen, weil Himmelskörper sich auf Kollisionskurs mit der Erde befinden. Doch für die Gottesfürchtigen gibt es Hoffnung: »Und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in einer Wolke mit Macht und großer Herrlichkeit. Wenn aber diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt auf und hebt eure Häupter empor, weil eure Erlösung naht.«
O. Der Feigenbaum und alle Bäume (21,29-33)
21,29-31 Ein anderes Zeichen, das die Nähe seiner Wiederkunft anzeigen wird, ist das »Ausschlagen« des »Feigenbaums und aller Bäume«. Der »Feigenbaum« ist ein Bild für das Volk Israel. Er wird in der letzten Zeit Zeichen neuen Lebens zeigen. Sicherlich ist es nicht ohne Bedeutung, dass nach Jahrhunderten der Zerstreuung und der Bedeutungslosigkeit die Juden im Jahre 1948 ihren Staat neu gründeten, der nun als Mitglied der Völkerfamilie anerkannt ist. Das Ausschlagen der anderen Bäume mag das phänomenale Anwachsen des Nationalismus und die Bildung zahlreicher Regierungen in neu entstandenen Ländern der Welt symbolisieren. Diese Zeichen bedeuten, dass Christi herrliches Reich bald aufgerichtet wird.
21,32 Jesus sagte, dass »dieses Geschlecht nicht vergehen wird, bis alles geschehen ist«. Was meinte er jedoch mit »diesem Geschlecht«?
1. Einige sind der Ansicht, dass er sich auf die Generation bezog, die zu der Zeit lebte, als er diese Worte sagte, und dass alles erfüllt wurde, als Jerusalem zerstört wurde. Doch dies kann nicht so sein, weil Christus noch nicht »in einer Wolke und mit Macht und großer Herrlichkeit« wiedergekehrt ist. 2. Andere glauben, dass »diese Generation« die Menschen bezeichnet, die Augenzeugen des Anfangs dieser Zeichen sein werden. Diejenigen, die den Anfang der Zeichen miterleben, werden auch noch bei der Wiederkunft Christi auf Erden sein. Alle vorhergesagten Zeichen würden dann innerhalb einer Generation geschehen. Das ist eine mögliche Erklärung. 3. Eine andere Möglichkeit ist, dass sich »dieses Geschlecht« auf die Juden in ihrer feindseligen Haltung Christus gegenüber bezieht. Der Herr wollte damit sagen, dass die Juden überleben würden – zwar zerstreut, aber als Volk fortbestehend. Dabei würde sich ihre Haltung ihm gegenüber nicht verändern. Vielleicht trifft sowohl 2. als auch 3. zu.
21,33 Die Atmosphäre und der Sternenhimmel mögen zwar vergehen. Auch auf die Erde in ihrer gegenwärtigen Form mag dies zutreffen. Doch diese Vorhersagen des Herrn Jesus werden ganz sicher in Erfüllung gehen.
P. Ermahnung zur Wachsamkeit und zum Gebet (21,34-38)
21,34.35 In der Zwischenzeit sollten sich die Jünger davor hüten, sich so sehr mit Essen, Trinken und irdischen »Sorgen« zu beschäftigen, dass sein Kommen »plötzlich« und unerwartet erfolgt. So wird er jedenfalls für »alle« kommen, deren Heimat der »Erdboden« ist.
21,36 Wahre Jünger sollten jederzeit »wachen … und beten« und sich so von der gottlosen Welt absondern, die dazu bestimmt ist, den Zorn Gottes zu erleben. Die Jünger sollten sich mit denen eins machen, die als Wohlannehmliche »vor dem Sohn des Menschen stehen« werden.
21,37.38 Jeden Tag lehrte der Herr »in dem Tempel«, doch er »übernachtete auf dem Ölberg«, heimatlos auf der Erde, die er erschaffen hatte. Und jeden Morgen kam »das ganze Volk« und versammelte sich in seinem Umfeld, um »ihn zu hören«.
XI. Leiden und Sterben des Menschensohnes (Kap. 22 und 23) A. Der Anschlag, Jesus zu töten (22,1.2)
22,1 »Das Fest der ungesäuerten Brote« ist hier die Zeit, die mit dem »Passah« begann und noch sieben weitere Tage dauert e, in deren Verlauf kein gesäuertes Brot gegessen wurde. Das Passah wurde am vierzehnten Tag des Monats Nisan gefeiert, dem ersten Monat das jüdischen Kalenders. Die sieben Tage vom 15. bis zum 21. des Monats waren als »Fest der ungesäuerten Brote« bekannt, doch in Vers 1 bezieht sich der Name auf das gesamte Fest. Wenn Lukas in erster Linie für Juden geschrieben hätte, dann wäre es für ihn nicht notwendig gewesen, die Verbindung zwischen »dem Fest der ungesäuerten Brote« und dem »Passah« zu erwähnen.
22,2 »Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten« überlegten unaufhörlich, »wie sie« den Herrn Jesus »umbringen könnten«. Doch sie erkannten, dass sie dabei Aufsehen vermeiden mussten, »denn sie fürchteten das Volk«. Sie wussten, dass Jesus bei vielen noch immer hoch angesehen war.
B. Der Verrat des Judas (22,3-6)
22,3 »Aber Satan fuhr in Judas, der Iskariot genannt wurde« und einer der zwölf Jünger war. In Johannes 13,27 wird gesagt, dass dies stattfand, nachdem Jesus ihm das Brotstück während des Passahmahles gegeben hatte. Wir schlussfolgern, dass diese Inbesitznahme entweder in mehreren Stufen erfolgte oder Lukas hier mehr die Tatsache betont, als den exakten Zeitpunkt des Geschehens anzugeben.
22,4-6 Jedenfalls machte Judas ein Geschäft »mit den Hohenpriestern und Hauptleuten«, d. h. mit den Führern der jüdischen Tempelwache. Er hatte sorgfältig einen Plan ausgearbeitet, wie er Jesus »überliefern« könnte, ohne einen Aufstand zu riskieren. Der Plan war vollständig akzeptabel, und sie »kamen überein, ihm Geld zu geben« – dreißig Silberstücke, wie wir an anderer Stelle erfahren. So ging Judas weg, um die Einzelheiten seines verräterischen Plans auszuführen. C. Vorbereitungen für das Passah (22,7-13)
22,7 Es gibt bestimmte Probleme im Zusammenhang mit den verschiedenen Zeitspannen, die in diesen Versen erwähnt werden. »Der Tag der ungesäuerten Brote« wäre normalerweise der dreizehnte Nisan, an dem alles gesäuerte Brot aus dem jüdischen Haus hinausgetan werden musste. Doch hier heißt es, dass es der Tag war, »an dem das Passah geschlachtet werden musste«, was am vierzehnten Nisan der Fall war. Leon Morris schlägt gemeinsam mit anderen Auslegern vor, dass zwei verschiedene Kalender für das Passah verwendet wurden, nämlich ein offizieller und einer, der von Jesus und anderen befolgt wurde.60 Wir sind der Auffassung, dass hier die Schilderung der Gründonnerstagsereignisse vorliegt, die sich bis Vers 53 erstreckt.
22,8-10 Der Herr »sandte Petrus und Johannes« nach Jerusalem, um die Passahfeier vorzubereiten. Er zeigte durch seine Anweisungen seine Allwissenheit. »In der Stadt« würde ihnen »ein Mensch begegnen, der einen Krug Wasser trägt«. Das war in einer orientalischen Stadt ein ungewohnter Anblick, weil normalerweise die Frauen Wasser holten. Der Mann hier ist ein schönes Bild für den Heiligen Geist, der suchende Seelen an den Ort der Gemeinschaft mit dem Herrn führt.
22,11-13 Der Herr wusste nicht nur im Voraus, wo der Mann sich befand und wohin er wollte, sondern er wusste auch, dass ein bestimmter Hausbesitzer bereit war, ihm und seinen Jüngern seinen »großen, mit Polstern belegten Obersaal« zur Verfügung zu stellen. Vielleicht kannte dieser Mann den Herrn und hatte seine ganze Person und seinen Besitz in seinen Dienst gestellt. Es besteht ein Unterschied zwischen dem »Gastzimmer« und dem »großen, mit Polstern belegten Obersaal«. Der großzügige Gastgeber stellte eine bessere Unterkunft zur Verfügung, als die Jünger erwartet hatten. Als Jesus in Bethlehem geboren wurde, war für ihn kein Raum in der Herberge (gr. kataluma). Hier beauftragte er seine Jünger, nach einem »Gastzimmer« zu fragen (gr. kataluma), doch ihnen wurde ein besserer Raum gegeben: ein »großer, mit Polstern belegter Obersaal«. Alles traf ein wie vorhergesagt, und so »bereiteten« die Jünger »das Passah«. D. Das letzte Passah (22,14-18)
22,14 Viele Jahrhunderte lang hatten die Juden das Passah gefeiert und dabei der herrlichen Befreiung aus Ägypten und der Erlösung vom Tod durch das Blut des fehlerlosen Lammes gedacht. Wie lebhaft muss das alles vor den Augen unseres Heilands gestanden haben, als »er sich« mit den Aposteln »zu Tisch« legte, um dieses Fest ein letztes Mal mit ihnen zu feiern. Er war das wirkliche Passahl amm, dessen Blut bald für alle vergossen werden sollte, die ihm vertrauen.
22,15.16 »Dieses« besondere »Passah« hatte für ihn eine unaussprechliche Bedeutung, und er »sehnte« sich inständig danach, ehe er »leiden« musste. Er würde das Passah nicht mehr feiern, bis er auf die Erde zurückkehren und sein herrliches »Reich Gottes« errichten würde. Der Ausdruck »Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt« bedeutet eine intensive, leidenschaftliche Sehnsucht. Diese enthüllenden Worte laden alle Gläubigen jedes Zeitalters und jedes Ortes ein, darüber nachzudenken, wie leidenschaftlich Jesus sich nach Gemeinschaft an seinem Tisch sehnt.
22,17.18 Als »er einen Kelch nahm«, der ein Teil des Passahzeremoniells war, »dankte« er dafür, gab ihn an die Jünger weiter und erinnerte sie nochmals daran, dass er »nicht von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde«, bis er im Tausendjährigen Reich regieren würde. Die Beschreibung des Passahmahles endet mit Vers 18.
E. Das erste Herrenmahl (22,19-23)
22,19.20 Auf das Passahmahl folgte sofort das Herrenmahl. Der Herr Jesus setzte dieses heilige Gedächtnismahl ein, damit seine Nachfolger in allen Jahrhunderten sich dadurch an seinen Tod erinnern würden. Zuerst gab er den Jüngern »Brot«, ein Symbol für seinen »Leib«, der schon bald für sie »gegeben« werden sollte. Dann kündete »der Kelch« ausführlich von seinem kostbaren »Blut«, das am Kreuz von Golgatha vergossen werden sollte. Er nannte ihn »Kelch des neuen Bundes in« seinem »Blut«, das für die Seinen »vergossen« werden sollte. Das bedeutet, dass »der neue Bund«, den er in erster Linie mit dem Volk Israel geschlossen hatte, durch sein Blut besiegelt wurde. Die vollkommene Erfüllung des neuen Bundes wird während des Reiches unseres Herrn Jesus Christus auf Erden stattfinden, doch wir als Gläubige sind schon heute Nutznießer davon. Man sollte annehmen, dass man nicht erwähnen braucht, dass Brot und Wein »Vorbilder« für seinen Leib und sein Blut waren und stellvertretend für sie standen. Zu diesem Zeitpunkt war weder sein Leib hingegeben noch sein Blut vergossen worden. Deshalb ist es absurd zu glauben, dass die Symbole sich auf wunderbare Weise in den wahren Leib und das wahre Blut Christi verwandelt hätten. Den Juden war es verboten, Blut zu essen, und die Jünger wussten deshalb, dass Jesus nicht von Blut im wörtlichen Sinne sprach, sondern der Wein vielmehr stellvertretend für sein Blut stand.
22,21 Es scheint deutlich zu sein, dass Judas beim letzten Abendmahl anwesend war. Doch von Johannes 13 her ist es ebenso offensichtlich, dass er den Raum verließ, nachdem Jesus ihm das Stück Brot gegeben hatte. Weil dies vor der Einsetzung des Herrenmahles stattfand, glauben viele, dass Judas nicht anwesend war, als Brot und Wein herumgereicht wurden.
22,22 Die Leiden und der Tod Jesu waren »beschlossen«, doch Judas verriet ihn willentlich. Deshalb sagte Jesus: »Wehe aber jenem Menschen, durch den er überliefert wird!« Obwohl Judas einer der Zwölf war, war er doch kein wahrer Gläubiger.
22,23 Vers 23 enthüllt etwas von der Überraschung und dem Selbstmisstrauen der Jünger. Sie wussten nicht, »wer es wohl von ihnen sein möchte«, der sich dieser schlimmen Sache schuldig machen würde.
F. Wahre Größe besteht im Dienen (22,24-30)
22,24.25 Welch eine furchtbare Anklage gegen das menschliche Herz umfasst die Tatsache, dass die Jünger sofort nach dem Herrenmahl unter sich diskutierten, »wer von ihnen für den Größten zu halten sei«! Der Herr Jesus erinnerte sie daran, dass im Zeitalter der Gnade wahre Größe dem Gegenteil der betreffenden menschlichen Vorstellung entsprach. »Die Könige der Nationen« waren allgemein als »bedeutende Menschen« anerkannt, sie wurden sogar »Wohltäter« genannt. Doch das waren nur Titel, in Wirklichkeit waren sie grausame Tyrannen. Sie ließen sich zwar gut nennen, doch ihre Eigenschaften entsprachen dem in keiner Weise.
22,26 So sollte es bei den Jüngern nicht sein. Wer groß sein will im Reich Gottes, sollte  die  Stellung  »des  Jüngsten«  (d. h. des Geringsten) einnehmen. Und diejenigen, die über andere herrschen wollen, sollten sich zum niedrigsten Dienst an den anderen beugen. Diese revolutionären Anweisungen kehrten die überlieferte Tradition völlig um, wonach der Jüngere niedriger als der Ältere war und die Oberen ihre Macht durch Befehle bekundeten.
22,27 Nach der Meinung der Menschen war es besser, Gast bei einem Mahl zu sein, als bei dem Mahl zu dienen. Doch der Herr Jesus kam als Diener der Menschen, und alle, die ihm folgen wollen, müssen ihn darin nachahmen.
22,28-30 Es zeugte von großer Gnade des Herrn, die Jünger dafür zu loben, dass sie in seinen »Versuchungen« mit ihm »ausgeharrt« hatten. Sie hatten gerade untereinander gestritten. Schon bald würden sie ihn alle verlassen und fliehen. Und doch wusste er, dass sie ihn von Herzen liebten und um seines Namens willen Schande und Schmähungen erduldet hatten. Ihr Lohn wird sein, »auf Thronen« zu sitzen und »die zwölf Stämme Israels zu richten«, wenn Christus wiederkommt, um den Thron Davids zu übernehmen und über die Erde zu herrschen. So sicher, wie der Vater Christus dieses Reich versprochen hat, so sicher werden sie mit ihm über das erneuerte Israel herrschen.
G. Jesus kündigt die Verleugnung durch Petrus an (22,31-34) Nun folgt das letzte von drei dunklen Kapiteln in der Geschichte der menschlichen Treulosigkeit. Das erste war der Verrat durch Judas, das zweite der selbstsüchtige Eifer der Jünger, und nun kommen wir zur Feigheit des Petrus.
22,31.32 Die Wiederholung »Simon, Simon« spricht von der Liebe und Güte des Herzens Christi für seinen schwankenden Jünger. »Satan« hatte alle Jünger »begehrt«, sie »zu sichten wie den Weizen«. Jesus sprach Petrus als Vertreter aller Jünger an. Doch der Herr hatte für Simon »gebetet«, dass sein »Glaube« nicht Schaden erleide. (»Ich aber habe für dich gebetet« sind gewaltige Worte.) Nachdem Petrus zu Jesus »zurückgekehrt« sein würde, sollte er seine »Brüder stärken«. Dieses Zurückkehren bezieht sich nicht auf die Errettung, sondern auf die Wiederherstellung nach seiner Verleugnung.
22,33.34 Mit unangemessenem Selbstvertrauen verkündigte Petrus, dass er »bereit« sei, Jesus »ins Gefängnis und in den Tod« zu folgen. Doch Jesus musste ihm sagen, dass er, noch ehe der Morgen grauen würde, »dreimal geleugnet« haben würde, dass er den Herrn auch nur kenne!
In Markus 14,30 wird der Herr zitiert, dass er gesagt habe, Petrus würde ihn dreimal verleugnen, ehe der Hahn zweimal kräht. In Matthäus 26,34; Lukas 22,34 und Johannes 13,38 sagt der Herr, dass Petrus ihn dreimal verraten würde, ehe der Hahn kräht. Es ist zugegebenermaßen schwierig, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Es ist möglich, dass mehr als ein Hahn krähte, einer in der Nacht und einer in der Dämmerung. Auch sollte man beachten, dass die Evangelien mindestens sechs verschiedene Leugnungen durch Petrus berichten. Petrus verleugnete Jesus vor 1. einer jungen Frau (Matth 26,69.70; Mk 14,66-68);
2. einer anderen jungen Frau (Matth 26,71.72);
3. der Menge, die dabeistand (Matth 26,73.74; Mk 14,70.71); 4. einem Mann (Lk 22,58); 5. einem anderen Mann (Lk 22,59.60); 6. dem Diener des Hohenpriesters (Joh 18,26.27) Dieser Mann ist wahrscheinlich keiner der bisher genannten, weil er sagte: »Sah ich dich nicht im Garten mit ihm?« (V. 26). H. Die neue Dienstanweisung (22,35-38)
22,35 Früher einmal hat der Herr die Jünger »ohne Börse und Tasche und Sandalen« ausgesandt – nur mit dem absoluten Minimum. Das Allernötigste sollte für sie reichen. Und so war es auch gewesen. Sie mussten bekennen, dass ihnen »nichts« gefehlt hatte.
22,36 Doch nun würde er sie bald verlassen, und sie mussten in eine neue Phase des Dienstes für ihn eintreten. Sie würden Armut, Hunger und Gefahren ausgesetzt sein, und es würde notwendig werden, für ihre laufenden Bedürfnisse vorzusorgen. Nun sollten sie »eine Börse, … eine Tasche« mitnehmen, und wenn sie kein »Schwert« hätten, sollten sie ihr »Kleid« verkaufen und »ein Schwert« dafür erwerben. Was meinte der Heiland, als er den Jüngern befahl, »ein Schwert zu kaufen?« Er kann eindeutig nicht gemeint haben, dass die Jünger das Schwert als Angriffswaffe gegen andere Menschen einsetzen sollten. Das wäre eine Verl etzung seiner Lehren in solchen Abschnitten wie:
»Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft« (Joh 18,36).
»Denn alle, die das Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen« (Matth 26,52).
»Liebt eure Feinde (Matth 5,44). »Wenn jemand dich auf deine rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar« (Matth 5,39; s. a. 2. Kor 10,4). Was meinte also Jesus mit Schwert? 1. Einige sind der Meinung, dass er das Schwert des Geistes meinte, welches das Wort Gottes ist (Eph 6,17). Das ist möglich, doch müsste man dann die Börse, die Tasche und das Kleid ebenfalls geistlich deuten.
2. Williams ist der Ansicht, dass das Schwert für den Schutz einer ordentlichen Obrigkeit steht, und weist auf Römer 13,4 hin, wo das Schwert die Macht der Obrigkeit repräsentiert. 3. Lange sagt, dass das Schwert zur Verteidigung gegen menschliche Feinde bestimmt war, jedoch nicht zum Angriff. Doch Matthäus 5,39 scheint den Gebrauch des Schwertes auszuschließen, selbst zur Verteidigung. 4. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass das Schwert nur zur Verteidigung gegen wilde Tiere gedacht war. Das ist durchaus möglich.
22,37 Vers 37 erklärt, warum es notwendig war, dass die Jünger nun eine Börse, eine Tasche und ein Schwert mitnehmen sollten. Der Herr war bis zu diesem Zeitpunkt bei ihnen gewesen und sorgte für ihre zeitlichen Bedürfnisse. Schon bald würde er jedoch von ihnen gehen, um die Prophezeiung von Jesaja 53,12 zu erfüllen. Alles, »was [ihn] betrifft, hat eine Vollendung«. Das bedeutet, sein irdisches Leben und sein irdischer Dienst würden ein Ende finden, indem er »unter die Gesetzlosen gerechnet« werden würde.
22,38 Die Jünger haben den Herrn vollständig missverstanden. Sie zeigten ihm »zwei Schwerter«, und meinten, dass sie damit für alle kommenden Schwierigkeiten gerüstet wären. Der Herr Jesus beendete das Gespräch, indem er sagte: »Es ist genug.« Sie dachten offensichtlich, dass sie den Versuch seiner Feinde, ihn umzubringen, mit Schwertern verh indern könnten. Doch nichts lag ihm ferner! I. Die Seelenqual in Gethsemane (22,39-46)
22,39 Der Garten Gethsemane lag am Westhang des »Ölberges«. Jesus ging dort oft zum Beten hin, und die »Jünger« einschließlich des Verräters wussten das.
22,40 Nach Beendigung des Herrenmahls verließen Jesus und seine Jünger den Obersaal und gingen in diesen Garten. Dort angekommen, forderte Jesus sie auf, dass sie »beten« sollten, damit sie nicht »in Versuchung« fielen. Vielleicht dachte Jesus an die besondere »Versuchung«, Gott und seinen Christus zu verlassen, wenn Feinde auf sie eindringen würden.
22,41.42 Dann verließ Jesus die Jünger, ging weiter in den Garten hinein und »betete« allein. Er betete, dass der »Vater … diesen Kelch« doch an ihm vorübergehen lassen möge, wenn er es wolle. »Doch« es war ihm wichtig, dass nicht sein Wille, sondern seines Vaters Wille »geschehe«. Wir meinen, dass dieses Gebet Folgendes bedeutet: »Wenn es irgendeinen anderen Weg gibt, auf dem Sünder errettet werden können, als dass ich ans Kreuz gehen muss, dann offenbare ihn jetzt.« Die Himmel schwiegen, weil es keinen anderen Weg gab.
Wir glauben nicht, dass die Leiden Christi im Garten Gethsemane Teil seines Sühnungswerkes waren. Das Erlösungswerk wurde während der drei Stunden der Finsternis am Kreuz vollbracht. Doch Gethsemane war ein Vorgeschmack von Golgatha. Dort verursachte der bloße Gedanke daran, unsere Sünden aufgeladen zu bekommen, dem Herrn Jesus die schlimmsten Leiden.
22,43.44 Sein vollkommenes Menschsein sehen wir in seinem Ringen, das sein Gebet begleitete. »Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte.« Nur Lukas berichtet diese Tatsache, ebenso wie die Tatsache, dass »sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen«, wurde. Diese letzte Einzelheit musste den aufmerksamen Arzt Lukas natürlich interessieren.
22,45.46 Als Jesus zu seinen Jüngern zurückkam, sah er, dass sie »eingeschlafen« waren, nicht jedoch aus Gleichgültigkeit, sondern vor Erschöpfung und Betrübnis. Und wieder mahnte Jesus sie, aufzustehen und zu beten, denn seine Stunde war gekommen, und sie würden versucht sein, ihn vor den Behörden zu verleugnen.
J. Jesus wird verraten und gefangen genommen (22,47-53)
22,47.48 Nun war Judas mit einer Gruppe von Ältesten und Hauptleuten der Tempelwache und den Hohenpriestern gekommen, um den Herrn festzunehmen. Auf eine Vereinbarung hin sollte der Verräter Jesus durch einen Kuss bezeichnen. Stewart kommentiert:
Das war die Krönung der Entsetzlichkeiten dieser Stunde, die letzte Schändlichkeit, über die menschliche Schändlichkeit nicht mehr hinausgehen kann, als Judas dort im Garten seinen Meister verriet, nicht mit einem Schrei, einem Schlag oder einem Stoß, sondern mit einem Kuss.61 Mit unendlicher Ergriffenheit fragte Jesus: »Judas, überlieferst du den Sohn des Menschen mit einem Kuss?«
22,49-51 Die Jünger erkannten, »was es werden würde«, und waren zum Angriff bereit. »Einer von ihnen« (genauer gesagt, Petrus) nahm ein Schwert und »schlug den Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab«. Jesus wies ihn dafür zurecht, dass er fleischliche Mittel benutzt hatte, um einen geistlichen Kampf zu führen. Seine Stunde war gekommen und Gottes Pläne mussten durchgeführt werden. Gütigerweise »rührte« Jesus das »Ohr« des Mannes an »und heilte ihn«.
22,52.53 Jesus wandte sich nun an die jüdischen Führer und Hauptleute und fragte sie, warum sie »ausgezogen« waren, als ob er ein flüchtiger »Räuber« sei. Hatte er nicht täglich »im Tempel« gelehrt? Warum hatten sie nicht versucht, ihn dort zu greifen? Doch er kannte die Antwort: »Dies« war ihre »Stunde und die Macht der Finsternis«. Es war nun etwa Mitternacht zwischen Gründonnerstag und Karfreitag. Anscheinend fand der Prozess gegen unseren Herrn in drei Phasen statt. Zunächst führte man ihn vor Hannas, dann vor Kaiphas und schließlich noch vor den Hohen Rat. Die folgenden Ereignisse bis Vers 65 fanden etwa zwischen ein und fünf Uhr morgens am Karfreitag statt.
K. Petrus verleugnet Jesus und weint bitterlich (22,54-62)
22,54-57 Als der Herr »in das Haus des Hohenpriesters« gebracht wurde, »folgte Petrus von fern«. Drinnen nahm er seinen Platz bei denen ein, die sich an einem »Feuer … mitten im Hof« wärmten. Eine »Magd« sah zu Petrus hinüber und rief, dass er einer der Nachfolger Jesu sei. Traurigerweise »leugnete« Petrus, dass er ihn kenne.
22,58-62 Kurz darauf zeigte jemand anders mit anklagendem Finger auf Petrus, dass er einer der Nachfolger des Jesus von Nazareth sei. Wieder leugnete Petrus. »Nach Verlauf von etwa einer Stunde« erkannte jemand anders Petrus als »einen Galiläer« und einen Jünger Jesu. Petrus behauptete, nicht zu wissen, wovon der Mann sprach. Doch diesmal wurde seine Leugnung durch das Krähen eines »Hahnes« unterbrochen. In diesem dunklen Augenblick »wandte sich der Herr um und blickte Petrus an; und Petrus« erinnerte sich an die Vorhersage, dass er, ehe der Hahn krähen würde, ihn »dreimal verleugnen« werde. Der Blick des Sohnes Gottes sandte Petrus hinaus in die Nacht, wo er »bitterlich weinte«. L. Die Soldaten verspotten den Menschensohn (22,63-65)
22,63-65 Es waren die Offiziere gewesen, die dem heiligen Tempel in Jerusalem zugeteilt worden waren, die Jesus gefangen genommen hatten. Nun begannen diese Männer, die dazu bestimmt waren, das heilige Haus Gottes zu bewachen, Jesus zu »verspotten« und ihn zu »schlagen«. Nachdem sie ihm das Gesicht »verhüllt« hatten, »fragten sie ihn und sprachen: Weissage, wer ist es, der dich schlug?« Das war noch nicht alles, doch Jesus ertrug geduldig diesen gegen sich gerichteten Widerspruch der Sünder. M. Die morgendliche Verhandlung vor dem Hohen Rat (22,66-71)
22,66-69 Als es dämmerte (zwischen fünf und sechs Uhr morgens), »führte ihn … die Ältestenschaft des Volkes … in ihren Hohen Rat« oder das Synedrium. Die Mitglieder des Hohen Rats fragten ihn ohne Umschweife, ob er der Messias sei. Jesus antwortete ihnen im Grunde, dass es nutzlos sei, mit ihnen zu diskutieren. Sie waren nicht offen, die Wahrheit anzunehmen. Doch er warnte sie, dass derjenige, der vor ihnen als der Erniedrigte stände, eines Tages »zur Rechten der Macht Gottes« sitzen würde (s. Ps 110,1).
22,70.71 Dann fragten sie ihn einfach, ob er der »Sohn Gottes« sei. Es besteht kein Zweifel darüber, was sie meinten. Für sie war ein »Sohn Gottes« Gott selbst gleich. Der Herr Jesus antwortete: »Ihr sagt, dass ich es bin« (vgl. Mk 14,62). Das war alles, was sie brauchten. Hatten sie nicht »gehört«, wie er lästerte, indem er behauptete, Gott gleich zu sein? Weiteres »Zeugnis« war nicht mehr nötig. Doch gab es noch ein Problem. Nach ihrem Gesetz stand auf Lästerung die Todesstrafe. Aber die Juden standen unter römischer Herrschaft, und sie durften die Todesstrafe nicht vollstrecken. Deshalb mussten sie Jesus vor Pilatus führen, und er würde nicht im Geringsten an einer religiösen Anklage wegen Gotteslästerung interessiert sein. So mussten sie auch eine politische Anklage gegen ihn finden. N. Jesus vor Pilatus (23,1-7)
23,1.2 Nachdem er vor dem Hohen Rat erschienen war (der »ganzen Menge von ihnen«), wurde Jesus eilig weggeführt, damit die zivile Verhandlung vor »Pilatus«, dem römischen Statthalter, erfolgen konnte. Drei politische Anklagen wurden von den religiösen Führern gegen ihn vorgebracht. Als Erstes klagten sie ihn an, die »Nation zu verführen«, d. h. die Loyalität der Untertanen gegenüber Rom zu untergraben. Zweitens behaupteten sie, dass er den Juden »wehre, dem Kaiser Steuer zu geben«, und die dritte Anklage lautete, dass er sich selbst zum »König« mache.
23,3-7 Als Pilatus Jesus »fragte«, ob er »der König der Juden« sei, antwortete Jesus, dass er es sei. Für Pilatus war sein Anspruch jedoch keinesfalls eine Gefahr für den römischen Kaiser. Nachdem er Jesus unter vier Augen verhört hatte (Joh 18,33-38a), wandte er sich »zu den Hohenpriestern und den Volksmengen« und sagte: »Ich finde keine Schuld an diesem Menschen.« Die Menge beharrte aber auf ihrer Forderung und klagte Jesus an, dass er Menschen zur Rebellion gegenüber der Obrigkeit aufwiegeln würde – »angefangen von Galiläa bis« nach Jerusalem. »Als aber Pilatus das« Wort Galiläa »hörte«, dachte er, er hätte für sich einen Ausweg gefunden. Galiläa gehörte zum »Machtbereich des Herodes«, und deshalb versuchte Pilatus zu verhindern, weiter in diesen Fall verwickelt zu werden, indem er Jesus Herodes übergab. Es hatte sich ergeben, dass Herodes »in jenen Tagen« Jerusalem besuchte. Herodes Antipas war der Sohn von Herodes dem Großen, der den Kindermord in Bethlehem befohlen hatte. Antipas hatte Johannes den Täufer ermordet, weil der seine illegale Verbindung zur Frau seines Bruders verurteilt hatte. Herodes war es auch, der von Jesus »dieser Fuchs« genannt worden war (Lk 13,32). O. Das von Verachtung geprägte Verhör durch Herodes (23,8-12)
23,8 Herodes »freute sich sehr«, dass Jesus vor ihn geführt wurde. Er hatte »vieles über ihn gehört«, und »seit langer Zeit … wünschte er, ihn zu sehen, weil er … irgendein Zeichen« von ihm erhoffte.
23,9-11 Doch so sehr Herodes den Heiland »befragen« mochte, er bekam keine Antwort. Die Juden wurden immer heftiger in ihren Anschuldigungen, doch Jesus öffnete seinen Mund nicht. Herodes dachte, dass er es seinen Soldaten erlauben konnte, Jesus zu »verspotten«, indem er ihn in »ein glänzendes Gewand« kleidete und »zu Pilatus« zurückschickte.
23,12 »Vorher« hatte zwischen »Pilatus und Herodes« eine »Feindschaft« bestanden, doch nun verwandelte sie sich in Freundschaft. Sie standen beide auf der gleichen Seite gegen Jesus, und das verband sie. Theophylactus klagt in dieser Hinsicht: »Es ist eine Schande für Christen, dass es dem Teufel gelingt, böse Menschen zu überreden, ihre Feindschaft zu begraben, um Böses zu tun, aber Christen nicht einmal ihre Freundschaft untereinander aufrechterhalten können, um Gutes zu tun.«
P. Der Urteilsspruch des Pilatus: Unschuldig und doch verurteilt (23,13-25)
23,13-17 Weil Pilatus es versäumt hatte, seinen königlichen Gefangenen selbst zu richten, befand er sich nun in einer Falle. Er berief eilig eine Versammlung jüdischer Führer ein und erklärte ihnen, dass weder er noch Herodes in der Lage waren, irgendeinen Beweis für aufrührerische Aktivitäten Jesu zu finden. »Siehe, nichts Todeswürdiges ist von ihm getan.« Deshalb schlug er vor, unseren Herrn geißeln zu lassen und dann freizugeben. Stewart macht dazu deutlich: Dieser bedauernswerte Kompromiss war natürlich weder legal noch logisch. Es war der Versuch einer armen, von Furcht geplagten Seele, Jesus gegenüber seine Pflicht zu tun und gleichzeitig die Menge zu befriedigen. Doch beides misslang, und es ist kein Wunder, dass die aufgebrachten Priester dieses Urteil um keinen Preis akzeptieren wollten.62
23,18-23 Die Hohenpriester und Obersten waren erregt. Sie forderten Jesu Tod und die Freilassung von Barabbas, einem bekannten Kriminellen, der »wegen eines Aufruhrs … und wegen eines Mordes ins Gefängnis geworfen« worden war. Und wieder versuchte Pilatus kläglich, den Herrn zu entlasten, doch er wurde durch die verwerflichen Forderungen der Menge übertönt. Ganz gleich, was er sagte, sie »forderten« beharrlich den Tod des Sohnes Gottes.
23,24.25 Und obwohl er Jesus bereits für unschuldig erklärt hatte, verurteilte er ihn nun zum Tode, um das Volk zufriedenzustellen. Gleichzeitig »gab er« Barabbas »los«.
Q. Der Menschensohn wird nach Golgatha geführt (23,26-32)
23,26 Es war nun etwa 9 Uhr morgens am Karfreitag. Auf dem Weg zum Ort der Kreuzigung befahlen die Soldaten einem »gewissen Simon von Kyrene«, das Kreuz zu tragen. Wir wissen nicht viel von diesem Mann, doch es scheint so, dass seine zwei Söhne später bekannte Christen wurden (Mk 15,21).
23,27-30 Eine Menge teilnahmsvoller Nachfolger weinte über Jesus, als er weggeführt wurde. Jesus sprach die Frauen in der Menge als »Töchter Jerusalems« an. Sie sollten nicht um ihn, sondern um sich selbst trauern. Er bezog sich damit auf die schreckliche Zerstörung, die über Jerusalem im Jahre 70 kommen sollte. Die Leiden dieser Tage würden so furchtbar werden, dass »Unfruchtbare«, die bis dahin verachtet wurden, nun für besonders glücklich gehalten würden. Die Schrecken der Belagerung durch Titus würden so schlimm werden, dass die Menschen sich wünschen würden, dass »die Berge« auf sie »fallen« und die »Hügel« sie »bedecken« mögen.
23,31 Dann fügte der Herr Jesus noch die Worte an: »Denn wenn man dies tut an dem grünen Holz, was wird an dem dürren geschehen?« Er selbst war dieser »grüne« Baum, das ungläubige Israel der »dürre«. Wenn die Römer solche Schande und solches Leid über den sündlosen, unschuldigen Sohn Gottes brächten, welche schreckliche Strafe würde die schuldigen Mörder des Sohnes Gottes ereilen? R. Die Kreuzigung (23,33-38)
23,33 Der Ort der Hinrichtung wurde Golgatha63 bzw. »Schädelstätte genannt«. Vielleicht ähnelte der Ort einem Schädel, oder der Platz wurde so genannt, weil es eine Hinrichtungsstätte war, und der Schädel oft als Symbol für den Tod verwendet wird. Die Zurückhaltung der Schrift bei der Beschreibung der Kreuzigung ist beachtenswert. Man hält sich nicht bei den schrecklichen Einzelheiten auf. Wir haben nur die einfache Feststellung: »Sie kreuzigten ihn dort.« Und wieder bemerkt Stewart treffend: Dass der Messias sterben sollte, war schon schwer anzunehmen, doch dass er solch eines Todes sterben sollte, ging über jedes Vorstellungsvermögen hinaus. Und doch war es so. Alles, was Christus einschließlich des Kreuzes berührte, schmückte und verwandelte er und versah es mit Schönheit und Glanz, doch wir sollten nie vergessen, aus welchen schrecklichen Tiefen er das Kreuz erhoben hat.64
Für mich hingst du am Kreuzesstamm, du hochgelobtes Gotteslamm; du warst gehorsam bis zum Tod, nahmst auf dich Schmerzen, Angst und Tod
und hast dein Blut vergossen. Verfasser unbekannt
Es gab auf Golgatha an diesem Tag drei Kreuze. Das Kreuz Jesu stand in der Mitte, und auf jeder Seite stand das Kreuz eines Verbrechers. Damit erfüllte sich Jesaja 53,12: »Er ließ sich zu den Verbrechern zählen.«
23,34 Mit unendlicher Liebe und Gnade rief Jesus vom Kreuz her: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Wer weiß, welch ein Wasserfall göttlichen Zorns durch dieses Gebet abgehalten wurde! Morgan kommentiert die Liebe des Erlösers:
Die Seele Jesu kannte keinen Groll, keinen Ärger, keinen Rachedurst nach Bestrafung der Menschen, die ihn misshandelten. Die Menschen haben voller Bewunderung von der gepanzerten Faust des Imperialismus gesprochen. Wenn ich jedoch Jesus so beten höre, dann weiß ich, dass der einzige Ort für die gepanzerte Faust in der Hölle ist.65 Dann teilten die Soldaten »seine Kleider« unter sich auf und »warfen das Los« über sein nahtloses Gewand.
23,35-38 »Die Obersten« standen am Kreuz, verspotteten ihn und forderten ihn auf, dass er »sich selbst retten« möge, wenn er wirklich der Messias, »der Auserwählte Gottes«, sei. »Auch die Soldaten verspotteten ihn, indem sie … ihm Essig brachten« und seine Fähigkeit anzweifelten, sich selbst zu »retten«. Und sie nagelten darüber hinaus eine Aufschrift oben an das Kreuz:
Dieser ist der König der Juden. Und wieder zitieren wir Stewart: Wir können die Bedeutung der Tatsache, dass die Aufschrift in drei Sprachen, nämlich Griechisch, Lateinisch und Hebräisch, geschrieben war, nicht missverstehen. Zweifellos geschah das, damit sicher war, dass jeder in der Volksmenge es lesen konnte, doch die Gemeinde Christi hat darin – zu Recht – immer ein Symbol für die allumfassende Herrschaft Christi gesehen. Denn es waren die drei großen Weltsprachen, von denen jede für eine vorherrschende Anschauung stand. Griechisch war die Sprache der Kultur und des Wissens, und in diesem Bereich, sagte die Aufschrift, ist Jesus der König! Latein war die Sprache der Verwaltung und des Gesetzes; und auch hier ist Jesus König! Hebräisch war die Sprache der offenbarten gottesdienstlichen Praxis; und auch hier ist Jesus König! Daher stimmte selbst zu dem Zeitpunkt, als er sterbend am Kreuz hing, die Aussage, dass »auf seinem Haupt viele Kronen« sind (Offb 19,12; LU 1984).66 S. Die beiden Verbrecher (23,39-43)
23,39-41 Wir erfahren aus den Erzählungen der anderen Evangelien, dass beide Räuber Jesus zunächst lästerten. Wenn er der Christus war, warum »rettete« er sie dann nicht alle? Doch dann änderte einer der beiden seine Meinung. Er wandte sich an seinen Gefährten und »strafte ihn« für seine Respektlosigkeit. Schließlich litten sie beide für Verbrechen, die sie begangen hatten. Sie hatten ihre Strafe verdient. Doch »dieser« an dem mittleren Kreuz hatte »nichts Ungeziemendes getan«.
23,42 Er wandte sich an Jesus und bat den »Herrn« (Schl 2000),67 seiner zu »gedenken«, wenn er wiederkehren und sein »Reich« auf Erden aufrichten würde. Solch ein Glaube ist bemerkenswert. Der sterbende Verbrecher glaubte, dass Jesus aus den Toten auferstehen und einmal die Welt regieren würde.
23,43 Jesus belohnte seinen Glauben mit der Verheißung, dass er selbst und der Verbrecher noch an diesem Tag gemeinsam »im Paradies« sein würden. Das »Paradies« entspricht dem dritten Himmel (2. Kor 12,2.4) und dem Aufenthaltsort Gottes. »Heute« – welch eine Geschwindigkeit! »Mit mir« – welch eine Begleitung! »Im Paradies« – welch eine Freude! Charles R. Erdman schreibt: Diese Geschichte enthüllt uns die Wahrheit, dass die Erlösung von Buße und Glauben abhängt. Doch sie enthält auch noch andere wichtige Aussagen. Sie erklärt, dass die Erl ösung unabhängig von Sakramenten ist. Der Verbrecher ist nie getauft worden, noch konnte er am Herrenmahl teilnehmen … Er bekannte mutig seinen Glauben vor einer feindlichen Menschenmenge und inmitten der Spötteleien und schadenf reudigen Bemerkungen der Oberen und Soldaten, dennoch wurde er ohne jeden form ellen Ritus err ettet. Durch diese Geschichte wird offensichtlich, dass die Err ettung ohne gute Werke geschieht … Man sieht außerdem, dass es den sogenannten »Seelenschlaf« nicht gibt. Die Leiber der Menschen mögen schlafen, doch das Bewusstsein bleibt nach dem Tode wach. Und wieder wird deutlich, dass es kein »Fegefeuer« gibt. Aus einem Leben voller Schmach und Sünde ging der bußfertige Verbrecher sofort in einen Zustand der Glückseligkeit über. Und wieder müssen wir anmerken, dass die Errettung nicht allumfassend ist. Es waren zwei Verb recher, und nur einer wurde err ettet. Und als Letztes sollten wir noch anmerken, dass die Grundlage echter Freude, die über den Tod hinausgeht, im pers önl ichen Umgang mit Christus liegt. Das Zentrum der Verheißung an den sterbenden Verbrecher war: »Du wirst bei mir sein.« Unsere glückselige Gewissheit besteht darin, dass unser Abscheiden bed eutet, »bei Christus zu sein«, was »weitaus besser« ist.68 Es ist möglich, dass von zwei Menschen, die an der Seite Jesu sind, einer in den Himmel kommt, der andere in die Hölle. Auf welcher Seite des Kreuzes stehen Sie?
T. Drei Stunden der Finsternis (23,44-49)
23,44 »Finsternis« bedeckte »das ganze Land« (oder die Erde, das gr. Wort kann beides bedeuten) von der »sechsten … bis  zur  neunten  Stunde«,  d. h.  von  Mittag bis drei Uhr nachmittags. Das war ein Zeichen für das Volk Israel. Sie hatten das Licht abgelehnt, und nun würde das Gericht der geistlichen Blindheit über sie kommen.
23,45 »Der Vorhang des Tempels aber riss mitten entzwei« von oben bis unten. Das ist ein Bild für die Tatsache, dass durch den Tod des Herrn Jesus Christus ein Weg zu Gott für alle eröffnet worden ist, die zu ihm im Glauben kommen würden (Hebr 10,20-22).
23,46.47 Während dieser drei Stunden der Finsternis trug Jesus die Strafe für unsere Sünden am Kreuz. Gegen Ende dieser Zeit »übergab« er seinen Geist in die »Hände« Gottes des »Vaters« und legte sein Leben bewusst in seine Hände. Ein römischer »Hauptmann« war von der Szene so überwältigt, dass er »Gott verherrlichte und sagte: Wirklich, dieser Mensch war gerecht«.
23,48.49 »All die Volksmengen« wurden von Betrübnis und bösen Vorahnungen ergriffen. Einige der treuen Nachfolger Jesu, einschließlich der »Frauen, die ihm von Galiläa nachgefolgt waren«, … standen von fern … und waren Augenzeugen dieses entscheidenden Geschehens in der Weltgeschichte. U. Die Grablegung in Josefs Grab (23,50-56)
23,50-54 Bis zu dieser Zeit war »Josef« nur heimlich ein Jünger des Herrn. Obwohl er ein »Ratsherr« im Synedrium war, wollte er ihrem Urteil im Falle Jesu nicht zustimmen. Josef ging nun mutig »hin zu Pilatus und bat« um das Vorrecht, »den Leib Jesu« vom Kreuz zu nehmen und ihn ordentlich zu begraben. (Das fand zwischen drei und sechs Uhr nachmittags statt.) Er erhielt die Erlaubnis, und sofort »wickelte« Josef ihn »in ein Leinentuch und legte ihn in eine in Felsen gehauene Gruft«, die bis dahin noch nicht benutzt worden war. Das geschah noch am Freitag, dem »Rüsttag«. Wenn es heißt, dass »der Sabbat anbrach«, dann müssen wir uns daran eri nnern, dass der jüdische Sabbat am Freitag mit Sonnenuntergang beginnt.
23,55.56 Die treuen »Frauen … aus Galiläa … folgten« Josef, als er den »Leib« in die »Gruft« legte. »Als sie aber zurückgekehrt waren, bereiteten sie wohlriechende Öle und Salben«, damit sie zurückkommen und den Leib des Herrn, den sie liebten, einbalsamieren konnten. Als Josef den Leib Jesu bestattete, begrub er in gewissem Sinne auch sein altes Leben. Er trennte sich damit für immer von dem Volk, das den Herrn des Lebens und der Herrlichkeit gekreuzigt hatte. Er sollte nie wieder ein Teil des ung läubigen Judentums sein, sondern würde in moralischer Trennung von ihm leben und gegen dessen Vertreter Zeugnis ablegen. Am Samstag ruhten die Frauen im Gehorsam gegenüber dem Sabbatgebot. XII. Der Triumph des
Menschensohnes (Kap. 24) A. Die Frauen am leeren Grab (24,1-12)
24,1 Dann am Sonntag machten sie sich »ganz in der Frühe« auf »zu der Gruft und brachten die wohlriechenden Öle, die sie« für den Leib Jesu »bereitet hatten«. Doch wie wollten sie an seinen Leib kommen? Wussten sie nicht, dass ein großer Stein vor die Öffnung des Grabes gewälzt worden war? Wir erhalten auf diese Fragen keine Antwort. Wir wissen nur, dass sie Jesus sehr liebten, und die Liebe vergisst manchmal die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen. »Ihre Liebe ließ sie früh aufstehen (V. 1) und wurde reichlich belohnt (V. 6). Wer früh aufsteht, wird den auferstandenen Herrn finden (s. Spr 8,17).«
24,2-10 Als sie ankamen, »fanden sie« dass »der Stein« vom Eingang der »Gruft … weggewälzt« worden war. »Als sie hineingingen«, fehlte der »Leib des Herrn Jesus«. Man kann sich ihre Verwirrung gut vorstellen. Während sie noch versuchten, Klarheit zu gewinnen, erschienen »zwei« Engel (s. Joh 20,12) »in strahlenden Kleidern« und versicherten ihnen, dass Jesus lebe und es vergeblich sei, ihn im Grab zu suchen. Er sei »auferstanden«, wie er versprochen hatte, »als er noch« mit ihnen »in Galiläa war«. Hatte er ihnen nicht vorhergesagt, dass der »Sohn des Menschen« den »sündigen Menschen überliefert und gekreuzigt« werden müsse und »am dritten Tag« wieder »auferstehen« würde (Lk 9,22; 18,33)? Da erinnerten sie sich wieder an alles. Eilig »kehrten sie … zurück« in die Stadt und »verkündeten dies alles den Elfen«. Zu den ersten Boten der Auferstehung gehörten »Maria Magdalena und Johanna und Maria, des Jakobus’ Mutter«.
24,11.12 Die Jünger »glaubten ihnen nicht«. Das waren doch Altweiberfabeln! Unglaublich! Völlige Dummheit! So dachten sie – bis Petrus selbst das Grab besuchte und »nur die leinenen Tücher liegen« sah. Diese Tücher waren Jesus stramm um den Leib gewickelt worden. Uns wird nicht gesagt, ob sie aufgerollt worden waren, oder ob sie noch immer in der Form des Leibes dalagen, doch wir können annehmen, dass das Letztere der Fall war. Es scheint so zu sein, dass der Herr die Grabtücher wie eine Raupe ihren Kokon verlassen hat. Die Tatsache, dass die Grabtücher zurückblieben, zeigt, dass der Leib nicht gestohlen worden war, weil Grabräuber sich nie die Zeit genommen hätten, die Grabtücher zu entfernen. Petrus kehrte in sein Haus zurück und versuchte, dieses Geheimnis zu lüften. Was hatte das alles zu bedeuten? B. Auf dem Weg nach Emmaus (24,13-35)
24,13 Einer der »zwei« Emmausjünger war ein Mann namens Kleopas. Den Namen des anderen kennen wir nicht. Es könnte sein, dass es seine Frau war. Eine Überlieferung besagt, dass es Lukas selbst gewesen sei. Wir können nur sicher sein, dass es nicht einer der Elf war (s. V. 33). Jedenfalls überdachten die beiden niedergeschlagen69 den Tod und die Grablegung des Herrn, als sie »von Jerusalem … nach Emmaus« zurückgingen, eine Entfernung von etwa elf Kilometern.
24,14-18 Da kam ein Fremder zu ihnen. Es war der auferstandene Herr, doch sie »erkannten ihn nicht«. Er fragte sie, worüber sie geredet hätten. Zunächst hielten sie »niedergeschlagen« inne. Dann drückte Kleopas sein Erstaunen darü ber aus, dass dieser Fremde womöglich der Einzige »in Jerusalem« sei, der nicht wisse, »was dort geschehen ist«.
24,19-24 Jesus lockte sie mit seiner Frage (»was denn« geschehen sei) noch weiter aus der Reserve. In ihrer Antwort zollten sie Jesus anfangs ihre Anerkennung, um dann von der gegen ihn geführten Verhandlung und seiner Kreuzigung zu erzählen. Sie erzählten weiter von ihren zerstörten Hoffnungen, dann von den Berichten, dass »sein Leib« nicht mehr in der Gruft liege. Es seien sogar Engel erschienen, die versichert hatten, »dass er lebe«.
24,25-27 Jesus tadelte sie liebevoll, weil sie nicht erkannten, dass das genau der Weg war, den die »Propheten« des AT für den Messias vorausgesagt hatten. Er musste erst leiden, um dann verherrlicht werden zu können. »Von Mose … anfangend« bis zu allen Büchern der »Propheten« führte sie der Herr durch »alle Schriften« und zeigte ihnen »das, was ihn betraf«, den Messias. Das war eine wunderbare Bibelarbeit, und wie gerne wären wir dabei gewesen! Doch wir haben das gleiche AT, und wir haben den Heiligen Geist, der uns lehrt, und so können auch wir alles entdecken, was »in allen Schriften … ihn betraf«.
24,28.29 Nun näherten sich die Jünger ihrem Haus. Sie luden ihren Mitreisenden ein, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Zunächst tat er höflich so, als wolle er seine Reise fortsetzen, denn er wollte sich nicht aufdrängen. Doch als sie darauf bestanden, dass er bei ihnen bliebe – wie reich wurden sie da belohnt!
24,30.31 Als sie sich zum Abendessen setzten, nahm der Gast den Platz des Gastgebers ein.
Die Darreichung des einfachen Essens wurde zur heiligen Handlung, und das Wohnhaus wurde zum Haus Gottes. Das geschieht immer dann, wenn Jesus in ein Haus einkehrt. Diejenigen, die ihn eingeladen hatten, werden nun von ihm selbst bedient. Die beiden hatten ihm ihr Haus geöffnet, und nun öffnet er ihre Augen. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.) Als er »das Brot … gebrochen« und es ihnen gereicht hatte, »wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten ihn« zum ersten Mal. Hatten sie die Nägelmale an seinen Händen gesehen? Wir wissen nur, dass ihre Augen auf wunderbare Weise »aufgetan« worden sind. Sobald das geschehen war, »wurde er … unsichtbar«.
24,32 Dann gingen sie in Gedanken nochmals die Wanderung dieses Tages durch. Kein Wunder, dass ihre »Herzen« gebrannt hatten, »wie er ihnen die Schriften öffnete« und mit ihnen »redete«. Ihr Lehrer und Begleiter war der auferstandene Herr Jesus Christus gewesen.
24,33 Statt die Nacht nun in Emmaus zu verbringen, eilten sie »nach Jerusalem zurück«, wo sie »die Elf fanden« und noch einige andere, die sich »versammelt« hatten. »Die Elf« bezeichnet hier den Kreis der Apostel ohne Judas. Es waren allerdings nicht alle elf anwesend, wie wir aus Johannes 20,24 schließen können, doch wird dieser Ausdruck für die Apostel als Gesamtheit gebraucht.
24,34 Ehe die Emmausjünger ihre freudenvolle Nachricht weitergeben konnten, verkündigten die Jerusalemer Jünger voller Freude, dass »der Herr wirklich auferweckt worden und dem Simon« Petrus »erschienen« sei.
24,35 Und dann waren die Emmausjünger an der Reihe, indem sie berichteten: »Ja, das wissen wir, denn er ging mit uns, kam in unser Haus und offenbarte sich uns beim ›Brechen des Brotes‹«. C. Die Erscheinung vor den Elf (24,36-43)
24,36-41 Der Auferstehungsleib des Herrn Jesus war ein echter Leib, den man berühren konnte, aus »Fleisch und Bein«. Das war derselbe Leib, der begraben worden war, doch war er auch verwandelt, weil er nicht länger sterblich war. Mit diesem verherrlichten Leib konnte Jesus einen Raum betreten, auch wenn die Türen geschlossen waren (Joh 20,19). Das tat er am ersten Sonntagabend. Die Jünger schauten auf, sahen ihn und hörten ihn sagen: »Friede euch.« Sie waren von Furcht ergriffen, weil sie dachten, »sie sähen einen Geist«. Erst als er ihnen die Zeichen seines Leidens an seinen »Händen und Füßen« zeigte, begannen sie zu verstehen. Auch zu diesem Zeitpunkt war es alles noch zu schön, um wahr zu sein.
24,42.43 Um ihnen zu zeigen, dass er es wirklich selbst war, aß Jesus »ein Stück gebratenen Fisch« und »Honigseim« (LU 1912).
D. Den Jüngern wird Verständnis geschenkt (24,44-49)
24,44-47 Diese Verse könnten eine Zusammenfassung der Lehren unseres Herrn sein, die er zwischen seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt weitergab. Er erklärte, dass seine Auferstehung eine Erfüllung seiner »Worte« sei, die er zu ihnen geredet hatte. Hatte er ihnen nicht gesagt, dass alle Prophetien des AT über ihn »erfüllt werden« müssen? Das »Gesetz Moses und die Propheten und Psalmen« waren die drei Hauptteile des AT. Wenn sie zusammen genannt werden, bezeichnen sie das gesamte AT. Was waren die Grundaussagen der alttestamentlichen Prophezeiungen bezüglich des Christus? Dazu gehörte Folgendes: 1. Christus musste »leiden« (Ps 22,2-22; Jes 53,1-9).
2. Christus musste »am dritten Tag auferstehen aus den Toten« (Ps 16,10; Jona 1,17; Hos 6,2).
3. »In seinem Namen« musste »Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden allen Nationen, anfangend von Jerusalem.«
Jesus »öffnete ihnen das Verständnis«, damit sie all diese Schriften verstehen konnten. Wir haben es hier mit einem Kapitel voller geöffneter Dinge zu tun: 1. das geöffnete Grab (V. 12), 2. das geöffnete Haus (V. 29), 3. die geöffneten Augen (V. 31), 4. die geöffnete Schrift (V. 32), 5. die geöffneten Lippen (V. 35), 6. das geöffnete Verständnis (V. 45) und 7. der geöffnete Himmel (V. 51).
24,48.49 Die Jünger waren »Zeugen« der Auferstehung. Sie sollten als Herolde der herrlichen Botschaft ausziehen. Doch zuerst mussten sie auf »die Verheißung« des »Vaters« warten,  d. h. auf das Kommen des Heiligen Geistes zu Pfingsten. Dann sollten sie »mit Kraft aus der Höhe« angetan werden, um für den auferstandenen Christus Zeugnis abzulegen. Der Heilige Geist war vom Vater in alttestamentlichen Schriftstellen wie Jesaja 44,3; Hesekiel 36,27 und Joel 3,1 verheißen worden.
24,50.51 Die Himmelfahrt Christi fand vierzig Tage nach seiner Auf­erstehung statt. Er nahm seine Jünger »bis nach Betanien ... hinaus«, das am Osthang des Ölbergs liegt, »und hob seine Hände auf und segnete sie«. Während­ dessen wurde er »hinaufgetragen in den Himmel«.
24,52.53 »Sie warfen sich vor ihm nieder«, dann »kehrten« sie »nach Jerusalem zurück mit großer Freude«. Während der nächsten zehn Tage verbrachten sie viel Zeit »im Tempel und priesen Gott«. Das Lukasevangelium begann mit hingegebenen Gläubigen im Tempel, die um den lang erwarteten Messias beteten. Es endet am selben Ort mit hingegebenen Gläubigen, die Gott »lobten und 70 priesen«, weil er ihre Gebete erhört und die Erlösung gebracht hat. Hier in der Schlussszene wird der wunderbare Höhe­ punkt eines Buches erreicht, das Renan das schönste Buch der Welt genannt hat. »Amen.«
1,1 »Im Anfang war das Wort.« Es hatte selbst keinen Anfang, sondern bestand von Ewigkeit her. Soweit sich Menschen zurückerinnern können – der Herr Jesus war da. Er ist nie geschaffen worden. Er hat keinen Anfang. (Ein Geschlechtsregister wäre in diesem Evangelium über den Sohn Gottes fehl am Platz.) »Das Wort war bei Gott.« Jesus war eine eigenständige Persönlichkeit innerhalb der Dreie inheit, ganz Gott, eins mit dem Vater und doch von ihm verschieden. Er war nicht nur eine Idee, ein Gedanke oder irgende ine Art von Vorbild, sondern eine echte Person, die »mit Gott« zusammenlebte. »Das Wort war Gott.« Er lebte nicht nur »mit Gott«, sondern er war selbst Gott. Die Bibel lehrt, dass es einen Gott gibt und dass es drei Personen der Gottheit gibt – den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. In diesem Vers werden zwei Personen der Gottheit erwähnt – Gott der Vater und Gott der Sohn. Wir haben hier die erste von vielen Aussagen in diesem Evangelium vorliegen, dass Jesus Christus Gott ist. Es reicht nicht zu sagen, er sei »ein Gott«, göttlich oder gottähnlich. Die Bibel lehrt, dass er Gott ist.
1,2 Vers 2 scheint eine bloße Wiederholung des eben Gesagten zu sein, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Dieser Vers lehrt, dass die Person Christi und seine Gottheit ohne Anfang waren. Er wurde nicht erst eine Person, als er in Bethlehem zur Welt kam. Auch wurde er nicht auf irgende ine Weise Gott, nachdem er auferstanden war, wie einige heute lehren. Er ist Gott von Ewigkeit her.
1,3 »Alles wurde durch dasselbe.« Er selbst war kein Geschöpf, sondern er war der Schöpfer aller Dinge. Dies schließt die Menschen, die Tiere, die Himmelskörper, die Engel ein – alles Sichtbare und Unsichtbare. »Ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist.« Es gibt hiervon keine Ausnahme. Wenn etwas geschaffen wurde, dann hat er es geschaffen. Als Schöpfer ist er selbstverständlich allen seinen Geschöpfen überlegen. Alle drei Personen der Gottheit waren an der Schöpfung beteiligt: »Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde« (1. Mose  1,1;  im  Hebräischen  steht  das Wort »Gott« hier in der Mehrzahl; Anm. d. Übers.). »Der Geist Gottes schwebte über  den  Wassern«  (1. Mose  1,2).  »Alles ist durch ihn (Christus) und für ihn geschaffen« (Kol 1,16b).
1,4 »In ihm war Leben.« Das bedeutet nicht einfach, dass er selbst lebte, sondern vielmehr, dass er der Ursprung des Lebens war und ist. Das Wort schließt hier sowohl das leibliche als auch das geistliche Leben ein. Wenn wir geboren werden, erhalten wir körperliches Leben. Wenn wir wiedergeboren werden, empfangen wir geistliches Leben. Beides empfangen wir von ihm.
»Das Leben war das Licht der Menschen.« Derselbe, der uns das Leben gegeben hat, ist auch das Licht der Menschen. Er bietet dem Menschen die nötige Führung und Leitung. Man kann zwar leben, doch ist es etwas ganz anderes, wenn man weiß, wie man leben soll, den wahren Sinn des Lebens kennt und den Weg zum Himmel weiß. Derselbe, der uns das Leben gegeben hat, gibt uns auch das Licht für unseren Weg.
Wir finden sieben wunderbare Titel unseres Herrn Jesus Christus im ersten Kapitel dieses Evangeliums. Er wird folgendermaßen genannt:
1.  das Wort (V. 1.14);
2.  das Licht (V. 5.7);
3.  das Lamm Gottes (V. 29.36); 4.  der Sohn Gottes (V. 34.49); 5.  der Christus (Messias) (V. 41); 6.  der König von Israel (V. 49) und 7.  der Menschensohn (V. 51). Die ersten vier Titel, von denen jeder mindestens zweimal genannt wird, scheinen allgemein zu gelten. Die drei anderen, die jeweils nur einmal genannt werden, hatten nur für Israel, das irdische Volk Gottes, Bedeutung.
1,5 »Das Licht scheint in der Finsternis.« Als die Sünde in die Welt kam, verfinsterte sie den Geist des Menschen. Die Welt wurde in dem Sinne finster, dass die Menschen im Allgemeinen Gott weder kannten noch kennen wollten. In diese Dunkelheit kam der Herr Jesus: ein Licht an einem dunklen Ort.
»Die Finsternis hat es nicht erfasst.« Das kann bedeuten, dass die Dunkelheit den Herrn Jesus nicht verstehen konnte, als er in diese Welt kam. Die Menschen erkannten nicht, wer er wirklich war und warum er gekommen war. Die andere Bedeutung des Wortes »erfassen« deutet darauf hin, dass die Dunkelheit das Licht nicht besiegen konnte. Darin drückt sich der Gedanke aus, dass die Feindschaft und Ablehnung des Menschen das wahre Licht nicht vom Leuchten abhalten konnte.
B. Der Dienst Johannes’ des Täufers (1,6-8)
1,6 Vers 6 bezieht sich auf Johannes den Täufer, nicht auf den Schreiber des Evangeliums. Johannes der Täufer war »von Gott gesandt«, und zwar als Vorläufer des Herrn Jesus. Seine Aufgabe bestand darin, die Ankunft des Christus zu verkündigen und die Menschen aufzufordern, sich darauf vorzubereiten, ihn aufzunehmen.
1,7 Er »kam zum Zeugnis«, dass Jesus wirklich das Licht der Welt war, damit alle Menschen auf Jesus vertrauten.
1,8 Hätte Johannes die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich selbst gelenkt, wäre er seiner ausdrücklichen Aufgabe untreu geworden. Er wies Menschen auf Jesus hin, nicht jedoch auf sich selbst. C. Das erste Kommen des Sohnes Gottes (1,9-18)
1,9 »Das war das wahrhaftige Licht.« Andere Menschen haben durch die Jahrhunderte behauptet, Führer und Retter zu sein, aber der Eine, von dem Johannes zeugte, war das wahre Licht, das beste und wahrhaftigste Licht. Dadurch, dass dieses Licht in die Welt kam, hat jeder Mensch Licht empfangen. Das bedeutet nicht, dass jeder Mensch irgendein inneres Wissen von Christus hat. Auch bedeutet es nicht, dass jeder Mensch irgendwann einmal von dem Herrn Jesus hört. Es bedeutet stattdessen, dass das Licht allen Menschen scheint, gleichgültig, welcher Nationalität sie sind, welcher Rasse sie angehören oder welche Hautfarbe sie haben. Es bedeutet auch, dass der Herr Jesus den wahren Charakter der Menschen bloßgestellt hat, indem er sein Licht auf alle Menschen wirft. Er hat gezeigt, wie unvollkommen der Mensch ist, indem er als der vollkommene Mensch in diese Welt gekommen ist. Wenn ein Zimmer dunkel ist, dann sieht man weder Staub noch Möbel. Geht das Licht jedoch an, dann kann man das Zimmer sehen, wie es wirklich ist. In diesem Sinne enthüllt das Leuchten des wahren Lichtes, wie der Mensch wirklich ist.
1,10 Von der Zeit seiner Geburt in Bethlehem bis zu dem Tag, als er in den Himmel zurückkehrte, war er »in der Welt«, in der auch wir heute leben. Er hat die ganze Welt ins Dasein gerufen und ist von daher ihr rechtmäßiger Eigentümer. Statt ihn als Schöpfer anzuerkennen, dachten die Menschen, dass er ein Mensch wie sie selbst sei. Sie behandelten ihn als Fremden und Ausgestoßenen.
1,11 »Er kam in das Seine« (andere übersetzen »in sein Eigentum«). Er überschritt nicht seine Eigentumsgrenze, sondern lebte auf dem Planeten, den er selbst erschaffen hatte. »Die Seinen nahmen ihn nicht an.« Allgemein gesehen könnte man dies auf die gesamte Menschheit beziehen, denn es ist wahr, dass der größte Teil der Menschheit ihn verwarf. Doch in einem engeren Sinne war das jüdische Volk sein erwähltes irdisches Volk. Als er in die Welt kam, erschien er den Juden als ihr Messias, aber sie wollten ihn nicht annehmen.
1,12 So stellt er sich nun der gesamten Menschheit vor, und denen, die ihn aufnehmen, gibt »er das Recht, Kinder Gottes zu werden.«
Dieser Vers zeigt uns eindeutig, wie wir Kinder Gottes werden können. Nicht durch gute Werke, nicht durch Mitgliedschaft in einer Kirche, nicht dadurch, dass wir versuchen, immer unser Bestes zu tun, sondern dadurch, dass wir ihn annehmen und an seinen Namen glauben.
1,13 Um ein Kind im leiblichen Sinne zu werden, muss man geboren werden. Um ein Kind Gottes zu werden, muss man wiedergeboren werden. Dieses Ereignis wird auch Wiedergeburt, Bekehrung oder Errettung genannt. Der Vers beschreibt auf dreierlei Weise, wie die neue Geburt nicht stattfindet, und einen Weg, auf dem sie stattfindet. Erst haben wir die drei Wege, die nicht zur Wiedergeburt führen. »Nicht aus Geblüt.« Das bedeutet, dass man nicht aufgrund christlicher Eltern Christ wird. Die Errettung kann nicht durch blutsverwandtschaftliche Bande vererbt werden. Außerdem geschieht sie nicht aus »dem Willen des Fleisches«. Mit anderen Worten: Kein Mensch hat in seinem eigenen Fleisch die Macht, die neue Geburt zu bewirken. Auch wenn es nötig ist, dass er errettet werden will, ist sein eigener Wille nicht ausreichend, ihn zu erretten. Nicht »aus dem Willen des Mannes«. Niemand kann einen anderen retten. Ein Prediger mag sich etwa sehr bemühen, dass gewisse Menschen wiedergeboren werden, aber er hat nicht die Macht, diese wunderbare Geburt herbeizuführen. Wie geschieht dann die Wiedergeburt? Die Antwort liegt in den Worten »sondern aus Gott«. Das bedeutet schlicht, dass nichts und niemand außer Gott selbst die Macht hat, eine Wiedergeburt herbeizuführen.
1,14 »Das Wort wurde Fleisch«, als Jesus als Kind in Bethlehem geboren wurde. Er war schon immer als Sohn Gottes mit dem Vater im Himmel gewesen, aber nun entschied er sich, in einem menschlichen Körper auf diese Welt zu kommen. Er »wohnte unter uns.« Es ging hier nicht um eine kurze Erscheinung, über die es eventuell Missverständnisse geben könnte. Gott kam wirklich auf diese Erde und lebte hier als Mensch unter Menschen. Das Wort »wohnte« bedeutet wörtlich »zeltete« oder »schlug sein Zelt auf«. Sein Leib war das Zelt, in dem er 33 Jahre lang unter uns Menschen lebte. »Und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut.« In der Bibel bedeutet Herrlichkeit oft das leuchtende Licht, das Gottes Anwesenheit verkündigt. Aber Herrlichkeit bedeutet auch die Vollkommenheit und Unvergleichlichkeit Gottes. Als der Herr Jesus hier auf der Erde lebte, verbarg er seine Herrlichkeit in einem menschlichen Leib. Aber auf zwei Arten wurde seine Herrlichkeit doch offenbart. Erstens war da seine moralische Herrlichkeit. Wir bezeichnen damit die Ausstrahlung seines vollkommenen Lebens und Charakters. Es gab kein Makel an ihm. Er war in jeder Hinsicht vollkommen. Jede Tugend war in seinem Leben vollkommen ausgeglichen vorhanden. Zweitens wurde seine Herrlichkeit auf dem Berg der Verklärung sichtbar (Matth 17,1.2). Da sahen Petrus, Jakobus und Johannes sein Gesicht leuchten wie die Sonne und seine Kleider in hellem Licht scheinen. Diesen drei Jüngern wurde eine Vorausschau der Herrlichkeit zuteil, die Jesus haben wird, wenn er auf die Erde zurückkehren und für tausend Jahre regieren wird. Als Johannes sagte: »Wir haben seine Herrlichkeit angeschaut«, bezog er sich zweifellos in erster Linie auf die moralische Herrlichkeit des Herrn Jesus. Er und die anderen Jünger sahen das Wunder eines absolut vollkommenen Lebens, das auf dieser Erde geführt wurde. Aber wahrscheinlich hat Johannes auch das Ereignis auf dem Berg der Verklärung gemeint. Die Herrlichkeit, die die Jünger dort sahen, zeigte ihnen, dass er wahrhaftig der Sohn Gottes ist. Jesus ist der »Eingeborene  vom  Vater«,  d. h.  Christus  ist Gottes einzigartiger Sohn. Gott hatte keinen anderen Sohn wie ihn. In gewissem Sinne sind alle wahren Gläubigen Söhne Gottes. Doch Jesus ist der Sohn Gottes, er ist etwas ganz Besonderes. Als der Sohn Gottes ist er Gott gleich. Der Heiland war »voller Gnade und Wahrheit.« Einerseits erwies er anderen unverdiente Freundlichkeit, andererseits war er völlig wahrhaftig und rechtschaffen, ohne jemals eine Sünde zu entschuldigen oder das Böse zu begünstigen. Vollkommen gnädig und gleichzeitig vollkommen gerecht kann nur Gott allein sein.
1,15 Johannes der Täufer »zeugte« davon, dass Jesus der Sohn Gottes war. Ehe der Herr sein öffentliches Wirken begann, hat Johannes den Menschen schon von ihm erzählt. Als Jesus dann erschien, sagte Johannes nur noch: »Das ist der Eine, den ich euch beschrieben habe.« Jesus kam nach Johannes, was seine Geburt und seinen Dienst betraf. Er wurde sechs Monate nach Johannes geboren und zeigte sich dem Volk Israel erst einige Zeit, nachdem Johannes zu predigen und zu taufen begonnen hatte. Aber Jesus war »vor« ihm. Er war größer als Johannes, er war größerer Ehre wert, eben weil er »eher« war als Johannes. Er war schon von aller Ewigkeit her – der Sohn Gottes.
1,16 Alle, die an den Herrn Jesus glauben, erhalten geistliche Kraft aus »seiner Fülle.« Seine Fülle ist so groß, dass sie für alle Christen in allen Ländern und allen Zeitaltern ausreicht. Der Ausdruck »Gnade um Gnade« bedeutet wahrscheinlich »Gnade über Gnade« oder »überfließende Gnade.« Gnade bedeutet hier Gottes gnädiges Wohlwollen, das er über seine geliebten Kinder ausgießt.
1,17 Johannes stellt nun die Zeit des NT der Haushaltung des AT gegenüber. »Das Gesetz«, das »durch Mose gegeben« wurde, war kein Gnadenerweis. Es befahl den Menschen den Gehorsam und verurteilte sie zum Tode, wenn sie nicht gehorchten. Es sagte den Menschen, was richtig ist, gab ihnen aber nicht die Fähigkeit, es zu tun. Es wurde gegeben, um den Menschen zu zeigen, dass sie Sünder sind, nicht jedoch um sie von den Sünden zu erretten. »Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.« Er kam nicht, um die Welt zu richten, sondern um diejenigen zu retten, die unwürdig waren, sich nicht selbst retten konnten und seine Feinde waren. Das ist Gnade – das Beste des Himmels für die Schlechtesten der Erde.
Aber nicht nur die Gnade kam durch Jesus Christus, sondern auch die Wahrheit. Er sagte von sich selbst: »Ich bin … die Wahrheit.« Er war in seinen Taten und Worten absolut wahrhaftig und aufrichtig. Er gewährte keine Gnade auf Kosten der Wahrheit. Obwohl er die Sünder liebte, liebte er doch nicht ihre Sünden. Er wusste, dass der Lohn der Sünde der Tod ist. Deshalb starb er selbst, um die Todesstrafe zu erleiden, die wir verdient hätten. Er erwies uns unverdiente Freundl ichkeit, indem er unsere Seelen errettete und uns eine Heimat im Himmel ber eitete.
1,18 »Niemand hat Gott jemals gesehen.« Gott ist Geist und deshalb unsichtbar. Er hat keinen Leib. Obwohl er den Menschen des AT sichtbar als Engel oder Mensch erschien, offenbarten diese Erscheinungen nicht, wie Gott wirklich ist. Sie waren nur zeitliche Erscheinungen, durch die er zu seinem Volk sprechen wollte. Der Herr Jesus ist Gottes »eingeborener Sohn«,1 er ist Gottes einzigartiger Sohn, es gibt keinen anderen Sohn wie ihn. Er hat immer einen Platz der besonderen Nähe zum Vater inne. Sogar während seine Aufenthalts hier auf Erden war Jesus noch immer »in des Vaters Schoß«. Er war eins mit Gott und ihm gleich. Dieser wunderbare Sohn hat den Menschen vollständig offenbart, wer Gott ist. Wenn die Menschen Jesus sahen, dann sahen sie Gott. Sie hörten Gott sprechen. Sie spürten Gottes Liebe und Freundlichkeit. Gottes Gedanken und seine Haltung gegenüber der Menschheit sind durch Christus vollkommen »kundgemacht« worden.
II. Der Dienst des Sohnes Gottes – erstes Jahr (1,19 – 4, 54) A. Das Zeugnis Johannes’ des Täufers (1,19-34)
1,19 Als die Nachricht Jerusalem erreichte, dass ein Mann namens Johannes die Menschen angesichts des bevorstehenden Kommens des Messias zur Buße aufforderte, sandten die Juden eine Abordnung von »Priestern und Leviten«, um herauszufinden, wer dieser war. Die Priester waren diejenigen, welche die entscheidenden Dienste im Tempel verrichteten, während sich die Leviten als Bedienstete um die dort anfallenden einfachen Aufgaben kümmerten. »Wer bist du?«, fragten sie. »Bist du der lang ersehnte Messias?«
1,20 Andere Menschen hätten diese Gelegenheit ergriffen, sich Ruhm zu verschaffen, indem sie behauptet hätten, der Christus zu sein. Doch Johannes war ein treuer Zeuge. Sein Zeugnis lautete: »Ich bin nicht der Christus« (der Messias).
1,21.22 Die Juden erwarteten, dass Elia vor dem Erscheinen des Messias auf die Erde kommen würde (Mal 3,23). Deshalb dachten sie, dass Johannes, wenn er schon nicht der Messias war, vielleicht Elia sei. Doch Johannes versicherte ihnen, dass er es nicht sei. Im 5. Buch Mose hatte Mose gesagt: »Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören.« Die Juden erinnerten sich an diese Vorhersage und dachten, dass Johannes dieser Prophet sein könnte, der von Mose erwähnt wird. Aber auch hier sagte Johannes, dass dem nicht so sei. Die Abordnung hätte sich in einer peinlichen Lage befunden, wenn sie ohne eine Antwort nach Jerusalem gekommen wären, und deshalb baten sie ihn nun um eine Aussage, wer er sei.
1,23 »Er sprach: Ich bin die ›Stimme eines Rufenden in der Wüste‹.« Als Antwort auf ihre Frage antwortete der Täufer mit einem Zitat aus Jesaja 40,3. Dort wird vorhergesagt, dass ein Vorläufer erscheinen sollte, der das Kommen des Christus ankündigen würde. Mit anderen Worten: Johannes erklärte, dass er der vorhergesagte Vorläufer sei. Er war »die Stimme«, Israel war »die Wüste«. Wegen ihrer Sünde und weil sie sich von Gott entfernt hatten, waren die Angehörigen des Volkes trocken und unfruchtbar geworden und glichen einer Wüste. Johannes sprach von sich einfach als von einer Stimme – man sieht sie nicht, man hört sie nur. Johannes war die Stimme, doch Christus war das Wort. Das Wort benötigt eine Stimme, um sich kundzutun, doch ohne das Wort ist die Stimme wertlos. Das Wort ist unendlich größer als die Stimme, aber es kann auch unser Vorrecht sein, eine Stimme für ihn zu sein. Die Botschaft des Johannes lautete: »Macht gerade den Weg des Herrn.« Mit anderen Worten: »Der Messias kommt. Beseitigt alles in eurem Leben, das euch daran hindert, ihn aufzunehmen. Kehrt um von euren Sünden, sodass er kommen und über euch als König Israels herrschen kann.«
1,24.25 Die Pharisäer waren eine strenge Sekte der Juden, die sich ihrer großen Gesetzeserkenntnis und ihrer Bemühungen rühmten, auch die kleinste Anweisung des AT zu befolgen. In Wahrheit waren viele von ihnen Heuchler, die versuchten, religiös zu wirken, aber in Sünde lebten. Sie wollten wissen, welche Autorität Johannes zum Taufen bevollmächtigt hatte, wenn er keiner der wichtigen Personen war, die sie aufgezählt hatten.
1,26.27 Johannes antwortete: »Ich taufe mit Wasser.« Er wollte nicht, dass irgendwer meinte, er sei wichtig. Seine Aufgabe war einfach, die Menschen auf Christus vorzubereiten. Wann immer seine Hörer Buße taten, taufte er sie mit Wasser, um ihre innere Umkehr durch ein äußeres Symbol darzustellen. »Mitten unter euch steht, den ihr nicht kennt«, fuhr Johannes fort. Damit meinte er natürlich Jesus. Die Pharisäer erkannten ihn nicht als den lang erwarteten Messias. Im Grunde sagte Johannes zu den Pharisäern: »Haltet mich nicht für einen großa rtigen Menschen. Auf den Herrn Jesus sollt ihr achtgeben, doch ihr wisst nicht, wer er wirklich ist.« Er ist der Eine, der würdig ist. Er kam zwar nach Johannes dem Täufer, doch gebühren ihm alle Ehre und der Vorrang. Es war die Pflicht eines Sklaven oder Dieners, die Sandalriemen seines Herrn zu lösen. Aber Johannes hielt sich selbst nicht für würdig, Christus einen solch geringen, niedrigen Dienst zu tun.
1,28 Es ist nicht genau bekannt, wo dieses Betanien lag. Wir wissen nur, dass es ein östlich des Jordan gelegener Ort war. Es kann sich jedoch nicht um Betanien bei Jerusalem handeln. 1,29 »Am folgenden Tag« (d. h. nach dem Besuch der Pharisäer von Jeru salem) sah Johannes auf und sieht »Jesus zu sich kommen«. In seiner Aufregung rief er: »Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.« Das Lamm war bei den Juden ein Opfertier. Gott hatte sein erwähltes Volk gelehrt, ein Lamm zu schlachten und sein Blut als Opfer zu versprengen. Das Lamm wurde als Stellvertreter geschlachtet und sein Blut vergossen, damit die Sünden vergeben werden konnten.
Dennoch nahm das Blut der Lämmer, die zur Zeit des AT geschlachtet worden waren, nicht wirklich die Sünde weg. Diese Lämmer waren Bilder oder Typen, die auf die Tatsache hinwiesen, dass Gott eines Tages ein Lamm schenken würde, das wirklich die Sünde »wegnehmen« würde. All die Jahre hatten gottesfürchtige Juden auf das Kommen dieses Lammes gewartet. Nun war schließlich die Zeit gekommen, und Johannes der Täufer verkündete siegreich die Ankunft des wahren Lammes Gottes.
Als er sagte, dass Jesus »die Sünde der Welt« trägt, meinte er damit nicht, dass deshalb schon jedem seine Sünden vergeben seien. Der Tod Christi war wertvoll genug, um die Sünden der ganzen Welt zu sühnen, aber nur denjenigen Sündern ist vergeben, die den Herrn Jesus als Retter annehmen.
J. C. Jones weist darauf hin, dass dieser Vers die Überlegenheit der christlichen Sühne zeigt:
1. Das Wesen des Opfers ist größer. Während die Opfer des Judentums normale Lämmer waren, ist das Opfer des Christentums das Lamm Gottes. 2. Die Wirksamkeit des Werkes ist größer. Während die Opfer des Judentums lediglich Jahr für Jahr an die Sünden erinnerten, nahm das Opfer des Christentums alle Sünden weg. »… um durch sein Opfer die Sünde aufzuheben« (vgl. Hebr 9,26).
3. Es ist im Hinblick auf den Geltungsbereich größer. Während die Opfer des Judentums nur für ein einziges Volk gültig waren, ist das Opfer des Christentums für alle Völker bestimmt, denn »es nimmt die Sünde der Welt weg.«2
1,30.31 Johannes wurde nie müde, die Menschen daran zu erinnern, dass er nur den Weg für einen bereitete, der größer war als er selbst, und der noch kommen sollte. Jesus war in dem Maße größer als Johannes, wie Gott größer ist als der Mensch. Johannes war wenige Monate vor Jesus geboren, aber Jesus war von Ewigkeit her gewesen. Als Johannes sagte: »Ich kannte ihn nicht«, da meinte er nicht unbedingt, dass er ihn nie vorher gesehen hatte.
Da sie Vettern waren, ist es möglich, dass Johannes und Jesus miteinander gut bekannt waren. Aber Johannes hatte vor der Taufe Jesu seinen Vetter nicht als den Messias erkannt. Der Auftrag des Johannes war es, den Weg des Herrn zu bereiten, und dann das Volk Israel auf ihn hinzuweisen, wenn er käme. Aus diesem Grund taufte Johannes Menschen mit Wasser – um sie für das Kommen Christi vorzubereiten. Es war nie seine Absicht, sich eine eigene Jüngerschaft aufzubauen.
1,32 Hier erinnert Johannes an die Taufe Jesu im Jordan. Nachdem der Herr aus dem Wasser gestiegen war, kam »der Geist« Gottes »wie eine Taube aus dem Himmel« herab (vgl. Matth 3,16). Der Schreiber erklärt nun weiter die Bedeutung dieses Ereignisses.
1,33 Gott hatte Johannes offenbart, dass der Messias käme und dass bei seinem Kommen der Geist auf ihn herabfahren und auf ihm bleiben werde. Als dies nun mit Jesus geschah, erkannte Johannes, dass dieser der Eine wäre, »der mit Heiligem Geist tauft«. Der Heilige Geist ist eine Person, und zwar eine der drei Personen Gottes. Er ist gleich mit Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Während Johannes mit Wasser taufte, würde Jesus »mit Heiligem Geist« taufen. Die Taufe mit dem Heiligen Geist fand zu Pfingsten statt (Apg 1,5;2,4.38). Zu dieser Zeit kam der Heilige Geist vom Himmel herab, um in jedem Gläubigen zu wohnen und auch jeden Gläubigen zu einem Glied der Gemeinde, dem Leib Christi, zu machen (1. Kor 12,13).
1,34 Aufgrund der Ereignisse bei der Taufe Jesu bezeugt Johannes ausdrücklich die Tatsache, dass Jesus von Nazareth der »Sohn Gottes« ist, von dem vorhergesagt war, dass er in die Welt kommen sollte. Als Johannes sagte, dass Christus der »Sohn Gottes« war, meinte er damit, dass er Gott der Sohn war. B. Die Berufung von Andreas, Johannes und Petrus (1,35-42)
1,35.36 »Am folgenden Tag« bezieht sich auf den dritten hier erwähnten Tag. Johannes war mit »zwei von seinen Jüngern« anwesend. Diese hatten Johannes predigen gehört und seiner Verkündigung Glauben geschenkt. Aber sie waren noch nicht dem Herrn Jesus begegnet. Nun gab Johannes öffentlich Zeugnis vom Herrn. Am vorhergehenden Tag hatte er von Jesu Person (dem Lamm Gottes) und von seiner Aufgabe (die Sünden der Welt wegzunehmen) gesprochen. Nun richtet er einfach die Aufmerksamkeit auf Jesus. Seine Botschaft war kurz, einfach, selbstlos und ausschließlich christusbezogen.
1,37 Durch seine treue Predigt verlor Johannes zwei Jünger, aber er freute sich, dass sie Jesus folgten. So sollten wir auch mehr darauf bedacht sein, dass unsere Freunde dem Herrn folgen, als dass sie besonders viel von uns halten.
1,38 Der Heiland ist immer an denen interessiert, die ihm nachfolgen. Hier zeigte er sein Interesse, indem er sich an die beiden Jünger wandte und fragte: »Was sucht ihr?« Er kannte die Antwort auf die Frage schon, denn er weiß alle Dinge. Aber er wollte, dass sie ihr Anliegen in Worte fassten. Ihre Antwort (»Rabbi, wo hältst du dich auf?«) zeigte, dass sie bei dem Herrn sein und ihn besser kennenlernen wollten. Sie waren nicht einfach damit zufrieden, ihm begegnet zu sein. Sie sehnten sich nach Gemeinschaft mit ihm. Rabbi ist das hebräische Wort für Lehrer (wörtl. »mein Großer«).
1,39 »Er spricht zu ihnen: Kommt, und ihr werdet sehen!« Niemand, der das ehrliche Verlangen hat, den Heiland besser kennenzulernen, wird weggeschickt. Jesus lud die beiden an den Ort ein, an dem er zu dieser Zeit wohnte – wahrscheinlich eine sehr bescheidene Bleibe verglichen mit den heutigen Wohnungen. »Sie kamen nun und sahen, wo er sich aufhielt, und blieben jenen Tag bei ihm. Es war um die zehnte Stunde.« Niemals war diesen Männern eine solche Ehre widerfahren. Sie verbrachten den Abend im gleichen Haus wie der Schöpfer des Universums. Sie waren unter den ersten Juden, die den Messias erkannten. »Die zehnte Stunde« bedeutet entweder zehn Uhr vormittags oder vier Uhr nachmittags. Normalerweise nimmt man die erstgenannte Möglichkeit (römische Zeitrechnung) an.
1,40 Einer der beiden Jünger war Andreas. Andreas ist heute nicht so bekannt wie sein »Bruder Simon« Petrus, aber es ist interessant festzuhalten, dass er als Erster von beiden Jesus begegnete. Der Name des anderen Jüngers wird hier nicht angegeben, aber die meisten Bibelausleger nehmen an, dass es sich um Johannes, den Schreiber dieses Evangeliums, handelt. Sie argumentieren, dass ihn die Bescheidenheit davon abhielt, hier seinen Namen zu nennen.
1,41 Wenn jemand zu Jesus findet, dann will er normalerweise auch, dass seine Verwandten ihm ebenfalls begegnen. Die Rettung ist zu groß, als dass man sie nur für sich behalten möchte. So ging Andreas mit der aufregenden Nachricht »schnell zu seinem eigenem Bruder Simon … Wir haben den Messias gefunden.« War das eine erstaunliche Nachricht! Mindestens viertausend Jahre hatten die Menschen auf den verheißenen Christus, den Gesalbten Gottes, gewartet. Nun hört Simon aus dem Mund seines eigenen Bruders die überraschende Nachricht, dass der Messias nahe ist. Und sie lebten wirklich zu einer Zeit, da Geschichte geschrieben wurde. Wie einfach waren die Worte von Andreas. Ihm reichten fünf Worte (»Wir haben den Messias gefunden«), doch Gott benutzte sie, um Petrus zu gewinnen. Das zeigt uns, dass wir nicht große Prediger oder geschickte Redner sein müssen. Wir brauchen den Menschen nur in einfachen Worten von dem Herrn Jesus zu erzählen, um den Rest kümmert Gott sich dann selbst.
1,42 Andreas führte seinen Bruder an den richtigen Ort und zu dem richtigen Mann. Er führte ihn nicht in eine Kirche, zu einem Glaubensbekenntnis oder zu einem Geistlichen. »Er führte ihn zu Jesus.« Das war sehr wichtig! Weil Andreas so viel daran lag, wurde Simon später ein großer Menschenfischer und einer der Führer der Apostel des Herrn. Simon ist sicherlich berühmter geworden als sein Bruder, aber Andreas wird zweifellos an der Belohnung des Petrus Anteil haben, weil er es war, der ihn zu Jesus führte. Der Herr kannte den Namen des Simon, ohne dass ihm dieser zuvor gesagt worden wäre. Er wusste auch, dass Simon ein solch unbeständiges Wesen hatte. Und letztlich wusste er auch, dass Simon sich verändern würde, sodass er fest wie ein Fels stehen würde. Aber woher wusste Jesus das alles? Er war und ist eben Gott. Simon bekam den Namen Kephas (aramäisch: Stein), und er wurde ein charakterfester Mann, insbesondere nach der Himmelfahrt des Herrn und dem Kommen des Heiligen Geistes. C. Die Berufung von Philippus und Nathanael (1,43-51)
1,43 Das ist nun der vierte Tag, von dem wir in diesem Kapitel lesen. Bosch weist darauf hin, dass wir am ersten Tag nur Johannes  sehen  (V. 15-28),  am  zweiten sehen wir Johannes und Jesus (V. 29-34), am dritten sehen wir Jesus und Johannes (V. 35-42), und am vierten Tag sehen wir  nur  Jesus  (V. 43-51).  Der  Herr  wanderte nach Norden in das Gebiet, das Galiläa genannt wurde. Dort »findet er Philippus« und lädt ihn zur Nachfolge ein. »Folge mir nach!« Dies sind erhabene Worte, wunderbar wegen ihres Sprechers und großartig wegen des Vorrechtes, das sie anbieten. Der Herr lädt auch heute noch alle Menschen auf diese einfache und doch großartige Weise ein.
1,44 Betsaida war eine Stadt am Ufer des Sees Genezareth. Nur wenige Städte der Welt sind je so geehrt worden. Der Herr tat hier einige seiner größten Wunder (Lk 10,13). Es war die Heimatstadt von Philippus, Andreas und Petrus. Dennoch lehnte sie den Heiland ab und wurde deshalb zerstört, und zwar in solch starkem Maße, dass wir heute nicht mehr sagen können, wo sie genau gelegen hat.
1,45 Philippus wollte seine neu gewonnene Freude mit jemandem teilen, und so ging er hin und »findet den Nathanael.« Neubekehrte sind meist die besten Seelengewinner. Die Botschaft des Philippus war einfach und direkt. Er sagte Nathanael, dass er den Messias gefunden habe, der von Mose und den Propheten verkündigt worden war – »Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth«. Eigentlich war seine Botschaft nicht ganz korrekt. Er sagte, dass Jesus der Sohn Josefs sei. Jesus hatte aber keinen natürlichen Vater, denn er war von der Jungfrau Maria geboren worden. Josef hatte Jesus adoptiert und wurde so rechtlich sein Vater, auch wenn er nicht der leibliche Vater war. James S. Stewart merkt dazu an: Es war nie Christi Art, gleich am Anfang einen völlig reifen Glauben zu verlangen. Es war nie seine Art, Menschen von der Jüngerschaft auszuschließen, nur weil sie noch nicht alle Einzelheiten des Glaubens kannten. Und ganz sicherlich ist das auch heute noch nicht seine Art. Er stellt sich an die Seite seiner Brüder. Er bittet sie, sich in jeder Hinsicht an ihn zu binden. Er nimmt sie mit dem Glauben an, den sie ihm bringen können. Er gibt sich zunächst damit zufrieden und leitet sie von da an als seine Freunde weiter, so wie er die ersten Jünger Schritt für Schritt weiterführte, bis sie das Geheimnis seiner Person und die Herrlichkeit der Jüngerschaft erkannten.3
1,46 Nathanael hatte Probleme. Nazareth war eine verachtete Stadt in Galiläa. Es schien ihm unmöglich, dass der Messias in so einer armen Gegend wohnen würde. Und so gab er der Frage Ausdruck, die ihn beschäftigte. Philippus diskutierte nun nicht mit ihm herum. Er war der Meinung, dass es am einfachsten war, allen Einwänden zu begegnen, indem man die Menschen direkt mit Jesus bekannt machte – eine wertvolle Lektion für alle, die versuchen, andere für Christus zu gewinnen. Keine großartigen Argumente, keine langen Diskussionen. Lade Menschen einfach ein, »zu kommen und zu sehen«.
1,47 Dieser Vers zeigt, dass Jesus alles weiß. Ohne vorher mit Nathanael Bekanntschaft gemacht zu haben, erklärte er, dass er »ein Israelit, in dem kein Trug ist«, sei. Jakob, der später von Gott den Namen Israel erhielt, war berüchtigt für seine nicht ganz ehrlichen Geschäftsmethoden, aber Nathanael war wie »Israel« und nicht wie »Jakob« gesinnt.
1,48 Nathanael war offensichtlich überrascht, dass ein total Fremder zu ihm reden konnte, als ob er ihn schon kennen würde. Offensichtlich war er ganz verborgen gewesen, als er »unter dem Feigenbaum« gesessen hatte. Wahrscheinlich hatten die niederhängenden Zweige von Bäumen und Gestrüpp ihn verdeckt. Aber Jesus sah ihn, obwohl er so versteckt war.
1,49 Vielleicht war es die Fähigkeit des Herrn Jesus, ihn zu sehen, wo er doch vor allen menschlichen Blicken verborgen gewesen war, die Nathanael davon überzeugte, wer der Herr Jesus war, oder dieses Wissen wurde ihm auf übernatürliche Weise gegeben. Jedenfalls wusste er nun, dass Jesus »der Sohn Gottes, der König Israels«, ist.
1,50 Der Herr hatte Nathanael zwei Beweise seiner Messianität gegeben. Er hatte Nathanaels Charakter beschrieben, und er hatte Nathanael gesehen, als niemand anders ihn hatte sehen können. Diese beiden Beweise waren für Nathanael ausreichend, sodass er glaubte. Aber nun versprach der Herr Jesus ihm, dass er »Größeres als dies sehen« sollte.
1,51 Wann immer Jesus eine Aussage mit den Worten »wahrlich, wahrlich« einleitete (wörtlich: Amen, Amen4), sagte er etwas außerordentlich Wichtiges. Hier beschrieb er Nathanael ein Bild jener künftigen Zeit, da er wiederkommen würde, um über die Erde zu regieren. Die Welt wird dann wissen, dass der Zimmermannssohn, der in dem verachteten Nazareth gelebt hat, wirklich der Sohn Gottes und der König Israels ist. An diesem Tag wird »der Himmel geöffnet« sein. Das Wohlwollen Gottes wird auf dem König liegen, wenn er von Jerusalem aus regiert.
Es ist wahrscheinlich, dass Nathanael über die Geschichte von der Jakobsleiter nachgedacht hatte (1. Mose 28,12). Diese Leiter, worauf die Engel herab- und hinaufsteigen, ist ein Bild für den Herrn Jesus Christus selbst, den einzigen Zugang zum Himmel. »Die Engel Gottes werden auf- und niedersteigen auf den Sohn des Menschen.« Engel sind Diener Gottes, die wie Feuerflammen in seinem Auftrag handeln. Wenn Jesus als König regiert, werden diese Engel zwischen Himmel und Erde hin- und herreisen, um seinen Willen zu erfüllen.
Jesus sagte Nathanael damit, dass er bisher nur sehr kleine Erweise seiner Messianität gesehen hatte. Während der zukünftigen Herrschaft Christi würde er den Herrn Jesus als Gottes gesalbten Sohn in voller Offenbarung sehen. Dann würde die ganze Menschheit wissen, dass aus Nazareth jemand kam, der in der Tat Gutes brachte.
D. Das erste Zeichen: Die Verwandlung von Wasser in Wein (2,1-11)
2,1 »Am dritten Tag« bezieht sich zweifellos auf den dritten Tag des Aufenthaltes Jesu in Galiläa. In 1,43 ging Jesus in dieses Gebiet. Wir wissen nicht genau, wo Kana lag, aber aus Vers 12 dieses Kapitels können wir schließen, dass es sich bei Kapernaum befand und höher lag als dieser Ort.
Es »war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa« an diesem Tag, »und die Mutter Jesu war dort«. Es ist interessant, dass hier von Maria als der »Mutter Jesu« gesprochen wird. Jesus war nicht berühmt, weil er der Sohn der Jungfrau Maria war, sondern sie war bekannt, weil sie die Mutter unseres Herrn war. Die Schrift gibt immer Jesus den ersten Platz, nicht Maria.
2,2 »Es war aber auch Jesus mit seinen Jüngern zu der Hochzeit geladen.« Es war ein weiser Entschluss derer, die die Hochzeit ausrichteten, auch Christus einz uladen. So ist es auch heute noch ein weiser Entschluss, wenn Menschen heute den Herrn zu ihrer Hochzeit einladen. Um das tun zu können, müssen Braut und Bräutigam natürlich wahre Gläubige sein. Dann müssen sie ihr Leben dem Heiland übergeben und beschließen, dass ihr Haus ein Ort sein soll, an dem er sich gerne aufhält.
2,3 Der Vorrat an Wein ging aus. Als »die Mutter Jesu« erkannte, was passiert war, ging sie mit diesem Problem zu ihrem Sohn. Sie wusste, dass er ein Wunder tun konnte, um Wein zu beschaffen, und vielleicht wollte sie auch, dass ihr Sohn sich den versammelten Gästen als Sohn Gottes offenbarte. Wein steht in der Schrift oft symbolisch für Freude. Als Maria sagte: »Sie haben keinen Wein«, gab sie deshalb eine sehr genaue Beschreibung von Menschen, die nicht gerettet sind. Für die Ungläubigen gibt es keine echte, dauerhafte Freude.
2,4 Die Antwort des Herrn an seine Mutter scheint kalt und unfreundlich. Aber sie enthält keine so scharfe Zurechtweisung, wie uns scheinen mag. Das Wort »Frau«, das hier verwendet wurde, ist ein respektvoller Titel, ähnlich dem Wort »Dame«. Als unser Herr fragte: »Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?«, wollte er zeigen, dass er bei der Ausführung seines göttlichen Auftrags nicht den Anweisungen seiner Mutter unterstand, sondern dass er ausschließlich im Gehorsam gegenüber dem Willen seines Vaters im Himmel handelte. Maria wollte, dass ihr Sohn geehrt wurde, aber er musste sie daran erinnern, dass seine »Stunde noch nicht gekommen ist«. Ehe er sich der Welt als der alles beherrschende Christus zeigen konnte, musste er erst auf den Opferaltar steigen, was er am Kreuz von Golgatha tat.
Williams weist auf Folgendes hin: Der Ausdruck »Was habe ich mit dir zu schaffen?«, findet sich öfter in der Bibel. Er bedeutet: »Was haben wir gemeinsam?« Die Antwort lautet: »Nichts.« David benutzt ihn zweimal in Bezug auf seine Vettern, die Söhne der Zeruja. Wie unmöglich war es für sie, im geistlichen Leben etwas mit ihm gemeinsam zu haben! Elisa benutzt den Ausdruck in 2. Könige 2 um auszudrücken, welch eine tiefe Kluft zwischen ihm und Joram, dem Sohn Ahabs, bestand. Dreimal zeigen die Dämonen, indem sie denselben Ausdruck verwenden, dass Satan nichts mit Christus gemein oder Christus nichts mit Satan gemein hat. Und schließlich verwandte der Herr den Ausdruck gegenüber … Maria, um zu zeigen, wie unüberbrückbar die Kluft zwischen seiner sündlosen Gottheit und ihrer sündigen Menschlichkeit ist, und dass er nur einer Stimme gehorchen konnte.5
2,5 Maria verstand die Bedeutung dieser Worte. Deshalb wies sie die Diener an, »was er euch sagen mag«, auch zu tun. Ihre Worte sind für jeden von uns wichtig. Man beachte, dass sie die Menschen nicht anwies, ihr oder sonst einem Menschen zu gehorchen. Sie verwies sie an den Herrn Jesus und sagte ihnen, dass er derjenige ist, dem man gehorchen sollte. Die Lehren des Herrn Jesus finden wir im NT. Wenn wir dieses wertvolle Buch lesen, dann sollten wir die letzten uns überlieferten Worte Marias im Gedächtnis halten: »Was er euch sagen mag, tut.«
2,6 Es gab in dem Haus, in dem die Hochzeit gefeiert wurde, sechs große »steinerne Wasserkrüge, … wovon jeder zwei oder drei Maß fasste«. Dieses Wasser wurde normalerweise von den Juden benutzt, um sich von zeremonieller Verunreinigung zu befreien. Wenn etwa ein Jude einen Toten berührt hatte, war er »unrein«, bis er sich einer bestimmten Reinigungszeremonie unterzogen hatte.
2,7 Jesus gab nun die Anweisung, »die Wasserkrüge mit Wasser« zu füllen. Das taten die Diener sofort. Der Herr benutzte immer die Möglichkeiten, die er vorfand, um ein Wunder zu tun. Die hier Beteiligten durften ihm Wasserkrüge zur Verfügung stellen und sie mit Wasser füllen, aber dann tat er, was kein Mensch je hätte tun können – er verwandelte Wasser in Wein! Es waren die Diener und nicht die Jünger, die die Krüge mit Wasser füllten. Auf diese Weise verhinderte der Herr, dass man ihm Betrug vorwerfen konnte. Auch wurden die Krüge »bis oben an« gefüllt, sodass niemand behaupten konnte, Wein wäre zu dem Wasser geschüttet worden.
2,8 Das Wunder hatte nun stattgefunden. Der Herr wies die Diener an, aus den Krügen zu schöpfen und »es dem Speisemeister« zu bringen. Daran wird deutlich, dass das Wunder sofort geschah. Das Wasser verwandelte sich nicht über einen längeren Zeitraum in Wein, sondern in Sekundenschnelle. Jemand hat es poetisch folgendermaßen ausgedrückt: »Das seelenlose Wasser wurde vor seinem Schöpfer zu edelstem Wein.«
2,9 Der Speisemeister war für die Tischordnung und für die Speisen verantwortlich. Als er »das Wasser gek ostet hatte«, merkte er, dass etwas Ungewöhnliches damit geschehen war. »Er wusste nicht, woher der Wein war«, aber er wusste, dass er von sehr guter Qualität war, sodass er sofort den Bräutigam rief. Wie sollten Christen heute zum Weintrinken stehen? Manchmal wird Wein (bzw. anderer Alkohol) aus medizinischen Gründen verschrieben, und das deckt sich einwandfrei mit der Lehre des NT (1. Tim 5,23). Dennoch sollten die Christen bei Tisch in jeder Situation und jeder Kultur weise mit dem Thema »Alkohol« umgehen sowie vor allem nach der Verherrlichung des Herrn und nicht nach eigennütziger Erfüllung ihrer Wünsche streben. Ohne die guten Gaben Gottes zu verwerfen, sollte der Gläubige daran denken, dass die Heilige Schrift vor Trunkenheit (Röm 13,13; Gal 5,21; Eph  5,18;  1. Petr  4,3)  und  davor  warnt, in der allgemeinen Lebensführung maßlos zu sein (1. Kor 6,12). Schließlich sollten die Heiligen jedes Verhalten vermeiden, das jemand anders straucheln lässt (Röm 14,21).
2,10 Der Speisemeister lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass der Herr Jesus ganz anders handelt, als Menschen es gewöhnlich tun. Normalerweise war es bei einer Hochzeit üblich, den besten Wein dann zu servieren, wenn die Leute noch am besten sein Aroma wahrnehmen und genießen konnten. Nachdem sie viel gegessen und getrunken hatten, würden sie auf die Qualität des Weins nicht mehr so achtgeben. Aber auf dieser Hochzeit wurde der beste Wein zum Schluss gereicht. Das hat für uns eine geistliche Bedeut ung. Die Welt bietet uns nor malerweise das Beste zuerst an. Junge Leute werden durch ihre besten Angebote verlockt. Wenn sie dann ihr Leben bei leeren Vergnügungen verschwendet haben, hat die Welt im Alter nichts anderes mehr als den bitteren Bodensatz zu bieten. Das christliche Leben verläuft genau um gekehrt. Es wird immer besser. Christus hebt uns den besten Wein bis zum Schluss auf; auf das Fasten folgt ein Fest.
Dieser Schriftabschnitt kann sehr direkt auf das Volk Israel angewendet werden. Zu dieser Zeit gab es im Judentum keine wahre Freude. Die Angehörigen des Volkes unterzogen sich einer ermüdenden Reihe von Riten und Zeremonien, aber ihr Leben war geschmacklos. Sie kannten die göttliche Freude nicht. Der Herr Jesus wollte sie lehren, an ihn zu glauben. Er wollte ihr tristes Leben zur Fülle der Freude führen. Das Wasser der jüdischen Riten und Zeremonien konnte in den Wein der Freude als Realität in Christus verwandelt werden.
2,11 Die Aussage, dass dies der »Anfang der Zeichen« Jesu war, schließt die unsinnigen sogenannten »Wunder« aus, die unserem Herrn in seiner Kindheit zugeschrieben wurden. Diese findet man in apokryphen Evangelien, etwa im Petrusevangelium. Sie schreiben unserem Herrn Wunder zu, die er angeblich in seiner Kindheit vollbracht haben soll und die hart an die Grenze der Gotteslästerung reichen. Der Heilige Geist sah das voraus und bewahrte die Zeit der Kindheit und auch seinen Charakter durch diese kleine Anmerkung vor der Ausschmückung durch Legenden. Wasser in Wein zu verwandeln, war ein »Zeichen«, d. h. ein Wunder mit einer Bedeutung. Es war eine überm enschliche Tat mit einer geistlichen Lehre. Diese Wunder sollten zeigen, dass Jesus wirklich der Christus Gottes war. Indem er dieses Wunder tat, »offenbarte er seine Herrlichkeit«. Er offenbarte den Menschen, dass er wirklich Gott war – im Fleisch gekommen. »Seine Jünger glaubten an ihn.« Natürlich glaubten sie in gewissem Sinne schon vorher an ihn, aber nun wurde ihr Glaube gestärkt, und sie vertrauten ihm vollkommener. Cynddylan Jones erwähnt: Moses erstes Wunder war es, Wasser in Blut zu verwandeln – ein Wunder mit vielen zerstörerischen Folgen. Aber das erste Wunder Christi bestand darin, Wasser in Wein zu verwandeln, was eher einen lindernden, tröstenden Effekt hatte.6
E. Der Sohn Gottes reinigt das Haus seines Vaters (2,12-17)
2,12 Jesus verließ nun Kana und »ging … hinab nach Kapernaum«, zusammen mit seiner Mutter, seinen Brüdern und seinen Jüngern. Sie blieben nur wenige Tage in Kapernaum. Schon bald ging der Herr hinauf nach Jerusalem.
2,13 Hier an diesem Punkt haben wir das erste Zeugnis unseres Herrn in Jerusalem. Diese Phase seines Dienstes erstreckt sich bis Kapitel 3,21. Er begann und beendete sein öffentliches Wirken mit einer Tempelreinigung zur Zeit des Passah (vgl. Matth 21,12.13; Mk 11,15-18; Lk 19,45.46). Das Passah war ein jährliches Fest zur Erinnerung an die Zeit, als die Söhne Israel aus der Sklaverei in Ägypten gerettet und durch das Rote Meer zunächst in die Wüste und dann ins Gelobte Land geführt wurden. Die erste Passahfeier wird in 2. Mose 12 erwähnt. Da Jesus ein treuer Jude war, ging er an diesem bedeutsamen Tag im jüdischen Kalender »hinauf nach Jerusalem.«
2,14 Als er zum Tempel kam, fand er, dass dieser zum Marktplatz geworden war. Ochsen, Schafe und Tauben wurden verkauft, und auch die Geldwechsler gingen ihren Geschäften nach. Die Tiere wurden den Gläubigen als Opfertiere verkauft. Die Wechsler nahmen das Geld derer, die aus fernen Ländern kamen und tauschten es in Jerusalemer Geld um, sodass die Pilger die Tempelsteuer zahlen konnten. Es ist bekannt, dass diese Wechsler die so weit Angereisten oft schamlos ausnützten.
2,15 Die »Geißel«, die der Herr machte, war wahrscheinlich eine kleine Peitsche »aus Stricken«. Es wird nicht gesagt, dass er wirklich jemanden damit schlug. Es ist wahrscheinlicher, dass sie nur ein Symbol seiner Autorität war, das er in der Hand hielt. Er schwenkte sie wahrscheinlich vor sich und trieb die Händler so »zum Tempel hinaus«, und die Tische der Geldwechsler »warf er um«.
2,16 Das Gesetz erlaubte es den Armen, ein Paar Tauben zu opfern, weil sie sich die teureren Tiere nicht leisten konnten. »Den Taubenverkäufern« befahl er: »Nehmt dies weg von hier.« Es gehörte sich nicht, das Haus seines Vaters »zu einem Kaufhaus« zu machen. Zu allen Zeiten hat Gott sein Volk davor gewarnt, den Opferdienst dafür zu missbrauchen, sich zu bereichern. Es gab nichts Grausames oder Unrechtes an all diesen Taten Jesu. Sie waren nur Ausdruck seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit.
2,17 Als seine Jünger sahen was geschah, erinnerten sie sich an Psalm 69,10. Dort wurde vorausgesagt, dass der Messias bei seinem Kommen regelrecht vom Eifer für Gott »verzehrt« werden würde. Nun sahen sie, wie Jesus darauf bestand, dass der Gottesdienst rein erhalten wurde, und sie erkannten, dass er es war, von dem der Psalmist redete. Wir sollten uns daran erinnern, dass der Leib des Christen der Tempel des Heiligen Geistes ist. Ebenso wie der Herr Jesus darauf bedacht war, dass der Tempel in Jerusalem rein gehalten wurde, so müssen auch wir dafür sorgen, dass unsere Leiber dem Herrn zur ständigen Reinigung hingegeben werden. F. Jesus sagt seinen Tod und seine Auferstehung voraus (2,18-22)
2,18 Es scheint, dass die Angehörigen des jüdischen Volkes immer nach Zeichen und Wundern Ausschau hielten. Sie sagten im Grunde: »Wenn du für uns ein großes übermächtiges Werk tust, dann werden wir glauben.« Doch der Herr Jesus wirkte ein Wunder nach dem anderen und trotzdem verschlossen sie ihre Herzen vor ihm. In Vers 18 stellten sie seine Autorität infrage, mit der er die Geschäftsleute aus dem Tempel ausgetrieben hatte. Sie verlangten, dass er ein Zeichen tun sollte, um seinen Anspruch zu untermauern, der Messias zu sein.
2,19 Als Antwort machte der Herr Jesus eine erstaunliche Aussage über seinen Tod und seine Auferstehung. Er sagte ihnen, dass sie seinen Tempel zerstören würden, doch er würde ihn in drei Tagen wiederaufrichten. Wieder sehen wir in diesem Vers die Gottheit Christi. Nur Gott konnte sagen: »In drei Tagen werde ich ihn aufrichten.«
2,20 Die Juden verstanden ihn jedoch nicht. Sie waren an materiellen Gütern mehr interessiert als an geistlichen. Der einzige Tempel, den sie sich vorstellen konnten, war der Tempel des Herodes, der zu dieser Zeit in Jerusalem stand. Es hatte »sechsundvierzig Jahre« gedauert, um diesen Tempel zu bauen, und sie sahen keine Möglichkeit, wie jemand ihn in drei Tagen wiederaufbauen könnte.
2,21 Der Herr Jesus sprach jedoch von »seinem Leib«, welcher der Tempel war, in dem die Fülle der Gottheit wohnte. So wie die Juden den Tempel in Jerusalem entweihten, so würden sie auch ihn in wenigen Jahren töten.
2,22 Später, nachdem der Herr Jesus gekreuzigt und »aus den Toten auferweckt war, gedachten seine Jünger daran, dass er« vorausgesagt hatte, er würde nach drei Tagen wiederauferstehen. Mit dieser wunderbaren Erfüllung der Prophetie vor Augen glaubten sie »der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte«.
Oft begegnen uns schwer verständliche Wahrheiten. Aber wir lernen hieraus, dass wir das Wort Gottes in unseren Herzen bewahren sollten. Der Herr wird es uns später erklären, auch wenn wir es jetzt noch nicht verstehen. Wenn es heißt, dass sie »der Schrift glaubten«, dann bedeutet das, dass sie den alttestamentlichen Verheißungen über die Auferstehung des Messias glaubten. G. Viele behaupten, an Christus zu glauben (2,23-25)
2,23 Als Folge der Zeichen, die Jesus in Jerusalem tat, »glaubten viele an seinen Namen«. Dies heißt nicht unbedingt, dass sie ihm wirklich im einfachen Vertrauen ihr Leben hingaben, sondern vielmehr, dass sie behaupteten, ihn anzunehmen. Doch sie setzten dies nicht in die Wirklichkeit um; sie gaben nur nach außen hin vor, dass sie Jesus folgten. Es war den Zuständen ähnlich, die wir heute in der Welt haben, in der viele Menschen behaupten, Christen zu sein, die niemals wirklich durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus wiedergeboren worden sind.
2,24 Obwohl viele an ihn glaubten, glaubte Jesus doch nicht an sie (im griechischen Text steht hier das gleiche Wort). Das heißt, er »vertraute sich ihnen nicht an«. Er wusste, dass sie aus Neugier zu ihm gekommen waren. Sie suchten nach etwas Neuem, nach Spektakulärem. »Er kannte alle« – ihre Gedanken und Motive. Er wusste, warum sie sich so verhielten. Er wusste, ob ihr Glaube echt oder nur vorgetäuscht war.
2,25 Niemand kannte die Menschen besser als der Herr. Er »hatte nicht nötig, dass jemand … von den Menschen« ihn etwas lehre. Er wusste genau, was »in dem Menschen war« und warum er sich auf eine bestimmte Weise verhielt. H. Jesus lehrt Nikodemus über die Wiedergeburt (3,1-21)
3,1 Die Geschichte von Nikodemus steht im starken Kontrast zum eben Berichteten. Viele Juden in Jerusalem behaupteten, an den Herrn zu glauben, doch der Herr wusste, dass ihr Glaube nicht echt war. Nikodemus war eine Ausnahme. Der Herr wusste, dass er ein ernstes Verlangen nach der Erkenntnis der Wahrheit hatte. Vers 1 beginnt deshalb mit einem verbindenden »Aber«7: »Es war aber ein Mensch aus den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden.« Nikodemus war ein in seinem Volk anerkannter Lehrer. Vielleicht kam er zum Herrn, um Unterweisung zu empfangen, damit er mit dieser zusätzlichen Information zu den Juden zurückkehren konnte.
3,2 Die Bibel sagt uns nicht, warum Nikodemus »bei Nacht« zu Jesus kam. Die einfachste Erklärung ist, dass er sich geschämt hätte, wenn er dabei gesehen worden wäre, zu Jesus zu gehen, weil der Herr bisher keinesfalls von der Mehrheit der Juden anerkannt wurde. Und dennoch kam er zu Jesus. Nikodemus erkannte an, dass Jesus ein »Lehrer« war, »von Gott gekommen«, weil niemand solche Wunder tun konnte, ohne dass er dabei Hilfe von Gott hatte. Trotz seiner großen Gelehrtheit erkannte Nikodemus nicht, dass mit Jesus Gott im Fleisch gekommen war. Er war wie so viele Menschen heute, die sagen, dass Jesus ein großartiger Mensch war, ein wunderbarer Lehrer und ein großes Vorbild. Aber alle diese Aussagen über ihn kommen nicht annähernd an die Wahrheit heran. Jesus war und ist Gott.
3,3 Oberflächlich betrachtet scheint Jesu Antwort nichts mit dem zu tun zu haben, was Nikodemus soeben gesagt hat. Doch der Herr sagt: »Nikodemus, du bist zu mir gekommen, um noch gelehrter zu werden, aber was du wirklich brauchst, ist eine Wiedergeburt. Dort musst du beginnen. Du musst ›von Neuem geboren‹ werden. Anderenfalls wirst du nie in das Reich Gottes kommen.«
Der Herr beginnt diese wunderbaren Worte mit dem Ausdruck »Wahrlich, wahrlich« (wörtl. Amen, Amen). Diese Worte bestätigen uns die Tatsache, dass er hier eine wichtige Wahrheit ausspricht. Als Jude hatte Nikodemus auf einen Messias gewartet, der kommen und Israel von der Herrschaft Roms befreien sollte. Das Römische Reich beherrschte zu dieser Zeit die ganze Welt, und die Juden waren seinen Gesetzen und seiner Obrigkeit unterstellt. Nikodemus sehnte sich nach der Zeit, zu der der Messias sein Reich auf Erden errichten und das jüdische Volk die Völkergemeinschaft anführen würde und alle Feinde Israels besiegt sein würden. Nun sagte der Herr Jesus dem Nikodemus, dass der Mensch »von Neuem geboren« werden muss, wenn er in dieses Reich kommen will. Ebenso wie die leibliche Geburt als Beginn des irdischen Lebens notwendig ist, so ist für das Leben aus Gott eine zweite Geburt vonnöten. (Der Ausdruck »von Neuem geboren« kann auch mit »von oben geboren« übersetzt werden.) Mit anderen Worten, das Reich Christi kann nur von denen erreicht werden, deren Leben verändert worden ist. Weil seine Herrschaft gerecht ist, müssen auch seine Untertanen gerecht sein. Er kann nicht über Menschen herrschen, die weiter in ihren Sünden leben.
3,4 Hier sehen wir wieder, wie schwer es für Menschen war, die Worte des Herrn Jesus zu verstehen. Nikodemus bestand darauf, alles wörtlich zu verstehen. Er konnte nicht verstehen, wie ein Erwachsener noch einmal geboren werden konnte. Er machte sich Gedanken über die physische Unmöglichkeit, dass ein Mensch »zum zweiten Mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden« kann. Nikodemus ist ein Beispiel für die Aussage: »Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird« (1. Kor 2,14).
3,5 Zur weiteren Erklärung sagte Jesus, dass Nikodemus aus »Wasser und Geist geboren« werden müsse. Anderenfalls würde er nie ins Reich Gottes kommen.
Was meinte Jesus damit? Viele bestehen darauf, dass hier Wasser im wörtlichen Sinne gemeint ist und der Herr Jesus von der Notwendigkeit der Taufe für die Errettung sprach. Doch eine solche Lehre steht im Gegensatz zum Rest der Bibel. In der gesamten Bibel lesen wir, dass die Erlösung nur aus dem Glauben an den Herrn Jesus Christus geschieht. Die Taufe ist für solche Menschen bestimmt, die bereits errettet sind, aber sie ist kein Mittel zur Errettung. Einige Ausleger schlagen vor, dass sich »Wasser« in diesem Vers auf das Wort Gottes bezieht. In Epheser 5,25 wird Wasser in enge Verbindung zum Wort Gottes gebracht.  Auch  wird  in  1. Petrus  1,23  und Jakobus 1,18 ausgesagt, dass die Wiedergeburt durch das Wort Gottes geschieht. Es ist deshalb gut möglich, dass das Wort »Wasser« sich in unserem Vers auf die Bibel bezieht. Wir wissen, dass es ohne die Schrift keine Errettung gibt. Es ist die Botschaft der Schrift, die vom Sünder angenommen werden muss, ehe er wiedergeboren werden kann.
Doch kann »Wasser« hier auch für den Heiligen Geist stehen. In Johannes 7,38.39 spricht Jesus von »Strömen lebendigen Wassers«. Uns wird anschließend ausdrücklich gesagt, dass Jesus vom Heiligen Geist sprach, als er das Wort »Wasser« verwendete. Wenn »Wasser« in Kapitel 7 für den Heiligen Geist steht, warum sollte es dann nicht in Kapitel 3 dasselbe bedeuten?
Dennoch scheint es eine Schwierigkeit zu geben, wenn man diese Auslegung annimmt. Jesus sagt: »Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen.« Wenn man annimmt, dass Wasser hier Geist bedeutet, so würde der Geist in diesem Vers zweimal erwähnt werden. Aber das Wort und kann auch mit »ebendiesem« übersetzt werden. Dann würde der Vers lauten: »Wenn jemand nicht aus Wasser, aus ebendiesem Geist, geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen.« Wir glauben, dass dies die eigentliche Bedeutung des Verses ist. Die leibliche Geburt reicht nicht aus.8 Eine geistliche Geburt ist notwendig, um in das Reich der Himmel zu gelangen. Diese geistliche Geburt wird durch den Heiligen Geist bewirkt, wenn man an den Herrn Jesus Christus glaubt. Diese Auslegung wird von der Tatsache gestützt, dass der Ausdruck »aus Geist geboren« in den folgenden Versen zweimal zu finden ist (V. 6.8).
3,6 Auch wenn es Nikodemus auf irgendeine Art gelungen wäre, in den Leib seiner Mutter zurückzukehren und zum zweiten Mal geboren zu werden, hätte das seine Sündennatur nicht verändert. Der Ausdruck »was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch«, bedeutet, dass Kinder, die von menschlichen Eltern geboren werden, in Sünde geboren sind, und hoffnungs- und hilflos sind, wenn es darum geht, sich selbst zu erretten. Andererseits gilt: »Was aus dem Geist geboren ist, ist Geist.« Wenn jemand dem Herrn Jesus sein Vertrauen schenkt, dann findet eine geistliche Geburt statt. Wer durch den Geist wiedergeboren wird, empfängt eine neue Natur, die es möglich macht, ins Reich Gottes zu kommen.
3,7 Nikodemus sollte sich nicht über die Lehren des Herrn Jesus wundern. Er musste erkennen, dass man wiedergeboren werden muss. Er musste verstehen, dass die menschliche Natur völlig unfähig ist, sich selbst aus ihrem gefallenen Zustand zu erlösen. Er musste erkennen, dass man heilig, rein und geistlich gesinnt sein muss, um ein Bürger des Reiches Gottes zu sein.
3,8 Wie der Herr Jesus es oft tat, benutzte er nun ein Beispiel aus der Natur, um eine geistliche Wahrheit zu verdeutlichen. Er erinnerte Nikodemus daran, dass »der Wind weht, wo er will«, und dass man »sein Sausen« hören kann, ohne zu wissen, »woher er kommt und wohin er geht«. Die Wiedergeburt hat viel mit dem Wind gemein. Als Erstes findet sie nach dem Willen Gottes statt. Der Mensch hat keine Gewalt über sie. Zweitens ist die Wiedergeburt unsichtbar. Man kann nicht sehen, wann sie stattfindet, aber man kann ihre Auswirkungen im Leben des Wiedergeborenen erkennen. Wenn jemand errettet ist, dann verändert er sich. Das Böse, das er einstmals geliebt hat, hasst er nun. Das Göttliche, das er früher verachtete, liebt er nun. So wie man den Wind nicht völlig verstehen kann, ist die Wiedergeburt ein wunderbares Werk des Geistes Gottes, das der Mensch nicht völlig fassen kann. Außerdem ist die Wiedergeburt wie der Wind nicht vorhersagbar. Es ist unmöglich zu sagen, wann und wo eine Wiedergeburt stattfinden wird.
3,9 Und wieder beweist uns Nikodemus die Unfähigkeit des menschlichen Geistes, göttliche Angelegenheiten zu begreifen. Zweifellos dachte er noch immer an die Wiedergeburt als einen natürlichen oder leiblichen Vorgang, statt sich über einen geistlichen Vorgang Gedanken zu machen. Deshalb fragte er den Herrn Jesus: »Wie kann dies geschehen?«
3,10 »Jesus antwortete«, dass Nikodemus das als »Lehrer Israels« wissen müsste. Die Schriften des AT lehrten deutlich, dass der Messias, wenn er zur Aufrichtung seines Reiches auf die Erde zurückkehren würde, zuerst seine Feinde richten und alles zerstören würde, was ihm entgegensteht. Nur diejenigen, die ihre Sünden bekannt und ihnen entsagt haben, würden in das Reich gelangen.
3,11 Der Herr Jesus unterstrich dann nochmals die Unfehlbarkeit seiner Lehre. Auch betonte er, dass die Menschen ihm trotz dieser Unfehlbarkeit nicht glauben würden. Seit aller Ewigkeit kannte er die Wahrheit dieser Aussagen und hatte nur gelehrt, was er wusste und gesehen hatte. Aber Nikodemus verhielt sich kaum besser als die meisten Juden seiner Tage, die sich weigerten, Jesu Zeugnis zu glauben.
3,12 Worum handelt es sich bei dem »Irdischen« von dem der Herr in diesem Vers spricht? Er spricht von seinem irdischen Reich. Als eifriger Leser des AT wusste Nikodemus, dass eines Tages der Messias kommen würde und ein tatsächliches Reich auf der Erde errichten würde, dessen Hauptstadt Jerusalem sein würde. Nikodemus verstand jedoch nicht, dass man, um in dieses Reich zu gelangen, wiedergeboren werden muss. Worauf bezog Jesus sich, als er von dem »Himmlischen« sprach? Das sind die Wahrheiten, die er in den folgenden Versen ausspricht – die wundervollen Vorgänge bei der Wiedergeburt eines Menschen.
3,13 Es gab nur einen einzigen Menschen, der berechtigt war, vom »Himmlischen« zu reden, nämlich Jesus, der als Einziger im Himmel gewesen war. Der Herr Jesus war nicht nur einfach ein menschlicher Lehrer, den Gott gesandt hatte, sondern er hatte seit aller Ewigkeit bei Gott gelebt und war in diese Welt »hera bgestiegen.« Als er sagte: »Niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel«, leugnete er keineswegs, dass solche Heiligen des AT wie Henoch oder Elia in den Himmel gekommen waren. Vielmehr meinte er, dass sie hinaufgenommen wurden, während er durch seine eigene Macht »in den Himmel hinaufgestiegen« ist. Eine andere Erklärung wäre, dass kein anderer Mensch einen derartigen Zugang zur Gegenwart Gottes hat wie Jesus. Er konnte auf einzigartige Weise zu dem Ort hinaufsteigen, an dem Gott wohnt, weil er aus dem Himmel auf diese Erde hinabgestiegen war. Sogar als der Herr Jesus auf der Erde war und mit Nikodemus sprach, sagte er, dass er im Himmel sei (s. Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel). Wie ist das möglich? Hier haben wir die Aussage, dass unser Herr, da er Gott ist, allgegenwärtig ist. Er ist zu jeder Zeit an allen Orten anwesend. Viele Übersetzungen lassen diese Worte aus, doch werden sie von vielen Handschriften bezeugt und gehören zum Text.
3,14 Der Herr Jesus wollte Nikodemus nun einige himmlische Wahrheiten enthüllen. Wie kann die Wiedergeburt geschehen? Zuerst muss die Strafe für die Sünden der Menschen bezahlt werden. Die Menschen können nicht in ihren Sünden in den Himmel kommen. So wie »Mose in der Wüste die Schlange« aus Bronze an einem Pfahl aufrichtete, als die Kinder Israel von Schlangen gebissen wurden, »so muss der Sohn des Menschen erhöht werden« (vgl. dazu 4. Mose  21,4-9).  Als  die  Kinder  Israel durch die Wüste ins Gelobte Land wanderten, wurden sie entmutigt und ungeduldig. Sie murrten gegen den Herrn. Um sie zu bestrafen, sandte der Herr feurige Schlangen unter sie, und viele starben. Nachdem die Überlebenden den Herrn als Bußfertige angerufen hatten, befahl der Herr Mose, eine Schlange aus Bronze zu machen und sie an einem Pfahl aufzurichten. Die gebissenen Israeliten, die auf diese Schlange schauten, wurden auf wunderbare Weise geheilt. Jesus zitiert diesen Vorfall aus dem AT, um zu zeigen, wie die Wiedergeburt vonstattengeht. Die Menschen sind von der Schlange der Sünde gebissen und zum ewigen Tod verdammt. Die eherne Schlange war ein Vorbild auf den Herrn Jesus. Bronze spricht in der Bibel vom Gericht. Der Herr Jesus war ohne Sünde und hätte niemals bestraft werden müssen, aber er nahm unseren Platz ein und trug das Gericht, das wir verdienten. Der Pfahl spricht vom Kreuz von Golgatha, an dem der Herr Jesus erhöht wurde. Wir werden gerettet, wenn wir zu ihm im Glauben aufschauen.
3,15 Der Heiland wurde für uns zur Sünde gemacht – er, der keine Sünde kannte, damit wir zur Gerechtigkeit vor Gott würden. Jeder, der an den Herrn Jesus Christus glaubt, hat »ewiges Leben«.
3,16 Dies ist einer der bekanntesten Verse der ganzen Bibel, zweifellos deshalb, weil er das Evangelium so klar und deutlich ausspricht. Er fasst zusammen, was der Herr Jesus soeben über die Wiedergeburt gelehrt hat. Wir lesen: »So hat Gott die Welt geliebt.« Das Wort »Welt« beinhaltet hier die gesamte Menschheit. Gott liebt nicht die Sünden der Menschen oder die böse Weltordnung, sondern die Menschen. Er möchte nicht, dass auch nur ein Einziger verlorengeht. Das Ausmaß seiner Liebe zeigt sich darin, »dass er seinen eingeborenen Sohn gab«. Gott hat keinen anderen Sohn als den Herrn Jesus. Es war Ausdruck seiner unendlichen Liebe, dass er willig war, seinen einzigen Sohn für ein rebellisches Geschlecht von Sündern zu opfern. Das heißt jedoch nicht, dass jeder gerettet ist. Ein Mensch muss annehmen, was Gott für ihn getan hat, ehe Gott ihm das ewige Leben gibt. Deshalb sind hier die Worte angefügt: »… damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe.« Niemand muss verlorengehen. Es ist ein Weg gefunden, der zur Erlösung führt, auf dem alle gerettet werden, wenn sie nur den Herrn Jesus Christus als persönlichen Heiland anerkennen. Wer das tut, hat das ewige Leben als sofortiges Eigentum. Boreham sagt dazu:
Wenn die Gemeinde versteht, mit welcher Liebe Gott die Welt geliebt hat, dann wird sie so lange rastlos sein und nicht ruhen können, bis alle großen Reiche erobert worden sind, bis jede kleine Koralleninsel gewonnen worden ist.9
3,17 Gott ist kein harter, grausamer Herrscher, der nur darauf wartet, seinen Zorn über die Menschheit auszugießen. Sein Herz ist von liebevoller Zuneigung zur Menschheit erfüllt, und er hat das Äußerste gegeben, um die Menschheit zu erretten. Er hätte »seinen Sohn in die Welt« senden können, damit »er die Welt richte«, aber das tat er nicht. Im Gegenteil, er sandte ihn auf diese Erde. Dort sollte sein Sohn leiden, sein Blut vergießen und sterben, damit »die Welt durch ihn errettet werde«. Das Werk des Herrn Jesus am Kreuz war von solch großem Wert, dass alle Sünder überall auf der Welt gerettet werden könnten, wenn sie ihn nur annähmen.
3,18 Nun ist die Menschheit in zwei Gruppen eingeteilt: in Gläubige und Ungläubige. Unser Schicksal wird durch die Haltung bestimmt, die wir dem Sohn Gottes gegenüber einnehmen. Wer dem Heiland vertraut, »wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet«. Der Herr Jesus hat das Werk der Errettung vollendet, und nun kommt es auf jeden Einzelnen an, sich zu entscheiden, ob er ihn annehmen oder ablehnen will. Wenn ein Mensch nicht an den Herrn Jesus glauben will, dann kann Gott nichts anderes tun, als ihn zu verurteilen. An seinen Namen zu glauben, bedeutet, an ihn zu glauben. In der Bibel steht der Name für die Person. Wenn du an seinen Namen glaubst, dann vertraust du ihm selbst.
3,19 Jesus ist das »Licht«, das »in die Welt gekommen ist«. Er war das sündlose, makellose Lamm Gottes. Er starb für die Sünden der ganzen Welt. Aber lieben ihn die Menschen dafür? Nein, sie verachten ihn. Sie ziehen es vor, in ihren Sünden zu leben, statt Jesus als Retter anzunehmen, deshalb lehnen sie ihn ab. So wie einige Kleintiere vor dem Licht flüchten, so flüchten böse Menschen vor der Gegenwart Christi.
3,20 Diejenigen, die die Sünde lieben, hassen das Licht, weil das Licht ihre Sündhaftigkeit herausstellt. Als Jesus auf dieser Welt war, wurde es sündigen Menschen in seiner Gegenwart ungemütlich, weil er ihren schlimmen Zustand durch seine eigene Heiligkeit enthüllte. Wenn man zeigen will, wie krumm ein Knüppel ist, so braucht man nur einen geraden Stab danebenhalten. Als der Herr Jesus als vollkommener Mensch in diese Welt kam, zeigte er, wie »krumm« alle an deren Menschen im Vergleich zu ihm sind.
3,21 Wenn ein Mensch vor Gott wirklich ehrlich ist, dann kommt er »zu dem Licht«, das heißt, zum Herrn Jesus, und erkennt, dass er selbst absolut unwürdig und sündig ist. Dann vertraut er sich dem Heiland an, und wird so durch den Glauben an Christus gerettet. I. Der Dienst von Johannes dem Täufer in Judäa (3,22-36)
3,22 Der erste Teil dieses Kapitels beschreibt das Zeugnis des Herrn Jesus in der Stadt Jerusalem. Von diesem Vers an beschreibt Johannes den Dienst Christi in Judäa, wo er zweifellos weiterhin die gute Nachricht von der Errettung verkündete. Als die Menschen zum Licht kamen, wurden sie getauft. Aus diesem Vers scheint hervorzugehen, dass Jesus selbst getauft hat, aber in Kapitel 4,2 lesen wir, dass seine Jünger tauften.
3,23 Der Johannes, der hier im Vers erwähnt wird, ist Johannes der Täufer. Er predigte in der Region Judäa noch immer seine Bußbotschaft und taufte die Juden, die als Vorbereitung auf den kommenden Messias Buße tun wollten. »Auch Johannes taufte zu Änon, … weil dort viel Wasser war.« Das beweist nicht zwingend, dass er durch Untertauchen taufte, legt es allerdings nahe. Wenn er durch Besprengen oder Übergießen getauft hätte, dann wäre es nicht nötig gewesen, dort »viel Wasser« zu haben.
3,24 Dieser Vers erklärt den weiteren Dienst des Johannes und die weitere Reaktion frommer Juden auf ihn. Schon in naher Zukunft würde Johannes »ins Gefängnis geworfen« und für sein standhaftes Zeugnis enthauptet werden. Aber in der Zwischenzeit führte er noch immer eifrig seine Aufgabe aus.
3,25 Aus diesem Vers geht hervor, dass einige »der Jünger des Johannes« ein Streitgespräch »mit einem Juden über die Reinigung« führten. Was heißt das? Das Wort »Reinigung« bezieht sich hier wahrscheinlich auf die Taufe. Es ging darum, ob die Taufe des Johannes besser war als die Taufe Jesu. Welche Taufe hatte die größere Kraft? Welche hatte größeren Wert? Vielleicht behaupteten einige Johannesjünger in ihrer Torheit, dass keine Taufe besser sein könne als diejenige ihres Meisters. Vielleicht wollten die Pharisäer die Johannesjünger auf Jesus und seine offensichtliche Popularität eifersüchtig machen.
3,26 »Sie kamen zu Johannes«, um ihn darüber entscheiden zu lassen. Sie scheinen zu ihm gesagt zu haben: »Wenn deine Taufe besser ist, warum verlassen dich dann so viele Menschen und gehen zu Jesus?« (Der Ausdruck »der jenseits des Jordan bei dir war« bezieht sich auf Christus.) Johannes gab vom Herrn Jesus Zeugnis, und das Ergebnis davon war, dass viele seiner eigenen Jünger ihn verließen und Jesus nachfolgten.
3,27 Wenn sich die Antwort des Johannes auf den Herrn Jesus bezog, dann bedeutet sie, dass jeder Erfolg Jesu zeigte, dass er mit Gottes Einverständnis handelte. Wenn Johannes hier von sich selbst spricht, betont er, dass er nie behauptet hat, von Bedeutung zu sein. Er hatte niemals behauptet, dass seine Taufe größer als die Taufe Jesu war. Er sagte hier einfach, dass er nichts hatte, was er nicht vom Himmel erhalten hat. Das gilt für uns alle, und es gibt nichts an uns, worauf wir stolz sein sollten oder unseren Ruf bei anderen Menschen aufbauen könnten.
3,28 Johannes erinnerte seine Jünger daran, dass er immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass er selbst nicht der Christus, sondern »vor ihm hergesandt« sei, um dem Messias den Weg zu bereiten. Warum sollten sie über ihn streiten? Warum sollten sie eine Sekte um ihn bilden? Er war nicht wichtig, sondern wollte nur Menschen auf Jesus hinweisen.
3,29 Der Herr Jesus Christus war »der Bräutigam«. Johannes der Täufer war nur »der Freund des Bräutigams«, der Trauzeuge. Die Braut gehört nicht dem Freund des Bräutigams, sondern dem Bräutigam selbst. Deshalb war es angebracht, dass die Menschen eher Jesus folgten als Johannes. »Die Braut« meint hier in einem allgemeinen Sinne alle, die Jünger des Herrn Jesus werden würden. Im AT wurde von Israel als der Ehefrau des Herrn geredet. Später, im NT, werden diejenigen, die Glieder der Gemeinde Christi sind, mit dem Bild der Braut beschrieben. Aber hier im Evangelium des Johannes wird das Wort allgemein gebraucht und umfasst diejenigen, die Johannes verließen, als der Messias kam. Es geht hier weder um Israel noch um die Gemeinde. Johannes war nicht unglücklich über die Tatsache, dass er Anhänger verlor. Es war seine größte Freude, »die Stimme des Bräutigams« zu hören. Er war zufrieden, wenn Jesus nur alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Seine Freude war »erfüllt«, als die Menschen Christus priesen und ihn ehrten.
3,30 Das ganze Ziel des Dienstes des Johannes wird in diesem Vers zusammengefasst. Er arbeitete unablässig, um Männer und Frauen auf den Herrn hinzuweisen und ihnen zu helfen, seinen wirklichen Wert zu erkennen. Dabei erkannte Johannes, dass er sich selbst im Hintergrund halten musste. Wenn ein Diener Christi versucht, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, dann ist er seiner Aufgabe untreu geworden. Man beachte das dreifache »Muss« in diesem Kapitel: für den Sünder (3,7), für den Heiland (3,14) und für den Heiligen (3,30).
3,31 Jesus ist der Eine, der »von oben kommt« und über allen ist. Diese Aussage soll seine himmlische Herkunft und überragende Stellung zeigen. Um seine eigene Niedrigkeit zu beweisen, sagte Johannes der Täufer, dass er selbst »von der Erde« war und »von der Erde her« redete. Das bedeutet einfach, dass er durch seine Geburt ein Mensch von menschlichen Eltern war. Er hatte keinen himmlischen Rang und konnte nicht mit der gleichen Autorität wie der Sohn Gottes sprechen. Seine Stellung war niedriger als die Position Jesu, weil der von oben Kommende über allen ist. Christus ist der höchste Herrscher im Universum. Es war deshalb nur richtig, dass die Menschen ihm und nicht seinem Boten folgten.
3,32 Als der Herr Jesus redete, sprach er mit Autorität. Er berichtete den Menschen, was er »gesehen und gehört« hatte. Er konnte sich nicht irren oder betrügen. Doch wie eigenartig: »Sein Zeugnis nimmt niemand an.« Der Ausdruck »niemand« darf nicht im absoluten Sinne verstanden werden. Es gibt Einzelne, die die Worte des Herrn Jesus annehmen. Aber Johannes sah die Menschheit im Allgemeinen und sagt einfach, dass die Lehren des Heilands von der Mehrheit abgelehnt werden. Jesus war der Eine, der vom Himmel kam, aber es waren nur vergleichsweise wenige, die ihn hören wollten.
3,33 Dieser Vers beschreibt die wenigen, die das Wort des Herrn als Wort Gottes annahmen. Durch ihr Annehmen »besiegelten« sie, »dass Gott wahrhaftig ist«. So ist es auch heute. Wenn Menschen die Botschaft des Evangeliums annehmen, dann stellen sie sich gegen sich selbst und gegen den Rest der Menschheit auf die Seite Gottes. Sie erkennen, dass etwas wahr sein muss, wenn Gott es gesagt hat. Man beachte, wie deutlich hier die Gottheit Christi gelehrt wird. Nach der Aussage dieses Verses erkennt jeder, der an das Zeugnis Christi glaubt, dadurch an, dass Gott wahrhaftig ist. Das ist nur eine andere Ausdrucksweise dafür, dass das Zeugnis des Christus das Zeugnis Gottes ist, und den einen anzunehmen, bedeutet, den anderen auch anzunehmen.
3,34 Jesus war der Eine, »den Gott gesandt hat«. Er »redete die Worte Gottes«. Um diese Aussage zu untermauern, stellte Johannes fest, dass »Gott den Geist nicht nach Maß gibt«. Christus ist durch den Geist Gottes auf eine Art gesalbt worden, die für niemand anders gilt. Andere sind sich der Hilfe des Heiligen Geistes in ihrem Dienst bewusst, doch niemand hat je einen solch geisterfüllten Dienst getan wie der Sohn Gottes. Die Propheten erhielten eine teilweise Offenbarung von Gott, aber »der Geist offenbarte den Menschen in und durch Christus die Weisheit, das Herz Gottes in all seiner unendlichen Liebe«.
3,35 Hier haben wir eine von sieben Stellen im Evangelium des Johannes, an denen es heißt, dass »der Vater den Sohn liebt«. Hier zeigt sich diese Liebe darin, dass er ihm die Kontrolle über »alles« gegeben hat. Dazu gehört die völlige Kontrolle über das Schicksal der Menschen, wie es in Vers 36 erklärt wird.
3,36 Gott hat Christus die Macht gegeben, all denen »ewiges Leben« zu geben, die an ihn glauben. Dies ist einer der eindeutigsten Verse der ganzen Bibel, die sagen, wie ein Mensch errettet werden kann. Es geht einfach um den Glauben an den Sohn. Wenn wir diesen Vers lesen, sollten wir erkennen, dass hier Gott spricht. Er gibt hier ein Versprechen, das niemals gebrochen werden kann. Er sagt ausdrücklich und deutlich, dass jeder, der »an den Sohn glaubt, ewiges Leben hat«. Wenn man dieses Versprechen ernst nimmt, so ist das kein Sprung ins Ungewisse. Man glaubt einfach an etwas, das unmöglich auf falschen Voraussetzungen beruhen kann. Diejenigen, die dem Sohn Gottes nicht gehorchen, werden »das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf« ihnen. Aus diesem Vers lernen wir, dass unser ewiges Schicksal davon abhängt, wie wir mit dem Sohn Gottes umgehen. Wenn wir ihn annehmen, dann gibt Gott uns als Geschenk das ewige Leben. Wenn wir ihn ablehnen, werden wir niemals ewiges Leben haben, und nicht nur das: Dann hängt Gottes Zorn schon wie ein Damoklesschwert über uns – bereit, jeden Augenblick zu fallen. Man beachte, dass wir in diesem Vers nichts davon lesen, dass wir das Gesetz halten, die goldene Regel beachten, zur Kirche gehen, unser Bestes tun oder unseren Weg in den Himmel erarbeiten müssten.
J. Die Bekehrung einer Samariterin (4,1-30)
4,1.2 »Die Pharisäer hatten gehört, dass Jesus mehr Jünger … taufe als Johannes« und die Beliebtheit des Johannes offensichtlich zurückging. Vielleicht hatten sie alles versucht, diese Tatsache zu benutzen, um Eifersucht und Feindschaft zwischen den Jüngern des Johannes und des Herrn Jesus zu entfachen. In Wirklichkeit »taufte Jesus selbst nicht«. Das war die Aufgabe seiner Jünger. Dennoch wurden die Menschen als Nachfolger oder Jünger des Herrn getauft.
4,3 Indem er Judäa verließ und nach Galiläa ging, wollte Jesus verhindern, dass die Pharisäer in ihrem Bemühen Erfolg hatten, Spaltungen zu verursachen. Aber dieser Vers enthält noch etwas anderes von Bedeutung. Judäa war das Zentrum des jüdischen religiösen Establishments, während Galiläa als ziemlich heidnisches Gebiet galt. Der Herr Jesus erkannte, dass die jüdischen Führer ihn und sein Zeugnis schon ablehnten, und deshalb wandte er sich nun mit der Botschaft der Errettung an die Heiden.
4,4 Samaria lag auf dem direkten Wege von Judäa nach Galiläa. Aber nur wenige Juden nahmen jemals diesen direkten Weg. Das Gebiet von Samaria war von den Juden so verachtet, dass sie meist einen Umweg durch Peräa in Kauf nahmen, wenn sie nordwärts nach Galiläa wollten. Wenn es deshalb heißt, dass Jesus »durch Samaria ziehen musste«, geht es nicht so sehr darum, dass er durch geografische Gegebenheiten dazu gezwungen gewesen wäre. Vielmehr musste er diesen Weg nehmen, weil es dort in Samaria einen Menschen gab, der in Not war und dem er helfen konnte.
4,5 Als er Samaria erreicht hatte, kam er in einen Ort mit dem Namen Sychar. Nicht weit von dem Ort entfernt lag ein »Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab« (1. Mose  48,22).  Als  Jesus  durch  dieses Gebiet reiste, standen all die Ereignisse seiner bisherigen Geschichte vor seinem inneren Auge.
4,6 Es gab dort eine Quelle, die man »Quelle Jakobs« nannte. Diesen alten Brunnen kann man heute noch sehen, einer der wenigen biblischen Orte, die man auch heute noch zweifelsfrei ausmachen kann.
Es war nach jüdischer Zeitrechnung Mittag, nach römischer Zeitrechnung die sechste Stunde, als Jesus den Brunnen erreichte. Durch die lange Wanderung des Tages war er »ermüdet«, deshalb setzte er »sich ohne Weiteres an die Quelle nieder«. Jesus ist zwar Gott, aber zugleich auch Mensch. Als Gott konnte er niemals müde werden, als Mensch aber wurde er es. Für uns ist es schwer, diese Tatsachen zu verstehen. Aber die Person unseres Herrn Jesus Christus kann niemals von einem sterblichen Menschen völlig verstanden werden. Die Wahrheit, dass Gott in die Welt kommen konnte und als Mensch unter Menschen lebte, ist ein Geheimnis, das unser Verständnis übersteigt.
4,7 Als der Herr Jesus an dem Brunnen saß, »kommt eine Frau« aus dem Ort, »Wasser zu schöpfen«. Wenn es, wie einige Ausleger sagen, zu dieser Zeit Mittag war, dann war das eine sehr ungewöhnliche Zeit, um zum Brunnen zu gehen, denn es war die heißeste Zeit des Tages. Aber diese Frau war eine stadtbekannte Sünderin, und vielleicht wählte sie diese Zeit aus Scham, weil sie wusste, dass dann keine andere Frau da sein würde, die sie sehen konnte. Natürlich wusste der Herr Jesus die ganze Zeit, dass sie jetzt kommen würde. Er wusste, dass sie in großer seelischer Not war, und so beschloss er, ihr zu begegnen und sie von ihrem sündigen Leben zu erretten. In diesem Abschnitt finden wir den Meister der Seelengewinner am Werk, und wir tun gut daran, die Methoden zu studieren, die er verwandte, um diese Frau zur Erkenntnis ihrer Not zu bringen und ihr die Lösung ihrer Probleme anzubieten. Der Herr sprach siebenmal zu der Frau. Auch die Frau sprach siebenmal – sechsmal zum Herrn und einmal zu den Leuten in ihrem Ort. Vielleicht hätten wir mehr Erfolg mit unserem Zeugnis, wenn wir so viel mit dem Herrn gesprochen hätten wie sie, als sie mit den Leuten in der Stadt redete. Jesus eröffnete das Gespräch, indem er sie um einen Gefallen bat. Müde von der Reise sprach er zu ihr: »Gib mir zu trinken!«
4,8 Dieser Vers erklärt, warum (vom menschlichen Standpunkt aus gesehen) der Herr sie um etwas zu trinken bitten musste. »Seine Jünger waren weggegangen in die Stadt (Sychar), um Speise zu kaufen.« Sie hatten normalerweise Eimer mit, um sich damit Wasser aus Brunnen holen zu können, doch die Jünger hatten diese wohl mitgenommen. So hatte der Herr allem äußeren Anschein nach keine Möglichkeit, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen.
4,9 Die Frau erkannte, dass Jesus ein Jude war, und war erstaunt, dass er zu ihr, »einer samaritischen Frau«, redete. Die Samariter behaupteten, von Jakob abzustammen und hielten sich selbst für echte Israeliten. In Wirklichkeit waren sie jedoch ein Mischvolk aus Heiden und Juden. Der Berg Garizim war ihre offizielle Kultstätte. Das war ein Berg in Samaria, den der Herr und die Frau deutlich sehen konnten, als sie miteinander sprachen. Die Juden mochten die Samariter nicht. Sie hielten sie wegen ihrer Mischlingsherkunft für minderwertig. Deshalb sagte die Frau zu dem Herrn Jesus: »Wie bittest du, der du ein Jude bist, von mir zu trinken, die ich eine samaritische Frau bin?« Sie erkannte eben nicht, dass sie mit ihrem eigenen Schöpfer sprach, dessen Liebe alle kleinlichen Unters cheidungen der Menschen überwindet.
4,10.11 Indem Jesus die Frau um etwas bat, hatte er ihr Interesse und ihre Neugier geweckt. Er stachelt beides nun weiter an, indem er sagt, dass er sowohl Gott als auch Mensch ist. Als Allererstes war er »die Gabe Gottes« – die der eine Gott gab, damit er als der eingeborene Sohn die Welt rette. Aber er war auch Mensch – der Eine, der, von seiner Reise ermüdet, sie um etwas zu trinken bat. Mit anderen Worten, wenn sie erkannt hätte, dass sie mit Gott im Fleisch gekommen sprach, dann hätte sie ihn um einen Segen gebeten, und »er hätte« ihr »lebendiges Wasser gegeben«. Die Frau konnte nur an normales Wasser und daran denken, wie unmöglich es war, es ohne geeignete Mittel zu schöpfen. So erkannte sie den Herrn nicht und konnte auch seine Worte nicht verstehen.
4,12 Ihre Verwirrung steigerte sich nur, als sie an den Patriarchen Jakob dachte, der ihrer Stadt diesen Brunnen gegraben hatte. Er selbst hatte ihn benutzt »und seine Söhne und sein Vieh«. Und nun kam hier ein müder Reisender einige Jahrhunderte später, bat um Wasser aus dem Brunnen Jakobs und behauptete dennoch, etwas Besseres bieten zu können als das Wasser, das Jakob gegeben hatte. Wenn er doch etwas Besseres hatte, warum sollte er dann noch um Wasser aus dem Jakobsbrunnen bitten?
4,13 Deshalb begann der Herr nun den Unterschied zwischen normalem Wasser aus Jakobs Brunnen und dem Wasser, das er geben wollte, zu erklären. »Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten.« Das konnte die samaritische Frau sicher verstehen. Jeden Tag war sie zu diesem Brunnen gekommen und hatte Wasser geschöpft, doch konnte ihr Bedarf niemals völlig befriedigt werden. Genauso ging es mit allen anderen Brunnen dieser Welt. Die Menschen suchen ihr Vergnügen und ihre Befriedigung an allen Brunnen dieser Welt, aber dieses Wasser ist nicht in der Lage, den Durst in den Herzen der Menschen zu stillen. Wie Augustinus in seinen »Bekenntnissen« gesagt hat: »O Herr, zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.«
4,14 Nur das Wasser, das Jesus gibt, befriedigt wirklich. »Wer aber von dem Wasser« der Segnungen und der Barmherzigkeit Christi trinkt, »den wird nicht dürsten in Ewigkeit«. Es ging nicht nur darum, dass Jesu Güte sein Herz erfüllen wird, sondern es wird überfließen. Jesu Güte ist wie eine sprudelnde Quelle, die ständig überfließt, nicht nur in diesem Leben, sondern ebenso in der Ewigkeit. Der entsprechende Ausdruck (»das ins ewige Leben quillt«) bedeutet, dass sich die Segnungen des Wassers, das Christus gibt, nicht auf die Erde beschränken, sondern für immer gültig sind. Der Gegensatz ist sehr krass. Was die Welt auch bieten mag, es reicht nicht, um das menschliche Herz zu erfüllen. Aber die Segnungen Christi erfüllen nicht nur das Herz, sie sind viel zu groß, als dass irgendein Herz sie zu fassen vermag.
Wenn unser Herz gar seufzt und schreit und nie Erfüllung find’t, so gibt er uns, was uns erfreut und reinigt uns von Sünd’. Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals Die Freuden dieser Erde dauern nur einige wenige Jahre, aber die Freuden, die uns Christus schenkt, bleiben bis »ins ewige Leben« bestehen.
4,15 Als die Frau von diesem wunderbaren Wasser hörte, wollte sie es sofort haben. Aber sie dachte immer noch an normales Wasser. Sie wollte es nicht mehr nötig haben, jeden Tag zum Brunnen zu gehen, »um zu schöpfen«. Der Eimer war schließlich schwer. Sie erkannte nicht, dass das vom Herrn Jesus angesprochene Wasser geistlicher Natur war und er sich auf all die Segnungen bezog, die eine menschliche Seele durch den Glauben an ihn erhält.
4,16 Wir haben hier nun einen harten Bruch in der Unterhaltung. Die Frau hatte gerade eben noch um Wasser gebeten, und der Herr Jesus gab ihr den Auftrag, zu gehen und ihren Mann zu rufen. Warum? Ehe diese Frau gerettet werden konnte, musste sie anerkennen, dass sie eine Sünderin war. Sie musste in echter Buße zu Christus kommen, ihre Schuld und ihre Not bekennen. Der Herr Jesus wusste alles über das sündige Leben, das sie geführt hatte, und er wollte ihr Stück für Stück dieses Leben vor Augen führen. Nur diejenigen, die sich selbst kennen, können gerettet werden. Alle Menschen sind verloren, aber das wollen nicht alle zugeben. Wenn wir versuchen, Menschen für Christus zu gewinnen, dürfen wir die Frage der Sünde nie ausklammern. Wir müssen ihnen zeigen, dass sie in ihren Sünden und Übertretungen tot sind, einen Retter brauchen und sich nicht selbst erlösen können. Sie müssen erkennen, dass Jesus der Retter ist, den sie brauchen, und dass er sie retten will, wenn sie für ihre Sünden Buße tun und auf ihn vertrauen.
4,17 Zunächst wollte die Frau die Wahrheit verschleiern, ohne zu lügen. Sie sagte: »Ich habe keinen Mann.« Vielleicht traf ihre Aussage im rein rechtlichen Sinne zu. Doch sie wollte damit die schreckliche Tatsache verbergen, dass sie in Sünde lebte: Sie lebte mit einem Mann zusammen, mit dem sie nicht verheiratet war.
Sie redet über Religion, erörtert theologische Aspekte, wird kurzzeitig ironisch und gibt vor, schockiert zu sein. All dies tut sie, damit Christus nicht jene Seele sieht, die in jeder Beziehung auf der Flucht vor sich selbst war. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
Weil der Herr Jesus Gott ist, wusste er das alles. Und so spricht er zu ihr: »Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann.« Obwohl sie in der Lage gewesen sein mag, ihre Mitmenschen zu täuschen, so konnte sie Jesus doch nicht täuschen. Er wusste alles.
4,18 Der Herr missbrauchte sein vollständiges Wissen nie, um einen Menschen grundlos bloßzustellen oder zu beschämen. Aber er benutzte es, um wie hier einen Menschen von der Knechtschaft der Sünde zu befreien. Wie erstaunt muss die Frau gewesen sein, als er ihr ihre Vergangenheit vorhielt! Sie hatte »fünf Männer … gehabt«, und der, den sie jetzt hatte, war nicht ihr Mann.
Es gibt zu diesem Vers einige unterschiedliche Meinungen. Einige sind der Ansicht, dass die früheren fünf Ehemänner dieser Frau entweder gestorben waren, oder aber sie verlassen hatten, und dass in der Beziehung zu ihnen nichts Sündiges gewesen war. Ob das nun so ist oder nicht, sei dahingestellt. Aus dem zweiten Teil des Verses geht jedenfalls hervor, dass diese Frau eine Ehebrecherin war. »Der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.« Das ist das Wichtige. Die Frau war eine Sünderin, und ehe sie nicht bereit war, dies anzuerkennen, konnte der Herr sie nicht mit lebendigem Wasser segnen.
4,19 Als nun ihr Leben offen vor ihr lag, erkannte die Frau, dass derjenige, der mit ihr redete, kein gewöhnlicher Mensch war. Dennoch erkannte sie nicht, dass er Gott war. Die höchste Anerkennung, die sie für ihn übrig hatte, war, dass er ein »Prophet« sei, das heißt jemand, der im Namen Gottes spricht.
4,20 Es hat nun den Anschein, dass die Frau von ihren Sünden überführt worden ist, und deshalb versucht sie, das Thema zu wechseln, indem sie die Frage bezüglich des rechten Ortes der Anbetung aufwirft. Zweifellos zeigte sie auf den Berg Garizim, als sie sagte: »Unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet.« Dann erinnerte sie den Herrn (unnötigerweise) daran, dass die Juden behaupteten, »dass in Jerusalem der Ort sei, wo man anbeten müsse«.
4,21 Jesus überging nun ihren Kommentar nicht, sondern benutzte ihn, um ihr weitere geistliche Erkenntnisse zu vermitteln. Er sagte ihr, dass eine Zeit kommen würde, zu der weder Jerusalem noch der Berg Garizim der Anbetungsort sein wird. Im AT wurde Jerusalem als die Stadt auserwählt, wo Gottesdienst gefeiert werden sollte. Der Tempel in Jerusalem war der Ort der Gegenwart Gottes, und fromme Juden kamen mit ihren Opfern nach Jerusalem. Natürlich ist dies im Zeitalter des Evangeliums nicht mehr der Fall. Gott hat heute keinen bestimmten Ort mehr, zu dem die Menschen pilgern müssen, um anzubeten. Der Herr erklärte das weiter in den nächsten Versen.
4,22 Als der Herr sagte: »Ihr betet an, was ihr nicht kennt«, verurteilte er die Form des Gottesdienstes der Samariter. Das steht im scharfen Kontrast zu den religiösen Lehrern heute, die sagen, dass alle Religionen gut seien und sie schließlich alle den Weg in den Himmel weisen würden. Der Herr Jesus zeigte dieser Frau, dass der Gottesdienst der Samariter von Gott weder eingesetzt noch gewollt war. Er war von Menschen erfunden und ohne Billigung durch das Wort Gottes weitergeführt worden. Das galt nicht für den Gottesdienst der Juden. Gott hatte die Angehörigen der jüdischen Nation als sein erwähltes irdisches Volk ausgesondert. Er hatte ihnen vollständige Anweisungen gegeben, wie sie ihn anbeten sollten.
Indem er sagte, dass »das Heil … aus den Juden« ist, lehrte der Herr, dass das jüdische Volk von Gott ernannt worden war, sein Bote zu sein, und dass ihm die Heiligen Schriften anvertraut worden waren. Auch ist durch das jüdische Volk der Messias auf die Erde gekommen. Er selbst wurde von einer jüdischen Mutter geboren.
4,23 Als Nächstes informiert Jesus die Frau darüber, dass Gott mit Jesu Kommen nicht länger einen bestimmten Ort auf der Erde hat, an dem er angebetet werden will. Nun können diejenigen, die an den Herrn Jesus glauben, Gott jederzeit und an jedem Ort anbeten. Wahre Anbetung bedeutet, dass der Gläubige im Glauben in die Gegenwart Gottes tritt und dort den Herrn lobt und preist. Sein Leib mag in einem Arbeitszimmer, einem Gefängnis oder auf freiem Feld sein, doch sein Geist kann sich Gott in seinem himmlischen Heiligtum durch den Glauben nahen. Jesus verkündigte der Frau, dass von nun an die Anbetung des Vaters »in Geist und Wahrheit« stattfinden würde. Die Juden hatten den Gottesdienst auf äußere Formen und Zeremonien beschränkt. Sie dachten, dass sie durch religiöse Hingabe an den Buchstaben des Gesetzes und durch die Einhaltung bestimmter Rit uale den Vater ehren würden. Doch sie beteten nicht im Geist an. Ihr Gottesdienst war äußerlich, nicht innerlich. Ihre Leiber mochten sich verneigen, doch ihre Herzen hatten vor Gott nicht die rechte Haltung. Vielleicht unterdrückten sie die Armen oder benutzten hinterhältige Geschäftsmethoden.
Die Samariter hatten ihrerseits eine Form des Gottesdienstes, die falsch war. Ihr Gottesdienst beruhte nicht auf der Schrift. Sie hatten ihre eigene Religion ins Leben gerufen und führten selbst erfundene Rituale durch. Als der Herr sagte, dass Anbetung »im Geist und in der Wahrheit« geschehen müsse, tadelte er also beide, Juden wie Samariter. Aber er sagte ihnen auch, dass es nun, da er gekommen war, für die Menschen möglich war, sich Gott durch ihn in echter und wahrer Anbetung zu nähern. Man denke einmal darüber nach, was das heißt! »Denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter.« Gott interessiert sich für die Anbetung durch sein Volk. Erhält er diese Anbetung auch von mir?
4,24 »Gott ist Geist«, ist eine Definition Gottes. Er ist kein einfacher Mensch, der allen Irrtümern und Begrenzungen der Menschheit unterworfen ist. Auch ist er nicht auf einen Ort oder eine Zeit beschränkt. Er ist eine unsichtbare Person, die an allen Orten gleichzeitig anwesend ist, die allwissend und allmächtig ist. Er ist in jeder Hinsicht vollkommen. Deshalb gilt: »Die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten.« Dabei darf es weder Heuchelei noch Schein geben. Man darf sich nicht den Anschein des Relig iösen zu geben, während das innere Leben verdorben ist. Man braucht nicht zu denken, dass man Gott gefallen könne, indem man eine Reihe von Zeremonien durchläuft. Obwohl Gott diese Zerem onien selbst eingesetzt hat, besteht er immer noch darauf, dass sich der Mensch ihm mit einem zerbrochenen und zerschlagenen Herzen nähert. In diesem Kapitel finden wir nach Kapitel 3 weitere zwei Beispiele für ein »Muss« – das »Muss« des Seelengewinners (4,4) und das »Muss« für den Anbeter (4,24).
4,25 Als die Frau aus Samaria dem Herrn zuhörte, wurde sie an das Kommen des Messias erinnert. Der Heilige Geist Gottes hatte in ihr ein Verlangen nach diesem Kommen geweckt. Sie war der Meinung, dass der Messias, wenn er käme, »alles verkündigen« würde. Mit dieser Aussage zeigte sie ein deutliches Verständnis einer der großen Aufgaben des Messias.
Der Ausdruck »Messias, der Christus genannt wird«, ist einfach eine Erklärung der Tatsache, dass diese beiden Worte dasselbe bedeuten. Messias ist das hebräische Wort für den Gesalbten Gottes, Christus ist das griechische Wort dafür.
4,26 Wörtlich sagt Jesus zu ihr: »Ich bin, der mit dir redet.« Das Wort »es« ist kein Bestandteil des Textes. Obwohl der Text mit dem Pronomen »es« klarer ist, haben die tatsächlichen Worte des Herrn Jesus eine tiefe Bedeutung. Indem er die Worte »Ich bin« gebraucht, verwendet er einen der Namen, den Gott sich im AT gab. Jesus sagt: »Der ›Ich bin‹ redet mit dir.« Oder mit anderen Worten: »Jahwe ist es, der mit dir spricht.« Jesus verkündigte ihr die erstaunliche Wahrheit, dass in demjenigen, der mit ihr sprach, der von ihr erwartete Messias vor ihr stand, und dass er Gott selbst war. Der Jahwe des AT ist der Jesus des NT.
4,27 Als die Jünger aus Sychar zurückkamen, sahen sie, dass Jesus mit dieser Frau sprach. Sie waren überrascht, dass er mit ihr ein Gespräch führte, denn sie war eine Samariterin. Vielleicht konnten sie auch erkennen, dass sie eine Ehebrecherin war. Dennoch fragte niemand den Herrn, was er von dieser Frau wolle oder was er mit ihr rede. Jemand hat es einmal gut ausgedrückt: »Die Jünger wundern sich darüber, dass er mit der Frau spricht, sie hätten sich jedoch eher darüber wundern sollen, dass er mit ihnen redet!«
4,28 »Die Frau nun ließ ihren Wasserkrug stehen«! Er symbolisiert die verschiedenen Dinge in ihrem Leben, mit denen sie versucht hatte, ihren Lebensdurst zu befriedigen. Sie hatten alle versagt. Nun, wo sie den Herrn Jesus gefunden hatte, brauchte sie nichts mehr von dem, was in ihrem Leben vorher eine so große Rolle gespielt hatte.
Kehr zurück zur wahren Quelle, wo das Lebenswasser fließt, das, gespendet, rein und helle, sich in laut’re Herzen gießt! Verfasser unbekannt
Sie ließ aber nicht nur ihren Wasserkrug stehen, sondern ging auch »weg in die Stadt«. Sobald ein Mensch errettet ist, denkt er sofort an andere, die ebenfalls das Wasser des Lebens brauchen. J. Hudson Taylor sagte: »Einige wollen so gerne Nachfolger der Apostel sein. Ich würde lieber ein Nachahmer der samaritischen Frau sein, die, während die Jünger etwas zu essen kauften, in ihrem Eifer für die Seelen ihrer Mitmenschen ihren Wasserkrug vergaß.«
4,29.30 Ihr Zeugnis war einfach, aber effektiv. Sie lud die Einwohner des Dorfes ein zu kommen und sich den Mann anzuschauen, »der mir alles gesagt hat, was ich getan habe«. Sie überließ es auch ihren Herzen, die Frage zu erwägen, ob dieser Mensch tatsächlich der Messias sei. Sie selbst zweifelte wohl kaum dara n, weil er sich ihr bereits als der Christus kundg etan hatte. Doch sie warf diese Frage in den Herzen der Einwohner von Sychar auf, damit sie zu Jesus gehen und es selbst herausfinden konnten. Zweifellos war diese Frau in dem Ort für ihre Sünde und Schande bekannt. Wie aufs ehenerregend muss es für die Leute gewesen sein, sie hier auf einem öffentlichen Platz zu sehen, wie sie öffentlich vom Herrn Jesus Christus Zeugnis gab! Das Zeugnis der Frau war wirksam. Die Leute verl ießen ihre Häuser und ihre Arbeit und liefen hinaus, um Jesus zu finden.
K. Die Freude des Sohnes, den Willen seines Vaters tun zu können (4,31-38)
4,31 Da nun die Jünger mit dem Essen zurückgekommen waren, forderten sie Jesus auf zu essen. Offensichtlich waren sie sich der großartigen Ereignisse nicht bewusst, die gerade vor sich gegangen waren. In diesem historischen Augenblick, als eine samaritische Stadt mit dem Herrn der Herrlichkeit bekannt gemacht wurde, konnten sie ihre Gedanken auf nichts Wichtigeres richten als auf Speise für ihren Leib.
4,32 Der Herr Jesus hatte Speise und Stärkung darin gefunden, für seinen Vater Anbeter zu gewinnen. Verglichen mit dieser Freude war Speise für den Körper für ihn unwichtig. Wir bekommen, worum wir uns im Leben bemühen. Die Jünger waren an Nahrung interessiert. Sie gingen in den Ort, um Nahrung zu kaufen. Sie kamen damit zurück. Der Herr war an Menschen interessiert. Er wollte Männer und Frauen von der Sünde erretten und ihnen das Wasser des ewigen Lebens geben. Auch er bekam, wonach er strebte. Woran sind wir interessiert?
4,33 Wegen ihrer irdischen Gesinnung konnten die Jünger die Bedeutung der Worte des Herrn nicht verstehen. Sie konnten die Tatsache nicht erfassen, dass »die Freude und das Glück eines geistlichen Erfolges den Menschen für einige Zeit über alle körperlichen Bedürfnisse erheben und den Platz von materiellem Essen und Trinken einnehmen kann«. Und deshalb schlossen sie, dass jemand vorbeigekommen sein musste, der Jesus etwas »zu essen gebracht« hatte.
4,34 Und wieder versuchte Jesus, ihre Aufmerksamkeit vom Materiellen auf das Geistliche zu richten. Seine Speise war es, »den Willen« Gottes zu tun und »sein Werk zu vollbringen«, das er ihm aufgetragen hatte. Das bedeutet nicht, dass der Herr Jesus sich der materiellen Speise enthalten hätte, sondern dass das große Ziel seines Lebens nicht die Sorge für den Leib war, sondern die Erfüllung des Willens Gottes.
4,35 Vielleicht hatten die Jünger über die bevorstehende Ernte geredet. Vielleicht war es aber auch ein Sprichwort: »Von der Saat zur Ernte sind es vier Monate.« Jedenfalls benutzte der Herr Jesus wieder eine Gegebenheit aus der Natur, nämlich die Ernte, um eine geistliche Lehre weiterzugeben. Die Jünger sollten nicht denken, dass die Zeit der Ernte noch in der Ferne lag. Sie konnten es sich nicht leisten, ihr Leben im Streben nach Essen und Kleidung mit dem Gedanken zu vergeuden, dass das Werk Gottes auch noch später getan werden könne. Sie mussten erkennen, dass die »Felder … schon weiß zur Ernte« sind. Im gleichen Augenblick, als Jesus diese Worte sprach, war er inmitten eines Erntefeldes von Seelen der samaritischen Männer und Frauen. Er teilte den Jüngern nun mit, dass die großartige Arbeit des Einsammelns vor ihnen lag und sie sich dieser Arbeit sofort und eifrig widmen sollten.
So sagt der Herr auch zu den Gläubigen unter uns: »Hebt eure Augen auf und schaut die Felder an.« Wenn wir Zeit dafür verwenden, über die große Not in der Welt nachzudenken, wird der Herr eine Last für die verlorenen Menschen auf unser Herz legen. Dann wird es unsere Aufgabe sein, für ihn hinauszugehen, um die Garben reifen Korns für ihn einzubringen.
4,36 Der Herr Jesus belehrte die Jünger nun über das Werk, das ihnen aufgetragen war. Er hatte sie erwählt, Schnitter zu sein. Sie würden nicht nur in diesem Leben Lohn erhalten, sondern sie würden auch »Frucht zum ewigen Leben« sammeln. Der Dienst für Christus hat schon in der Gegenwart reichen Lohn. Aber in der Zukunft werden die Schnitter die zusätzliche Freude haben, Menschen im Himmel wiederzusehen, die dort sind, weil jene in Treue das Evangelium verkündigt haben.
Vers 36 lehrt nicht, dass man das ewige Leben durch die Erntearbeit verdienen könnte, sondern vielmehr, dass die Frucht dieser Arbeit bis ins ewige Leben hinein Bestand hat.
Im Himmel werden sich sowohl der Sämann als auch der Schnitter »zugleich freuen«. Im irdischen Leben muss das Feld erst für den Samen vorbereitet werden, dann muss der Same gesät werden. Später wird dann das Korn geerntet. So ist es auch im geistlichen Leben. Zuerst muss die Botschaft gepredigt, dann mit Gebet begossen werden, und wenn schließlich die Erntezeit kommt, freuen sich alle miteinander, die an dieser Arbeit Anteil hatten.
4,37 Darin sah der Herr eine Erfüllung des Spruches, der zu dieser Zeit geläufig war: »Ein anderer ist es, der da sät, und ein anderer, der da erntet.« Einige Christen sind berufen, das Evangelium viele Jahre lang zu predigen, ohne viel Frucht zu sehen. Andere steigen am Ende dieser Jahre in die Arbeit ein, und viele Herzen wenden sich zum Herrn.
4,38 Jesus sandte seine Jünger in Gebiete, die schon von anderen vorbereitet worden waren. Im gesamten AT hatten die Propheten das kommende Zeitalter des Evangeliums und die Ankunft des Messias vorhergesagt. Dann kam noch Johannes der Täufer als Vorläufer des Herrn und versuchte, die Herzen der Menschen darauf vorzubereiten, ihn anzunehmen. Der Herr selbst hatte den Samen in Samaria gesät und eine Ernte für die Schnitter bereitet. Nun waren die Jünger dabei, das Erntefeld zu betreten. Dabei wollte der Herr, dass sie trotz der Freude an den vielen sich Christus zuwendenden Menschen wussten, dass sie in die Arbeit anderer Menschen »eingetreten« waren. Nur wenige Seelen werden durch den Dienst eines einzigen Menschen gerettet. Die meisten Menschen haben das Evangelium schon oft vorher gehört, ehe sie den Retter annehmen. Deshalb soll derjenige, der einen Menschen schließlich zu Christus führt, sich nicht selbst groß machen, als ob er das einzige Werkzeug gewesen sei, das Gott bei dieser wunderbaren Arbeit benutzt hat. L. Viele Samariter glauben an Jesus (4,39-42)
4,39 Infolge des einfachen, aufrichtigen Zeugnisses der samaritischen Frau glaubten viele Angehörige ihres Volkes an den Herrn Jesus. Alles, was sie gesagt hatte, war: »Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe«, und doch war das genug, um andere zum Herrn zu bringen. Das sollte uns ermutigen, in unserem Zeugnis für Christus einfach, mutig und direkt zu sein.
4,40 Der Empfang, den die Samariter dem Herrn Jesus bereiteten, steht im markanten Gegensatz zu dem der Juden. Die Samariter schienen seine wundervolle Person recht zu schätzen zu wissen, denn sie »baten ihn, bei ihnen zu bleiben«. Als Antwort auf ihre Bitte blieb der Herr »dort zwei Tage.« Man denke nur, wie bevorrechtigt die Stadt Sychar war, dass sie den Herrn des Lebens und der Herrlichkeit während dieser Zeit zu Gast haben durfte!
4,41.42 Keine zwei Bekehrungen sind genau gleich. Einige glaubten wegen des Zeugnisses der Frau. »Noch viel mehr glaubten um seines Wortes willen.« Gott ben utzt verschiedene Mittel, um Sünder zu sich zu bringen. Was jedoch wichtig ist, ist der Glaube an den Herrn Jesus Christus. Es ist wunderbar zu hören, wie diese Samariter ein solch deutliches Zeugnis vom Heiland ablegten. Kein Zweifel spricht aus ihren Worten. Sie waren sich aufgrund des Wortes des Herrn Jesus ihrer Errettung sicher, nicht aufgrund der Worte der Frau. Nachdem sie ihn gehört hatten und seinem Wort glaubten, wussten die Samariter, »dass dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland« (LU 1912).10 Nur der Heilige Geist konnte ihnen diese Einsicht geschenkt haben. Die Juden dachten offensichtlich, dass der Messias nur zu ihnen kommen würde. Doch die Samariter erkannten, dass die Segnungen des Dienstes Christi sich auf die ganze Welt ers trecken würden. M. Das zweite Zeichen: Die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten (4,43-54)
4,43.44 »Nach den zwei Tagen«, die Jesus bei den Samaritern zugebracht hatte, wandte der Herr seine Schritte nordwärts »nach Galiläa«. Vers 44 scheint eine Schwierigkeit zu beinhalten. Er stellt fest, dass der Grund für die Reise von Samaria nach Galiläa war, »dass ein Prophet im eigenen Vaterland kein Ansehen hat«. Und doch war Galiläa sein Vaterland, weil Nazareth eine Stadt in diesem Gebiet war. Vielleicht bedeutet dieser Vers, dass Jesus in einen anderen Teil Galiläas ging, nicht jedoch nach Nazareth. Jedenfalls ist die Aussage sicherlich wahr, dass ein Mensch in seiner Heimatstadt normalerweise weniger geschätzt wird als in anderen Orten. Seine Verwandten und Freunde dachten, dass er ein unreifer Jüngling und einer der Ihren war, also nichts Besonderes. Sicherlich wurde der Herr Jesus in seinem eigenen Volk nicht so geschätzt, wie es der Fall hätte sein sollen.
4,45 Als der Herr »nach Galiläa« kam, wurde er freundlich empfangen, denn die Menschen hatten »alles gesehen, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte«. Offensichtlich waren die hier genannten »Galiläer« Juden. Sie waren in Jerusalem gewesen, um dort anzubeten. Sie hatten den Herrn gesehen und von einigen seiner Wundertaten berichtet. Nun waren sie gewillt, ihn in ihre Mitte dort in Galiläa aufzunehmen, nicht, weil sie ihn als Sohn Gottes anerkannt hätten, sondern weil sie neugierig interessiert an dem waren, der überall so viel von sich reden machte.
4,46 Wieder war es das Dorf Kana, das durch einen Besuch des Herrn geehrt wurde. Bei seinem ersten Besuch hatten die Menschen gesehen, wie er Wasser zu Wein machte. Nun wurden sie Zeugen eines weiteren Wunders, dessen Auswirkungen sich bis nach Kapernaum erstreckten. Der Sohn eines königlichen Beamten in Kapernaum war krank. Der Mann war zweifellos ein Jude, der bei Herodes, dem König, angestellt war.
4,47 Er hatte gehört, »dass Jesus aus Judäa nach Galiläa gekommen sei«. Er muss einen gewissen Glauben an Jesu Heilungsmacht gehabt haben, weil er direkt »zu ihm hin ging und bat, dass er herabkomme« und seinen Sohn, der im Sterben lag, heile. In diesem Sinne schien er dem Herrn mehr zu vertrauen als die meisten seiner Volksgenossen.
4,48 Jesus sprach nun nicht nur zu dem Beamten, sondern zu den Juden allgemein11 und erinnerte sie an ein volkstypisches Merkmal, nämlich die Tatsache, dass sie erst Wunder sehen wollten, ehe sie glaubten. Im Allgemeinen sehen wir, dass dem Herrn ein Glaube nicht so sehr gefiel, der auf seinen Wundern statt auf seinem alleinigen Wort beruhte. Es ehrt den Herrn Jesus mehr, wenn man ihm wegen seines gesprochenen Wortes glaubt, als wenn man glaubt, nur weil er einen sichtbaren Beweis geliefert hat. Es ist für den Menschen typisch, dass er erst sehen will, ehe er glaubt. Aber der Herr Jesus lehrt uns, dass wir erst glauben sollen, um dann zu sehen.
Die Worte »Zeichen« und »Wunder« stehen beide für übernatürliche Taten. »Zeichen« sind übernatürliche Taten, die eine tiefere Bedeutung haben. »Wunder« sind übernatürliche Taten, die die Menschen durch ihre Außerordentlichkeit erstaunen.
4,49 Der königliche Beamte glaubte jedoch mit der Beständigkeit wahren Glaubens, dass Jesus seinem Sohn Gutes tun konnte. In gewissem Sinne reichte sein Glaube jedoch nicht aus. Er meinte, dass Jesus an das Bett des Knaben treten müsse, um ihn zu heilen. Dennoch tadelte der Herr ihn nicht dafür, sondern belohnte ihn für den Glauben, den er hatte.
4,50 Hier sehen wir den Glauben des Mannes wachsen. Er kam mit dem Glauben, den er hatte, zu Jesus, und der Herr vermehrte seinen Glauben. Jesus sandte ihn mit dem Versprechen nach Hause: »Dein Sohn lebt.« Der Sohn war geheilt worden! Ohne Wunder oder sichtbaren Beweis »glaubte der Mann dem Wort« des Herrn Jesus und ging nach Hause. Das ist gelebter Glaube!
4,51.52 »Aber schon während er hinabging«, kamen seine Diener mit der freudigen Nachricht, dass es seinem Sohn gut gehe. Der Mann war über diese Nachricht nicht erstaunt. Er glaubte der Verheißung des Herrn Jesus, und nachdem er geglaubt hatte, würde er nun den Beweis sehen. Der Vater fragte nun nach dem Zeitpunkt, zu dem es seinem Sohn besser gegangen war. Ihre Antwort zeigte, dass die Heilung nicht allmählich vor sich gegangen war, sondern plötzlich stattgefunden hatte.
4,53 Nun konnte es über dieses Wunder nicht mehr den geringsten Zweifel geben. Zur siebten Stunde des vorh erigen Tages hatte Jesus dem königlichen Beamten gesagt: »Dein Sohn lebt.« Und genau zur selben Stunde war der Sohn in Kapernaum geheilt worden, und das Fieber verließ ihn. Daraus lernte der königliche Beamte, dass es für Jesus nicht nötig war, körperlich anwesend zu sein, um ein Wunder zu tun oder ein Gebet zu erhören. Das sollte alle Christen in ihrem Gebetsleben ermutigen. Wir haben einen mächtigen Gott, der unsere Bitten erhört und der zu jeder Zeit und an jedem Ort seine Ziele erreichen kann. Der Beamte »glaubte, er und sein ganzes Haus«. Aus diesem und anderen neutestamentlichen Versen wird ersichtlich, dass es Gott gefällt, wenn Familien in Christus verbunden sind. Es ist nicht sein Wille, dass es im Himmel nur halbe Fam ilien gibt. Er achtete darauf, die Tatsache festzuhalten, dass das »ganze Haus« an seinen Sohn glaubte.
4,54 Die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten war nicht erst das zweite Wunder des gesamten Dienstes des Herrn Jesus bis zu diesem Zeitpunkt. Es war das »zweite Zeichen«, das Jesus in Galiläa tat, »als er aus Judäa nach Galiläa gekommen war«.
III. Der Dienst des Sohnes Gottes – zweites Jahr (Kap. 5) A. Das dritte Zeichen: Heilung eines Kranken am Teich Bethesda (5,1-9)
5,1 Zu Beginn von Kapitel 5 ist die Zeit eines jüdischen Festes herbeigekommen. Viele glauben, dass dies ein Passahfest war, aber man kann es unmöglich mit Sicherh eit festlegen. Als Jude in diese Welt geboren und dem Gesetz gehorsam, das Gott den Juden gegeben hatte, ging »Jesus … hinauf nach Jerusalem« zum Fest. Als Jahwe des AT war der Herr Jesus derjenige, der das Passah überhaupt erst eingesetzt hatte. Nun als Mensch gehorchte er im Gehorsam gegenüber seinem Vater genau den Gesetzen, die er selbst verordnet hatte.
5,2 In Jerusalem nun gab es einen Teich namens Bethesda12, was so viel wie »Haus der Barmherzigkeit« oder »Haus des Mitleids« heißt. Dieser Teich lag »bei dem Schaftor«. Heute ist der genaue Ort bekannt und ausgegraben worden (in der Nähe der Kreuzfahrerkirche St. Anna). Um diesen Teich herum gab es fünf »Säulenhallen«, die viele Menschen fassen konnten. Einige Ausleger sind der Meinung, dass diese fünf Säulenhallen für das Gesetz des Mose stehen. Ihrer Ansicht nach künden sie von seiner Unfähigkeit, dem Menschen aus seinen Sünden herauszuhelfen.
5,3 Offensichtlich war Bethesda als ein Ort bekannt, an dem Heilungswunder stattfanden. Ob diese Wunder immer oder nur zu bestimmten Zeiten wie den Festtagen stattfanden, wissen wir nicht. Um den Teich herum lagerten viele Kranke, die in der Hoffnung gekommen waren, geheilt zu werden. Einige waren blind, gelähmt oder anderweitig behindert. Diese verschiedenen Krankheiten sind ein Bild für den sündigen Menschen in seiner Hilflosigkeit, Blindheit, Lahmheit und Nutzlosigkeit.
Diese Menschen, die unter den Auswirkungen der Sünde an ihrem Leib zu leiden hatten, warteten »auf die Bewegung des Wassers«. Ihre Herzen waren von der Sehnsucht erfüllt, von ihrer Krankheit geheilt zu werden, und sie wollten von ganzem Herzen Heilung finden. Dazu schreibt J. G. Bellet: Sie warteten an diesem unsicheren, enttäuschenden Wasser, obwohl der Sohn Gottes anwesend war … Sicherlich ist dies eine Lehre für uns: Der Teich war von vielen Menschen umgeben, und Jesus geht vorbei, ohne dass sich jemand an ihn wendet. Welch ein Zeugnis für menschliche Religionen! Riten werden mit all ihren komplizierten Verfahren hoch geschätzt, und die Gnade Gottes wird ignoriert.13
5,4 Die Erzählung reicht hier nicht aus, um unsere Neugier zu befriedigen. Uns wird einfach erzählt, dass »ein Engel in den Teich« herabstieg und das Wasser bewegte. Wem es gelang, dann als Erster in das Wasser zu gelangen, der wurde von seiner Krankheit geheilt. Man kann sich vorstellen, welch ein ergreifender Anblick es war, wenn man so viele Menschen sah, die Hilfe nötig hatten, wie sie versuchten, das Wasser zu erreichen, und doch nur einer geheilt werden konnte. In vielen Bibelübersetzungen fehlen der zweite Teil von Vers 3 (ab »… und bewegte das Wasser«) und der gesamte Vers 4. Doch die Mehrheit der Manuskripte enthält diese Worte. Auch hat die Erzählung wenig Sinn, wenn nicht erklärt wird, warum diese kranken Menschen alle dort waren.
5,5.6 Einer der Männer, die dort an dem Teich warteten, war »achtunddreißig Jahre mit seiner Krankheit behaftet«. Das heißt, dass er in diesem Zustand schon war, ehe der Heiland geboren war. Der Herr Jesus wusste das alles. Er war diesem Menschen nie vorher begegnet. Doch er wusste, dass er »lange Zeit« krank war. In liebevollem Mitgefühl »spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?« Jesus wusste, dass dies der größte Wunsch des Mannes war. Aber er wollte den Mann zu einem Eingeständnis seiner eigenen Hilflosigkeit bringen. Er sollte zugeben, dass er auf Heilung angewiesen war. Ähnlich ist es mit der Errettung. Der Herr weiß, wie nötig wir die Errettung haben, aber er wartet auf das Bekenntnis aus unserem Mund, dass wir verloren sind, ihn brauchen und ihn als unseren Retter annehmen. Wir werden nicht durch unseren Willen gerettet, doch der Betreffende muss seinen Willen einsetzen, bevor Gott ihn rettet.
5,7 Die Antwort des Kranken war sehr mitleiderregend. Jahr um Jahr hatte er bei dem Teich gelegen und darauf gewartet, hineinzukommen. Doch jedes Mal, »wenn das Wasser bewegt worden ist«, hatte er niemanden, der ihm geholfen hätte. Jedes Mal hatte er versucht, hineinzukommen, doch jedes Mal war ein anderer schon eher da. Das erinnert uns daran, wie wir enttäuscht werden, wenn wir uns auf unsere Mitmenschen verlassen, dass sie uns von unseren Sünden erretten.
5,8 Das Bett des Kranken war eine Matte oder eine leichte Matratze. Jesus forderte ihn auf, aufzustehen, seine Matte zu nehmen und umherzugehen. Die Lehre für uns lautet hier, dass wir, wenn wir errettet werden, nicht nur aufgefordert werden aufzustehen, sondern auch umherzugehen. Der Herr Jesus heilt uns von der Krankheit der Sünde, und dann erwartet er von uns, dass wir ein Leben führen, das ihm Ehre macht.
5,9 Der Heiland befiehlt niemals jemandem, etwas zu tun, ohne ihm nicht auch die Kraft dazu zu geben. Als er sprach, strömten neue Kraft und neues Leben in den Leib des Kranken. Er wurde sofort geheilt. Es war keine allmähliche Heilung. Die Glieder, die jahrelang schwach und unbrauchbar gewesen waren, strotzten nur so vor Kraft. Und dann gehorchte der Geheilte sofort dem Wort des Herrn. Er »nahm sein Bett auf und ging umher«. Wie aufregend muss das für ihn gewesen sein, nachdem er 38 Jahre krank gewesen war.
Das Wunder fand an einem Sabbat statt, dem siebten Tag der Woche, unserem Samstag. Die Juden durften am Sabbat keine Arbeit tun. Dieser Mann war ein Jude, und doch zögerte er nicht, auf den Befehl des Herrn Jesus seine Matte zu tragen, trotz der jüdischen Sabbattradition. B. Der Widerstand der Juden (5,10-18)
5,10 Als die Juden den Mann seine Matte am Sabbat tragen sahen, forderten sie von ihm eine Erklärung. Diese Menschen waren sehr streng und manchmal sogar grausam, wenn es darum ging, ihre religiösen Vorschriften zu halten. Sie hingen am Buchstaben, doch sie zeigten anderen gegenüber keine Barmherzigkeit und kein Mitleid.
5,11 Der Geheilte gab eine sehr einfache Antwort. Er sagte, dass der, der ihn geheilt hatte, ihm befohlen habe, sein Bett zu nehmen und umherzugehen. Jedem, der die Macht hat, einen Mann zu heilen, der 38 Jahre lang krank war, sollte man gehorchen, auch wenn er jemanden anwies, sein Bett am Sabbat zu tragen! Der Geheilte wusste zu dieser Zeit noch nicht, wer der Herr Jesus war. Er sprach sehr allgemein von ihm, doch mit wahrer Dankbarkeit.
5,12 Die Juden wollten unbedingt herausfinden, wer es wagte, diesem Mann zu befehlen, ihre Sabbattraditionen zu brechen, und deshalb befragten sie ihn, um den Schuldigen zu finden. Das Gesetz des Mose ordnete an, dass jemand, der den Sabbat gebrochen hatte, gesteinigt werden müsse. Die Juden kümmerte es wenig, dass ein Gelähmter geheilt worden war.
5,13 »Der Geheilte aber wusste nicht«, wer ihn geheilt hatte. Und es war unmöglich, ihn den Juden zu zeigen, denn Jesus hatte sich aus der Menge zurückgezogen, die entstanden war.
Dieser Vorfall markiert einen der großen Wendepunkte des öffentlichen Wirkens des Herrn Jesus. Weil er am Sabbat ein Wunder tat, erregte er den Zorn und Hass der jüdischen Führer. Sie fingen an, ihn zu verfolgen und ihm nach dem Leben zu trachten.
5,14 Einige Zeit später »findet Jesus« den Geheilten »im Tempel«, wo er zweifellos Gott für die wunderbare Hilfe dankte, die sein Leben verändert hatte. Der Herr erinnerte ihn daran, dass er eine wichtige Verpflichtung habe, weil er in so hohem Maße bevorrechtigt worden war. Vorrechte bringen immer Verantwortung mit sich. »Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nichts Ärgeres widerfahre.« Es scheint hierbei deutlich zu werden, dass die Krankheit des Mannes ihren Ursprung in einer Sünde in seinem Leben hatte. Das gilt nicht für alle Krankheiten. Sehr oft hat Krankheit nichts direkt mit einer Sünde zu tun, die der Kranke getan hat. Kinder können z. B. krank werden, ehe sie alt genug sind, absichtlich zu sündigen. »Sündige nicht mehr«, sagte Jesus und gab damit Gottes Anforderungen an unsere Heiligung bekannt. Wenn er gesagt hätte: »Sündige so wenig wie möglich«, wäre er nicht Gott. Gott kann keinerlei Sünde billigen. Außerdem fügte Jesus die Warnung hinzu: »… damit dir nichts Ärgeres widerfahre«. Der Herr sagte nicht, was er mit »Ärgeres« meinte. Doch zweifellos wollte er dem Mann damit zu verstehen geben, dass es noch schlimmere Folgen der Sünde als körperliche Krankheit gibt. Wer in seinen Sünden stirbt, ist zu ewigem Zorn und ewiger Pein verurteilt.
Es ist wesentlich ernster, wenn man gegen die Gnade als gegen das Gesetz sündigt. Jesus hatte diesem Mann wunderbare Liebe und Barmherzigkeit gezeigt. Nun würde er ihm wenig Dank erweisen, wenn er hingehen und das gleiche sündige Leben weiterführen würde, das zu seiner Krankheit geführt hatte.
5,15 Wie der samaritischen Frau war es diesem Mann ein Anliegen, öffentlich Zeugnis von seinem Heiland abzulegen. Er »verkündete den Juden, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht habe«. Er wollte Jesus die Ehre geben, auch wenn die Juden daran nicht interessiert waren. Ihr Hauptanliegen war, Jesus zu ergreifen und ihn zu bestrafen.
5,16 Hier wird die Bosheit des menschlichen Herzens besonders deutlich. Der Retter war gekommen und hatte ein großes Heilungswunder vollbracht, doch diese Juden waren aufgebracht. Sie kreideten ihm an, dass er das Wunder »am Sabbat« getan hatte. Sie waren kaltblütige religiöse Fanatiker, die mehr daran interessiert waren, dass äußerliche Bestimmungen eingehalten wurden, als sich um den Segen und das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu kümmern. Sie erkannten nicht, dass der Gleiche, der den Sabbat eingesetzt hat, nun an diesem Tag einem Menschen Barmherzigkeit erwies. Der Herr Jesus hatte das Sabbatgebot nicht gebrochen. Das Gesetz verbot an diesem Tag gewöhnliche Arbeiten, aber es untersagte nicht notwendige oder barmherzige Taten, die erledigt werden mussten.
5,17 Nachdem Gott die Schöpfung als Sechstagewerk vollendet hatte, ruhte er am siebten Tag. Dieser Tag war der Sabbat. Doch als die Sünde in die Welt kam, wurde die Ruhe Gottes unterbrochen. Er würde nun unablässig darauf hinwirken, Menschen in die Gemeinschaft mit ihm zurückzubringen. Er würde das Mittel zur Rettung zur Verfügung stellen. Jeder Generation würde er die Botschaft des Evangeliums bringen. Deshalb hat seit dem Fall Adams Gott unaufhörlich »gewirkt«, und er wirkt noch immer. Dasselbe gilt für den Herrn Jesus. Er wirkte mit seinem Vater zusammen, und seine Liebe und Gnade ließ sich nicht auf sechs Tage in der Woche beschränken.
5,18 Dieser Vers ist sehr wichtig. Er berichtet, dass die Juden immer mehr danach trachteten, den Herrn Jesus »zu töten, weil er nicht allein den Sabbat« gebrochen hatte, sondern auch behauptete, »Gott gleich« zu sein! Nach ihrer engstirnigen Meinung hatte der Herr den Sabbat gebrochen, obwohl das nicht stimmte. Sie erkannten nicht, dass nach Gottes Willen der Sabbat den Menschen niemals unnötig belasten sollte. Wenn ein Mensch am Sabbat von seiner Krankheit geheilt werden konnte, dann verlangte Gott nicht, dass er auch nur einen Tag länger leiden musste.
Als Jesus von Gott als seinem Vater sprach, erkannten sie, dass er »sich so selbst Gott gleich machte«. Für sie war das eine schreckliche Gotteslästerung. Aber es war natürlich nichts anderes als die Wahrheit.
Hat Jesus wirklich behauptet, Gott gleich zu sein? Wenn er das nicht beabsichtigt hätte, dann hätte er das den Juden sicherlich erklärt. Stattdessen wiederholt er noch deutlicher in den folgenden Versen, dass er wirklich mit dem Vater eins ist. J. Sidlow Baxter hat das so ausgedrückt:
Jesus behauptet in siebenfacher Hinsicht, Gott gleich zu sein: 1. Gleiches Werk: »Denn was der (Vater) tut, das tut ebenso auch der Sohn« (V. 19). 2. Gleiches Wissen: »Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er selbst tut« (V. 20).
3. Gleich in der Auferstehung: »Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will« (V. 21; dazu auch V. 28.29).
4. Gleich im Gericht: »Denn der Vater richtet auch niemand, sondern das ganze Gericht hat er dem Sohn gegeben« (V. 22; dazu auch V. 27).
5. Gleich in der Ehre: »Damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren« (V. 23). 6. Gleich in Bezug auf die Wiedergeburt: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der … ist aus dem Tod in das Leben übergegangen« (V. 24.25). 7. Gleiche Schöpferkraft: »Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst« (V. 26).14
C. Jesus verteidigt seinen Anspruch, Gott gleich zu sein (5,19-29)
5,19 Jesus war so intensiv mit dem Vater verbunden, dass er nicht unabhängig handeln konnte. Er meint damit nicht, dass er nicht die Macht gehabt hätte, etwas von sich selbst aus zu tun, sondern vielmehr, dass er so eng mit Gott dem Vater verbunden war, dass er nichts anderes tun konnte, als nur dasjenige, was er ihn tun sah. Denn der Herr behauptete zwar, Gott gleich zu sein, erhob jedoch keinen Anspruch auf Unabhängigkeit von ihm. Er ist nicht unabhängig vom Vater, obwohl er ihm völlig gleich ist. Der Herr Jesus wollte auf jeden Fall, dass die Juden ihn für gottgleich halten sollten. Es wäre absurd, wenn ein einfacher Mensch behaupten würde, genau dasselbe zu tun wie Gott selbst. Jesus behauptet, das zu sehen, was der Vater tut. Um solch eine Behauptung aufzustellen, muss er ständigen Zugang zum Vater und vollständiges Wissen dessen haben, was im Himmel vor sich geht. Und nicht nur das, sondern Jesus behauptet sogar, genau das zu tun, »was er den Vater tun sieht«. Das ist sicherlich eine Aussage über seine Gottgleichheit. Er ist allmächtig.
5,20 Es ist ein besonderes Kennzeichen der Liebe des Vaters zu seinem Sohn, dass er ihm alles zeigt, »was er selbst tut«. Jesus sah es nicht nur, er hatte auch die Macht, ebenso zu handeln wie der Vater. Dann fuhr der Heiland mit seiner Rede fort und sagte, dass Gott »größere Werke als diese zeigen« würde, damit sich die Leute wundern sollten. Sie hatten schon gesehen, wie der Herr Jesus Wunder tat. Sie waren soeben Zeugen gewesen, wie er einen Mann geheilt hatte, der seit 38 Jahren verkrüppelt gewesen war. Aber sie sollten noch größere Wunder als dieses sehen. Das erste dieser Wunder sollte die Auferstehung sein (V. 21), das zweite das Gericht über die Welt (V. 22).
5,21 Hier haben wir eine weitere deutliche Aussage, dass der Sohn dem Vater gleich ist. Die Juden klagten Jesus an, er mache sich mit Gott gleich. Dieser Anklage widersprach er nicht, sondern legte nun diese außerordentlichen Beweise für die Tatsache dar, dass er und der Vater eins sind. Ebenso, »wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will«. Könnte man so etwas je von Jesus sagen, wenn er bloß ein Mensch gewesen wäre? Die Frage beantwortet sich von selbst.
5,22 Das NT lehrt, dass Gott »der Vater … das ganze Gericht … dem Sohn gegeben« hat. Damit der Herr Jesus dieses Gericht halten kann, muss er natürlich absolutes Wissen und vollkommene Gerechtigkeit besitzen. Er muss in der Lage sein, die Gedanken und Motive des menschlichen Herzens aufzudecken. Wie seltsam war es, dass der Richter der ganzen Welt hier vor diesen Juden stehen und seine Autorität verteidigen musste, und sie ihn dennoch nicht erkannten!
5,23 Hier lesen wir, warum Gott seinem Sohn die Autorität verliehen hat, die Toten aufzuerwecken und die Welt zu richten. Der Grund ist, »damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren«. Das ist eine äußerst wichtige Aussage, und einer der deutlichsten Beweise der Gottheit unseres Herrn Jesus Christus in der Bibel. In der ganzen Bibel wird uns gesagt, dass wir nur Gott allein anbeten dürfen. In den Zehn Geboten wird dem Volk verboten, andere Götter außer dem wahren Gott zu verehren. Und nun wird uns geboten, dass »alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren«. Die einzige Schlussfolgerung, die wir aus diesem Vers ziehen können, ist, dass Jesus Christus Gott ist. Viele Menschen behaupten, dass sie Gott anbeten, doch sie bestreiten, dass Jesus Christus Gott ist. Sie sagen, dass er ein guter Mensch oder Gott ähnlicher war als jeder andere Mensch, der je gelebt hat. Aber dieser Vers stellt ihn auf die gleiche Ebene wie Gott und fordert, dass die Menschen ihm dieselbe Ehre erweisen sollen, wie sie Gott dem Vater gebührt. Wenn jemand »den Sohn nicht ehrt«, der »ehrt« auch »den Vater nicht«. Es ist nutzlos, zu behaupten, dass man Gott liebe, wenn man nicht dieselbe Liebe dem Herrn Jesus Christus entgegenbringt. Wenn Sie bisher noch nie erkannt haben, wer Jesus Christus ist, dann sollten Sie diesen Vers besonders gut überdenken. Denken Sie daran, dass Sie Gottes Wort vor sich haben, und nehmen Sie die herrliche Wahrheit an, dass Jesus Christus Gott ist, im Fleisch gekommen.
5,24 In den vorhergehenden Versen haben wir erfahren, dass der Herr Jesus die Macht hat, das Leben zu geben, und dass ihm auch das Gericht übertragen worden ist. Nun erfahren wir, wie man von ihm geistliches Leben geschenkt bekommt und dem Gericht entgeht. Dies ist einer meiner Lieblingsverse der Bibel. Durch seine Botschaft haben schon viele Menschen das ewige Leben erhalten. Zweifellos ist der Grund dafür, dass er so sehr geliebt wird, die Art und Weise, in der er den Weg zur Errettung so deutlich darstellt. Der Herr Jesus begann diesen Vers mit den Worten »Wahrlich, wahrlich«, um damit die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung dessen zu lenken, was er jetzt sagen wollte. Dann fügte er noch die sehr persönliche Mitteilung hinzu: »Ich sage euch.« Der Sohn Gottes sprich hier sehr persönlich zu uns. »Wer mein Wort hört«. Das Wort Jesu zu hören, bedeutet nicht nur, hinzuhören, sondern auch, es anzunehmen, ihm zu glauben und ihm zu gehorchen. Viele Leute hören die Predigt des Evangeliums, doch sie können damit nichts anfangen. Der Herr sagt hier, dass man seine Lehre als göttlich annehmen und glauben muss, dass er der Heiland der Welt ist. »Und glaubt dem, der mich gesandt hat«. Es geht darum, Gott zu glauben. Doch heißt das, dass man dadurch schon gerettet ist, wenn man an Gott glaubt? Viele behaupten, an Gott zu glauben, doch sie haben sich nie bekehrt. Nein, es geht hier um den Gedanken, dass man Gott glauben muss, der den Herrn Jesus Christus in die Welt gesandt hat. Was muss man glauben? Man muss glauben, dass Gott den Herrn Jesus gesandt hat, damit er uns rettet. Man muss glauben, was Gott über den Herrn Jesus gesagt hat, nämlich den Tatbestand, dass er der einzige Retter ist und Sünde nur durch sein Werk am Kreuz von Golgatha vergeben werden kann.
»Hat ewiges Leben«. Man beachte den Wortlaut: Es geht nicht darum, dass er ewiges Leben haben wird, sondern darum, dass er es jetzt »hat«. »Ewiges Leben« ist das Leben des Herrn Jesus Christus. Es ist nicht nur ein Leben, das nie enden wird, sondern es geht um ein qualitativ höherstehendes Leben. Es ist das Leben, das der Heiland uns geschenkt hat, die wir an ihn glauben. Es ist das geistliche Leben, das man empfängt, wenn man wiedergeboren wird. Es steht im Gegensatz zum natürlichen Leben, das man bei der leiblichen Geburt erhält. »Und kommt nicht ins Gericht«. Es geht darum, dass man weder jetzt noch zukünftig verdammt wird. Wer an den Herrn Jesus glaubt, ist vom Gericht befreit, weil Christus die Strafe für unsere Sünden am Kreuz von Golgatha erlitten hat. Gott straft nicht zweimal. Christus hat die Strafe als unser Stellvertreter auf sich genommen, und das reicht. Er hat das Werk vollendet, wobei man einem vollendeten Werk nichts hinzufügen kann. Der Christ wird nie für seine Sünden bestraft werden.15
»Sondern er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen«. Wer Jesus Christus vertraut, ist aus einem Zustand des geistlichen Todes in den Zustand des geistlichen Lebens übergangen. Vor der Bekehrung war er tot in Übertretungen und Sünden. Er war tot, soweit es Liebe zu Gott oder Gemeinschaft mit dem Herrn betrifft. Als er an Jesus Christus glaubte, wurde ihm der Geist Gottes zugeeignet, der fortan in ihm wohnt. Nun besitzt er das Leben aus Gott.
5,25 Hier verwendet der Herr den Ausdruck »wahrlich, wahrlich« zum dritten Mal in diesem Kapitel und zum siebten Mal im bisher betrachteten Text des Evangeliums. Als der Herr sagte, »dass die Stunde kommt und jetzt da ist«, meinte er nicht einen Zeitraum von sechzig Minuten, sondern er drückte damit aus, dass die Zeit kommen würde und schon da sei. Die Zeit, die er meinte, bezieht sich auf seine Ankunft auf dem Schauplatz der Weltgeschichte. Wer sind »die Toten«, von denen in diesem Vers gesprochen wird? Wer sind diejenigen, die »die Stimme des Sohnes Gottes hören« und leben werden? Es könnte sich natürlich auf diejenigen beziehen, die der Herr während seines öffentlichen Wirkens aus den Toten auferweckt hat. Doch dieser Vers hat noch eine umfassendere Bedeutung. »Die Toten« sind diejenigen, die in Übertretungen und Sünden tot sind. Sie hören »die Stimme des Sohnes Gottes«, wenn das Evangelium gepredigt wird. Wenn sie die Botschaft annehmen und den Heiland in ihr Herz aufnehmen, dann gelangen sie vom Tod ins Leben.
Um die Auslegung zu stützen, dass Vers 25 vom Geistlichen und nicht vom Leiblichen redet, listen wir hier die Vergleiche und Gegensätze zwischen Vers 25 und den Versen 28.29 auf: V. 25 V. 28.29
vom Tod zum Leben nach dem Tod Leben
»die Stunde »die Stunde kommt« kommt, und ist
jetzt«
»die Toten« »alle, die in den Gräbern sind«
»werden die »werden seine Stimme hören« Stimme hören« »die sie gehört »und hervorkommen« haben, werden
leben«
5,26 Dieser Vers erklärt, wie man vom Herrn Jesus das Leben bekommen kann. Ebenso »wie der Vater« der Ursprung und Geber des Lebens ist, »so hat er« bestimmt, dass auch »der Sohn … Leben … in sich selbst« hat und es an andere weitergeben kann. Hier haben wir wieder eine eindeutige Aussage über die Gottheit Christi und seine Stellungsgleichheit mit dem Vater. Man kann von keinem Menschen sagen, dass er das Leben in sich selbst hat. Jedem von uns ist das Leben geschenkt worden, aber dem Vater oder dem Herrn Jesus ist es nie geschenkt worden. Von aller Ewigkeit her wohnte das Leben in ihnen. Dieses Leben hatte keinen Anfang. Es hatte keinen außergöttlichen Ursprung.
5,27 Gott hat nicht nur bestimmt, dass der Sohn das Leben in sich selbst haben soll, sondern »hat ihm Vollmacht geg eben«, Richter der Welt zu sein. Das Richteramt ist Jesus gegeben, »weil er des Menschen Sohn ist«. Der Herr wird sowohl Sohn Gottes als auch Menschensohn genannt. Der Titel Sohn Gottes erinnert uns daran, dass er eine Person der göttlichen Dreieinheit ist. Als Sohn Gottes ist er dem Vater und dem Heiligen Geist gleich und kann von daher Leben geben. Aber er ist auch »der Sohn des Menschen«. Er kam als Mensch in diese Welt, lebte hier unter Menschen und starb am Kreuz stellvertretend für die Menschen. Er wurde verworfen und gekreuzigt, als er als Mensch in diese Welt kam. Wenn er wiederkommt, wird er kommen, um seine Feinde zu richten und auf genau derselben Welt geehrt zu werden, die ihn vorher so grausam behandelt hat. Weil er sowohl Gott als auch Mensch ist, hat er die absoluten Vollmachten des Richteramts.
5,28 Zweifellos waren die zuhörenden Juden erstaunt, als Jesus diese eindeutigen Ansprüche auf seine Gottheit formulierte. Er erkannte natürlich, welche Gedanken ihnen durch den Kopf gingen, deshalb sagte er ihnen, sie sollten »sich nicht wundern«. Dann fuhr er mit einer noch aufregenderen Wahrheit fort. Zu einer Zeit, die heute noch in der Zukunft liegt, werden alle, deren Leiber in Gräbern liegen, »seine Stimme hören«. Würde jemand, der nicht Gott war, vorhersagen, dass die Toten eines Tages seine Stimme hören würden? Wie töricht wäre das! Nur Gott konnte eine solche Aussage machen.
5,29 Alle Toten werden eines Tages auferweckt werden. Einige werden zum Leben, die anderen zum Gericht auferweckt. Welch eine schwerwiegende Wahrheit ist es, dass jeder, der auf dieser Erde lebte, lebt oder leben wird, zu einer dieser beiden Gruppen gehören wird!16 Vers 29 lehrt nicht, dass Menschen, die Gutes getan haben, wegen ihrer guten Taten gerettet werden, und dass die Täter des Bösen wegen ihres verdorbenen Lebenswandels verlorengehen. Man wird nicht gerettet, indem man Gutes tut, sondern man tut Gutes, weil man gerettet ist. Gute Werke sind nicht die Wurzel, sondern eher die Frucht der Errettung. Sie sind nicht Ursache, sondern Wirkung. Der entsprechende Ausdruck (»die aber das Böse verübt haben«) beschreibt diejenigen, die nie an Jesus geglaubt und ihm vertraut haben und deren Leben folglich aus Gottes Sicht »böse« ist. Diese werden auferstehen, um vor Gott gestellt und zur ewigen Verdammnis verurteilt zu werden.
D. Vier Zeugen für die
Gottessohnschaft Jesu (5,30-47)
5,30 Zunächst scheint der hier stehende Satz (»Ich kann nichts von mir selbst tun«) auszusagen, dass der Herr Jesus nicht die Macht hätte, irgendetwas aus eigener Kraft zu tun. Doch das war nicht der Fall. Der Gedanke hier ist, dass er so eng mit Gott dem Vater verbunden ist, dass er nicht von sich selbst aus handeln kann. Er konnte nichts aus eigener Vollmacht tun. Im Charakter des Herrn Jesus fand sich nicht die geringste Spur von Eigenwillen. Er handelte im vollkommenen Gehorsam gegenüber seinem Vater und immer in der umfassendsten Gemeinschaft und Übereinstimmung mit ihm. Dieser Vers ist oft von falschen Lehrern benutzt worden, um ihre Behauptung zu stützen, dass Jesus Christus nicht Gott sei. Sie sagen, dass er nur ein Mensch war, weil er nichts von sich aus tun konnte. Doch dieser Vers beweist das genaue Gegenteil. Die Menschen können sehr oft tun, was ihnen beliebt, gleichgültig, ob das dem Willen Gottes entspricht oder nicht. Doch weil Jesus Gottes Sohn war, konnte er nicht so handeln. Als Mensch hätte er alles tun können, nicht aber als moralisches Wesen. Er besaß die körperliche Kraft, alles zu tun, doch er konnte nichts Falsches tun. Dabei wäre es für ihn falsch gewesen, irgendetwas zu tun, das nicht dem Willen Gottes des Vaters für ihn entsprach. Diese Aussage trennt Jesus von jedem anderen Menschen.
So wie der Herr Jesus seinem Vater zuhörte und täglich Weisungen empfing, so dachte, lehrte und handelte er. Das Wort »richten« bezeichnet hier keine Urteilsfindung hinsichtlich einer Rechtsangelegenheit, sondern vielmehr eine Entscheidung darüber, welche Taten und welche Worte für ihn richtig waren.
Weil den Herrn keine selbstsüchtigen Motive bewegten, konnte er Angelegenheiten gerecht und unparteiisch beurteilen. Sein einziges Anliegen war, seinem Vater zu gefallen und dessen Willen zu tun. Nichts durfte dem im Wege stehen. Deshalb wurde seine Beurteilung von Angelegenheiten nicht durch das beeinflusst, was ihm zum Vorteil hätte gereichen können. Unsere Meinungen und Lehren werden normalerweise von dem beeinflusst, was wir tun und was wir glauben wollen. Doch das gilt nicht für den Sohn Gottes. Seine Meinungen oder Urteile beruhten nicht auf seinem eigenen Vorteil. Er war im wahrsten Sinne des Wortes »vorurteilslos«.
5,31 In den restlichen Versen dieses Kapitels beschreibt der Herr Jesus Christus die verschiedenen Zeugen seiner Göttlichkeit. Als Erstes war da das Zeugnis  von  Johannes  dem  Täufer  (V. 33-35), dann  das  Zeugnis  seiner  Werke  (V. 36), das Zeugnis des Vaters (V. 37.38) und das Zeugnis der alttestamentlichen Schriften (V. 39-47).
Zuerst trifft Jesus jedoch eine allgemeine Aussage über das Thema Zeugnis. Er sagte: »Wenn ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugnis nicht wahr.« Das bedeutet nicht, dass der Herr Jesus auch nur einen Augenblick etwas hätte sagen können, das nicht der Wahrheit entsprach. Er beschrieb einfach die allgemeine Tatsache, dass das Zeugnis einer einzelnen Person bei Gericht nicht als ausreichender Beweis galt. Gottes Anweisung lautete, dass mindestens zwei oder drei Zeugen erforderlich waren, ehe ein gültiges Urteil gefällt werden konnte. Und deshalb bot der Herr Jesus nicht nur zwei oder drei, sondern sogar vier Zeugen für seine Göttlichkeit auf.
5,32 Es ist fraglich, ob sich dieser Vers auf Johannes den Täufer, Gott den Vater oder auf den Heiligen Geist bezieht. Einige sind der Meinung, dass die Worte »ein anderer« sich auf Johannes den Täufer beziehen und dieser Vers mit den drei folgenden zusammengehört. Andere glauben, dass der Herr hier über das Zeugnis spricht, das der Heilige Geist über ihn gibt. Wir glauben, dass »er« sich auf das Zeugnis des Vaters bezieht.
5,33 Nachdem Jesus den größten aller Zeugen, seinen Vater, angeführt hat, wandte er sich dem Zeugnis Johannes’ des Täufers zu. Er erinnerte die ungläubigen Juden daran, dass sie Männer »zu Johannes gesandt« hatten, um zu hören, was er zu sagen hatte, und dass sich das Zeugnis des Johannes ausschließlich auf den Herrn Jesus Christus bezog. Statt Menschen auf sich selbst hinzuweisen, wies er sie auf den Heiland hin. Er hat »Zeugnis gegeben« von dem, der die »Wahrheit« selbst ist.
5,34 Der Herr Jesus erinnerte seine Zuhörer daran, dass sein Anspruch, Gott gleich zu sein, nicht einfach auf dem Zeugnis von Menschen beruht. Wenn er nur das Zeugnis von Menschen gehabt hätte, dann wäre dieses Zeugnis wenig beweiskräftig. Aber er erwähnte das Zeugnis des Johannes, weil dieser von Gott gesandt worden war. Außerdem hatte Johannes von Jesus gesagt, dass er der Messias und das Lamm Gottes sei, das die Sünde der Welt wegnimmt. Dann fügte er hinzu: »… sondern dies sage ich, damit ihr errettet werdet.« Warum sprach der Herr Jesus so ausführlich zu den Juden? Wollte er nur versuchen zu beweisen, dass er im Recht war und sie unrecht hatten? Im Gegenteil, er breitete vor ihnen diese wunderbaren Wahrheiten aus, damit sie seine Identität erkennen und ihn als den verheißenen Retter annahmen konnten. Dieser Vers zeigt uns ganz deutlich das liebevolle und mitfühlende Herz des Herrn Jesus. Er sprach zu denen, die ihn hassten und die schon bald nach einem Weg suchen würden, wie sie ihn beseitigen könnten. Doch er seinerseits hasste sie nicht. Er konnte auch sie nur lieben.
5,35 In diesem Satz zollte der Herr Johannes dem Täufer seine Anerkennung als eine »brennende und scheinende Lampe«. Das bedeutete, dass er ein sehr eifriger Mann war, der anderen das Licht bringen sollte und sich darin verzehrte, seine Mitmenschen auf Jesus hinzuweisen. Zuerst strömten die Juden zu Johannes dem Täufer. Er war unerwartet gekommen; eine für sie fremde Gestalt war in ihr Leben getreten, und sie kamen, um ihn zu hören. »Für eine Zeit« nahmen sie ihn als populären religiösen Lehrer an. Warum wollten dann aber die meisten Juden nicht denjenigen annehmen, den Johannes verkündigt hatte, nachdem sie den Täufer so anerkennend aufgenommen hatten? Sie freuten sich eine Zeit lang, doch es gab keine echte Buße. Sie waren inkonsequent. Sie nahmen den Vorläufer an, aber den König wollten sie nicht empfangen! Jesus zollte dem Täufer große Anerkennung. Wenn ein Diener Christi vom Sohn Gottes eine »brennende und scheinende Lampe« genannt wird, dann ist das ein echtes Lob. Mögen wir, die wir den Herrn Jesus lieben, danach streben, dass auch wir Feuerflammen für Jesus sind, die sich selbst verzehren, aber dabei der Welt Licht bringen.
5,36 Das Zeugnis des Johannes war nicht der stichhaltigste Beweis Christi für seine Göttlichkeit. Die Wunder, die Jesus im Auftrag des Vaters vollbringen sollte, stellten ihm das Zeugnis aus, dass er wirklich »vom Vater gesandt« war. Wunder an sich sind noch kein Beweis der Göttlichkeit. In der Bibel lesen wir von Menschen, denen die Macht gegeben war, Wunder zu tun. Wir lesen sogar von Wesen des Bösen, die ebenfalls die Macht dazu hatten. Aber die Wunder des Herrn Jesus unterschieden sich von allen anderen. Erstens war er in sich selbst befähigt, diese Machttaten zu vollbringen, während anderen diese Macht gegeben war. Andere Menschen haben Wunder getan, aber sie konnten die Macht, Wunder zu tun, nicht an andere weitergeben. Der Herr Jesus vollbrachte nicht nur selbst Wunder, sondern gab auch seinen Aposteln die Vollmacht, dasselbe zu tun. Außerdem waren die Werke, die der Retter tat, dieselben, die das AT für den Messias voraussagte. Und schließlich waren die Wunder des Herrn Jesus einzigartig in ihrer Wesensart, Tragweite und Anzahl.
5,37.38 Noch einmal sprach der Herr von dem Zeugnis, das der Vater ihm gab. Vielleicht spielte Jesus hier auf seine Taufe an. Da hörte man die Stimme Gottes des Vaters sagen, dass Jesus sein geliebter Sohn ist, an dem er Wohlgefallen hat. Doch sollte hinzugefügt werden, dass der Vater auch durch das Leben, den Dienst und die Wunder des Herrn Jesus von der Tatsache Zeugnis gab, dass Jesus sein Sohn ist.
Die ungläubigen Juden hatten »weder jemals« Gottes »Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen«, weil sie »sein Wort … nicht bleibend« in sich hatten. Gott spricht durch sein Wort, die Bibel, zu den Menschen. Diese Juden hatten die Schriften des AT, doch sie erlaubten Gott nicht, zu ihnen durch diese Schriften zu reden. Ihre Herzen waren verhärtet, und als Zuhörer waren sie träge geworden. Sie hatten nie Gottes Gestalt oder seine Person gesehen, weil sie nicht an den Einen glaubten, den Gott gesandt hatte. Gott der Vater hat keine Gestalt, die man mit sterblichen Augen sehen kann. Er ist Geist und deshalb unsichtbar. Doch Gott hat sich den Menschen in der Person des Herrn Jesus Christus offenbart. In einer sehr realen Weise sahen diejenigen, die an Christus glaubten, die Gestalt Gottes. Die Ungläubigen sahen ihn nur als einen normalen Menschen an.
5,39 Der erste Teil dieses Verses kann auf zweierlei Weise verstanden werden.17 Als Erstes könnte der Herr Jesus zu den Juden gesagt haben, dass sie die Schrift erforschen sollten. Oder er könnte einfach die Tatsache festgestellt haben, dass sie die Schriften erforschten, weil sie dachten, durch den bloßen Besitz der Schriften ewiges Leben zu haben. Beide Auslegungen des Verses sind möglich. Wahrscheinlich wollte der Herr Jesus hier einfach die Tatsache festhalten, dass die Juden »die Schriften« erforschten und dachten, dadurch das »ewige Leben« erlangen zu können. Sie erkannten nicht, dass die alttestamentlichen Schriften, die vom Kommen des Messias reden, eigentlich von Jesus redeten. Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, dass diese Menschen mit der Schrift in ihrer Hand so blind sein konnten. Doch war es noch unentschuldbarer, dass sie den Herrn Jesus immer noch nicht annehmen wollten, nachdem er so zu ihnen gesprochen hat. Man beachte den zweiten Teil des Verses besonders aufmerksam: »… und sie sind es, die von mir zeugen.« Das bedeutet einfach, dass das Hauptthema des AT das Kommen des Christus ist. Wenn jemand das beim Studium des AT nicht erkennt, dann entgeht ihm die Hauptsache.
5,40 Die Juden »wollten nicht« zu Jesus »kommen, damit« sie »Leben« hätten. Der wahre Grund, warum ein Mensch den Retter nicht annimmt, besteht nicht darin, dass er das Evangelium nicht verstehen könnte oder es unmöglich findet, an Jesus zu glauben. Es gibt nichts am Herrn Jesus, das es unmöglich macht, ihm zu vertrauen. Die Schuld ist im Willen des Menschen zu suchen. Er liebt seine Sünden mehr als den Retter. Er will seinen bösen Lebensstil nicht aufgeben.
5,41 Der Herr Jesus verurteilte die Juden dafür, dass sie ihn nicht annehmen wollten. Nach seinem Willen sollten sie nicht denken, dass er gekränkt war, weil sie ihm nicht die Ehre gegeben hatten, die ihm gebührte. Er kam nicht in diese Welt, um sich von den Menschen dieser Welt loben zu lassen. Er war von ihrer Anerkennung nicht abhängig. Alles, was er suchte, war die Anerkennung seines Vaters. Auch wenn die Mensch ihn ablehnten, konnte das seine Herrlichkeit nicht vermindern.
5,42 Dass Menschen den Sohn Gottes nicht annahmen, wird hier auf eine Ursache zurückgeführt. Diese Menschen hatten »die Liebe Gottes nicht in« sich, das heißt, dass sie sich selbst mehr liebten als Gott. Wenn sie Gott geliebt hätten, hätten sie den Einen angenommen, den Gott gesandt hat. Durch ihre Ablehnung des Herrn Jesus zeigten sie, dass sie den Vater nicht liebten.
5,43 Der Herr Jesus kam »in dem Namen«  seines  »Vaters«,  d. h.  er  kam,  um den Willen des Vaters zu tun, ihn zu verherrlichen und ihm in allen Dingen Gehorsam zu leisten. Wenn die Menschen Gott wirklich geliebt hätten, dann hätten sie auch den Einen geliebt, der Gott in all seinem Tun und Reden gefallen wollte. Jesus sagte nun voraus, dass »ein anderer in seinem eigenen Namen« kommen wird und die Juden diesen »aufnehmen« werden. Vielleicht bezog er sich auf die vielen falschen Lehrer, die nach ihm aufstanden und versuchten, das Volk auf ihre Seite zu bringen. Vielleicht bezog er sich auch auf die Führer von falschen Religionen, die durch die Jahrhunderte immer wieder behauptet haben, Christus zu sein. Doch wahrscheinlicher ist es, dass er hier den Antichristen meinte. Eines Tages wird ein selbst ernannter Herrscher unter den Juden aufstehen und verlangen, als Gott  angebetet  zu  werden  (2. Thess  2,810). Die Mehrheit der Juden wird diesen Antichristen als Herrscher akzeptieren. Die Folge wird sein, dass sie unter das harte Gericht Gottes fallen (1. Joh 2,18).
5,44 Hier gab der Herr noch einen anderen Grund an, warum die Juden ihn nicht annahmen. Sie waren mehr daran interessiert, bei ihren Mitmenschen gut angesehen zu sein, als bei Gott. Sie hatten Angst, was ihre Freunde wohl sagen würden, wenn sie das Judentum verließen. Sie waren nicht gewillt, die Verfolgung und das Leid auf sich zu nehmen, das über sie kommen würde, wenn sie Nachfolger des Herrn Jesus werden würden. Solange jemand noch Angst davor hat, was andere sagen oder tun könnten, kann er nicht gerettet werden. Um an den Herrn Jesus glauben zu können, muss man die Anerkennung Gottes mehr suchen als das Ansehen von irgendjemand anders. Man muss »die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist«, suchen.
5,45 Der Herr wird die Juden »bei dem Vater nicht »verklagen« müssen. Natürlich könnte er viele Anklagen gegen sie vorbringen. Doch das wird nicht nötig sein, weil die Schriften Moses genügen werden, um sie anzuklagen. Diese Juden waren sehr stolz auf das AT und insbesondere auf die fünf Bücher Mose, die Thora. Sie waren stolz, dass diese Schriften Israel gegeben waren. Doch das Problem war, dass sie den Worten Moses nicht gehorchten, wie Vers 46 zeigt.
5,46 Der Herr Jesus stellte die Schriften des Mose auf dieselbe Stufe wie seine eigenen Worte. Beide haben die gleiche Autorität. Uns wird gesagt, dass »alle Schrift von Gott eingegeben ist«. Ob wir das AT oder das NT lesen, wir lesen das Wort Gottes. Wenn die Juden dem Wort des Mose geglaubt hätten, dann hätten sie auch dem Herrn Jesus Christus geglaubt, weil Mose vom Kommen Christi geschrieben hat. Ein Beispiel dafür finden wir in 5. Mose 18,15.18: »Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören … Einen Propheten wie dich will ich ihnen aus der Mitte ihrer Brüder erstehen lassen. Ich will meine Worte in seinen Mund legen, und er wird zu ihnen alles reden, was ich ihm befehlen werde.« In diesen Versen sagte Mose das Kommen Christi voraus und befahl dem jüdischen Volk, auf ihn zu hören und ihm zu gehorchen, wenn er käme. Nun war der Herr Jesus gekommen, aber die Juden wollten ihn nicht annehmen. Deshalb sagte er, dass Mose sie vor dem Vater anklagen würde, weil sie vorgaben, an Mose zu glauben, doch nicht taten, was Mose geboten hatte. Die Worte »denn er hat von mir geschrieben« sind eine deutliche Aussage unseres Herrn, dass die Schriften des AT Prophezeiungen auf ihn enthalten. Augustinus sagte deshalb: »Das Neue ist im Alten aufbewahrt; das Alte ist im Neuen geoffenbart.«
5,47 Wenn die Juden schon nicht den Schriften des Mose glauben wollten, war es unwahrscheinlich, dass sie den Worten Jesu glauben würden. Es gibt eine sehr enge Beziehung zwischen dem AT und dem NT. Wenn man die Inspiration des AT anzweifelt, dann ist es wenig wahrscheinlich, dass man gleichzeitig die Worte des Herrn Jesus als inspiriert ansieht. Wenn Menschen bestimmte Teile der Bibel angreifen, dann dauert es meist nicht lange, bis sie auch den Rest der Bibel anzweifeln. King sagt dazu: Der Herr spielt hier natürlich auf den Pentateuch an – auf die fünf Bücher Mose als den Teil der Bibel, der mehr als alle anderen angegriffen worden ist. Und seltsamerweise ist das derjenige Teil, den der Meister, soweit die Aufzeichnungen gehen, mehr als jeden anderen zitiert hat. Es ist, als ob er diesem Teil der Bibel, lange bevor die Angriffe begannen, sein »Imprimatur« erteilen wollte.18 IV. Der Dienst des Sohnes Gottes – drittes Jahr: Galiläa (Kap. 6) A. Das vierte Zeichen: Die Speisung der Fünftausend (6,1-15)
6,1 Der Ausdruck »danach« bedeutet, dass seit den Ereignissen in Kapitel 5 eine längere Zeitspanne vergangen war. Wir wissen nicht genau, wie viel Zeit, doch uns ist bekannt, dass Jesus von der Gegend um Jerusalem zum See Genezareth gereist war. Wenn es heißt, dass er den See überquerte, dann ist damit wahrscheinlich eine Überfahrt vom Nordwestzum Nordostufer gemeint. Der See Genezareth war auch unter dem Namen »See von Tiberias« bekannt, weil die Stadt Tiberias an seinem Westufer lag. Diese Stadt, die Hauptstadt der Provinz Galiläa, wurde nach dem römischen Kaiser Tiberius benannt.
6,2.3 »Eine große Volksmenge« folgte Jesus, aber vermutlich nicht deshalb, weil die Menschen an Jesus als den Sohn Gottes glaubten, sondern »weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat«. Ein Glaube, der sich auf Wunder gründet, ist vor Gott nie so wohlgefällig, wie jener Glaube, der auf seinem Wort allein beruht. Gottes Wort sollte keine Wunder zu seiner Bestätigung nötig haben. Alles, was Gott sagt, ist wahr. Es kann einfach nicht falsch sein. Das sollte jedem genügen. In Vers 3 heißt es: »Jesus aber ging hina uf auf den Berg«; doch damit kann einfach die bergige (oder hüglige) Gegend in der Nähe des Sees gemeint sein.
6,4 Es ist nicht klar, warum Johannes erwähnte, dass das Passahfest nahe war. Einige schlagen vor, dass der Herr Jesus vielleicht an das Passah dachte, als er in diesem Kapitel seine wunderbare Rede über das wahre Brot des Lebens gehalten hat. Er war zum Passah nicht nach Jerusalem gegangen. Johannes erwähnte das Passah als »das Fest der Juden«. Natürlich war es im AT von Gott eingesetzt worden. Gott hatte es dem jüdischen Volk gegeben, und in diesem Sinne war es »das Fest der Juden«. Doch der Ausdruck könnte auch bedeuten, dass Gott es nicht länger als eines seiner Feste ansah, weil die Juden es nur noch als Zeremonie feierten, ohne dass sie von Herzen daran teilgenommen hätten. Es hatte seine wahre Bedeutung verloren und war deshalb nicht länger ein Fest des Herrn.
6,5 Jesus ärgerte sich nicht über die »große Volksmenge«, weil sie ihn in seiner Ruhe oder bei seiner Zeit mit den Jüngern gestört hätte. Sein erster Gedanke war, dass man ihnen etwas zu essen besorgen müsse. Und deshalb wandte er sich an Philippus und fragte, wo man Brot kaufen könne, um diese Menschenmenge zu versorgen. Wenn Jesus eine Frage stellt, geschah das nicht, um sein eigenes Wissen zu vervollständigen, sondern um andere zu lehren. Er kannte die Antwort, Philippus jedoch nicht.
6,6 Der Herr wollte Philippus etwas Wertvolles lehren und seinen Glauben »prüfen«. Jesus »selbst wusste«, dass er ein Wunder vollbringen würde, um diese große Menschenmenge zu speisen. Doch glaubte Philippus, dass Jesus in der Lage war, das zu tun? Hatte Philippus einen großen oder kleinen Glauben?
6,7 Offensichtlich erreichte der Glaube des Philippus nicht gerade schwindelnde Höhen. Er überschlug kurz die zur Verfügung stehende Summe und entschied, dass selbst »für zweihundert Denare Brote« noch nicht einmal eine kleine Mahlzeit für jeden ergeben würden. Wir wissen nicht genau, wie viel Brot man damals für zweihundert Denare erhielt, doch es muss sehr viel gewesen sein. Ein Denar entsprach dem Tageslohn eines Arbeiters.
6,8.9 Andreas war »der Bruder des Simon Petrus«. Sie lebten in der Gegend von Betsaida, am Ufer des Sees Genezareth. Andreas war auch der Meinung, dass es schwer werden würde, so viele Menschen zu versorgen. Er sah einen kleinen Jungen mit »fünf Gerstenbroten und zwei Fischen«, doch war er der Meinung, dass es sinnlos sei, damit auch nur zu versuchen, so viele Menschen zu speisen. Dieser Junge hatte nicht viel, doch er war bereit, es dem Herrn Jesus zur Verfügung zu stellen. Infolgedessen wurde diese Geschichte in allen vier Evangelien aufgezeichnet. Er tat nichts Großartiges, doch es heißt im Lied: »Kannst du wenig nur verwenden, / soll’n es nur fünf Brote sein; / auch die kleinste deiner Spenden / ist dem Heiland nicht zu klein.« Dadurch wurde dieser Junge in der ganzen Welt berühmt.
6,10 Indem der Herr Jesus die Menschen »sich lagern« ließ, sorgte er für ihre Bequemlichkeit. Man beachte, dass er eine Stelle wählte, an der es »viel Gras« gab. Es war ungewöhnlich, in diesem Gebiet einen solchen Ort zu finden, doch der Herr sorgte dafür, dass die Menge an einem sauberen und schönen Ort essen konnte.
Es heißt, dass dort Tausende »Männer« waren, sodass wir davon ausgehen müssen, dass die Frauen und Kinder noch dazukamen. Die Zahl Fünftausend wird genannt, um anzudeuten, welch ein gewaltiges Wunder gleich stattfinden würde.
6,11 »Jesus aber nahm die Brote« und dankte für sie. Wenn er das tat, ehe er das Essen austeilte und an einer Mahlzeit teilnahm, wie viel mehr sollten wir innehalten, um Gott zu danken, ehe wir uns zu Tisch setzen. Wir können aus diesem Vers noch eine andere wichtige Lehre ziehen. Der Herr Jesus tat nicht alles selbst, sondern bezog auch andere in den Dienst mit ein.19 Jemand hat einmal schön gesagt: »Du tust, was du kannst, ich werde tun, was ich kann, und der Herr wird tun, was wir nicht tun können.«
Als der Herr das Brot den Jüngern gab, hatte es sich schon auf wunderbare Art vermehrt. Der genaue Zeitpunkt, zu dem sich das Wunder ereignete, ist nicht aufgezeichnet, doch wir wissen, dass auf wunderbare Weise die fünf Brote und zwei kleinen Fische in den Händen unseres Herrn so vermehrt wurden, dass es reichte, um diese Menschenmenge zu versorgen. Die Jünger gingen umher und teilten … »denen aus, die da lagerten«. Es war nicht knapp bemessen, denn es ist ausdrücklich gesagt, dass sie ihnen von den Fischen gaben, »so viel sie wollten«. Griffith Thomas erinnert uns daran, dass wir in dieser Geschichte schöne Illustrationen für
a) die vergängliche Welt, b) die machtlosen Jünger und c) den vollkommenen Heiland haben. Dieses Wunder war ein echter Schöpfungsakt. Kein einfacher Mensch kann fünf Brote und zwei kleine Fische nehmen und sie so »vermehren«, dass sie eine solche Menschenmenge sättigen können. Jemand hat dazu gesagt: »Als er das Brot segnete, war Frühling, es war Ernte als er es brach.« Wahr ist auch: »Ungesegnetes Brot vermehrt sich nicht.«20
6,12 Das ist eine sehr schöne Randbemerkung. Wenn Jesus ein normaler Mensch gewesen wäre, hätte er sich nicht um die Reste gekümmert. Keiner, der in der Lage ist, fünftausend Menschen zu speisen, sorgt sich doch um ein paar übrig gebliebene Brocken! Doch Jesus ist Gott, und bei Gott darf es keine Verschwendung geben. Er möchte nicht, dass wir mit den wertvollen Gütern, die er uns schenkt, unachtsam umgehen, und so ist er darauf bedacht, dass die Brocken, die übrig geblieben sind, aufgesammelt werden, »damit nichts umkomme«. Viele Menschen versuchen, dieses Wunder wegzuerklären. Sie behaupten, dass die Leute sahen, wie ein kleiner Junge Jesus seine fünf Brote und zwei Fische gab. Das ließ sie erkennen, wie selbstsüchtig sie waren, sodass sie beschlossen, ihr mitgebrachtes Essen auszupacken und miteinander zu teilen. Auf diese Weise hatten alle zu essen. Doch keine derartige Erklärung wird den Tatsachen gerecht, wie wir im nächsten Vers sehen werden.
6,13 Zwölf Körbe mit Brot wurden aufgesammelt, nachdem die Leute gegessen hatten. Es wäre glatt unmöglich gewesen, eine solche Menge an Brot aufzusammeln, wenn es sich dabei nur um das Mittagessen gehandelt hätte, das jeder dabei hatte. Die menschlichen Erklärungsversuche erweisen sich als lächerlich. Es ist nur eine Schlussfolgerung zulässig: Es war ein großartiges Wunder geschehen.
6,14 Die Menschen selbst erkannten, dass es sich um ein Wunder handelte. Das hätten sie nie getan, hätten sie einfach nur ihr mitgebrachtes Essen verzehrt. Ja, sie waren vom Wundercharakter des Geschehens absolut überzeugt und aufgrund dessen bereit anzuerkennen, dass Jesus »der Prophet ist, der in die Welt kommen soll«. Sie wussten aus dem AT, dass ein solcher Prophet kommen würde, und sie erwarteten von ihm, dass er sie von der Herrschaft des Römischen Reiches befreien würde. Sie warteten auf einen irdischen Herrscher. Doch ihr Glaube war nicht echt. Sie waren weder bereit, die Gottessohnschaft Jesu anzuerkennen, noch gewillt, ihre Sünden zu bekennen und ihn als Retter anzunehmen.
6,15 Aufgrund des Wunders, das Jesus getan hatte, wollten sie »ihn zum König … machen«. Und wieder: Wäre Jesus ein normaler Mensch gewesen, hätte er ihnen ihre Bitte sicherlich bereitwillig erfüllt. Menschen sind zu sehr darauf bedacht, Ansehen zu erwerben und Macht zu erhalten. Doch Jesus wurde durch solche, auf Stolz oder Geltungsbedürfnis abzielende Appelle nicht bewegt. Er wusste, dass er in die Welt gekommen war, um für Sünder als Stellvertreter am Kreuz zu sterben. Er würde nichts tun, was diesem Ziel entgegenstände. Er würde erst den Thron einnehmen, wenn er den Opferaltar bestiegen hatte. Er musste leiden und sterben, ehe er erhöht werden konnte. F. B. Meyer schreibt:
Bernhard von Clairvaux hat dazu gesagt: Jesus floh immer dann, wenn sie ihn zum König machen wollten, und war immer zur Stelle, wenn sie ihn kreuzigen wollten. Mit diesem Wissen vor Augen sollten wir nicht zögern, die edlen Worte des Gatiters Ittai zu übernehmen: »So wahr der Herr lebt und mein Herr, der König, lebt, wahrlich, an dem Ort, wo mein Herr, der König, sein wird, sei es zum Tod, sei es zum Leben, nur dort wird dein Knecht sein« (2. Sam 15,21). Und Jesus wird sicherlich so antworten, wie David einem anderen Flüchtling antwortete, der kam, um sich mit ihm eins zu machen: »Bleibe bei mir, fürchte dich nicht! Denn wer nach meinem Leben trachtet, trachtet auch nach deinem. Bei mir bist du in Sicherheit (1. Sam 22,23; Anm. d. Übers.).«21 B. Das fünfte Zeichen: Jesus geht auf dem Wasser und rettet seine Jünger (6,16-21)
6,16.17 Es war Abend geworden. Jesus war allein auf einen Berg gestiegen. Die Menge ging zweifellos nach Hause und ließ die Jünger allein zurück. Deshalb beschlossen die Jünger, »hinab an den See« zu gehen und sich für ihre Fahrt über den See Genezareth vorzubereiten. »Sie stiegen in das Boot und fuhren über den See nach Kapernaum. Und es war schon finster geworden.« Jesus war nicht bei ihnen. Wo war er geblieben? Er war noch auf dem Berg und betete. Welch ein Bild für die Nachfolger Christi heute. Sie fahren über die stürmische See des Lebens. Es ist dunkel. Der Herr Jesus ist nirgends zu sehen. Doch das bedeutet nicht, dass er nicht weiß, was vorgeht. Er ist im Himmel und betet für diejenigen, die er liebt.
6,18 Auf dem See Genezareth gibt es oft heftige Stürme, die sehr überraschend entstehen. Die Winde kommen sehr schnell das Jordantal hinunter. Wenn sie dann auf die Oberfläche des Sees treffen, türmen sich die Wogen sehr hoch auf. Es ist für ein kleines Boot nicht ungefährlich, bei solch einem Sturm auf dem See zu sein.
6,19 Die Jünger waren etwa fünf oder sechs Kilometer weit gerudert. Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen waren sie in großer Gefahr. Genau im richtigen Moment schauten sie hoch und »sehen … Jesus auf dem See dahergehen und nahe an das Boot herankommen«. Hier haben wir ein weiteres Wunder. Der Sohn Gottes geht auf dem Wasser des Sees Genezareth. Die Jünger »fürchteten sich«, weil sie nicht genau erkennen konnten, wer diese wunderbare Person war.
Man beachte, wie schlicht diese Geschichte erzählt wird. Uns werden die erstaunlichsten Tatsachen erzählt, doch Johannes gebrauchte hier keine großartigen Worte, um uns mit der Eindrücklichkeit dieses Ereignisses zu imponieren. Er war sehr zurückhaltend, als er die schlichten Tatsachen darlegte.
6,20 Dann sprach der Herr Jesus wunderbare Worte des Trostes. »Ich bin es, fürchtet euch nicht!« Wenn er nur ein Mensch gewesen wäre, hätten sie allen Grund gehabt, sich zu fürchten, doch Jesus ist der allmächtiger Schöpfer und Erhalter des Universums. Wenn er bei uns ist, dann haben wir keinen Grund, uns zu fürchten. Der den See Genezareth gemacht hat, konnte auch seine Wasser beruhigen und seine ängstlichen Jünger sicher an Land bringen. Die Worte »Ich bin es« heißen eigentlich wörtlich übersetzt »Ich bin«. Bisher ist dies das zweite Mal im Johannesevangelium, wo Jesus diesen Namen Gottes auf sich selbst anwendet.
6,21 Nachdem die Jünger erkannt hatten, dass es der Herr Jesus war, nahmen sie ihn zu sich ins Boot. »Sogleich war das Schiff an Land« – an der Stelle, wohin sie fahren wollten. Hier wird ein weiteres Wunder berichtet, aber nicht weiter erklärt. Sie brauchten nicht mehr weiterzurudern. Der Herr Jesus brachte sie sofort an Land. Welch ein wunderbarer Herr ist Jesus doch! C. Die Menschen fordern ein Zeichen (6,22-34)
6,22 Wir schreiben nun den Tag nach der Speisung der Fünftausend. Die »Volksmenge« war noch immer am Nordostufer des Sees Genezareth. Die Menschen hatten gesehen, wie die Jünger am Abend zuvor in ein kleines Boot gestiegen waren, und wussten, »dass Jesus nicht mit seinen Jüngern« weggefahren war. Es gab dort nur ein Boot, und das hatten die Jünger genommen.
6,23 Am nächsten Tag waren »andere Boote« aus Tiberias gekommen. Sie fuhren »nahe an den Ort«, wo der Herr Jesus die Menge gespeist hatte. Doch der Herr konnte in diesen Booten nicht weggefahren sein, weil sie gerade erst angekommen waren. Doch vielleicht waren etliche aus der Menge in diesen kleinen Booten nach Kapernaum hinübergefahren, wie es in den folgenden Versen berichtet wird.
6,24 Diese Menschen hatten Jesus sehr genau beobachtet. Sie wussten, dass er auf einen Berg gestiegen war, um zu beten. Sie wussten, dass er nicht mit den Jüngern im Boot über den See gefahren war. Doch am folgenden Tag konnten sie ihn nirgends finden. Sie entschieden sich, den See in Richtung Kapernaum zu überqueren, wo die Jünger sich wahrscheinlich aufhielten. Sie wussten zwar nicht, wie Jesus dorthin gelangt sein könnte, doch sie beschlossen, trotzdem zu gehen und ihn zu suchen.
6,25.26 Als sie nach Kapernaum kamen, fanden sie ihn dort. Sie konnten ihre Neugier nicht mehr zurückhalten und fragten ihn, wann er angekommen sei. »Jesus antwortete« auf diese Frage indirekt. Er wusste, dass sie ihn nicht so sehr um seiner selbst willen suchten, sondern weil er ihnen am vorherigen Tag zu essen gegeben hatte. Sie hatten gesehen, wie er ein großes Wunder getan hatte. Das hätte sie davon überzeugen sollen, dass er wahrhaftig der Schöpfer und der Messias ist. Doch sie waren nur an Speise interessiert. Sie hatten die wunderbaren Brote gegessen und waren satt geworden.
6,27 So empfahl ihnen Jesus als Erstes, »nicht für die Speise, die vergeht«, zu arbeiten. Der Herr meinte damit nicht, dass sie sich nicht ihren Lebensunterhalt verdienen sollten, sondern er meinte, dass dies nicht ihr Hauptziel im Leben sein dürfe. Den körperlichen Hunger zu stillen, ist nicht das Wichtigste im Leben. Der Mensch besteht nicht nur aus dem Leib, sondern aus Leib, Geist und Seele. Wir sollten »für die Speise, die da bleibt ins ewige Leben«, arbeiten. Der Mensch sollte nicht so leben, als sei sein Leib alles. Er sollte nicht seine ganze Kraft und seine Fähigkeiten dazu benutzen, seinen Leib zu sättigen, der in wenigen Jahren von den Würmern zerfressen werden wird. Er sollte stattdessen sicherstellen, dass seine Seele tagtäglich mit dem Wort Gottes ernährt wird. »Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht.« Wir sollten unermüdlich arbeiten, um unsere Bibelerkenntnis zu vertiefen.
Als der Herr Jesus sagte, dass ihn »der Vater, Gott, versiegelt« habe (Elberfelder Bibel), meinte er damit, dass Gott ihn gesandt und anerkannt hatte. Wenn wir etwas besiegeln, dann geloben wir dadurch, dass es wahr ist. Gott versiegelte den Menschensohn in dem Sinne, dass er ihn als denjenigen bestätigte, der die Wahrheit sprach.
6,28 Die Leute fragten nun den Herrn, was sie tun müssten, um »die Werke Gottes« zu wirken. Der Mensch versucht immer, sich seinen Weg in den Himmel zu verdienen. Er liebt das Gefühl, etwas tun zu können, um die Erlösung verdientermaßen zu bekommen. Wenn er irgendetwas beitragen kann, um seine Seele zu erretten, dann hat er einen Grund zum Prahlen, und das ist ihm sehr angenehm.
6,29 Jesus aber durchschaute ihre Heuchelei. Sie gaben vor, für Gott arbeiten zu wollen, und doch wollten sie nichts mit dem Sohn Gottes zu tun haben. Jesus sagte ihnen deshalb, dass sie als Erstes denjenigen annehmen müssten, den Gott gesandt hatte. So ist es auch noch heute. Viele versuchen, sich den Himmel mit guten Werken zu verdienen. Doch ehe sie gute Werke für Gott tun können, müssen sie zuerst an den Herrn Jesus Christus glauben. Gute Werke gehen dem Glauben nicht voraus, sie folgen ihm vielmehr. Das einzige gute Werk, das ein Sünder tun kann, ist das Bekenntnis seiner Sünden und die Annahme Jesu als Herr und Heiland.
6,30 Dieser Vers beweist erneut, welch eine Bosheit im Herzen dieser Menschen war. Am Tag zuvor hatten sie gesehen, wie der Herr Jesus fünftausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen gespeist hatte. Am nächsten Tag schon kamen sie zu ihm und baten ihn um ein Zeichen, das seine Behauptung beweisen sollte, dass er der Sohn Gottes sei. Wie die meisten Ungläubigen wollten sie zuerst sehen und dann erst glauben. »… damit wir sehen und dir glauben.« Aber das ist nicht Gottes Reihenfolge. Gott sagt zu Sündern: »Wenn ihr glaubt, werdet ihr sehen.« Der Glaube muss immer zuerst kommen.
6,31 Indem sie auf das AT verwiesen, erinnerten die Juden Jesus an das Wunder des Manna22 in der Wüste. Sie wollten damit wohl andeuten, dass Jesus niemals so etwas Wunderbares getan hatte. Sie zitierten Psalm 78,24.25, wo es heißt: »Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen.« Sie meinten damit, dass Mose Brot vom Himmel herabgerufen habe, der Herr aber nicht so groß wie Mose sei, weil er nur bereits vorhandene Speise vermehrt hatte!
6,32 Die Antwort unseres Herrn enthält mindestens zwei Gedankengänge. Als Erstes war es nicht Mose, der ihnen das Manna gab, sondern Gott. Außerdem war das Manna nicht das wahre geistliche »Brot aus dem Himmel«. Das Manna war als leibliche Speise für den Leib bestimmt und hatte über dieses irdische Leben hinaus keine Bedeutung. Der Herr Jesus jedoch sprach hier von dem »wahrhaftigen« und echten »Brot«, das Gott uns vom Himmel her darreicht. Es ist Brot für die Seele, nicht für den Leib. Die Worte »mein Vater« bekräftigen Jesu Anspruch, Gott zu sein.
6,33 Der Herr Jesus offenbart sich nun als »das Brot Gottes«, das »aus dem Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt«. Er wollte die Überlegenheit des von Gott gesandten Brotes gegenüber dem Manna in der Wüste zeigen. Das Manna konnte kein Leben geben, sondern erhielt nur das irdische Leben. Das Manna war nicht der ganzen Welt, sondern nur Israel gegeben worden. Das wahre »Brot Gottes« kommt »aus dem Himmel« hera b und gibt den Menschen »das Leben« – nicht nur einem einzigen Volk, sondern »der Welt«.
6,34 Die Juden erkannten immer noch nicht, dass der Herr Jesus über sich selbst als das wahrhaftige Brot sprach. Sie dachten immer noch an einen irdischen Laib Brot. Leider hatten sie keinen wahren Glauben in ihren Herzen. D. Jesus, das Brot des Lebens (6,35-65)
6,35 Nun drückt Jesus diese Wahrheit nochmals klar und deutlich aus. Er selbst ist »das Brot des Lebens«. Wer zu ihm kommt, findet in ihm volle Genüge, um seinen geistlichen Hunger für immer zu stillen. Wer an ihn glaubt, wird entdecken, dass auch sein Durst für immer gestillt ist. Man beachte die Worte »Ich bin« zu Beginn des Verses. Wieder kann man sehen, dass der Herr hier den Anspruch erhebt, Gott gleich zu sein. Es wäre töricht, wenn ein sündiger Mensch die Worte von Vers 35 äußern würde. Kein Mensch kann auch nur seinen eigenen Hunger oder Durst stillen, wie viel weniger den geistlichen Hunger dieser Welt!
6,36 In Vers 30 hatten die ungläubigen Juden den Herrn um ein Zeichen gebeten, damit sie sehen und glauben könnten. Nach den hier befindlichen Worten Jesu hatte er ihnen schon gesagt, dass sie ihn – das größte aller Zeichen – sehen und doch nicht glauben würden. Wenn der Menschensohn als vollkommener Mensch vor ihnen stehen konnte, ohne dass sie ihn erkannten, dann war es zweifelhaft, ob irgendein anderes Wunder, das er vollbringen würde, sie überzeugen würde.
6,37 Der Herr ließ sich durch den Unglauben der Juden nicht entmutigen. Er wusste, dass alle Absichten und Pläne des Vaters verwirklicht werden würden. Auch wenn die Juden, zu denen er gerade sprach, ihn nicht annehmen würden, so wusste er dennoch, dass alle Erwählten Gottes zu ihm kommen würden. Ein Ausleger hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Die Erkenntnis der Unveränderlichkeit der ewigen Ratschlüsse Gottes gibt wie nichts anderes Ruhe, Ausgeglichenheit, Mut und Durchhaltevermögen.« Dieser Vers ist sehr wichtig, weil er in wenigen Worten zwei der wichtigsten Lehren der Bibel beschreibt. Die erste ist, dass Gott bestimmte Menschen Christus gegeben hat und alle, die er ihm gegeben hat, auch gerettet werden. Die andere ist die Lehre von der Verantwortung des Menschen. Um gerettet zu werden, muss ein Mensch zu dem Herrn Jesus kommen und ihn im Glauben annehmen. Gott erwählt bestimmte Menschen zur Errettung, doch lehrt die Bibel nirgends, dass er auch einige zur Verdammnis erwählt. Wenn jemand gerettet wird, dann aus der überreichen Gnade Gottes. Wenn jemand verlorengeht, dann ist es seine eigene Schuld. Alle Menschen sind durch ihre Sündhaftigkeit und Bosheit verurteilt. Wenn alle Menschen in die Hölle kommen würden, würden sie nur empfangen, was sie verdient hätten. In seiner Gnade jedoch beugt Gott sich herab und errettet einzelne Menschen aus der großen Masse der Menschheit. Hat er ein Recht dazu? Sicherlich. Gott kann tun, wie es ihm beliebt, und kein Mensch kann ihm dieses Recht absprechen. Wir wissen, dass Gott nie etwas tun wird, das falsch oder ungerecht ist.
Aber ebenso, wie die Bibel lehrt, dass Gott bestimmte Menschen für die Errettung bestimmt hat, so lehrt sie gleichzeitig, dass der Mensch verantwortlich dafür ist, das Evangelium anzunehmen. Gott macht ein allumfassendes Angebot – wenn ein Mensch an den Herrn Jesus Christus glaubt, wird er errettet werden. Gott rettet niemanden gegen seinen Willen. Jeder, der gerettet werden will, muss in Buße und Glaube zu ihm kommen. Dann wird Gott ihn erretten. Niemand, der durch Christus zu Gott kommt, wird »hinausgestoßen«.
Der menschliche Geist kann diese beiden Lehren nicht miteinander vereinbaren. Wir sollten sie dennoch glauben, auch wenn wir sie nicht verstehen. Es sind biblische Lehren, die hier eindeutig dargelegt werden.
6,38 In Vers 37 hatte Jesus gesagt, dass Gottes Pläne zur Errettung derer, die ihm gegeben sind, schließlich durchgeführt werden. Weil dies der Wille des Vaters war, wollte der Herr persönlich helfen, diesen Willen zu verwirklichen, weil es seine Aufgabe war, den Willen Gottes zu tun. »Ich bin vom Himmel herabgekommen«, sagte Christus, und lehrte damit deutlich, dass sein Leben nicht erst in der Krippe zu Bethlehem begann. Er existierte schon von aller Ewigkeit her bei seinem Vater im Himmel. Als er in die Welt kam, war er der gehorsame Sohn Gottes. Er nahm freiwillig die Stellung eines Dieners ein, um »den Willen« seines Vaters zu tun. Das bedeutet nicht, dass er keinen eigenen Willen gehabt hätte, sondern dass sein eigener Wille vollkommen mit dem Willen Gottes übereinstimmte.
6,39 »Der Wille« des Vaters war, dass jeder, der Christus gegeben worden war, errettet und bis zur Auferstehung der Gerechten bewahrt werden würde, bis zu jenem Zeitpunkt, da sie erhöht und in die himmlische Heimat aufgenommen werden würden. Die Worte »es« und »nichts« beziehen sich auf Gläubige. Hier dachte Jesus nicht an einzelne Gläubige, sondern an den Leib, der aus den Christen besteht, die in den kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden gerettet werden würden. Der Herr Jesus hatte die Verantwortung, darauf zu achten, dass kein einziges Glied des Leibes verlorenginge, sondern der ganze Leib »am letzten Tag« auferweckt werden würde.
Für die Christen bezieht sich »der letzte Tag« auf den Tag, an dem der Herr Jesus in der Luft wiederkommen wird. Dann werden die Toten in Christus auferstehen und die lebenden Gläubigen verwandelt werden, bevor alle zusammen hinaufgenommen werden, um dort dem Herrn zu begegnen und für immer mit ihm zu leben. Für die Juden bedeutete dieser Tag das Kommen des Messias in Herrlichkeit.
6,40 Der Herr fuhr nun fort zu erklären, wie ein Mensch zur Familie der Erlösten dazukommen kann. Gottes »Wille« ist es, »dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben habe«. »Den Sohn sehen« bedeutet hier nicht, ihn mit irdischen Augen, sondern mit den Augen des Glaubens zu sehen. Man muss sehen oder erkennen, dass Jesus der Sohn Gottes und der Retter der Welt ist. Außerdem muss man an ihn glauben. Das bedeutet, dass der Mensch den Herrn Jesus durch einen Glaubensakt als seinen persönlichen Heiland annehmen muss. Alle, die das tun, erhalten »ewiges Leben« als sofortiges Eigentum und die Zusicherung, dass sie »am letzten Tag« auferstehen werden.
6,41 Die Menschen waren nicht bereit, Jesus anzunehmen, und sie zeigten das, indem sie »über ihn … murrten«. Er hatte behauptet, »das Brot« zu sein, »das aus dem Himmel herabgekommen ist«. Sie erkannten, dass er hiermit einen wichtigen Anspruch stellte. Wer vom Himmel kam, musste mehr als ein einfacher Mensch sein, ja, mehr noch als ein bedeutender Prophet. Und deshalb »murrten« sie »über ihn«, weil sie seinen Worten nicht glauben wollten.
6,42 Sie nahmen an, dass Jesus »der Sohn Josefs« sei. Hier irrten sie sich natürlich. Jesus war von der Jungfrau Maria geboren worden. Josef war nicht sein leiblicher Vater. Unser Herr war vom Heiligen Geist gezeugt worden. Ihre Verstocktheit und ihr Unglaube hatten ihre Ursache darin, dass sie nicht an die Jungfrauengeburt glauben wollten. So ist es noch heute. Wer sich weigert, den Herrn Jesus als den Sohn Gottes anzuerkennen, der durch den Leib einer Jungfrau auf die Welt kam, wird sich gezwungen sehen, alle großen Wahrheiten über die Person und das Werk Jesu Christi zu leugnen.
6,43 Obwohl sie nicht direkt mit ihm gesprochen hatten, wusste er doch, was sie gesagt hatten, und so befahl Jesus ihnen, nicht untereinander zu murren. Die folgenden Verse erklären, warum ihr Murren nutzlos war. Je mehr die Juden das Zeugnis des Herrn Jesus ablehnten, desto unverständlicher wurden für sie seine Lehren. »Wer das Licht ablehnt, dem wird es vorenthalten.« Je mehr sie in ihrer Ablehnung verharrten, desto schwieriger wurde es für sie, das Evangelium anzunehmen. Wenn der Herr ihnen einfache Tatsachen bezeugte und sie ihm nicht glauben wollten, dann würde er schwierigere Themen mit ihnen besprechen, und sie würden nicht mehr wissen, wovon er sprach.
6,44 Der Mensch an sich ist hilflos und völlig ohne Hoffnung. Er hat noch nicht einmal die Kraft, selbst zum Herrn Jesus zu kommen. Wenn der Vater nicht an seinem Leben und seinem Herzen zu arbeiten beginnt, wird er weder seine schreckliche Schuld erkennen noch die Tatsache, dass er dringend einen Retter nötig hat. Viele Menschen haben mit diesem Vers Schwierigkeiten. Sie glauben, dass es nach der Lehre dieses Verses möglich ist, dass ein Mensch gern gerettet werden möchte und es für ihn unmöglich ist. Das stimmt so jedoch nicht. Doch lehrt dieser Vers ausdrücklich, dass Gott der Erste ist, der in unserem Leben gehandelt hat, und der versucht hat, uns für ihn zu gewinnen. Wir haben die Wahl, den Herrn Jesus anzunehmen oder abzulehnen. Aber wir hätten nie das Verlangen nach Errettung, wenn nicht Gott vorher unsere Herzen angesprochen hätte. Und wieder fügt der Herr das Versprechen hinzu, dass er jeden Gläubigen »am letzten Tag … auferwecken« werde. Wie wir bereits gesehen haben, bezieht sich das auf das Kommen Christi für seine Gläubigen, wenn die Toten auferstehen und die noch Lebenden verwandelt werden. Das ist nur die Auferstehung der Gläubigen.
6,45 Gerade hat der Herr ausdrücklich gesagt, dass kein Mensch zu ihm kommen kann, wenn der Vater ihn nicht zieht. Nun erklärt er, wie der Vater Menschen zu ihm zieht. Als Erstes zitiert er Jesaja 54,13: »Und sie werden alle von Gott gelehrt sein.« Gott erwählt nicht nur, er tut auch etwas für die Erwählten. Er spricht ihre Herzen durch die Lehren seines kostbaren Wortes an. Außerdem ist noch der Wille des Menschen beteiligt. Wer auf die Lehre des Wortes Gottes reagiert und »von dem Vater« lernt, kommt zu Christus. Hier sehen wir wieder die beiden großen Wahrheiten der Souveränität Gottes und der freien Entscheidung des Menschen, wie sie nebeneinander in der Bibel stehen. Sie zeigen uns, dass die Errettung sowohl eine göttliche als auch eine menschliche Seite hat.
Als Jesus sagte: »Es steht in den Propheten geschrieben«, meinte er natürlich, dass es in den Büchern der Propheten zu finden ist. In diesem Fall zitierte er zwar Jesaja, doch kann man den hier ausgedrückten Gedanken bei allen Propheten wiederfinden. Durch die Lehren des Wortes Gottes und durch den Geist Gottes werden Menschen zu Gott hingezogen.
6,46 Die Tatsache, dass Menschen von Gott gelehrt werden, bedeutet nicht, dass sie ihn auch »gesehen« haben. Der Einzige, der »den Vater gesehen … hat«, ist der Eine, der von Gott kam, nämlich der Herr Jesus selbst.
Alle, die Gott lehrt, erfahren hauptsächlich etwas über den Herrn Jesus Christus, weil das Hauptthema der göttlichen Lehre Christus selbst ist.
6,47 Dieser Vers ist eine der deutlichsten und kürzesten Aussagen im Wort Gottes über den Weg zur Errettung. Der Herr Jesus sagte mit Worten, die man eigentlich kaum missverstehen kann, dass derjenige, der an ihn »glaubt, … ewiges Leben hat«. Man beachte, dass er diese Aussage wieder mit den Worten »wahrlich, wahrlich« betont. Dies ist einer der vielen Verse des NT, der lehrt, dass man Errettung nicht durch Werke, durch Halten des Gesetzes, durch Gemeindezugehörigkeit oder Gehorsam gegenüber dem »größten Gebot« erhält, sondern einfach durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus.
6,48.49 Nun sagt der Herr Jesus eindeutig, dass er das »Brot des Lebens« ist, von dem er gesprochen hat. Das »Brot des Lebens« bedeutet natürlich das Brot, das denen Leben gibt, welche es essen. Die Juden hatten das Thema »Manna in der Wüste« aufgebracht und den Herrn Jesus herausgefordert, eine ebenso wunderbare Speise hervorzubringen. Hier erinnert der Herr sie daran, dass ihre Väter »das Manna in der Wüste gegessen« hatten »und … gestorben« sind. Mit anderen Worten: Das Manna war nur für dieses Leben bestimmt. Es hatte nicht die Macht, denen, die es aßen, ewiges Leben zu geben. Durch den Ausdruck »eure Väter« verdeutlichte Jesus seine Andersartigkeit gegenüber der gefallenen Menschheit und spielte indirekt auf seine einzigartige Göttlichkeit an.
6,50 Im Gegensatz zum Menschen sprach der Herr von sich selbst als dem »Brot, das aus dem Himmel herabkommt«. Wenn jemand dieses Brot aß, würde er »nicht sterben«. Das bedeutete nicht, dass er nicht den leiblichen Tod erleiden müsste, sondern vielmehr, dass er ewiges Leben im Himmel haben würde. Auch wenn sein Leib zu Staub werden muss, wird er doch am letzten Tag auferweckt werden und die Ewigkeit beim Herrn verbringen.
In diesem Vers und in den folgenden Versen spricht der Herr Jesus immer wieder davon, dass Menschen von ihm essen. Bedeutet das, dass sie ihn im wörtlichen, leiblichen Sinne essen sollten? Offensichtlich ist diese Vorstellung unmöglich und widerwärtig. Dennoch denken einige, dass wir ihn gemäß seiner Lehre bei der Abendmahlsfeier zu uns nehmen müssten. Sie behaupten, dass das Brot und der Wein auf irgendeine wunderbare Weise in den Leib und das Blut Christi verwandelt werden würden und wir diese Elemente zu uns nehmen müssten, um gerettet zu werden. Doch das hat Jesus gar nicht gesagt. Der Zusammenhang macht recht deutlich, dass jeder, der an ihn glaubt, gleichsam von ihm isst. Wenn wir den Herrn Jesus Christus als unseren Retter annehmen, dann nehmen wir ihn im Glauben auf. Wir haben an den Vorzügen seiner Person und seines Werkes teil. Augustinus sagte: »Glaube, und du hast gegessen.«
6,51 Jesus ist »das lebendige Brot«. Er lebt nicht nur aus eigener Kraft, sondern kann das Leben sogar weitergeben. Wer »dieses Brot isst, wird … leben in Ewigkeit«. Doch wie kann das sein? Wie kann der Herr schuldigen Sündern das ewige Leben geben? Die Antwort findet sich im zweiten Teil des Verses. »Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt« (Elb). Hier weist der Herr Jesus auf seinen Tod am Kreuz hin. Er würde sein Leben als Opfer für die Sünden der Welt hingeben. Er würde die Strafe bezahlen, die wir eigentlich durch unsere Sünden verdient hätten. Und warum das? Er tat es »für das Leben der Welt«. Er wollte nicht nur für die Juden oder für einige Auserwählte sterben. Sein Tod sollte vielmehr für die gesamte Welt ausreichen. Das heißt natürlich nicht, dass die ganze Welt automatisch gerettet wird, sondern meint die Tatsache, dass das Werk des Herrn Jesus am Kreuz vom Wert her ausreichen würde, um die ganze Welt zu retten, wenn alle Menschen zu Jesus kämen.
6,52 Die Juden dachten noch immer an Brot und Fleisch im wörtlichen Sinne. Sie konnten ihre Gedanken nicht über das Irdische erheben. Sie erkannten nicht, dass der Herr Jesus irdische Gegenstände benutzte, um himmlische Wahrheiten zu lehren. Und so fragten sie sich untereinander, wie dieser Mensch ihnen nur »sein Fleisch zu essen geben« könne. Ein Fallschirm öffnet sich erst, nachdem man aus dem Flugzeug gesprungen ist. Glaube geht dem Schauen voraus und bereitet deine Seele auf das Verständnis, dein Herz auf die vertrauensvolle Annahme und deinen Willen auf den Gehorsam vor. All unsere Fragen nach dem Wie werden durch die Unterordnung unter die Autorität Christi beantwortet. Dies geschah bei Paulus, als er rief: »Herr, was willst du, dass ich tun soll?« (Apg 22,10; Übersetzung der NKJV).
6,53 Erneut erkannte Jesus als Allwissender genau, was sie dachten und sagten. Deshalb warnte er sie ernstlich, dass sie kein »kein Leben in« sich selbst hätten, wenn sie nicht sein Fleisch essen und sein Blut trinken würden. Das kann sich nicht auf das Brot und den Wein beim Mahl des Herrn beziehen. Als der Herr dieses Mahl in der Nacht, als er verraten wurde, einsetzte, war sein Leib noch nicht gebrochen und sein Blut noch nicht vergossen worden. Die Jünger hatten an Brot und Wein teil, doch sie aßen nicht im wörtlichen Sinne sein Fleisch und tranken auch nicht sein Blut. Der Herr Jesus sagt hier einfach, dass wir nicht gerettet werden können, wenn wir uns nicht durch den Glauben den Wert seines Todes auf Golgatha zu eigen machen. Wir müssen an ihn glauben, ihn aufnehmen, ihm vertrauen und ihn gewissermaßen »in Besitz nehmen«.
6,54 Wenn wir diesen Vers mit Vers 47 vergleichen, können wir eindeutig zeigen, dass »sein Fleisch essen« und »sein Blut trinken« heißt, an ihn zu glauben. In Vers 47 lesen wir: »Wer glaubt, hat ewiges Leben«. In Vers 54 lernen wir: »Wer« Jesu »Fleisch isst und« sein »Blut trinkt, hat ewiges Leben«. Wenn zwei Dinge einem dritten gleich sind, so sind sie auch untereinander gleich. Daraus folgt, dass jeder, der sein Fleisch isst und sein Blut trinkt, an ihn glaubt. Alle, die an ihn glauben, werden »am letzten Tag« auferweckt werden. Das bezieht sich natürlich auf die Leiber derer, die im Glauben an den Herrn Jesus gestorben sind.
6,55 Das Fleisch des Herrn Jesus ist »wahre Speise«23, und sein »Blut ist wahrer Trank«. Das gilt im Gegensatz zu irdischer Speise und irdischen Getränken, die nur zeitlichen Wert haben. Aber der Wert des Todes des Herrn Jesus vergeht nie. Wer durch den Glauben an ihm teilhat, empfängt Leben, das ewig Bestand hat.
6,56 Zwischen Jesus und denen, die an ihn glauben, besteht eine sehr enge Verbindung. Wer sein Fleisch isst und sein Blut trinkt, bleibt in ihm und er in ihm. Nichts kann enger als diese Verbindung sein. Wenn wir irdische Speise zu uns nehmen, dann wird sie in unseren Körper aufgenommen und damit zu einem Teil von uns. Wenn wir den Herrn Jesus als unseren Erlöser annehmen, dann kommt er in unser Leben, um in uns zu bleiben, und auch wir bleiben in ihm.
6,57 Nun benutzt der Herr noch ein weiteres Bild für die enge Beziehung zwischen ihm und den Gläubigen. Das Bild ist seine eigene Beziehung zum Vater. »Der lebendige Vater« hat den Herrn Jesus in die Welt gesandt. (Der Ausdruck »lebendiger Vater« bedeutet, dass er die Quelle des Lebens ist.) Als Mensch auf dieser Welt lebte Jesus »um des Vaters willen«. Das bedeutet, dass der Vater die Ursache seiner Anwesenheit in dieser Welt war. Er führte sein Leben in engster Verbindung und Harmonie mit Gott dem Vater. Gott war sowohl Mittelpunkt als auch Rahmen seines Lebens. Sein ganzes Ziel bestand darin, sich mit dem Vater zu beschäftigen. Er war hier als Mensch in der Welt, und die Welt erkannte nicht, dass er Gott geoffenbart im Fleisch war. Obwohl er von der Welt missverstanden wurde, waren er und sein Vater eins. Sie lebten in innigster Gemeinschaft zusammen. Und genauso ist es mit den Gläubigen im Herrn. Sie sind hier auf dieser Erde, aber die Welt missversteht sie, hasst sie und verfolgt sie häufig sogar. Doch weil sie ihren Glauben und ihr Vertrauen auf den Herrn Jesus gesetzt haben, leben sie um seinetwillen. Ihr Leben ist mit seinem Leben eng verbunden, und dieses Leben wird ewig währen.
6,58 Dieser Vers scheint zusammenzufassen, was der Herr in den vorhergehenden Versen gesagt hat. Er ist »das Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist«. Er ist größer als das Manna, das »die Väter« in der Wüste aßen. Dieses Brot hatte nur zeitlichen Wert. Es war nur für dieses Leben bestimmt. Doch Christus ist das Brot Gottes, das all denen ewiges Leben gibt, die sich davon nähren.
6,59 Die Menge folgte Jesus und seinen Jüngern vom Nordostufer des Sees Genezareth nach Kapernaum. Offensichtlich hatte die Menge Jesus »in der Syn agoge«24 gefunden, und dort hatte er ihnen die Predigt vom Brot des Lebens gehalten.
6,60 Zu dieser Zeit hatte der Herr Jesus über die ursprünglichen Zwölf hinaus noch viele andere Jünger gewonnen. Jeder, der ihm folgte und bezeugte, seine Lehre anzunehmen, wurde Jünger genannt. Dennoch waren nicht alle, die als Jünger bekannt waren, wahre Gläubige. Nun sagten viele von denen, die bekannten, seine Jünger zu sein: »Diese Rede ist hart.« Sie meinten damit, dass seine Lehre Anstoß erregte. Es ging nicht so sehr darum, dass sie schwer zu verstehen gewesen wäre, sondern darum, dass sie nur schwer annehmbar war. Als sie sagten: »Wer kann sie hören?«, meinten sie: »Wer kann hier stehen und solch eine anstößige Lehre mit anhören?«
6,61 Hier sehen wir wieder, dass der »Herr alles wusste«. Jesus »wusste« genau, was die Jünger untereinander redeten. Er wusste, dass sie sich über seinen Anspruch ärgerten, vom Himmel gekommen zu sein. Ihm war bekannt, dass sie es gar nicht mochten, als er sagte, dass die Menschen sein Fleisch essen und sein Blut trinken müssten, um ewiges Leben zu haben. Und deshalb fragte Jesus sie: »Ärgert euch dies?«
6,62 Sie ärgerten sich, weil er gesagt hatte, dass er vom Himmel gekommen ist. Nun fragte er sie, was sie denken würden, wenn sie sähen, wie er in den Himmel zurück auffahren würde. Er wusste, dass dies nach der Auferstehung geschehen würde. Sie ärgerten sich auch über seine Worte, denen zufolge die Menschen sein Fleisch essen müssten. Was würden sie nun denken, wenn sie seinen Leib »auffahren sehen« würden, »wo er zuvor war«? Wie würden Menschen imstande sein, im wörtlichen Sinne sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, wenn er zurück zum Vater gegangen sein würde?
6,63 Diese Menschen hatten nur an Jesu Fleisch im wörtlichen Sinne gedacht, doch hier sagte er ihnen, dass das ewige Leben nicht durch das Essen von Fleisch zu erreichen sei, sondern nur durch das Werk des Heiligen Geistes. Fleisch kann kein Leben geben, das kann nur der Geist. Sie hatten seine Worte wörtlich genommen und nicht erkannt, dass sie geistlich zu verstehen waren. Und deshalb erklärte der Herr hier, dass »die Worte«, die er zu ihnen geredet hatte, »Geist und … Leben« sind. Wenn seine Aussagen über das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes in geistlicher Weise verstanden wurden, nämlich als Glauben an ihn, dann würden diejenigen, die diese Botschaft annehmen, ewiges Leben empfangen.
6,64 Selbst als er dies sagte, erkannte der Herr, dass einige seiner Zuhörer ihn nicht verstehen würden, weil sie nicht glauben wollten. Die Schwierigkeit lag nicht so sehr in ihrer Unfähigkeit, sondern in ihrem mangelnden Willen. »Jesus wusste von Anfang an«, dass einige seiner Nachfolger nicht an ihn glauben würden und einer seiner Jünger »ihn überliefern« würde. Natürlich wusste Jesus all dies schon von aller Ewigkeit her, doch hier bedeutet es wahrscheinlich, dass es ihm schon zu Beginn seines Dienstes hier auf Erden vor Augen stand.
6,65 Nun erklärte er, dass er ihnen wegen ihres Unglaubens vorhergesagt hatte, »dass niemand« zu ihm »kommen kann, es sei ihm denn von dem Vater geg eben«. Solche Worte sind ein Angriff auf den Stolz des Menschen, der denkt, er könne sich die Errettung verdienen. Der Herr Jesus sagte den Menschen, dass sogar die Macht, zu ihm zu kommen, nur Gott der Vater geben kann.
E. Unterschiedliche Reaktionen auf die Worte des Heilands (6,66-71)
6,66 Diese Worte des Herrn Jesus erwiesen sich für so viele seiner Nachfolger als so anstößig, dass sie ihn nun verließen und nicht länger mit ihm zusammen sein wollten. Diese Jünger waren nie wahre Gläubige gewesen. Sie waren dem Herrn aus verschiedenen Gründen gefolgt, doch weder aus echter Liebe zu ihm, noch weil sie ihn wertschätzten.
6,67 An diesem Punkt wendet sich Jesus an die zwölf Jünger und fordert sie mit der Frage heraus, ob auch sie ihn verlassen wollten.
6,68 Die Antwort des Petrus ist beachtenswert. Er sagte im Grunde: »Herr, wie können wir dich verlassen? Was du lehrst, führt uns zum ewigen Leben. Wenn wir dich verlassen, dann gibt es niemanden mehr, an den wir uns wenden könnten. Wenn wir dich verließen, würden wir damit unser Schicksal besiegeln.«
6,69 Petrus spricht hier für die Zwölf. Er fährt fort, dass sie »geglaubt und erkannt« hatten, dass der Herr Jesus der Messias war, »der Sohn des lebendigen Gottes«  (vgl.  LU 1912  und  Schl 2000).25 Man beachte die Worte »geglaubt und erkannt«. Zuerst hatten sie an den Herrn Jesus Christus geglaubt und dann wussten sie, dass er der war, der er zu sein behauptete.
6,70 In den Versen 68 und 69 benutzte Petrus das Wort »wir«, um damit alle zwölf Jünger zu bezeichnen. Hier in Vers 70 korrigierte ihn der Herr Jesus. Er sollte nicht so überzeugt sagen, dass alle zwölf wahre Gläubige seien. Es stimmt, dass der Herr die zwölf Jünger erwählt hatte, doch einer von ihnen »ist … ein Teufel«. Es gab einen in der Gemeinschaft, der nicht die Ansicht des Petrus über den Herrn Jesus Christus teilte.
6,71 Der Herr Jesus wusste, dass »Judas … Iskariot … ihn überliefern« würde. Er wusste, dass Judas ihn nie wirklich als Herrn und Heiland anerkannt hatte. Hier sehen wir wieder die Allwissenheit des Herrn. Auch haben wir hier einen Beweis für die Tatsache, dass Petrus nicht unfehlbar war, als er für die Jünger sprach! In der Rede über das Brot des Lebens begann unser Herr mit einer recht einfachen Lehre. Doch als er weiterredete, wurde es offensichtlich, dass die Juden seine Worte ablehnen würden. Je mehr sie ihre Herzen und Sinne vor der Wahrheit verschlossen, desto schwieriger wurden für sie seine Aussagen. Schließlich redete er davon, dass man sein Fleisch essen und sein Blut trinken solle. Das war einfach zu viel! Sie sagten: »Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?«, und folgten ihm nicht mehr nach. Ablehnung der Wahrheit führt zum Gericht des Blindseins für die Wahrheit. Weil sie nicht sehen wollten, kam es so weit, dass sie nicht mehr sehen konnten.
V. Der Dienst des Sohnes Gottes – drittes Jahr: Jerusalem (7,1 – 10,39) A. Jesus tadelt seine Brüder (7,1-9)
7,1 Zwischen den Kapiteln 6 und 7 liegt eine Zeitspanne von einigen Monaten. Jesus blieb »in Galiläa …, denn er wollte nicht in Judäa« bleiben, wo sich das Machtzentrum der Juden, die »ihn zu töten suchten«, befand. Man ist sich allgemein darüber einig, dass die Juden26, von denen in diesem Vers die Rede ist, die Führer oder Machthaber waren. Sie waren diejenigen, die den Herrn Jesus am meisten hassten und die eine Gelegenheit suchten, »ihn zu töten«.
7,2 Das »Fest der Juden, die Laubhütten«, war eines der wichtigsten Feste im jüdischen Kalender. Es wurde zur Erntezeit gefeiert und erinnerte an die Tatsache, dass die Juden in behelfsmäßigen Zelten oder Hütten lebten, als sie aus Ägypten flohen. Es war ein feierlicher, freudiger Feiertag, der auf den Tag hinwies, an dem der Messias die Herrschaft übernehmen würde und das gerettete jüdische Volk in seinem Land in Frieden und Wohlergehen leben würde.
7,3 Die »Brüder« des Herrn, die in Vers 3 genannt werden, waren wahrscheinlich Söhne, die Maria nach der Geburt Jesu noch geboren hatte (einige sagen, es seien eher Cousins oder entfernte Verwandte gewesen). Doch gleichgültig, wie nahe sie mit dem Herrn Jesus verwandt waren, sie waren dadurch nicht gerettet. Sie glaubten nicht wirklich an den Herrn Jesus. Sie sagten ihm, dass er zum Laubhüttenfest nach Jerusalem reisen und einige seiner Wunder wirken sollte, damit seine »Jünger … sehen« könnten, was er tat. Die Jünger, von denen hier die Rede ist, sind nicht die zwölf, sondern jene, die in Judäa behaupteten, Nachfolger des Herrn Jesus zu sein. Obwohl sie nicht an ihn glaubten, wollten sie, dass er sich öffentlich zu erkennen geben solle. Vielleicht wollten sie die Aufmerksamkeit genießen, die sie als Verwandte eines so berühmten Mannes genießen würden. Oder sie waren, was wahrscheinlicher ist, auf ihn eifersüchtig. Daher drängten sie ihn, nach Judäa zu gehen, indem sie hofften, dass er dort getötet werden würde.
7,4 Vielleicht sind diese Worte sarkastisch gemeint. Seine Verwandten meinten scheinbar, dass der Herr die Öffentlichkeit suchte. Warum sonst vollbrachte er all die Wunder in Galiläa, wenn er nicht dadurch berühmt werden wollte? »Hier ist die große Gelegenheit für dich«, sagten sie letztlich. »Du wolltest doch berühmt werden. Geh nach Jerusalem auf das Fest. Dort werden Tausende von Menschen sein, und da hast du Gelegenheit, deine Wunder vorzuführen. Galiläa ist viel zu ruhig, du tust deine Wunder hier praktisch im Geheimen. Warum handelst du so, wo wir doch wissen, dass du berühmt werden willst?« Und dann fügten sie noch hinzu: »Wenn du diese Dinge tust, so zeige dich der Welt!« Hier scheint der Gedanke ausgedrückt zu sein: »Wenn du wirklich der Messias bist und diese Wunder tust, um das zu beweisen, warum beweist du es dann nicht dort, wo es wirklich zählt, nämlich in Judäa?«
7,5 Seine Brüder waren nicht wirklich daran interessiert, dass er verherrlicht würde. Sie glaubten nicht wirklich, dass er der Messias war. Auch waren sie nicht bereit, ihm ihr eigenes Leben anzuvertrauen. Was sie sagten, war sarkastisch gemeint. Ihre Herzen waren vor Gott nicht in Ordnung. Es muss für den Herrn Jesus besonders bitter gewesen sein, dass seine eigenen Halbbrüder seine Worte und Taten anzweifelten. Doch wie oft ist es so, dass die Gläubigen ihre erbittertsten Gegner unter denen finden, die ihnen am nächsten stehen.
7,6 Das Leben des Herrn war vom Anfang bis zum Ende vorherbestimmt. Jeder Tag und jeder Augenblick entsprachen einem vorbereiteten Plan. Die richtige Zeit, um sich der Welt zu offenbaren, war »noch nicht da«. Er wusste genau, was ihm noch bevorstand, und es entsprach nicht dem Willen Gottes, dass er zu dieser Zeit nach Jerusalem ging, um sich dort öffentlich zu präsentieren. Doch er erinnerte seine Brüder daran, dass ihre Zeit »stets bereit« oder passend sei. Sie führten ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und nicht im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Sie konnten ihre eigenen Pläne machen und reisen, wann und wohin sie wollten, weil sie nur ihren eigenen Willen durchsetzen wollten.
7,7 »Die Welt« konnte die Brüder des Herrn »nicht hassen«, weil sie zu dieser Welt gehörten. Sie waren gemeinsam mit der Welt gegen Jesus. Ihr ganzes Leben entsprach der Welt. Der Ausdruck »die Welt« bezieht sich hier auf das System, das der Mensch aufgebaut hat, in dem für Gott oder seinen Christus kein Platz ist: die Welt der Kultur, der Kunst, der Bildung und der Religion. In Judäa nun ging es insbesondere um die religiöse Welt, weil es die religiösen Führer der Juden waren, die Christus am meisten hassten. Die Welt hasste Christus, weil er ihr bezeugte, »dass ihre Werke böse sind«. Es ist eine traurige Bemerkung über das verdorbene Wesen des Menschen, dass die Welt, als ein sündloser, makelloser Mensch in diese Welt kam, nichts Besseres zu tun hatte, als ihn zu töten. Die Vollkommenheit des Lebens Christi zeigte, wie unvollkommen das Leben aller anderen Menschen war. So wie eine gerade Linie zeigt, wie krumm eine Zickzacklinie ist, wenn sie nebeneinander stehen, so diente das Kommen des Herrn in diese Welt dazu, den Menschen in all seiner Sündhaftigkeit zu offenbaren. Die Menschen konnten diese Bloßstellung jedoch nicht ertragen. Statt zu bereuen und Gott um Gnade anzurufen, versuchten sie, den zu töten, der ihre Sünde offenbarte. F. B. Meyer kommentiert: Es ist wirklich eine der schlimmsten Zurechtweisungen, welche die menschgewordene Liebe aussprechen kann, wenn sie zu manchem heute sagen muss, wie sie es in den Erdentagen des Herrn zu einigen gesagt hat: »Die Welt kann euch nicht hassen.« Wer von der Welt nicht gehasst wird, sondern von ihr geliebt, umschmeichelt und gehätschelt wird, befindet sich in einem der schlimmsten Zustände, in denen sich ein Christ befinden kann. »Was habe ich Schlimmes getan«, fragte ein alter Weiser, »dass du Gutes von mir redest?« Wenn die Welt uns nicht hasst, dann beweist das, dass wir ihr gegenüber das Zeugnis hinsichtlich der Bosheit ihrer Werke schuldig bleiben. Die Innigkeit der Liebe der Welt beweist, dass wir zu ihr gehören. Die Freundschaft der Welt ist Feindschaft gegen Gott. Wer deshalb ein Freund der Welt sein will, ist ein Feind Gottes (Joh 7,7; 15,19; Jak 4,4).27
7,8 Der Herr befahl seinen Brüdern, »zu diesem Fest« zu gehen. Das hatte etwas sehr Trauriges an sich. Sie gaben vor, religiöse Leute zu sein. Sie wollten das Laubhüttenfest feiern. Doch der Christus Gottes stand in ihrer Mitte, und sie liebten ihn nicht. Der Mensch liebt religiöse Rituale, weil er sie einhalten kann, ohne wirklich mit dem Herzen dabei zu sein. Doch wenn man ihn mit der Person Jesu Christi konfrontiert, dann fühlt er sich nicht wohl. Jesus sagte, dass er »noch nicht28  …  auf  dieses  Fest«  (LU 1912)  gehen wolle, weil seine »Zeit … noch nicht erfüllt« sei. Er meinte damit nicht, dass er gar nicht auf das Fest gehen wolle, weil wir in Vers 10 erfahren, dass er schließlich doch ging. Er meinte, dass er nicht mit seinen Brüdern gehen würde und keinen großartigen Auftritt in Jerus alem plante. Dazu war die Zeit noch nicht reif. Wenn er gehen würde, dann in aller Stille und mit so wenig Aufsehen wie möglich.
7,9 So blieb der Herr »in Galiläa«, nachdem seine Brüder zu dem Fest gereist waren. Sie hatten den Einen zurückgelassen, der allein ihnen die Freude schenken konnte, von dem das Laubhüttenfest redete.
B. Jesus lehrt im Tempel (7,10-31)
7,10 Kurz nachdem »seine Brüder« nach Jerusalem »hinaufgegangen waren«, reiste der Herr Jesus ohne Aufsehen dorthin. Als frommer Jude wollte er natürlich an dem Fest teilnehmen. Doch als gehorsamer Sohn Gottes konnte er es nicht »öffentl ich« tun, »sondern wie im Verborgenen«.
7,11 »Die Juden«, die »ihn auf dem Fest« suchten, waren zweifellos die religiösen Führer, die ihn zu töten suchten. Als sie fragten: »Wo ist jener?«, waren sie nicht daran interessiert, ihn anzubeten, sondern ihn zu töten.
7,12 Es wird deutlich, dass die Anwesenheit des Herrn »unter den Volksmengen« Unruhe verursachte. Immer mehr zwangen die Wunder, die er vollbrachte, die Menschen zu einer Entscheidung darüber, wer er wirklich war. Auf dem Fest sprach man im kleinen Kreis darüber, ob er ein wahrer oder ein falscher Prophet sei. »Die einen sagten: Er ist gut; andere sagten: Nein, … er verführt die Volksmenge.«
7,13 Der Widerstand der jüdischen Führer gegen Jesus war so stark geworden, dass niemand es wagte, »öffentlich von ihm« zu reden. Zweifellos hatten viele einfache Menschen erkannt, dass er wirklich der Messias Israels war, doch wagten sie nicht, das öffentlich zu sagen, weil sie die Verfolgung durch die religiösen Führer fürchteten.
7,14 Das Laubhüttenfest dauerte einige Tage. Als es halb vorbei war, »ging Jesus hinauf in den« Vorhof des Tempels (bekannt als Vorhalle, wo die Menschen sich versammeln durften) »und lehrte«.
7,15 Diejenigen, die dem Heiland zuhörten, »wunderten sich«. Zweifellos imponierte ihnen am meisten seine Vertrautheit mit dem AT. Aber auch der Umfang seines Wissens und seine Lehrfähigkeit zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wussten, dass Jesus auf keiner der großen theologischen Schulen jener Tage gewesen war, und sie konnten nicht verstehen, wie er so gebildet sein konnte. Die Welt wundert sich auch heute und beschwert sich oft darüber, wenn sie Gläubige sieht, die keinerlei theologische Ausbildung haben und doch fähig sind, das Wort Gottes zu predigen und zu lehren.
7,16 Und wieder ist es schön zu sehen, wie der Herr Jesus keinerlei Ehre für sich selbst beansprucht, sondern nur versucht, seinen Vater zu verherrlichen. Jesus antwortete ihnen einfach, dass er nicht seine eigene Lehre bringe, sondern dass sie von dem Einen kam, der ihn »gesandt hat«. Was immer der Herr redete und was immer er auch lehrte, er redete und lehrte immer entsprechend dem Willen seines Vaters. Er handelte nie unabhängig vom Vater.
7,17 Wenn die Juden wirklich hätten wissen wollen, ob seine Botschaft wahr ist oder nicht, dann wäre es für sie leicht gewesen, das herauszufinden. Wenn jemand wirklich Gottes »Willen tun will«, dann wird Gott ihm offenbaren, ob die Lehren Christi göttlich sind, oder ob der Herr nur einfach lehrte, was ihm gefiel. Hier haben wir eine wunderbare Verheißung für alle, die ernsthaft nach der Wahrheit suchen. Wenn man ehrlich ist und wirklich die Wahrheit wissen will, dann wird Gott sie auch offenbaren. »Gehorsam ist der Weg zu geistlicher Erkenntnis.«
7,18 Jeder, der »aus sich selbst redet«, d. h. der nach seinem eigenen Willen spricht, »sucht seine eigene Ehre«. Aber das gilt nicht für den Herrn Jesus. Er suchte »die Ehre« des Vaters, »der ihn gesandt hat«. Weil seine Motive völlig rein waren, war seine Botschaft absolut »wahrhaftig«. »Keine Ungerechtigkeit« war »in ihm«.
Jesus war der Einzige, von dem man so etwas sagen kann. Bei jedem anderen Lehrer ist auch Selbstsucht unter den Motiven seiner Tätigkeit. Es sollte das Ziel jedes Dieners Gottes sein, Gott und nicht sich selbst zu verherrlichen.
7,19 Der Herr brachte dann eine direkte Anklage gegen die Juden vor. Er erinnerte sie daran, dass Mose ihnen das Gesetz gegeben hatte. Sie rühmten sich der Tatsache, dass sie das Gesetz besaßen. Sie vergaßen jedoch, dass darin kein Vorteil liegt, das Gesetz einfach nur zu besitzen. Das Gesetz verlangte Gehorsam gegenüber seinen Bestimmungen oder Geboten. Obwohl sie sich des Gesetzes rühmten, hielt sich offensichtlich keiner von ihnen daran, denn sie planten sogar, den Herrn Jesus umzubringen. Das Gesetz aber verbietet Mord ausdrücklich. Sie brachen das Gesetz durch ihre Mordpläne, die sie gegen den Herrn Jesus schmiedeten.
7,20 Die Menschen fühlten die Schärfe der Anklage Jesu, doch statt zuzugeben, dass er recht hatte, fingen sie an, ihn zu beschimpfen. Sie behaupteten, er sei von »einem Dämon« besessen. Sie stellten auch seine Aussage in Abrede, dass jemand ihn »zu töten« suchte.
7,21 Jesus kam nun auf die Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda zurück. Dieses Wunder erregte den Hass der jüdischen Führerschaft gegen ihn. An diesem Punkt fingen sie an, ihren hinterhältigen Anschlag auf Jesus zu planen. Der Herr erinnerte sie daran, dass er »ein Werk … getan« hatte und sich alle deswegen wunderten. Es ging nicht darum, dass sie ihn bewundert hätten, sondern sie waren schockiert, dass er so etwas am Sabbat getan hatte.
7,22 Das Gesetz des Mose schrieb vor, dass männliche Säuglinge acht Tage nach der Geburt beschnitten werden sollten. (In Wirklichkeit hatte nicht Mose die Beschneidung eingesetzt, sondern sie war schon von den »Vätern« praktiziert worden,  d. h.  von  Abraham,  Isaak  und  Jakob.) Auch wenn der achte Tag auf einen Sabbat fiel, hielten es die Juden für richtig, das Kind zu beschneiden. Sie dachten, dass dies eine notwendige Handlung war und der Herr sie zuließ.
7,23 Wenn sie jedoch ein Kind »am Sabbat« beschneiden konnten, um »das Gesetz des Mose« über die Beschneidung zu befolgen, warum sollten sie dann Jesus tadeln, der am Sabbat »den ganzen Menschen gesund gemacht« hatte? Wenn das Gesetz notwendige Arbeiten erlaubte, warum dann keine Werke der Barmherzigkeit?
Die Beschneidung ist ein kleiner, chirurgischer Eingriff an einem männlichen Säugling. Natürlich verursacht solch ein Eingriff Schmerzen, und die diesbezüglichen Vorteile in körperlicher Hinsicht sind gering. Im Gegensatz dazu heilte der Herr Jesus am Sabbat einen Menschen, und zwar vollkommen. Und daran nahmen die Juden Anstoß.
7,24 Das Problem der Juden war, dass sie alles »nach dem Schein« und nicht nach dem Wesen der betreffenden Angelegenheit beurteilten. Ihr Gericht war deshalb nicht gerecht. Was sie selbst ausführten, war in ihren Augen völlig in Ordnung, während es scheinbar ganz verkehrt war, wenn es der Herr Jesus tat. Die menschliche Natur neigt dazu, nach dem äußeren Anschein statt nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu urteilen. Der Herr Jesus hatte das Gesetz des Mose nicht gebrochen. Die Juden waren es, die das Gesetz durch ihren unsinnigen Hass auf den Herrn Jesus brachen.
7,25 Zu dieser Zeit war es in Jerusalem bekannt geworden, dass die jüdischen Führer einen Anschlag auf Jesus planten. Hier fragt nun einer aus dem gemeinen Volk, ob dies derjenige sei, den ihre Anführer verfolgten.
7,26 Sie konnten nicht verstehen, dass dem Herrn Jesus gestattet wurde, so offen und »frei« (LU 1912) zu reden. Wenn die Obersten ihn so sehr hassten, wie das Volk meinte, warum erlaubten sie ihm dann, wie bisher weiterzumachen? Hatten sie womöglich herausgefunden, dass dieser »wahrhaftig … der Christus ist«, wie er behauptete?
7,27 Die Menschen, die nicht glaubten, dass Jesus der Messias sei, dachten, sie wüssten, woher er stammt. Sie glaubten, dass er aus Nazareth stamme. Sie kannten seine Mutter Maria und nahmen an, dass Josef sein Vater sei. Die Juden glaubten allgemein, dass der Messias plötzlich und auf wunderbare Weise käme. Sie hatten keine Vorstellung davon, dass er als normales Kind geboren und wie jeder andere Mensch aufwachsen würde. Sie hätten aus dem AT wissen müssen, dass er in Bethlehem geboren werden würde, doch es scheint so, dass sie die Einzelheiten des Kommens des Messias nicht kannten. Deshalb sagten sie: »Wenn aber der Christus kommt, so weiß niemand, woher er ist.«
7,28 An diesem Punkt »rief« Jesus nun den Leuten, die sich versammelt hatten und dem Gespräch folgten, etwas zu. Sie kannten ihn, sagte er, und wussten, woher er kam. Hier bezieht er sich natürlich auf seine menschliche Herkunft. Sie kannten ihn als Jesus von Nazareth, aber sie wussten nicht, dass er auch Gott war. Das wollte er ihnen nun im zweiten Teil des Verses erklären.
Als Mensch wohnte er in Nazareth, aber sie sollten auch erkennen, dass er nicht von sich »selbst gekommen« sei, sondern von Gott dem Vater gesandt war, den diese Leute nicht kannten. Mit diesen Worten erhob der Herr Jesus einen direkten Anspruch darauf, Gott gleich zu sein. Er war nicht von sich selbst gekommen, d. h. aus eigener Vollmacht und zur Durchsetzung seines eigenen Willens, sondern er war von dem »wahrhaftigen« Gott in diese Welt gesandt worden, und diesen Gott kannten sie nicht.
7,29 Aber Jesus kannte ihn. Er wohnte vor aller Ewigkeit bei Gott dem Vater und war in jeder Hinsicht Gott dem Vater gleich. Denn als der Herr sagte, dass er »von« Gott sei, meinte er damit nicht einfach, dass er von Gott gesandt sei, sondern vor allem die Tatsache, dass er immer bei Gott gewesen und ihm in jeglicher Hinsicht gleich war. Mit dem Ausdruck »er hat mich gesandt« stellte der Herr in der deutlichsten Weise fest, dass er der Christus Gottes ist, der Gesalbte, den Gott in die Welt gesandt hat, damit das Erlösungswerk vollbracht wird.
7,30 Die Juden verstanden die Bedeutung der Worte Jesu und erkannten, dass er behauptete, der Messias zu sein. Sie meinten, dass dies blanke Gotteslästerung sei, und versuchten, ihn festzunehmen, doch konnten sie nicht Hand an ihn legen, »weil seine Stunde noch nicht gekommen war«. Die Macht Gottes bewahrte den Herrn Jesus vor den bösen Fallen der Menschen, bis die Zeit gekommen war, dass er als Opfer für die Sünden sterben sollte.
7,31 In Wirklichkeit jedoch »glaubten … viele … von der Volksmenge« an den Herrn Jesus. Wir würden gerne annehmen, dass ihr Glaube echt war. Ihre Argumentation lautete etwa so: Was konnte Jesus noch mehr tun, um zu beweisen, dass er der Messias ist? »Wenn der Christus kommt …«, sagten sie. Angenommen, Jesus war nicht der Messias. Dann galt es noch immer, ihre Frage zu beantworten: Wäre der wahre Christus imstande, zahlreichere und erstaunlichere »Zeichen« zu tun als diejenigen, die Jesus getan hatte? Aus ihrer Frage lässt sich ihr Glaube ableiten, dass die Wunder Jesu seine Messianität wirklich bewiesen hatten.
C. Die Feindschaft der Pharisäer (7,32-36)
7,32 Als die Pharisäer unter den Menschen umhergingen, kam ihnen diese Grundstimmung der Gespräche zu Ohren. »Die Volksmenge« murmelte über den Heiland, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie sich über ihn beklagt hätte, sondern sie zeigte im Geheimen ihre Hochachtung vor ihm. Die Pharisäer hatten nun Angst, dass dies zu einer großen Bewegung führen könnte, die dafür eintrat, Jesus anzunehmen, und deshalb sandten sie »Diener, dass sie ihn greifen möchten«.
7,33 Die Worte von Vers 33 wurden wahrscheinlich zu den Dienern gesprochen, die gekommen waren, um ihn festzunehmen, aber auch zu den Pharisäern und den Menschen im Allgemeinen. Der Herr Jesus machte keine Abstriche bei seinen Aussagen. Wenn er etwas tat, dann untermauerte er sie vielmehr weiter. Er erinnerte sie daran, dass er nur »noch eine kleine Zeit« bei ihnen sein und dann zu Gott dem Vater zurückkehren würde, der ihn gesandt hat. Zweifellos erboste das die Pharisäer nur noch mehr.
7,34 Es sollte ein Tag kommen, an dem die Pharisäer ihn suchen würden, ihn aber nicht finden könnten. Er sagte ihnen eine Zeit für ihr Leben voraus, zu der sie einen Heiland brauchen würden, doch dann würde es zu spät sein. Zu dieser Zeit wäre er in den Himmel zurückgegangen, und wegen ihres Unglaubens und ihrer Bosheit würden sie ihm dort nicht begegnen können. Die Worte dieses Verses sind besonders ernst. Sie erinnern uns daran, dass es so etwas wie verpasste Gelegenheiten gibt, die nie wiederkommen. Die Menschen haben heute die Möglichkeit, sich erretten zu lassen, wenn sie die Errettung jedoch ablehnen, könnte es sein, dass sie nie wieder diese Möglichkeit haben werden.
7,35 »Die Juden« konnten die Bedeutung dieser Worte nicht verstehen. Sie erkannten nicht, dass Jesus in den Himmel zurückkehren würde. Sie dachten, dass er vielleicht auf eine Evangelisationsreise gehen und die Juden besuchen würde, die »in der Zerstreuung der Griechen« lebten, und möglicherweise sogar auch die Griechen lehren wollte.
7,36 Wieder geben sie ihrer Verwunderung über seine Worte Ausdruck. Was meinte er damit, wenn er sagte, dass sie ihn »suchen und nicht finden« würden? Wohin könnte er wohl gehen, wohin sie ihm nicht folgen könnten? Hier stellen die Juden die Blindheit des Unglaubens dar. Es gibt kein so finsteres Herz wie das eines Menschen, der sich weigert, den Herrn Jesus anzunehmen. In unseren Tagen gibt es den Ausdruck: Niemand ist blinder als derjenige, der nicht sehen will. Genau das war hier der Fall. Sie wollten den Herrn Jesus nicht annehmen, und deshalb konnten sie es auch nicht. D. Die Verheißung des Heiligen Geistes (7,37-39)
7,37 Obwohl sie im AT nicht erwähnt wird, gab es bei den Juden eine Zeremonie, bei der an jedem der ersten sieben Tage des Laubhüttenfestes Wasser vom Teich Siloah geholt und in ein silbernes Becken am Altar gegossen wurde. Am achten Tag wurde das nicht mehr getan, wodurch das Angebot Christi, ihnen Wasser des ewigen Lebens zu geben, noch erstaunlicher wurde. Die Juden waren dieser religiösen Tradition gefolgt, und doch waren ihre Herzen nicht erfüllt, weil sie die wahre Bedeutung dieses Festes nicht erfasst hatten. Kurz bevor sie nach Hause reisten, »an dem letzten, dem großen Tag des Festes aber stand Jesus und rief« ihnen etwas zu. Er lud sie ein, zu ihm zu kommen, um bei ihm geistliche Bef riedigung zu erlangen. Man beachte besonders die Wortwahl. Er lud jeden (»jemand«) ein. Sein Evangelium war allumfassend. Es gab keinen, der nicht gerettet werden konnte, wenn er nur zu Jesus kam.
Doch gibt es eine Bedingung. Die Schrift sagt: »Wenn jemand dürstet.« Mit »dürsten« ist hier geistliche Not gemeint. Wer nicht erkennt, dass er Sünder ist, kann nicht errettet werden. Wer nicht erkennt, dass er verloren ist, den wird nie danach verlangen, sich finden zu lassen. Wenn man keine geistlichen Nöte hat, wird man nie zum Herrn gehen wollen, damit er diese Nöte nimmt. Der Heiland lud die Durstigen ein, zu ihm zu kommen, nicht zur Kirche, zum Pfarrer oder Prediger, zur Taufe oder zum Tisch des Herrn. Jesus sagte: »Er komme zu mir und trinke.« Trinken heißt hier, Jesus anzunehmen. Es bedeutet, ihm als Herrn und Retter zu vertrauen. Es bedeutet, ihn in unser Leben aufzunehmen, wie wir ein Glas Wasser zu uns nehmen, um unseren körperlichen Durst zu stillen.
7,38 Vers 38 beweist, dass zu Christus kommen und trinken dasselbe bed eutet, wie an ihn zu glauben. Alle, die an ihn glauben, werden von ihm alles erhalten, was sie brauchen. Sie werden »Ströme« geistlichen Segens erhalten, die von ihnen aus zu anderen Menschen »fließen«. Im ganzen AT wird gelehrt, dass denjenigen, die den Messias annehmen, geholfen würde und sie selbst zum Segen für  andere  würden  (z. B.  Jes  55,1).  Der ents prechende Ausdruck (»aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen«) bedeutet, aus dem inneren Leben werden Ströme der Hilfe für andere Menschen fließen. Stott betont, dass wir in kleinen Schlucken oder Zügen trinken, doch diese werden zu einem großen Strom vervielfacht. Temple warnt uns: »Niemand kann den Geist Gottes haben und diesen Geist für sich selbst behalten. Wo der Geist ist, dort fließt er über; wenn kein Überfließen zu sehen ist, dann ist der Geist auch nicht da.«
7,39 Es wird hier deutlich gesagt, dass sich der Ausdruck »lebendiges Wasser« auf den Heiligen Geist bezieht. Vers 39 ist sehr wichtig, weil er lehrt, dass alle, die den Herrn Jesus Christus annehmen, auch den Geist erhalten. Mit and eren Worten, es ist nicht möglich, wie einige behaupten, dass der Geist jemandem erst einige Zeit nach der Bekehrung gegeben wird. Dieser Vers sagt eindeutig aus, dass alle, die an Christus glauben, den Geist erh alten. Zu der Zeit, als der Herr Jesus diese Worte sprach, »war der Geist nicht da«. Erst als Jesus in den Himmel aufgefahren und »verherrlicht« worden war, kam am Pfingsttag der Heilige Geist. Seitdem wohnt der Heilige Geist in jedem wahren Gläubigen, der dem Herrn Jesus Christus vertraut.
E. Geteilte Meinungen über Jesus (7,40-53)
7,40.41 Viele, die zuhörten, waren nun davon überzeugt, dass Jesus »der Prophet« sei, von dem Mose in 5. Mose 18,15.18 gesprochen hatte. »Andere« waren sogar gewillt anzuerkennen, dass Jesus »der Christus«, d. h. der Messias, sei. Doch einige meinten, dass dies unmöglich sei. Sie glaubten, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa stammen würde, und es gab keine Prophezeiung im AT, dass »der Christus … aus Galiläa« kommen würde.
7,42 Diese Juden hatten recht, wenn sie der Meinung waren, dass der Christus »aus Bethlehem, dem Dorf« kommen und von »David« abstammen sollte. Wenn sie sich jedoch die Mühe gemacht hätten, nachzuforschen, dann hätten sie herausgefunden, dass Jesus in der Tat in Bethlehem geboren und durch Maria ein direkter Nachkomme Davids war.
7,43 Wegen dieser verschiedenen Meinungen und wegen ihres allgemeinen Unwissens »entstand nun seinetwegen eine Spaltung in der Volksmenge«. Das ist auch heute noch so. Wegen Christus trennen sich die Menschen. Einige sagen, er sei nur ein Mensch wie wir gewesen. Andere sind bereit zuzugeben, dass er der größte aller Menschen war. Doch diejenigen, die dem Wort Gottes glauben, wissen, dass »Christus ist … über allem …, Gott, gepriesen in Ewigkeit« (Röm 9,5).
7,44 Immer noch versuchte man, Jesus festzunehmen, doch keinem gelang es. Solange ein Mensch im Willen Gottes lebt, kann ihn keine Macht der Erde daran hindern. »Wir sind unsterblich, bis wir unsere Aufgabe erfüllt haben.« Für den Herrn war die Zeit noch nicht gekommen, und deshalb waren die Menschen nicht in der Lage, Hand an ihn zu legen.
7,45 Nun hatten die Pharisäer Diener ausgesandt, um Jesus festzunehmen. Die »Diener« waren zurückgekommen, aber ohne den Herrn. Die »Hohenpriester und Pharisäer« waren aufgebracht und fragten die Diener, warum sie »ihn nicht gebracht« hätten.
7,46 Hier waren nun sündige Menschen gezwungen, für Jesus ein positives Zeugnis abzulegen, auch wenn sie selbst nicht an ihn glaubten. Ihre beachtenswerten Worte lauteten: »Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch.« Zweifellos hatten diese Diener schon viele Menschen in ihrem Leben reden hören, doch nie hatten sie jemanden mit solcher Vollmacht, Gnade und Weisheit reden hören.
7,47.48 Die Pharisäer klagten nun die Diener an, »verführt« worden zu sein, denn sie wollten die Diener einschüchtern. Sie erinnerten sie daran, dass keiner von den »Obersten« der Juden an Jesus glauben würde. Welch eine schreckliche Argumentation! Sie hätten sich schämen sollen, dass die führenden Männer des Volkes den Messias nicht erkannten, als er kam.
Diese Pharisäer verharrten nicht nur selbst gegenüber dem Herrn Jesus im Unglauben, sondern es wird klar, dass sie auch nicht wollten, dass andere an ihn glauben. So ist es noch heute. Viele wollen selbst nicht gerettet werden und tun alles in ihrer Macht Stehende, um ihre Verwandten und Freunde ebenso davon abzuhalten.
7,49 Hier sprechen die Pharisäer von den meisten Angehörigen des jüdischen Volkes als Unwissenden und »Verfluchten«. Laut ihrer Argumentation würden die gewöhnlichen Leute erkennen, dass Jesus nicht der Messias ist, wenn sie die Schriften auch nur ein wenig kennen würden. Auf schlimmere Abwege konnten die Pharisäer nicht geraten!
7,50 An diesem Punkt sprach »Nikodemus zu ihnen«. Er war derjenige, »der bei  der  Nacht  zu  ihm  kam«  (LU 1912) und gelernt hatte, dass man wiedergeboren werden muss. Es scheint so, dass Nikodemus sich wirklich dem Herrn Jesus anvertraut hatte und gerettet worden war. Hier jedenfalls tritt er mitten unter die Obersten der Juden, um seinen Herrn zu verteidigen.
7,51 Nikodemus argumentierte, dass die Juden Jesus keine faire Chance gegeben hatten. Das jüdische »Gesetz« verurteilte einen Menschen nicht, »ehe es zuvor von ihm selbst gehört und erkannt hat, was er tut«, d. h. ehe er in einem Prozess vernommen worden war. Doch genau das taten die jüdischen Führer an diesem Punkt. Hatten sie Angst vor den Tatsachen? Die Antwort lautet, dass dies offensichtlich der Fall war.
7,52 Nun stürzen sich die Obersten auf einen aus ihrer Mitte, nämlich auf Nikodemus. Spöttisch fragen sie ihn, ob er auch einer von Jesu Nachfolgern »aus Galiläa« sei. Wusste er nicht, dass nach dem AT kein Prophet aus Galiläa käme? Damit zeigten sie natürlich wieder einmal ihre Unwissenheit. Hatten sie nie von Jona gelesen? Er stammte aus Galiläa.
7,53 Das Laubhüttenfest war zu Ende. Die Menschen kehrten nach Hause zurück. Einige von ihnen hatten den Heiland selbst gesehen und ihn angenommen. Doch die Mehrheit hatte ihn abgelehnt, und die Führer des jüdischen Volkes waren entschlossener denn je, ihn zu töten. Sie waren der Überzeugung, dass er eine Gefahr für ihre Religion und für ihre Lebensführung darstellte.
F. Die Ehebrecherin (8,1-11)
8,1 Dieser Vers ist eng mit dem letzten von Kapitel 7 verbunden. Der Zusammenhang zeigt sich besser, wenn man die beiden Sätze so verbindet: »Und jeder ging nach seinem Haus, aber Jesus ging nach dem Ölberg.« Der Herr hatte ganz richtig gesagt: »Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlege« (Lk 9,58).
8,2 Der Ölberg war nicht weit vom Tempel entfernt. »Frühmorgens« ging Jesus den Hang des Ölberges hinab, überquerte den Kidron und stieg hinauf in die Stadt, wo sich der Tempel befand. »Alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie.«
8,3 »Die Schriftgelehrten« (eine Gruppe von Männern, die die Schrift abschrieben und sie lehrten) und die »Pharisäer« versuchten, dem Herrn Jesus eine Falle zu stellen, damit er etwas sagen würde, das sich für eine Anklage gegen ihn verwenden ließe. Sie hatten gerade »eine Frau« … hergebracht, die sie beim Ehebruch ergriffen hatten. Sie »stellen sie in die Mitte« der Menschenmenge, wahrscheinlich Jesus gegenüber.
8,4 Die Anklage gegen »diese Frau« lautete auf Ehebruch, und sie entsprach zweifellos der Wahrheit. Wir haben keinen Grund, infrage zu stellen, ob sie wirklich bei dieser schrecklichen Sünde ertappt worden war. Doch wo war der Mann geblieben? Nur allzu oft werden Frauen bestraft, während die Männer, die ebenso schuldig sind, straffrei ausgehen.
8,5 Nun war die List offensichtlich: Sie wollten, dass der Herr »dem Gesetz« des Mose widersprach. Wenn ihnen das gelingen sollte, dann konnten sie das einfache Volk gegen Jesus aufhetzen. Sie erinnerten den Herrn daran, dass Mose im Gesetz geboten hatte, Menschen, die beim Ehebruch ertappt wurden, »zu steinigen«. Weil sie ihre unheilvollen Pläne verwirklichen wollten, hofften die Pharisäer, dass der Herr anderer Meinung war. Deshalb fragten sie ihn, was er zu diesem Thema zu sagen hatte. Ihrer Meinung nach schrieben die Gerechtigkeit und das Gesetz des Mose vor, dass an dieser Frau ein Exempel statuiert werden sollte. Darby sagt dazu:
Es tröstet und beruhigt das boshafte Herz des Menschen, wenn er nur einen Menschen finden kann, der noch schlechter als er selbst ist: Er denkt, dass die größere Sünde des anderen ihn selbst entschuldigt, und während er einen anderen Menschen anklagt und heftig beschuldigt, vergisst er seine eigenen Sünden. Und so freut er sich in seiner Ungerechtigkeit.29
8,6 Sie hatten gegen den Herrn keine wirkliche Anklage und versuchten nun, eine an den Haaren herbeizuziehen. Sie wussten, dass er gegen das Gesetz des Mose verstoßen würde, wenn er die Frau ohne Strafe gehen lassen würde, und dann könnten sie »ihn anklagen«, ungerecht zu sein. Wenn er jedoch die Frau zum Tode verurteilen würde, dann könnten sie das benutzen, um zu zeigen, dass er ein Feind der Römer war. Außerdem könnten sie sagen, dass er nicht barmherzig gewesen sei. »Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde« (vgl. Jer 17,13). Wir können auf keinen Fall wissen, was Jesus geschrieben hat. Viele behaupten, es zu wissen, doch es ist eine einfache Tatsache, dass uns die Bibel das nicht sagt.
8,7 Die Juden waren damit nicht zufrieden und bestanden darauf, dass er eine Antwort gebe. So stellte Jesus einfach fest, dass die Vorschrift des Gesetzes erfüllt werden sollte, doch sollte die Strafe von denen vollzogen werden, die selbst ohne Sünde waren. So hielt der Herr am Gesetz des Mose fest. Er sagte nicht, dass die Frau straffrei ausgehen sollte. Aber er klagte alle Anwesenden an, selbst gesündigt zu haben. Wer über andere richten will, muss selbst rein sein. Dieser Vers wird oft als Entschuldigung für Sünden missbraucht. Man meint, dass wir nicht getadelt werden könnten, da doch alle anderen auch sündigen würden. Doch dieser Vers entschuldigt Sünde in keiner Weise. Er verurteilt diejenigen, die ebenso schuldig sind, aber nie bei ihrer Sünde ertappt wurden.
8,8 »Und wieder bückte er sich nieder und schrieb auf die Erde.« Dies sind die einzigen Verse, die berichten, dass der Herr Jesus etwas geschrieben hat, und was er geschrieben hat, ist schon längst wieder gelöscht, weil es in den Sand geschrieben worden war.
8,9 Diejenigen, die die Frau angeklagt hatten, waren »von ihrem Gewissen überführt«  (LU 1912).  Sie  hatten  nichts  mehr zu sagen. Sie gingen weg, »einer nach dem anderen«. Alle waren schuldig, vom Ältesten bis hin zum Jüngsten. Jesus »wurde allein gelassen mit der Frau«, die bei ihm stand.
8,10 In wunderbarer Gnade machte der Herr Jesus die Frau darauf aufmerksam, dass ihre Ankläger verschwunden waren. Sie waren nicht mehr aufzufinden. Kein Einziger in der Menge hatte es gewagt, sie zu verurteilen.
8,11 Das Wort »Herr« ist hier wahrscheinlich als Anrede, nicht als Titel Jesu gebraucht. Als die Frau sagte: »Niemand, Herr«, antwortete ihr Jesus mit den wunderbaren Worten: »So verurteile auch ich dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!« Der Herr beanspruchte nicht, das Recht zur öffentlichen Gewaltausübung zu besitzen. Dies war das Recht der römischen Verwaltung, und in dieses Recht wollte er nicht eingreifen. Er hatte sie weder verurteilt noch begnadigt. Zu dieser Zeit war das noch nicht seine Aufgabe. Doch er äußerte eine Warnung, dass sie sich vor weiteren Sünden hüten sollte. Im ersten Kapitel des Johannesevangeliums erfuhren wir, dass »die Gnade und die Wahrheit … durch Jesus Christus geworden« ist. Hier haben wir ein weiteres Beispiel dafür. In diesen Worten (»So verurteile auch ich dich nicht«) drückt sich die Gnade aus, in den folgenden Worten (»Geh hin und sündige nicht mehr!«) die Wahrheit. Er sagte nicht: »Geh hin und sündige so wenig wie möglich.« Jesus Christus ist Gott, und sein Maßstab ist die absolute Vollkommenheit. Er kann auch nicht die kleinste Sünde billigen. Und so legt er ihr den vollkommenen Maßstab Gottes vor.30 G. Jesus, das Licht der Welt (8,12-20)
8,12 Der Schauplatz wechselt nun zur Schatzkammer  des  Tempels  (s.  V. 20). Noch immer folgt Jesus eine große Menschenmenge nach. Er wandte sich an die Menschen und machte wieder eine seiner großen Aussage zu seiner Sendung als Messias. Er sagte: »Ich bin das Licht der Welt.« Normalerweise ist die Welt in der Dunkelheit der Sünde, der Unwissenheit und der Ziellosigkeit gefangen. »Das Licht der Welt« ist Jesus. Ohne ihn gibt es keine Erlösung von der Finsternis der Sünde. Ohne ihn gibt es keine Führung auf dem Lebensweg, kein Wissen über den Sinn des Lebens und die Ewigkeit. Jesus versprach, dass jeder, der ihm nachfolgen würde, »nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben« würde.
Jesus nachzufolgen, bedeutet, an ihn zu glauben. Viele Menschen haben diesen Gedanken missverstanden und versuchten, wie Jesus zu leben, ohne wiedergeboren zu sein. Jesus nachzufolgen, bedeutet, in Buße zu ihm zu kommen, sich ihm als Herrn und Retter anzuvertrauen und ihm dann das ganze Leben hinzugeben. Wer das tut, hat Leitung für sein Leben und eine deutliche und strahlende Hoffnung über das Grab hinaus.
8,13 Die Pharisäer forderten nun Jesus aufgrund einer Vorschrift des Gesetzes heraus. Sie erinnerten ihn daran, dass er von sich selbst Zeugnis ablegte. Ein eigenes Zeugnis wurde allerdings nicht als ausreichend angesehen, weil die Menschen normalerweise sehr von sich selbst eingenommen sind. Die Pharisäer hatten keine Hemmungen, Jesu Worte anzuzweifeln. Sie bezweifelten, dass sie überhaupt der Wahrheit entsprachen.
8,14 Der Herr erkannte an, dass es normalerweise notwendig war, zwei oder drei Zeugen zu haben. Doch in seinem Fall ist sein Zeugnis absolut wahr, weil er Gott ist. Er wusste, dass er vom Himmel gekommen war und dorthin zurückkehren würde. Doch sie wussten nicht, woher er gekommen war und wohin er gehen würde. Sie waren der Meinung, er sei ein normaler Mensch wie sie und wollten nicht glauben, dass er der ewige Sohn in der Stellungsgleichheit mit dem Vater ist.
8,15 Die Pharisäer beurteilten die Menschen nach der äußeren Erscheinung und nach ihren rein menschlichen Maßstäben. Sie sahen auf den Zimmermann Jesus aus Nazareth herab und glaubten nicht, dass er sich von allen anderen Menschen unterschied. Der Herr Jesus sagte, er »richte niemand«. Das kann bedeuten, dass er die Menschen nicht nach weltlichen Maßstäben wie die Pharisäer richtete. Wahrscheinlicher ist jedoch die Bedeutung, dass nicht in diese Welt kam, um Menschen zu richten, sondern um sie zu erlösen.
8,16 Wenn es jedoch die Aufgabe Jesu wäre, zu richten, so wäre sein »Gericht wahr« und gerecht. Er ist Gott, und alles, was er tut, vollbringt er zusammen mit dem »Vater, der mich gesandt hat«. Immer wieder betonte der Herr Jesus den Pharisäern gegenüber seine Gottgleichheit. Doch gerade das ließ in ihren Herzen den bittersten Widerstand gegen ihn entstehen.
8,17.18 Der Herr erkannte an, dass das Gesetz des Mose »das Zeugnis zweier Menschen« verlangte. Keine seiner Aussagen sollte dem widersprechen. Wenn sie darauf bestanden, dass er zwei Zeugen herbeibringen sollte, so war es für ihn nicht schwierig, diese aufzubieten. Erstens »zeugt« er von sich selbst durch sein sündloses Leben und seine Worte. Zweitens zeugte »der Vater« vom Herrn Jesus, indem er zunächst öffentlich vom Himmel sprach und dann auch mittels der Wunder redete, die er durch den Herrn Jesus tat. Christus erfüllte die Prophezeiungen des AT über den Messias, doch auch angesichts dieser überragenden Beweise wollte die jüdische Führerschaft nicht an ihn glauben.
8,19 Die nächste Frage hatten die Pharisäer zweifellos verächtlich gestellt. Vielleicht blickten sie in die Menge, als sie fragten: »Wo ist dein Vater?« »Jesus antwortete«, indem er ihnen sagte, dass sie weder erkannten, wer er wirklich war, noch seinen »Vater« kannten. Natürlich hätten sie energisch eine solche Unwissenheit im Blick auf Gott zurückgewiesen. Aber trotz aller Proteste war diese Aussage Jesu richtig. Wenn sie den Herrn Jesus angenommen hätten, dann würden sie »auch« seinen »Vater gekannt haben«. Denn außer durch Jesus Christus kann niemand den Vater kennenlernen. Durch die Verwerfung des Heilands wurde es ihnen unmöglich, ehrlich zu behaupten, dass sie Gott kennen und lieben würden.
8,20 Hier erfahren wir, dass der Schauplatz des vorangegangenen Gespräches die »Schatzkammer … im Tempel« war. Und wieder wird unser Herr von seinem Vater bewahrt, sodass »niemand … Hand an ihn« legen konnte, um ihn festzunehmen oder zu töten. »Seine Stunde war noch nicht gekommen.« Mit den Worten »seine Stunde« ist die Kreuzigung auf Golgatha gemeint, wo Jesus für die Sünden der Welt sterben sollte. H. Der Wortwechsel der Juden mit Jesus (8,21-59)
8,21 Und wieder zeigte Jesus, dass er wusste, was ihm bevorstand. Er sagte seinen Kritikern voraus, dass er weggehen würde – womit er nicht nur auf seinen Tod und seine Grablegung anspielte, sondern auch auf seine Auferstehung und die Himmelfahrt. Die Angehörigen des jüdischen Volkes würden weiter nach einem Messias »suchen«, weil sie nicht erkannten, dass er schon gekommen war und sie ihn abgelehnt hatten. Wegen ihrer Ablehnung würden sie in ihrer »Sünde sterben«. (Im Griechischen steht hier wie in der Elberfelder Bibel das Wort »Sünde« im Singular.) Das würde bedeuten, dass sie niemals in den Himmel kommen könnten, wohin der Herr schließlich zurückkehren würde. Das ist eine sehr ernste Warnung. Diejenigen, die sich weigern, den Herrn Jesus anzunehmen, haben keinerlei Hoffnung auf den Himmel. Wie schrecklich ist es, in seinen Sünden zu sterben, ohne Gott, ohne Christus, auf ewig ohne Hoffnung!
8,22 »Die Juden« verstanden nicht, dass der Herr davon sprach, in den Himmel zurückzukehren. Was meinte er damit, »hinzugehen«? Meinte er damit, dass er ihren Mordplänen entgehen wollte, indem er Selbstmord beging? Es war seltsam, dass sie an so etwas denken konnten. Wenn er sich hätte »selbst töten« wollen, hätte sie doch nichts davon abhalten können, sich ebenfalls umzubringen und ihm in den Tod zu folgen. Doch wir haben hier nur einen weiteren Beweis für die Finsternis ihres Unglaubens. Es scheint erstaunlich, dass sie so blind und unverständig gegenüber den Worten des Heilands waren!
8,23 Jesus dachte zweifellos an diese törichte Bezugnahme auf den Selbstmord, als er ihnen sagte, dass sie »von dem, was unten ist«, seien. Das bedeutete, dass sie nur einen sehr kleinen Gesichtskreis hatten. Sie konnten nie die wörtliche Bedeutung des Zeitlichen und des sinnlich Wahrnehmbaren hinter sich lassen. Sie hatten kein geistliches Verständnis. Im Gegensatz dazu war Christus »von dem, was oben ist«. Seine Gedanken, Worte und Taten waren vom Himmel inspiriert. Sie dachten nur an die Dinge »dieser Welt«, während sein ganzes Leben zeigte, dass er aus einer reineren Welt als der unseren stammen musste.
8,24 Der Herr benutzte oft die Wiederholung, um eine Aussage zu betonen. Hier warnt er die Juden nochmals ernsthaft davor, in ihren Sünden zu sterben. Wenn sie sich weiter weigern würden, an ihn zu glauben, gab es für sie keine Alternative. Niemand kann ohne Jesus die Vergebung der Sünden erlangen, und diejenigen, die sterben, ohne dass ihnen ihre Sünden vergeben sind, können niemals in den Himmel kommen. Das Wort »es« findet sich im Originaltext nicht, auch wenn es mit inbegriffen sein mag. Wörtlich heißt es hier also: »Wenn ihr nicht glauben werdet, dass ich bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben.« Wir sehen in dem »ich bin« eine weitere Aussage, dass der Herr Jesus Gott gleich ist.
8,25 Die Juden waren von den Lehren des Herrn Jesus völlig verwirrt. Sie fragten ihn nun ausdrücklich, wer er sei. Vielleicht verbarg sich dahinter Sarkasmus, etwa in dem Sinne: »Wer glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du in dieser Weise zu uns sprichst?« Oder vielleicht wollten sie wirklich hören, was er über sich selbst zu sagen hatte? Seine Antwort ist beachtenswert: »Durchaus das, was ich auch zu euch rede.« Er war der verheißene Messias. Die Juden hatten ihn das schon oft sagen hören, doch ihre verstockten Herzen weigerten sich, sich dieser Wahrheit zu beugen. Doch seine Antwort kann auch noch eine andere Bedeutung haben – der Herr Jesus war genau das, was er predigte. Er sagte nicht das eine und handelte dann anders. Er war die lebendige Verkörperung dessen, was er lehrte. Sein Leben stimmte mit seiner Verkündigung überein.
8,26 Die Bedeutung dieses Verses ist nicht eindeutig. Scheinbar wollte der Herr damit sagen, dass er über diese ungläubigen Juden noch viel »zu reden und zu richten« hätte. Er konnte die bösen Gedanken und Triebe ihrer Herzen bloßstellen. Dennoch war er gehorsam und redete nur das, was ihm sein Vater zu reden auftrug. Und weil der Vater »wahrhaftig« ist, ist er es wert, dass man ihn hört und ihm Glauben schenkt.
8,27 Die Juden »erkannten« an diesem Punkt nicht, »dass er von« Gott dem »Vater zu ihnen sprach«. Es scheint, dass ihr Verstand immer mehr in die Finsternis des Unglaubens geriet. Als der Herr Jesus vorher beansprucht hatte, der Sohn Gottes zu sein, hatten sie wenigstens noch verstanden, dass er behauptete, Gott gleich zu sein. Doch das war nun nicht mehr der Fall.
8,28 Wieder sagte Jesus voraus, was geschehen würde. Als Erstes würden sie »den Sohn des Menschen« erhöhen. Das bezieht sich auf Jesu Tod durch Kreuzigung. Danach würden sie »erkennen«, dass er der Messias ist. Sie würden es durch das Erdbeben und die Finsternis, doch am allermeisten durch seine leibliche Auferstehung aus den Toten erkennen. Man beachte wieder die Worte: »Dann werdet ihr erkennen, dass ich bin.« Hier fehlt im Original wieder das Wort »es«. Die tiefere Bedeutung davon ist: »Dann werdet ihr erkennen, dass ich Gott bin.« Dann werden sie auch verstehen,  dass  er  nichts  von  sich  selbst,  d. h. aus eigener Vollmacht, tat. Stattdessen kam er in seinem Menschsein als ganz auf Gott Angewiesener in die Welt, der nur das redete, was »der Vater (ihn) gelehrt hat.«
8,29.30 Das Verhältnis des Herrn zu Gott dem Vater war sehr innig. Jede dieser Aussagen enthält den Anspruch, dass Jesus Gott gleich ist. Während seines ganzen irdischen Dienstes war der Vater mit ihm. Niemals wurde er »allein gelassen«. Zu allen Zeiten handelte er so, wie es Gott gefiel. Diese Worte konnten nur von einem sündlosen Wesen gesprochen werden. Niemand, der von menschlichen Eltern geboren worden ist, kann jemals diese Worte sprechen, ohne zu lügen: »Ich tue allezeit das ihm Wohlgefällige.« Viel zu oft tun wir, was uns selbst wohlgefällt. Manchmal wollen wir auch unseren Mitmenschen gefallen. Nur der Herr Jesus hatte einzig und allein das Verlangen, das Gott Wohlgefällige zu tun. »Als er dies« wunderbare Wort redete, sah Jesus, dass viele ihren Glauben an ihn bekannten. Zweifellos waren etliche davon echte Gläubige. Andere könnten dazu veranlasst worden sein, sich lediglich mit Worten zu dem Herrn zu bekennen.
8,31 Nun unterscheidet Jesus zwischen denen, die Jünger sind, und denen, die sich »wahrhaft« als Jünger erweisen. Ein Jünger ist jeder, der behauptet, von jemandem zu lernen, doch ein »wahrhaftiger« Jünger ist einer, der sich ausdrücklich dem Herrn Jesus Christus hingegeben hat. Wer wahren Glauben hat, auf den trifft diese Aussage zu: Er »bleibt« in seinem »Wort«. Das bedeutet, dass er bei Jesu Lehre bleibt. Er wendet sich nicht davon ab. Wahrer Glaube ist immer von Dauer. Ein Jünger wird nicht gerettet, weil er in seinem Wort bleibt, sondern er bleibt in seinem Wort, weil er gerettet ist.
8,32 Allen wahren Jüngern wird verheißen, dass sie »die Wahrheit erkennen« werden und die Wahrheit sie »frei machen« wird. Die Juden kannten die Wahrheit nicht, sie waren auf schreckliche Weise gebunden. Sie befanden sich unter der Knechtschaft von Unwissenheit, Irrtümern, Sünde, Gesetz und Aberglauben. Diejenigen, die den Herrn Jesus wirklich kennen, sind von der Sünde befreit, sie wandeln im Licht und werden vom Heiligen Geist Gottes geleitet.
8,33 Einige der Juden, die dabeistanden, hörten den Herrn Jesus von Befreiung sprechen. Sie lehnten diese Befreiung sofort ab. Sie rühmten sich ihrer Abstammung von Abraham und behaupteten, dass sie nie »jemandes Sklaven gewesen« seien. Doch das stimmte gar nicht. Israel war von Ägypten, Assyrien, Babylon, Persien, Griechenland und nun Rom beherrscht worden. Und außerdem waren sie, während sie mit dem Herrn Jesus sprachen, Sklaven der Sünde und Sklaven Satans.
8,34 Es ist offensichtlich, dass Jesus hier von der Sklaverei der Sünde redet. Er erinnert seine jüdischen Zuhörer dara n, dass »jeder, der die Sünde tut, … der Sünde Sklave« ist. Diese Juden gaben vor, sehr fromm zu sein, doch in Wahrheit waren sie unehrlich und unehrerbietig. Bald würden sie sogar zu Mördern werden, denn schon jetzt planten sie die Ermordung Jesu.
8,35 Als Nächstes verglich Jesus die Stellung eines Sklaven und eines Sohnes in einem Haus. Der Sklave hatte nicht die Gewissheit, dort für immer leben zu können, während der Sohn in dem Haus zu Hause war. Ganz gleich, ob das Wort »Sohn« sich hier auf den Sohn Gottes oder auf diejenigen bezieht, die Kinder Gottes durch den Glauben an Christus werden, es ist eindeutig, dass der Herr Jesus diesen Juden sagen wollte, dass sie nicht Söhne, sondern Sklaven sind, die jederzeit ihr Wohnrecht verlieren können.
8,36 In diesem Vers bezieht sich das Wort »Sohn« eindeutig auf Christus selbst. Wer von ihm befreit ist, der ist »wirklich frei«. Das bedeutet, dass derjenige, der zum Heiland kommt und das ewige Leben von ihm erhält, von der Sklaverei der Sünde, des Gesetzes, des Aberglaubens und der Dämonen befreit wird.
8,37 Der Herr erkannte an, dass diese Juden, soweit es ihre menschliche Abstammung betraf, »Abrahams Nachkommen« (wörtlich »Abrahams Same«) waren. Doch sie waren offensichtlich geistlich gesehen keine Nachfahren Abrahams. Sie waren nicht so gottesfürchtig wie Abraham. Sie wollten den Herrn Jesus »töten«, weil seine Lehre bei ihnen »keinen Raum« fand. Das bedeutet, dass die Worte Christi auf ihr Leben keinerlei Auswirkungen hatten. Sie widerstanden seinen Lehren und wollten ihm nicht nachfolgen.
8,38 Alles, was Jesus sie lehrte, lehrte er im Auftrag seines Vaters. Er und sein Vater waren so sehr eins, dass die Worte, die Jesus sprach, gleichzeitig Worte Gottes des Vaters waren. Der Herr Jesus vertrat seinen Vater in vollkommener Weise, als er auf der Erde lebte. Im Gegensatz dazu taten die Juden, was sie von ihrem Vater gelernt hatten. Der Herr Jesus meinte damit nicht ihre leiblichen Vorfahren, sondern den Teufel.
8,39 Und wieder behaupteten die Juden, mit Abraham verwandt zu sein. Sie waren stolz auf die Tatsache, dass Abraham ihr »Vater« war. Doch der Herr Jesus betonte, dass sie zwar Nachkommen (der Same) Abrahams seien, nicht jedoch seine Kinder. Normalerweise sehen Kinder ihren Eltern ähnlich, sie handeln und reden wie ihre Eltern. Das galt jedoch nicht für diese Juden. Ihr Leben war das genaue Gegenteil vom Leben Abrahams. Obwohl sie dem Fleisch nach Nachkommen Abrahams waren, erwiesen sie sich in moralischer Hinsicht als Kinder des Teufels.
8,40 Der Herr fuhr fort, indem er ihnen ein sehr deutliches Beispiel für den Unterschied zwischen ihnen und Abraham gab. Jesus war in die Welt gekommen und »redete … die Wahrheit« zu ihnen. Sie nahmen daran Anstoß und stolperten über seine Lehren, deshalb versuchten sie, ihn »zu töten«. »Das hat Abraham nicht getan.« Er war auf der Seite der Wahrheit und der Gerechtigkeit.
8,41 Es war eindeutig, wer ihr Vater war, weil sie genau wie er handelten. Sie taten »die Werke« ihres »Vaters«, d. h. des Teufels. Es könnte wohl sein, dass die Juden Jesus hier beschuldigen, »durch Hurerei« geboren worden zu sein. Doch viele Ausleger sehen darin einen Hinweis auf Götzendienst. Die Juden wollten sagen, dass sie nie geistliche Hurerei betrieben hatten. Nach ihren Behauptungen waren sie immer Gott treu gewesen. Nur ihn hatten sie, so ihre Worte, als ihren Vater anerkannt.
8,42 Der Herr zeigte, dass ihr Anspruch falsch war, indem er sie daran erinnerte, dass sie, wenn sie Gott lieben würden, auch ihn lieben müssten, den Gott »gesandt« hatte. Es ist töricht, wenn jemand behauptet, Gott zu lieben, und gleichzeitig den Herrn Jesus Christus hasst. Jesus sagte, er sei »von Gott ausgegangen«. Das bedeutete, dass er der vor aller Ewigkeit gezeugte Sohn Gottes war. Es gab keinen Zeitpunkt, an dem er zum Sohn Gottes gemacht worden wäre, sondern diese Beziehung zwischen dem Sohn und dem Vater bestand von aller Ewigkeit her. Er erinnerte sie auch daran, dass er »von Gott … gekommen« war. Offensichtlich sagte er damit aus, dass er schon vor seiner Geburt existiert hatte. Lange bevor er auf diese Erde kam, wohnte er beim Vater im Himmel. Doch der Vater sandte ihn in die Welt, um sie zu erlösen, und so kam er als der Gehorsame.
8,43 Hier wird zwischen Wort und Sprache unterschieden. Christi Wort bezieht sich auf seine Lehren. Mit seine Sprache sind die Worte gemeint, mit denen er seine Lehren ausdrückte. Sie konnten noch nicht einmal seine Sprache verstehen. Wenn er von Brot sprach, dachten sie an irdisches Brot. Wenn er von Wasser sprach, kamen sie nicht auf die Idee, an geistliches Wasser zu denken. Und waru m konnten sie seine Sprache nicht verstehen? Weil sie nicht gewillt waren, seine Lehre anzunehmen.
8,44 Nun redet der Herr Jesus ganz offen mit ihnen und sagt ihnen, dass »der Teufel« ihr Vater ist. Das bedeutete nicht, dass sie vom Teufel gezeugt sind, wie die Gläubigen von Gott gezeugt sind. Stattdessen ist gemeint, wie Augustinus es ausdrückte, dass sie »durch Nachahmung« Kinder des Teufels waren. Sie zeigten ihre Beziehung zum Teufel dadurch, dass sie seinen Lebensstil angenommen hatten. Der Satz: »Die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« drückt das Verlangen ihrer Herzen aus. Der Teufel »war ein Menschenmörder von Anfang an«. Er brachte Adam und dem gesamten menschlichen Geschlecht den Tod. Er war nicht nur ein »Menschenmörder«, sondern auch ein »Lügner«. Er »stand nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist«. Wenn er log, dann sprach er nur »aus seinem Eigenen«. Lügen gehörten zu seinem Wesen. »Er ist ein Lügner und der Vater derselben.« Die Juden ahmten Satan auf diese beiden Weisen nach. Sie waren Menschenmörder, weil sie den Sohn Gottes umbringen wollten. Und sie waren Lügner, weil sie behaupteten, dass Gott ihr Vater sei. Sie gaben vor, gottesfürchtige, geistliche Männer zu sein, doch ihr Leben war böse.
8,45 Wer sich selbst der Lüge hingibt, scheint die Fähigkeit zu verlieren, die Wahrheit zu erkennen. Hier standen diese Männer vor Jesus, und er hatte immer die Wahrheit gesagt. Und doch wollten sie ihm nicht glauben. Das zeigte, dass ihr Herz böse war. Lenski drückt das sehr gut aus:
Wenn der verdorbene Mensch der Wahrheit begegnet, dann sucht er nur nach Ausreden. Wenn ihm etwas begegnet, das von dieser Wahrheit abweicht, dann sieht und sucht er Gründe, diese Abweichung anzunehmen.31
8,46 Nur Christus, der sündlose Sohn Gottes, konnte jemals solche Worte äußern, ohne zu lügen. Es gab auf der ganzen Welt niemanden, der ihn einer einzigen Sünde hätte beschuldigen können. Sein Wesen war vollkommen. Alle seine Taten waren ebenso vollkommen. Er sprach nur die Wahrheit, und doch wollten sie nicht an ihn glauben.
8,47 Wenn man Gott wirklich liebt, so wird man auf »Gottes Worte« hören und ihnen gehorchen. Die Juden zeigten durch ihre Ablehnung der Botschaft Jesu, dass sie nicht wirklich zu Gott gehörten. Aus Vers 47 geht hervor, dass der Herr Jesus beanspruchte, dass seine Worte Gottes Wort waren. Man konnte ihn einfach nicht missverstehen.
8,48 Und wieder flüchteten sich die Juden in Beschimpfungen, weil sie nichts anderes mehr antworten konnten. Indem sie ihn einen »Samariter« schimpften, gebrauchten sie in ihrem Unverstand eine Bezeichnung, die ihn in ethnischer Hinsicht beleidigen sollte. Es war, als würden sie ihn anklagen, kein reiner Jude und außerdem ein Feind Israels zu sein. Außerdem klagten sie ihn an, »einen Dämon« zu haben. Damit meinten sie zweifellos, dass er wahnsinnig sei. Sie waren der Meinung, dass nur ein Verrückter jemals solche Ansprüche wie Jesus erheben konnte.
8,49 Man beachte die ruhige Art und Weise, in der Jesus seinen Feinden antwortete. Seine Lehren waren nicht dämonisch, sondern kamen von einem, der Gott den Vater ehren wollte. Deshalb wollten sie ihm seine Ehre nehmen, nicht weil er verrückt gewesen wäre, sondern weil er ganz mit den Interessen seines Vaters im Himmel beschäftigt war.
8,50 Sie hätten wissen sollen, dass er zu keiner Zeit seine eigene »Ehre« gesucht hatte. Alle seine Handlungen zielten darauf ab, seinen Vater zu ehren. Auch wenn er ihnen vorwarf, dass sie ihm seine Ehre nehmen wollten, wollte er doch damit nicht seine eigene Ehre sichern. Dann fügte der Herr noch hinzu: »Es ist einer, der sie sucht und der richtet.« Das Wort »einer« bezieht sich natürlich auf Gott. Gott der Vater würde Ehre für seinen Sohn suchen und alle richten, die ihm diese Ehre verweigerten.
8,51 Und wieder haben wir hier einen der majestätischen Aussprüche des Herrn Jesus – Worte, wie sie nur Gott selbst äußern konnte. Er leitete seine Aussage mit der bekannten Wendung ein, die die Aussage nochmals unterstreichen sollte: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch.« Jesus verheißt hier, dass jeder, der sein »Wort bewahren wird, … den Tod … ewiglich … nicht sehen« wird. Das kann sich nicht auf den leiblichen Tod be ziehen, weil jeden Tag viele Gläubige sterben. Es geht hier um den geistlichen Tod. Der Herr wollte damit sagen, dass diejenigen, die an ihn glauben, vom ewigen Tod erlöst sind und niemals die Qualen der Hölle erleiden müssen.
8,52 »Die Juden« waren nun überzeugter denn je, dass Jesus verrückt sei. Sie erinnerten ihn daran, dass sowohl »Abraham« als auch »die Propheten … gestorben« sind. Und doch hatte er gesagt, dass jeder, der sein »Wort bewahren wird, … den Tod nicht schmecken … wird … in Ewigkeit«. Wie können diese beiden Tatsachen miteinander in Einklang gebracht werden?
8,53 Sie erkannten, dass der Herr für sich in Anspruch nahm, »größer« zu sein als »Abraham … und die Propheten«. Abraham hat nie jemanden vom Tod errettet, auch sich selbst konnte er davor nicht bewahren. Auch die Propheten konnten das nicht. Und doch stand hier der Eine vor ihnen und behauptete, in der Lage zu sein, seine Mitmenschen vom Tod befreien zu können. Er musste sich für größer als die Väter Israels halten.
8,54 Die Juden waren der Meinung, dass Jesus versuchte, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken. Deshalb erinnerte sie Jesus daran, dass dies nicht der Fall war. Der Vater selbst ehrte ihn, der Gott, den sie vorgaben zu lieben und dem sie angeblich dienten.
8,55 Die Juden behaupteten, dass Gott ihr Vater sei, aber in Wirklichkeit kannten sie ihn nicht. Doch sprachen sie hier mit dem Einen, der den Vater wirklich kannte, der ihm sogar gleich war. Sie wollten, dass Jesus diesen Anspruch abstreiten sollte, doch er sagte, dass er selbst »ein Lügner« wäre, wenn er es täte. Er kannte Gott den Vater und gehorchte »seinem Wort«.
8,56 Weil die Juden immer wieder Abraham in die Diskussion brachten, erinnerte der Herr sie daran, dass »Abraham« auf den »Tag« des Messias gewartet hatte. Er hatte ihn sogar im Glauben gesehen und sich darüber gefreut. Der Herr Jesus sagte, dass er selbst derjenige sei, auf den Abraham gewartet hatte. Der Glaube Abrahams ruhte auf dem Glauben an das Kommen Christi.
Wann sah Abraham den Tag Christi? Vielleicht, als er Isaak auf den Berg Morija mitnahm, um ihn dort als Brandopfer darzubringen. Das ganze Drama des Todes und der Auferstehung des Messias wurde hier bildhaft vorweggenommen, und es ist möglich, dass Abraham dies durch den Glauben verstand. So erhob Jesus den Anspruch, die Erfüllung aller Prophezeiungen des AT über den kommenden Messias zu sein.
8,57 Und wieder zeigten »die Juden« dass sie göttliche Wahrheiten nicht verstehen konnten. Jesus hatte gesagt: »Abraham freute sich, dass er meinen Tag sehen sollte«. Sie antworteten ihm jedoch, als ob er gesagt hätte, dass er Abraham gesehen hätte. Das ist ein großer Unterschied. Der Herr Jesus beanspruchte für sich eine höhere Stellung als Abraham. Er war Gegenstand der Gedanken und Hoffnungen Abrahams. Abraham erwartete im Glauben den Tag Christi.
Das konnten die Juden nicht verstehen. Sie argumentierten, dass Jesus »noch nicht fünfzig Jahre alt« sei. (Er war zu dieser Zeit sogar erst ca. 33 Jahre alt.) Wie konnte er »Abraham gesehen« haben?
8,58 Hier beansprucht Jesus wieder, Gott zu sein. Er sagte nicht: »Ehe Abraham war, war ich.« Das könnte bedeuten, dass er einfach früher »erschaffen« wurde als Abraham. Stattdessen benutzt Jesus hier den Namen Gottes: »Ich bin.« Der Herr Jesus wohnte vor aller Ewigkeit bei Gott. Es gab keinen Zeitpunkt, an dem er geschaffen wurde, und keine Zeit, zu der er nicht existiert hat. Deshalb sagte er: »Ehe Abraham war, bin ich.«
8,59 Sofort wollten die Juden ihn töten, »Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Tempel hinaus«. Die Juden verstanden genau, was Jesus meinte, als er sagte: »Ehe Abraham war, bin ich.« Er beanspruchte, Jahwe selbst zu sein. Sie wollten ihn steinigen, weil diese Aussage für sie eine Gotteslästerung war. Sie wollten die Tatsache nicht akzeptieren, dass der Messias unter ihnen lebte. Sie wollten nicht, dass er über sie herrschte! I. Das sechste Zeichen: Die Heilung des Blindgeborenen (9,1-12)
9,1 Das nächste Ereignis könnte stattgefunden haben, als Jesus den Tempelbereich verließ. Es könnte aber auch einige Zeit nach den Ereignissen in Kapitel 8 stattgefunden haben. Von dem Mann wird berichtet, dass er »blind von Geburt« war, um die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes zu zeigen und zu unterstreichen, welch ein Wunder seine Heilung war, die ihm das volle Augenlicht wiedergab.
9,2 Die »Jünger« stellten nun eine seltsame Frage. Sie fragten sich, ob die Blindheit dieses Mannes durch seine eigene Sünde oder durch die Schuld seiner Eltern verursacht sei. Wie konnte die Blindheit durch seine eigene Sünde verursacht sein, wo er doch blind geboren war? Glaubten sie etwa an eine Art Wiedergeburt, dass die Seele eines Toten in einem neuen Körper auf die Erde zurückkehren könne? Oder wollten sie damit sagen, dass er wegen Sünden blind geboren wurde, von denen Gott wusste, dass er sie später tun würde? Es ist offensichtlich, dass für sie die Blindheit direkt mit Sünde in der Familie verbunden war. Wir wissen, dass das nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Obwohl alle Krankheit, alles Leiden und der Tod letztlich als Folge der Sünde in die Welt kamen, trifft es nicht zu, dass in jedem einzelnen Fall ein Mensch wegen begangener Sünden leidet.
9,3 Jesus meinte nicht, dass der Mann ohne Sünde gewesen war oder sich seine Eltern als sündlos erwiesen hatten. Er meinte, dass die Blindheit keine direkte Folge der Sünde in ihrem Leben war. Gott hatte es zugelassen, dass dieser Mensch blind geboren wurde, damit er ein Werkzeug werden konnte, um die mächtigen »Werke Gottes« sichtbar werden zu lassen. Schon ehe dieser Mann geboren wurde, wusste der Herr Jesus, dass er diesen blinden Augen das Augenlicht wiederschenken würde.
9,4 Der Heiland wusste, dass er drei Jahre des Dienstes in der Öffentlichkeit vor sich hatte, ehe man ihn kreuzigen würde. Jeder Augenblick musste mit Arbeit für seinen Vater ausgefüllt werden. Hier war ein Mann, der von Geburt an blind war. Der Herr Jesus musste ein Heilungswunder an ihm vollbringen, auch wenn es Sabbat war. Die Zeit seines Dienstes würde schon bald vorbei sein, und dann wäre er nicht mehr auf der Erde. Dies ist eine ernste Mahnung an alle Christen, weil ihre Tage so rasch dahinfliegen und »die Nacht … kommt«, da unser Dienst auf Erden für immer zu Ende sein wird. Deshalb sollten wir die Zeit, die uns gegeben ist, nutzen, um dem Herrn richtig zu dienen.
9,5 Als Jesus in seinem Menschsein »in der Welt« war, war er auf eine ganz besondere und direkte Weise »das Licht der Welt«. Als er umherging, um Wunder zu tun und die Menschen zu lehren, hatten sie »das Licht der Welt« vor Augen. Der Herr Jesus ist aber noch immer das Licht der Welt, und allen, die zu ihm kommen, gilt die Verheißung, dass sie nicht in der Finsternis wandeln brauchen. Dennoch sprach der Herr hier insbesondere von seinem Dienst auf der Erde.
9,6 Uns wird nicht gesagt, warum Jesus Speichel und Erde mischte und »den Teig auf« die Augen des Blinden »strich«. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass der Mann keine Augäpfel hatte und der Herr Jesus sie hier einfach erschuf. Andere sind der Ansicht, dass der Herr Jesus normalerweise Methoden verwendete, die von der Welt verachtet wurden. Er benutzte einfache und unbedeutende Mittel, um zu seinem Ziel zu gelangen. Auch heute noch verwendet Gott Menschen, die aus dem Staub der Erde gemacht sind, um den geistlich Blinden ihr Augenlicht wiederzugeben.
9,7 Der Herr sprach den Glauben des Mannes an, indem er ihm befahl, hinzugehen und sich »in dem Teich Siloah« zu waschen. Obwohl er blind war, kannte er doch wahrscheinlich den Ort, an dem sich der Teich befand, und konnte dorthin gehen. Die Schrift hat hier festgehalten, dass das Wort Siloah »gesandt« bedeutet. Dies ist vielleicht ein Hinweis auf den Messias (den Gesandten Gottes). Der, der dieses Wunder vollbrachte, war derjenige, der vom Vater in die Welt gesandt worden war. Der Blinde »ging … hin und wusch sich« in dem Teich und erhielt sein Augenlicht. Hier geht es nicht darum, dass sein Augenlicht wiederhergestellt worden wäre, denn er hatte ja nie sehen können. Das Wunder fand in einem Augenblick statt, und der Mann war sofort in der Lage, seine Augen zu gebrauchen. Welch eine wunderbare Überraschung muss es für ihn gewesen sein, zum ersten Mal die Welt zu sehen, in der er lebte!
9,8.9 »Die Nachbarn« des Mannes waren erstaunt. Sie konnten kaum glauben, dass dieser Mann derselbe war, der so lange »saß und bettelte«. (So sollte es auch sein, wenn jemand zum Glauben gekommen ist. Unsere Nachbarn sollten sehen können, dass etwas anders geworden ist.) »Einige« waren der Meinung, dass er derselbe Mann sei. »Andere« waren sich nicht so sicher und meinten, dass er ihm nur ähnlich sehe. Doch der Mann selbst ließ keine Zweifel darüber aufkommen, indem er ihnen sagte, dass er der Blindgeborene sei.
9,10 Wann immer Jesus ein Wunder tat, rief er damit in den Herzen der Menschen alle möglichen Fragen hervor. Oft gaben diese Fragen den Gläubigen die Möglichkeit, für den Herrn Zeugnis zu geben. Hier fragten die Leute den Mann, wie das Wunder geschehen sei.
9,11 Sein Zeugnis war einfach, aber überzeugend. Er erzählte alle Tats achen, die zu seiner Heilung geführt hatten, und gab dem die Ehre, der das Wunder vollbracht hatte. Zu dieser Zeit hatte der Mann noch nicht erkannt, wer Jesus war. So sagte er einfach »der Mensch, der Jesus heißt«. Doch später verstand der Mann mehr und erkannte, wer Jesus wirklich ist.
9,12 Wenn wir für unseren Herrn Jesus Christus Zeugnis ablegen, dann wecken wir oft den Wunsch im Herzen anderer Menschen, ihn ebenfalls kennenzulernen.
J. Wachsender Widerstand der Juden (9,13-41)
9,13 Offensichtlich in aufrichtiger Begeisterung über das Wunder brachten einige der Juden »ihn, den einst Blinden, zu den Pharisäern«. Sie wussten vielleicht nicht, wie die religiösen Führer auf die Tatsache reagieren würden, dass dieser Mensch geheilt worden war.
9,14 Jesus hatte das Wunder an einem »Sabbat« vollbracht. Die kritischen Pharisäer erkannten nicht, dass nach Gottes Willen das Sabbatgebot niemanden von einer barmherzigen oder mildtätigen Handlung abhalten sollte.
9,15 Der Mann erhielt nun eine weitere Gelegenheit zum Zeugnis für Jesus. Als »ihn nun die Pharisäer wieder fragten, wie er sehend geworden sei«, hörten sie nochmals die gleiche einfache Geschichte. Der Mann nannte Jesus hier nicht mit Namen, wahrscheinlich nicht deshalb, weil er Angst gehabt hätte. Vielmehr wusste er vermutlich, dass jedem bekannt sein musste, wer ein solches Wunder getan hatte. Zu dieser Zeit war Jesus in Jerusalem schon wohlbekannt.
9,16 Nun entstand ein weiterer »Zwiespalt« darüber, wer Jesus war. »Einige von den Pharisäern« verkündeten stolz, dass Jesus »nicht von Gott« sein könne, weil er den Sabbat nicht halte. Andere argumentierten, dass ein sündiger Mensch kein solches Wunder wirken könne. Jesus hat oft »Zwiespalt« unter den Menschen verursacht. Die Menschen werden gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden und entweder für oder gegen ihn zu sein.
9,17 Die Pharisäer fragten nun »den Blinden«, was er von Jesus halte. Bis jetzt hatte er noch nicht erkannt, dass Jesus Gott ist. Doch sein Glaube war schon so weit gewachsen, dass er die Meinung vertrat, Jesus sein »ein Prophet«. Er glaubte, dass derjenige, der ihm das Augenlicht geschenkt hatte, von Gott gesandt war und eine göttliche Botschaft zu verkündigen hatte.
9,18.19 Viele der Juden wollten noch nicht glauben, dass überhaupt ein Wunder geschehen war. Also riefen sie »die Eltern« des Mannes, um zu sehen, was sie sagen würden.
Wer konnte besser als die Eltern wissen, ob ihr Kind ohne Augenlicht geboren worden war? Sicherlich würde ihr Zeugnis ausschlaggebend sein. Deshalb fragten die Pharisäer sie, ob er ihr »Sohn« sei und wie er sein Augenlicht erhalten habe.
9,20.21 Das Zeugnis der Eltern war eindeutig. »Dieser« war ihr Sohn, wobei der Tatbestand seiner Blindheit ihnen in all den notvollen Jahren schmerzlich bewusst gewesen war.
Darüber hinaus wollten sie keine Aussage machen. Sie wussten weder, wie er sein Augenlicht zurückerhalten hatte, noch »wer seine Augen aufgetan hat«. Sie verwiesen die Pharisäer an ihren Sohn selbst. Er konnte »selbst über sich reden«.
9,22.23 Vers 22 erklärt die Furcht der »Eltern«. Sie hatten gehört, dass jeder, der sich zu Jesus als Messias bekennen würde, »aus der Synagoge ausgeschlossen werden sollte«. Diese Exkommunikation war für einen Juden eine sehr ernsthafte Angelegenheit. Sie waren nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Es würde bedeuten, alle Mittel zum Lebensunterhalt und alle Privilegien der jüdischen Religion zu verlieren.
Aus Angst vor den jüdischen Oberen wälzten die Eltern daher die Verantwortung, als Zeuge aussagen zu müssen, auf ihren Sohn ab.
9,24 »Gib Gott die Ehre!«, kann zweierlei Bedeutung haben. Erstens kann es eine Art Schwur sein. Vielleicht wollten die Pharisäer damit ausdrücken: »Nun sage uns aber die Wahrheit. ›Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.‹« Zweitens könnte es bedeuten, dass die Pharisäer verlangten, Gott die Ehre für das Wunder zu geben. Dagegen sollte Jesus kein Verdienst dafür angerechnet werden, weil sie meinten, dass auch er ein sündiger Mensch wie sie sei.
9,25 Die Pharisäer versagten in jeder Hinsicht. Immer wenn sie versuchten, den Herrn Jesus in ein schlechtes Licht zu bringen, war das Ergebnis, dass sie ihm mehr Ehre brachten. Das hier befindliche Zeugnis des Mannes ist sehr treffend formuliert. Er wusste von Jesus nicht sehr viel, aber er wusste, dass er »blind« gewesen war und jetzt »sehen« konnte. Das war ein Zeugnis, das niemand anfechten konnte.
So geht es auch denen, die wiedergeboren werden. Die Welt mag die Wiedergeburt anzweifeln, darüber spotten und geringschätzige Bemerkungen machen, doch niemand kann unser Zeugnis angreifen, wenn wir sagen, dass wir einst verloren waren und nun durch die Gnade Gottes gerettet sind.
9,26.27 »Wieder« fingen sie an, ihn auszufragen. Sie wollten nochmals alles in allen Einzelheiten hören. Doch mittlerweile war der Blindgeborene dieser Fragerei ziemlich müde. Er erinnerte sie daran, dass er ihnen alle Tatsachen »gesagt« hatte, und sie wohl nicht zugehört hätten. Warum wollten sie »es nochmals hören«? Ob sie wohl »seine Jünger« werden wollten? Das war offener Sarkasmus. Er wusste genau, dass sie Jesus hassten und kein Verlangen danach hatten, ihm nachzufolgen.
9,28 Es gibt das Sprichwort: »Wenn du keine Anklage hast, dann beschimpfe den Kläger.« Genau das geschieht hier. Den Pharisäern war es nicht gelungen, eine schlechte Aussage über Jesus aus diesem Mann herauszuzwingen, und deshalb fingen sie nun an, ihn zu beschimpfen. Sie klagten ihn an, »sein Jünger« zu sein, als ob dies das Schlimmste auf der Welt sei! Sie bekannten sich dann dazu, Jünger Moses zu sein, als ob dies das Großartigste auf der Welt sei.
9,29 Die Pharisäer sagten, »dass Gott zu Mose geredet hat«, doch sie redeten von Jesus geringschätzig. Wenn sie den Schriften des Mose geglaubt hätten, hätten sie Jesus als ihren Herrn und Heiland angenommen. Und wenn sie nur ein wenig nachgedacht hätten, hätten sie erkannt, dass Mose nie einem Blindgeborenen das Augenlicht geschenkt hat. Ein Größerer als Mose war in ihrer Mitte, und sie erkannten es nicht.
9,30 Nun wurde der Sarkasmus des Blindgeborenen beißend. Das war etwas, was die Pharisäer nicht erwartet hatten. Der Mann sagte im Grunde zu ihnen: »Ihr Männer seid Oberste in Israel. Ihr seid die Lehrer des jüdischen Volkes. Und doch ist hier ein Mann in eurer Mitte, der die Macht hat, Blinden das Augenlicht zu geben, und ihr wisst nicht ›woher er ist‹. Ihr solltet euch schämen!«
9,31 Der Mann wurde nun mutiger in seinem Zeugnis. Sein Glaube wuchs. Er erinnerte sie an ein Grundprinzip, nämlich an die Tatsache, »dass Gott Sünder nicht hört« und keine Wunder durch sie vollbringt. Gott heißt keine Menschen gut, die böse sind, und er gibt ihnen sicherlich keine Macht, solche Wundertaten zu vollführen. Auf der anderen Seite empfangen »Gottesfürchtige« Gottes Zustimmung und können sich des Wohlgefallens Gottes sicher sein.
9,32.33 Dieser Mann hatte erkannt, dass er der Erste in der menschlichen Geschichte war, der ein »Blindgeborener« war und das Augenlicht erhalten hatte. Er konnte nicht verstehen, dass die Pharisäer Zeugen eines solchen Wunders waren und den kritisierten, der es vollbracht hatte.
»Wenn« der Herr Jesus »nicht von Gott wäre, so könnte er« nicht ein Wunder solchen Ausmaßes tun.
9,34 Und wieder suchten die Pharisäer in Beschimpfungen Zuflucht. Sie unterstellten, dass die Blindheit des Mannes die direkte Folge seiner Sünden gewesen sei. Welches Recht hätte er denn, sie zu belehren? Die Wahrheit ist, dass er jedes Recht dazu hatte, denn Ryle sagte dazu: »Das Lehren des Heiligen Geistes findet sich viel öfter bei Menschen in bescheidener Stellung als bei Menschen von Rang und Namen.« Wenn es hier heißt: »Sie warfen ihn hinaus«, dann geht es wahrscheinlich um mehr als nur darum, aus dem Tempel hinausgewiesen zu werden. Es bedeutet vielleicht, dass er aus der gottesdienstlichen Gemeinschaft der Juden ausgeschlossen wurde. Und was war der Grund für diese Exkommunikation? Einem Blindgeborenen wurde am Sabbat das Augenlicht gegeben. Nur weil er demjenigen, der dieses Wunder an ihm getan hatte, nichts Böses nachreden wollte, wurde er ausgeschlossen.
9,35 Jesus suchte nun nach dem Mann. Es ist, als ob Jesus damit sagen wollte: »Wenn sie dich nicht wollen, dann nehme ich dich auf.« Diejenigen, die um Jesu willen ausgestoßen werden, verlieren nichts, sondern erlangen einen großen Segen dadurch, dass sie persönlich von Jesus willkommen geheißen und in seine Gemeinschaft aufgenommen werden. Man beachte, wie der Herr Jesus den Mann zum persönlichen Glauben an ihn als den Sohn Gottes führt! Er stellt einfach die Frage: »Glaubst du an den Sohn Gottes?« (LU 1912)32
9,36 Obwohl er sein leibliches Augenlicht erhalten hatte, fehlte ihm noch das geistliche Sehvermögen. Er fragte den Herrn, »wer« der Sohn Gottes sei, damit er »an ihn glauben« könne. Als er das Wort »Herr« verwendete, meinte er damit nicht, dass Jesus sein Herr sei, sondern gebrauchte das Wort als Anrede.
9,37 Jesus stellte sich ihm nun als Sohn Gottes vor. Nicht ein bloßer Mensch hatte ihm sein Augenlicht wiedergegeben und das Unmögliche möglich gemacht. Es war der Sohn Gottes, den er gesehen hatte und der jetzt mit ihm »redete«.
9,38 Daraufhin glaubte der Mann ganz schlicht an den Herrn Jesus, fiel nieder und »betete ihn an« (LU 1912). Nun war sowohl seine Seele gerettet als auch sein Leib geheilt. Welch ein großartiger Tag war das in seinem Leben! Er hatte sowohl das leibliche als auch das geistliche Sehvermögen geschenkt bekommen. Man beachte, dass der Blinde den Herrn nicht anbetete, bevor er nicht wusste, dass Jesus der Sohn Gottes war. Da er ein intelligenter Jude war, hätte er nie einen gewöhnlichen Menschen angebetet. Doch sobald er erfahren hatte, dass derjenige, der ihn geheilt hatte, der Sohn Gottes war, betete er ihn an – nicht für seine Taten, sondern dafür, wer er war.
9,39 Auf den ersten Blick scheint dieser Vers Johannes 3,17 zu widers prechen, wo es heißt: »Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte …« Doch gibt es hier keinen wirklichen Widerspruch. Das Ziel des Kommens Christi auf diese Erde bestand darin, zu retten und nicht zu richten. Dennoch ist das Gericht die unausweichliche Folge für alle, die ihn nicht annehmen.
Die Predigt des Evangeliums hat zweierlei Wirkung: Wer zugibt, ein »Nichts ehender« zu sein, erhält das Sehvermögen. Doch diejenigen, die meinen, zu den »Sehenden« zu gehören, ohne den Herrn Jesus angenommen zu haben, deren Blindheit wird verschlimmert.
9,40 »Einige von den Pharisäern« erkannten, dass der Herr Jesus von ihnen und ihrer Blindheit sprach. So kamen sie zu ihm und fragten unverschämt, ob er wohl damit andeuten wolle, dass auch sie blind wären. Sie wollten auf ihre Frage natürlich eine negative Antwort haben.
9,41 Man könnte die Antwort des Herrn auch mit folgenden Worten umschreiben: »Wenn ihr zugebt, dass ihr blind sowie sündig seid und einen Heiland braucht, dann können eure Sünden vergeben werden, und ihr wäret gerettet. Doch ihr bekundet, nichts nötig zu haben. Ihr behauptet, gerecht zu sein und keine Sünde zu haben. Deshalb gibt es für eure Sünden keine Vergebung.« Als Jesus sagte: »… so hättet ihr keine Sünde«, meinte er damit nicht, dass sie absolut sündlos würden. Doch als er von Sündlosigkeit sprach, gebrauchte er einen Vergleich: Hätten sie nur ihre Blindheit eingestanden und ihn als Messias anerkannt! Dann wäre ihre Sünde wie nichts gewesen, verglichen mit der großen Sünde, zu behaupten, sehen zu können, und ihn doch nicht als Sohn Gottes zu erkennen.
K. Jesus, die Tür für die Schafe (10,1-10)
10,1 Diese Verse sind mit den letzten Versen von Kapitel 9 eng verbunden. Dort hatte der Herr Jesus zu den Pharisäern gesprochen, die behaupteten, die rechtmäßigen Hirten des Volkes Israel zu sein. Auf sie bezog sich der Herr hier insbesondere. Die Bedeutung seiner jetzt folgenden Worte zeigt sich in den einleitenden Worten: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch.«
Ein »Hof der Schafe« war ein umzäuntes Stück Land, in dem die Schafe bei Nacht gehütet wurden. Ein solcher »Hof« war mit einem Zaun umgeben, der eine Öffnung hatte, die als Tür benutzt wurde. Hier bezieht sich der Ausdruck »Hof der Schafe« auf das Volk Israel. Viele kamen zum jüdischen Volk und behaupteten, ihre geistlichen Oberhäupter und Führer zu sein. Sie waren die selbst ernannten Messiasse des Volkes. Doch sie kamen nicht so, wie das AT das Kommen des Messias vorausgesagt hatte. Sie »stiegen anderswo hinüber«. Sie stellten sich Israel so vor, wie sie es wollten. Diese Männer erwiesen sich nicht als wahre Hirten, sondern als Diebe und Räuber. Diebe nehmen fremdes Eigentum an sich, während Räuber dabei zusätzlich noch Gewalt anwenden. Die Pharisäer waren Diebe und Räuber. Sie wollten über die Juden herrschen und taten sogar alles in ihrer Macht Stehende, um sie dara n zu hindern, den wahren Messias anzunehmen. Sie verfolgten die Menschen, die Jesus nachfolgten, und zum Schluss wollten sie auch noch Jesus umbringen.
10,2 Vers 2 bezieht sich auf Jesus selbst. Er kam zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Er war der wahre »Hirte der Schafe«. Er kam »durch die Tür« herein, d. h. er kam als genaue Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen über den Messias. Er war kein selbst ernannter Erlöser, sondern kam im vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen seines Vaters. Er erfüllte alle Bedingungen.
10,3 Es herrscht weitgehend Uneinigkeit darüber, wer in diesem Vers der »Türhüter« ist. Einige sind der Meinung, dass dieser Ausdruck sich auf die Propheten des AT bezieht, die das Kommen Christi voraussagten. Andere sind der Meinung, dass er sich auf Johannes den Täufer bezieht, weil er der Vorläufer des wahren Hirten war. Wieder andere sind sich sicher, dass der »Türhüter« in diesem Vers der Heilige Geist ist, der die Tür öffnet, wenn der Herr Jesus in Herz und Leben des Betreffenden kommt. »Die Schafe hören« die »Stimme« des Hirten. Sie erkennen seine Stimme; sie kommt vom wahren Hirten. So wie wahre Schafe die Stimme ihres Hirten erkennen, so erkannten auch die Juden den Messias, als er erschien. Im gesamten Evangelium hören wir den Hirten »seine eigenen Schafe mit Namen« rufen. Im ersten Kapitel beruft er einige Jünger, und sie alle hörten seine Stimme und antworteten. Er rief den Blindgeborenen in Kapitel 9. Der Herr Jesus ruft auch heute noch diejenigen, die ihn als Erlöser annehmen wollen, und der Ruf ist persönlich und individuell.
Der Ausdruck »und führt sie heraus« könnte sich auf die Tatsache beziehen, dass der Herr Jesus diejenigen, die auf seine Stimme hören, aus dem »Hof der Schafe« Israels hinausführt. Sie waren eingesperrt. Unter dem Gesetz gab es keine Freiheit. Der Herr führt seine Schafe in die Freiheit seiner Gnade. Im letzten Kapitel hatten die Juden den Blindgeborenen aus der Synagoge ausgeschlossen. Indem sie das taten, hatten sie unbewusst das Werk des Herrn gefördert.
10,4 »Wenn« der wahre Hirte »seine eigenen Schafe alle herausgebracht hat«, so treibt er sie nicht vor sich her, sondern führt sie. Er bittet sie nicht, irgendwo hinzugehen, wo er nicht selbst zuvor gewesen ist. Er geht als ihr Heiland, Führer und Vorbild immer vor seinen Schafen her. Wahre Schafe Christi »folgen ihm«. Sie werden nicht dadurch zu Schafen, dass sie seinem Vorbild nacheifern, sondern durch die Wiedergeburt. Wenn sie gerettet sind, dann haben sie das Verl angen, dorthin zu gehen, wohin er sie führt.
10,5 Der gleiche Trieb, der ein Schaf die Stimme des wahren Hirten erkennen lässt, veranlasst es auch, vor »einem Fremden« zu »fliehen«. Die Fremden waren die Pharisäer und andere Führer des jüdischen Volkes, die nur aus Eigennutz an den Schafen interessiert waren. Der Blindgeborene, der das Augenlicht geschenkt bekam, zeigt das. Er erkannte die Stimme des Herrn Jesus und wusste, dass die Pharisäer Fremde waren. Deshalb weigerte er sich, ihnen zu gehorchen, auch wenn es bedeutete, von ihnen ausgeschlossen zu werden.
10,6 Hier wird nun ausdrücklich erwähnt, dass Jesus »in dieser Bildrede« zu den Pharisäern sprach, sie ihn »aber nicht verstanden«, und zwar, weil sie sich als keine echten Schafe erwiesen. Wären sie es gewesen, hätten sie seine Stimme gehört und wären ihm gefolgt.
10,7 Jesus benutzt nun ein neues Bild. Er spricht nicht länger von der Tür zum Hof der Schafe wie in Vers 2, sondern stellt sich nun als »Tür der Schafe« vor. Es ging nun nicht länger darum, den »Hof der Schafe« Israels zu betreten. Vielmehr ging es darum, dass die erwählten Schafe Israels das Judentum verlassen und zu Christus, der Tür, kommen.
10,8 Andere waren »vor« ihm gekommen und hatten Rang sowie Autorität beansprucht. Doch die auserwählten Schafe aus Israel »hörten nicht auf sie«, weil sie wussten, dass sie diese Ansprüche unrechtmäßig stellten.
10,9 Dieser Vers ist einer dieser schönen Verse, der so einfach ist, dass ihn ein Kind in der Sonntagsschule verstehen kann, und der doch durch die gelehrtesten Ausleger niemals völlig ausgeschöpft werden kann. Christus ist »die Tür«. Beim Christentum geht es nicht vorrangig um ein Glaubensbekenntnis und auch nicht um eine Kirche oder Gemeinde. Vielmehr geht es dabei um eine Person, nämlich um den Herrn Jesus Christus selbst. »Wenn jemand durch mich eingeht.« Die Erlösung ist nur durch Christus zu erlangen. Die Taufe wird sie nicht schenken, auch nicht das Mahl des Herrn. Wir müssen durch Christus und durch die Kraft, die er uns gibt, hineinkommen. Jeder ist eingeladen. Christus ist der Heiland sowohl für Juden als auch für Heiden. Doch um erlöst zu werden, muss man hineingehen. Man muss Christus im Glauben annehmen. Das kann man nur persönlich tun, und eine andere Erlösungsmöglichkeit gibt es nicht. Wer hineingeht, ist »errettet« von der Strafe für die Sünde, von ihrer Macht und eines Tages sogar von ihrer Anwesenheit.
Nach der Erlösung gehen die Schafe »ein und aus«. Vielleicht steht der Gedanke dahinter, dass man zum Anbeten in die Gegenwart Gottes kommt und dann in die Welt hinausgeht, um der Welt ein Zeugnis für den Herrn zu sein. Jedenfalls haben wir hier ein Bild der völligen Sicherheit und Freiheit im Dienst des Herrn vor uns. Wer hineingeht, »wird … Weide finden«. Christus ist nicht nur der Erlöser, der uns die Freiheit schenkt, sondern auch der Erhalter und derjenige, der volle Genüge schenkt. Seine Schafe »finden Weide« im Wort Gottes.
10,10 Das Ziel eines »Diebes« ist es, »zu stehlen und zu schlachten und zu verderben«. Er kommt aus rein selbstsüchtigen Motiven. Um seine eigenen Wünsche zu erfüllen, würde er sogar die Schafe »schlachten«. Doch der Herr Jesus kommt nicht aus irgendeinem selbstsüchtigen Grund in das Herz eines Menschen. Er kommt, um zu geben, und nicht, um zu nehmen. Er kommt, damit die Menschen »Leben haben und es in Überfluss haben«. Wir empfangen das Leben in dem Augenblick, in dem wir ihn als unseren Erlöser annehmen. Nachdem wir gerettet sind, werden wir herausfinden, dass es verschiedene Grade der Freude an diesem Leben gibt. Je mehr wir uns dem Heiligen Geist hingeben, desto mehr freuen wir uns an dem Leben, das uns gegeben ist. Dann haben wir nicht nur einfach Leben, sondern besitzen »es in Überfluss«. L. Jesus, der gute Hirte (10,11-18)
10,11 Sehr oft verwandte der Herr Jesus den Ausdruck »Ich bin«, einen der Titel Gottes. Jedes Mal erhob er damit den Anspruch, dass er Gott dem Vater gleich ist. Hier stellt er sich als »der gute Hirte« vor, der »sein Leben für die Schafe« lässt. Normalerweise müssen Schafe ihr Leben für den Hirten lassen. Doch der Herr Jesus starb für die Herde.
Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! Der gute Hirte leidet für die Schafe; Die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte,
für seine Knechte.
Johannes Heermann
10,12 Ein »Mietling« ist jemand, der für Geld dient. So könnte etwa ein Hirte jemand anders bezahlen, damit dieser für ihn die Schafe hütet. Die Pharisäer waren Mietlinge. Sie waren an den Menschen aufgrund des Geldes interessiert, das sie als Gegenleistung erhielten. Dem Mietling waren »die Schafe nicht zu eigen«. Wenn Gefahr kam, floh er und überließ die Schafe dem Wolf.
10,13 Wir handeln in einer bestimmten Weise aus unserem Wesen heraus. Der Mietling diente für Lohn. Er »kümmert sich um die Schafe nicht«. Er war mehr an seinem eigenen als an ihrem Wohlergehen interessiert. In der heutigen Kirche gibt es viele Mietlinge – Männer, die ihren Beruf als eine bequeme Möglichkeit zum Geldverdienen ansehen, ohne von wahrer Liebe zu den Schafen getrieben zu sein.
10,14 Und wieder bezeichnet sich der Herr als der »gute Hirte«. »Gut« (gr. kalos) bedeutet hier »ideal, würdig, auserwählt, hervorragend«. All das ist Jesus. Dann spricht er von der sehr engen Beziehung, die zwischen ihm und seinen Schafen besteht. Er kennt die Seinen, und die Seinen kennen ihn. Das ist eine wunderbare Wahrheit.
10,15 Leider steht in manchen Übersetzungen vor diesem Satz ein Punkt. Doch die unrevidierte Elberfelder Bibel hat hier die korrektere Übersetzung: »… und ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, gleichwie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne.« Das ist wirklich eine erstaunliche Wahrheit! Der Herr Jesus vergleicht seine Beziehung zum Vater mit seiner Beziehung zu seinen Schafen. Dieselbe Einheit, Gemeinschaft, Nähe und Erkenntnis, die es zwischen dem Vater und dem Sohn gibt, besteht auch zwischen dem Hirten und seinen Schafen. »Und ich lasse mein Leben für die Schafe«, sagte er. Hier haben wir wieder eine der vielen Aussagen, in der er auf die Zeit vorausblickt, zu der er als Stellvertreter für Sünder am Kreuz sterben würde.
10,16 Vers 16 ist der Schlüsselvers für dieses Kapitel. Die »anderen Schafe«, die der Herr erwähnt, sind die Heiden. Sein Kommen in die Welt geschah zunächst in Verbindung mit den Schafen Israels, doch er hatte auch die Errettung der Heiden im Sinn. Die Schafe aus den Nationen stammten nicht aus dem jüdischen »Hof«. Doch das weite barmherzige Herz des Herrn Jesus sehnte sich auch nach diesen Schafen, und er stand unter dem göttlichen Zwang, auch sie zu sich zu »bringen«. Er wusste, dass sie weitaus bereitwilliger waren, auf seine »Stimme« zu »hören«, als das jüdische Volk. Im zweiten Teil des Verses haben wir den wichtigen Wechsel vom »Hof« des Judentums zur »Herde« des Christentums. Dieser Vers gibt eine kleine Vorausschau der Tatsache, dass in Christus Juden und Heiden eins gemacht und die alten Unterscheidungen zwischen diesen Völkern verschwinden würden.
10,17 In den Versen 17 und 18 erklärte der Herr Jesus, was er tun würde, um die erwählten Juden und Heiden zu sich zu bringen. Er schaut hier nach vorn auf die Zeit seines Todes, seiner Grablegung und seiner Auferstehung. Diese Worte wären völlig fehl am Platz, wäre Jesus nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen. Er sprach davon, sein Leben zu »lassen« und es aus eigener Macht »wiederzunehmen«. Das konnte er nur, weil er Gott war. Der »Vater« liebte den Herrn Jesus wegen seiner Bereitschaft, zu sterben und wiederaufzuerstehen, damit die verlorenen Schafe gerettet werden können.
10,18 »Niemand« konnte Jesus das Leben nehmen. Er ist Gott und so viel größer als alle mordlüsternen Pläne seiner Geschöpfe. Er hatte in sich selbst die »Vollmacht«, sein Leben zu »lassen«, und er hatte auch die »Vollmacht, es wiederzunehmen«. Aber haben nicht Menschen den Herrn Jesus umgebracht? Ja, das ist wahr. Das wird in Apostelgeschichte 2,23 und in 1. Thessalonicher 2,15 ausdrücklich gesagt. Der Herr Jesus erlaubte ihnen, es zu tun, und das war eine Bekundung seiner »Vollmacht«, sein Leben zu »lassen«. Außerdem gab er als Akt seiner eigenen Macht und seines eigenen Willens »seinen Geist auf« (Joh 19,30). »Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen«, sagte er. Der Vater hatte den Herrn beauftragt oder angewiesen, sein Leben zu lassen und aus den Toten aufzuerstehen. Sein Tod und seine Auferstehung waren wesentlich, um den Willen des Vaters zu erfüllen. Deshalb wurde er gehorsam bis zum Tod und stand am dritten Tag nach den Schriften aus den Toten auf (vgl. 1. Kor 15,4). M. Zwiespalt unter den Juden (10,19-21)
10,19 Die Worte des Herrn Jesus verursachten einen »Zwiespalt unter den Juden«. Christi Kommen auf diese Erde, in Familien und in Herzen lässt eher Feindschaft als Friede entstehen. Nur wenn Menschen ihn als Herrn und Heiland annehmen, lernen sie den Frieden Gottes kennen.
10,20.21 Der Herr Jesus ist der einzige vollkommene Mensch, der je gelebt hat. Er hat nie ein falsches Wort gesagt und nie etwas Schlechtes getan. Doch war die Verderbtheit des menschlichen Herzens so groß, dass die Menschen sagten, als er kam und Worte voll Liebe und Weisheit sprach, er habe »einen Dämon« und sei »von Sinnen«. Er sei es nicht wert, gehört zu werden. Das war eine der großen Ungeheuerlichkeiten der Menschheitsgeschichte. Andere Menschen dachten anders. Sie erkannten, dass die »Reden« und Werke des Herrn Jesus die einer guten Macht waren und nicht die eines Dämons.
N. Jesus beweist durch seine Werke, dass er der Messias ist (10,22-39)
10,22 An diesem Punkt haben wir einen Bruch in der Erzählung. Der Herr Jesus spricht nicht länger zu den Pharisäern, sondern zu den Juden im Allgemeinen. Wir wissen nicht, wie viel Zeit zwischen Vers 21 und 22 vergangen ist. Nebenbei ist dies die einzige biblische Erwähnung des »Festes der Tempelweihe«, das im Hebräischen Chanukka genannt wird. Man nimmt allgemein an, dass dieses Fest von Judas Makkabäus eingesetzt wurde, als  der  Tempel  im  Jahr  165  v. Chr.  wiedereingeweiht wurde, nachdem ihn Antiochus Epiphanes entweiht hatte. Dieses Fest wurde jährlich begangen, war vom jüdischen Volk eingesetzt worden und gehörte nicht zu den Festen des Herrn. Es war nicht nur nach dem Kalender »Winter«, sondern auch in den Herzen vieler seiner Zuhörer herrschte die Kälte des Unglaubens.
10,23.24 Das öffentliche Wirken des Herrn war fast zu Ende, und er würde bald seine völlige Hingabe an Gott den Vater durch seinen Tod am Kreuz beweisen. »Die Säulenhalle Salomos« war ein überdachter Bereich, der an den Tempel des Herodes grenzte. Als der Herr dorthin ging, war genug Platz, dass die Juden sich um ihn versammeln konnten. »Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Bis wann hältst du unsere Seele hin? Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus.«
10,25.26 Jesus erinnerte sie wiederum an seine Worte und »Werke«. Er hatte ihnen schon oft gesagt, dass er der Messias war, und die von ihm vollbrachten Wunder bewiesen, dass seine Behauptung Realität war. Und wieder erinnerte er die Juden daran, dass er seine Wunder in der Vollmacht und zur Ehre seines Vaters tat. Indem er das tat, bewies er, dass er wirklich der Eine war, den der Vater in die Welt gesandt hatte.
Ihre mangelnde Bereitschaft, den Messias anzunehmen, beweist, dass sie »nicht von« seinen »Schafen« waren. Wenn sie auserwählt gewesen wären, zu ihm zu gehören, dann hätten sie Bereitschaft gezeigt, ihm zu glauben.
10,27 Die nächsten Verse lehren unmissverständlich, dass kein wahres Schaf Christi je verlorengeht. Die ewige Sicherheit des Gläubigen ist eine herrliche Tatsache. Wer ein wahres Schaf Christi ist, »hört« seine »Stimme«. Er hörte sie, wenn das Evangelium gepredigt wird, und reagiert darauf im Glauben an ihn. Danach hören seine Schafe seine Stimme jeden Tag und gehorchen seinem Wort. Der Herr Jesus kennt seine Schafe, und zwar jedes einzelne mit Namen. Kein einziges entgeht seiner Aufmerksamkeit. Kein einziges Schaf kann durch eine Nachlässigkeit seinerseits verlorengehen. Die Schafe Christi »folgen« ihm, indem sie erstens den rettenden Glauben an ihn haben, und zweitens, indem sie mit ihm in gehors amer Gemeinschaft leben.
10,28 Christus gibt seinen Schafen »ewiges Leben«. Das bedeutet Leben, das für immer währt. Es ist kein Leben, das durch das Verhalten der Schafe bedingt wird. Es ist einerseits ewiges Leben, d. h. dass es ewig andauert. Aber »ewiges Leben« ist auch eine Lebensqualität. Es ist das Leben des Herrn Jesus selbst. Es ist ein Leben, das die Fähigkeit beinhaltet, göttliche Dinge schon hier auf der Erde zu genießen, und ein Leben, das ebenso für unsere himmlische Heimat geeignet ist. Man betrachte die nächsten Worte besonders sorgfältig. »Sie gehen nicht33 verloren in Ewigkeit.« Wenn je ein Schaf Christi verlorenginge, dann hätte sich der Herr Jesus schuldig gemacht, weil er seine Verheißung nicht eingehalten hätte. Dies ist jedoch nicht möglich. Jesus Christus ist Gott, und er kann nicht irren. Er hat in diesem Vers versprochen, dass keines seiner Schafe die Ewigkeit in der Hölle zubringen wird.
Bedeutet das, dass man gerettet werden und dann so leben kann, wie es einem gefällt? Kann man errettet werden, und dann in den sündigen Vergnügungen der Welt weiterleben? Nein, denn das Verlangen danach erlischt. Der Gläubige will dem Hirten nachfolgen. Wir führen kein christliches Leben, um Christen zu werden oder unsere Errettung zu verdienen. Wir führen ein christliches Leben, weil wir Christen sind. Wir möchten ein heiliges Leben führen, nicht aus Angst, unsere Erlösung wieder verlieren zu können, sondern aus Dankbarkeit gegenüber dem Einen, der für uns gestorben ist. Die Lehre von der ewigen Sicherheit ermutigt nicht zu einem lässigen Leben, sondern ist vielmehr eine starke Motivation für ein geheiligtes Leben. Niemand kann einen Gläubigen aus Christi Hand »rauben«. Seine Hand ist allmächtig. Sie hat die Welt geschaffen und erhält sie noch jetzt. Es gibt keine Macht, die ein Schaf aus seiner Hand »rauben« kann.
10,29 Der Gläubige ist nicht nur in der Hand Christi, sondern auch in der Hand des »Vaters«. Das ist eine doppelte Sicherheitsgarantie. Gott der Vater »ist größer als alle, wobei es hier heißt: Niemand kann die Gläubigen »aus der Hand meines Vaters rauben«.
10,30 Nun fügt der Herr Jesus wieder den Anspruch an, Gott gleich zu sein: »Ich und der Vater sind eins.« Hier geht es wahrscheinlich darum, dass Christus und »der Vater eins sind« in ihrer Macht. Jesus hatte gerade über die Macht gesprochen, welche die Schafe Christi beschützt. Deshalb fügte er als Erklärung hinzu, dass seine Macht so groß ist wie die Macht Gottes des Vaters. Das Gleiche gilt natürlich auch für alle anderen Eigenschaften Gottes. Der Herr Jesus Christus ist Gott in jeder Hinsicht und auf jede Weise Gott gleich.
10,31 Es war für die Juden keine Frage, was der Heiland mit seiner Aussage gemeint haben könnte. Sie erkannten, dass er auf die deutlichste Art die Gottessohnschaft beanspruchte. Deshalb »hoben die Juden wieder Steine auf, dass sie ihn steinigten«.
10,32 Bevor sie ihn mit den Steinen bewerfen konnten, erinnerte Jesus sie daran, wie viele »gute Werke« er schon im Auftrag seines Vaters getan hatte. Er fragte sie dann, welches dieser Werke sie so aufgebracht habe, dass sie ihn steinigen wollten.
10,33 Die Juden bestritten, ihn wegen eines seiner Wunder töten zu wollen. Sie wollten ihn steinigen »wegen der Lästerung«, dass er behauptet hatte, Gott gleich zu sein. Sie wollten nicht zugeben, dass er mehr als ein gewöhnlicher Mensch war. Doch war ihnen eindeutig klar, dass er sich selbst zu Gott machte, was seine Ansprüche betraf. Das wollten sie nicht tolerieren.
10,34 Hier zitiert der Herr Jesus gegenüber den Juden aus Psalm 82,6. Er bezeichnete diesen Vers als Teil ihres Gesetzes. Mit anderen Worten, er stammte aus dem AT, das sie als das von Gott inspirierte Wort Gottes anerkannten. Der vollständige Vers lautet: »Ich sagte: Ihr seid Götter, Söhne des Höchsten seid ihr alle!« Der Psalm richtete sich an die Richter Israels. Sie wurden »Götter« genannt, und zwar nicht, weil sie wirklich göttlich gewesen wären, sondern weil sie Gott vertraten, wenn sie das Volk richteten. Das hebräische Wort für »Götter« (elohim) bedeutet wörtlich »Mächtige« und kann auch auf wichtige Persönlichkeiten wie Richter angewandt werden. (Aus dem Rest des Psalmes geht hervor, dass sie nur Menschen und keine Götter waren, weil sie ungerecht richteten, bestimmte Menschen bevorzugten und auf andere Weise das Recht verdrehten.)
10,35 Der Herr benutzte diesen Vers aus den Psalmen, um zu zeigen, dass Gott das Wort »Götter« gebrauchte, um Menschen zu beschreiben, »an die das Wort Gottes erging«. Mit anderen Worten: Diese Menschen redeten im Auftrag Gottes. Gott sprach durch sie zum Volk Israel. »Sie vertraten Gott in seiner Stellung als Autorität und Richter und waren die Mächte, die Gott eingesetzt hatte.« »Und die Schrift kann nicht aufgelöst werden«, sagte der Herr. Damit drückte er seinen Glauben an die Inspiration der Schriften des AT aus. Er nennt sie unfehlbar, indem er davon spricht, dass sie erfüllt werden müssen und nicht geleugnet werden können. In der Tat ist jedes Wort der Schrift inspiriert, nicht nur die Gedanken oder Vorstellungen, die sie vermittelt. Die ganze Argumentation Jesu beruht auf dem einen Wort »Götter«.
10,36 Der Herr schloss vom Kleineren auf das Größere. Wenn ungerechte Richter im AT »Götter« genannt werden konnten, wie viel mehr hatte er dann das Recht, den Anspruch zu erheben, der Sohn Gottes zu sein. Das Wort Gottes kam zu den Richtern, er war und ist das Wort Gottes. Von ihnen hätte niemals gesagt werden können, dass der Vater sie »geheiligt und in die Welt gesandt hat«. Sie sind wie alle anderen Menschen als Söhne des gefallenen Adam in diese Welt hineingeboren worden. Doch der Herr Jesus ist von Gott dem Vater vor aller Ewigkeit geheiligt worden, der Retter der Welt zu werden, und er ist aus dem Himmel, wo er schon immer mit dem Vater gelebt hatte, »in die Welt gesandt« worden. So konnte Jesus auf jeden Fall den Anspruch erheben, Gott gleich zu sein. Er lästerte nicht, wenn er beanspruchte, der »Sohn Gottes« zu sein, der dem Vater gleich ist. Die Juden selbst benutzten das Wort »Götter«, um es für verlorene Menschen zu verwenden, die lediglich im Auftrag Gottes sprachen oder richteten. Wie viel mehr konnte er den Titel beanspruchen, weil er wirklich Gott war und ist. Samuel Green hat es sehr gut ausgedrückt: Die Juden klagten ihn an, dass er sich selbst zu Gott mache. Er streitet nicht ab, dass er aufgrund seiner Reden Gottgleichheit beansprucht hatte. Doch er stellt in Abrede, dass er damit gelästert hatte, und zwar infolge von Tatsachen, die ihn sogar noch rechtfertigten, wenn er die Ehre der Gottheit für sich beanspruchen würde, nämlich aufgrund des Sachverhalts, dass er der Messias, der Sohn Gottes und der Immanuel ist. Dass die Juden nicht der Meinung waren, dass er auch nur im Geringsten seine erhabenen Ansprüche zurückgezogen hat, wird durch die fortgesetzte Feindschaft deutlich, die daraus entstand (s. V. 39).34
10,37 Wieder erinnert der Heiland an die Wunder, die er als Beweis seiner göttlichen Sendung getan hat. Man beachte dennoch den Ausdruck »die Werke meines Vaters«. Wunder an sich sind noch kein Beweis für die Göttlichkeit ihres Vollbringers. Wir lesen in der Bibel von bösen Mächten, die manchmal auch die Macht haben, Wunder zu vollbringen. Doch die Wunder des Herrn waren »die Werke« seines »Vaters«. Sie bewiesen auf zweierlei Weise, dass er der Messias war. Erstens waren es die Wunder, die nach der Vorhersage des AT vom Messias vollbracht werden würden. Zweitens waren es Wunder der Barmherzigkeit und des Mitgefühls – Werke, die der Menschheit nützten und die ein Werkzeug des Bösen niemals vollbringen würde.
10,38 Ryle hat Vers 38 einmal sehr hilfreich umschrieben:
Wenn ich die Werke meines Vaters tue, dann lasst euch doch, wenn ihr schon nicht von dem überzeugt werdet, was ich sage, durch meine Taten überzeugen. Wenn ihr auch den Beweisen meiner Worte widerstehen mögt, so haltet euch an den Beweis durch meine Werke. Auf diese Weise sollt ihr lernen und glauben, dass ich und der Vater wirklich eins sind – er in mir und ich in ihm, und dass ich nicht lästere, wenn ich die Gottessohnschaft beanspruche.
10,39 Und wieder erkannten die Juden, dass Jesus seine Behauptungen nicht revidierte, sondern sie sogar noch untermauert hatte. So versuchten sie wieder, ihn zu verhaften, doch er entzog sich ihnen ein weiteres Mal. Die Zeit war nun nicht mehr weit, dass er ihnen erlauben würde, ihn zu ergreifen, doch jetzt war seine Stunde noch nicht gekommen. VI. Der Dienst des Sohnes Gottes – drittes Jahr: Peräa und Judäa (10,40 – 11,57)
A. Jesus zieht sich über den Jordan zurück (10,40-42)
10,40 Der Herr »ging wieder weg jenseits des Jordan an den Ort«, wo er sein öffentliches Wirken begonnen hatte. Seine drei Jahre wunderbarer Worte und Werke neigten sich dem Ende zu. Er schloss sie dort ab, wo er sie begonnen hatte – außerhalb der etablierten Ordnung des Judentums, an einem verachteten und einsamen Ort.
10,41 Diejenigen, die »zu ihm … kamen«, waren sicherlich ernsthafte Gläubige. Sie waren willig, seine Schmach zu teilen, ihren Platz mit ihm außerhalb des Lagers Israels einzunehmen. Diese Nachfolger Jesu stellten Johannes dem Täufer ein wunderbares Zeugnis aus. Sie erinnerten sich, dass der Dienst des Johannes weder spektakulär noch sensationell gewesen war, sondern sich als »wahr« erwiesen hatte. Alles, was er über den Herrn Jesus gesagt hatte, war im Dienst des Heilands in Erfüllung gegangen. Das sollte jeden ermutigen, der Christ ist. Wir mögen nicht in der Lage sein, mächtige Wundertaten zu vollbringen oder die öffentliche Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, doch wir können zumindest ein wahres Zeugnis für unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus ablegen. Das hat in Gottes Augen großen Wert.
10,42 Wie ermutigend ist die Feststellung, dass der Herr Jesus trotz seiner Ablehnung durch das Volk Israel einige demütige, aufnahmebereite Herzen fand. Uns wird gesagt: »Viele glaubten dort an ihn.« So ist es in jedem Zeitalter. Immer gibt es einen Überrest des Volkes, der gewillt ist, seinen Platz beim Herrn Jesus einzunehmen, ausgeschlossen von der Welt, gehasst und verachtet, doch in der lieblichen Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes.
B. Die Krankheit des Lazarus (11,1-4)
11,1 Wir kommen nun zum letzten großen Wunder des öffentlichen Wirkens des Herrn Jesus. In gewisser Weise war dieses Wunder das größte von allen: Er ließ einen Toten wiederauferstehen. Lazarus lebte in dem kleinen Dorf Betanien, das etwa drei Kilometer östlich von Jerusalem lag. Betanien war auch als Heimatstadt »der Maria und ihrer Schwester Marta« bekannt. Pink zitiert hier Bischof Ryle: Man sollte hier beachten, dass die Gegenwart von Gottes auserwählten Kindern Städten und Ländern in Gottes Augen Bedeutung verleiht. Das Dorf von Marta und Maria wird erwähnt, doch Memphis und Theben werden im Neuen Testament nicht genannt.35
11,2 Johannes erklärt, »dass es Maria« aus Betanien »war, die den Herrn mit Salböl salbte und seine Füße mit ihren Haaren abtrocknete«. Diese einzigartige Tat der Hingabe wurde hier vom Heiligen Geist hervorgehoben. Der Herr liebt die willige Zuneigung seines Volkes.
11,3 Als Lazarus krank war, befand sich der Herr Jesus offensichtlich am östlichen Jordanufer. Da »sandten die Schwestern« eine Nachricht zu ihm, dass Lazarus, »den du lieb hast«, krank geworden sei. Es ist sehr bewegend, wie die beiden Schwestern ihr Anliegen vor den Herrn bringen. Sie berufen sich auf seine Liebe zu ihrem Bruder als besonderes Argument dafür, warum der Herr kommen und helfen solle.
11,4 »Als … Jesus … sprach: Diese Krankheit ist nicht zum Tode«, meinte er damit nicht, dass Lazarus nicht sterben würde, sondern dass der Tod nicht das endgültige Resultat der »Krankheit« wäre. Lazarus würde sterben, doch er würde aus den Toten auferweckt werden. Der wahre Grund für die Krankheit, war die »Herrlichkeit Gottes …, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde«. Gott erlaubte, dass dies geschah, damit Jesus kommen und Lazarus aus den Toten auferwecken konnte. Damit würde er sich noch einmal als der wahre Messias erweisen. Die Menschen würden Gott für dieses machtvolle Wunder ehren. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass die Krankheit des Lazarus durch eine bestimmte Sünde in seinem Leben hervorgerufen worden wäre. Er wird als hingegebener Jünger und als besonderer Geliebter des Herrn dargestellt. C. Jesus reist nach Betanien (11,5-16)
11,5 Wenn Krankheit in unsere Familien kommt, dann sollen wir daraus nicht schließen, dass wir Gott in irgendeiner Weise missfallen haben. Hier war die Krankheit direkt mit seiner Liebe statt mit seinem Zorn verbunden. »Wen er liebt, den züchtigt er.«
11,6.7 Wir würden wahrscheinlich erwarten, dass der Herr, der diese drei Gläubigen wirklich liebte, alles fallen lassen und zu ihnen eilen würde. Stattdessen »blieb er noch zwei Tage an dem Ort«, nachdem er die Nachricht bekommen hatte. Gottes Zögern bedeutet nicht Gottes Ablehnung. Wenn unsere Gebete nicht sofort erhört werden, will er uns vielleicht Geduld lehren. Wenn wir dann geduldig warten, werden wir sehen, dass er unsere Gebete auf weitaus wunderbarere Weise erhört, als wir es uns vorstellen können. Nicht einmal seine Liebe zu Marta, Maria und Lazarus konnte Christus zwingen, vor der rechten Zeit zu handeln. Er tat alles in Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters und nach Gottes Zeitplan. Nach zwei Tagen, die scheinbar verlorene Zeit waren, schlug Jesus seinen Jüngern vor: »Lasst uns wieder nach Judäa gehen.«
11,8 Die Jünger waren sich noch immer schmerzlich bewusst, wie die Juden versucht hatten, ihn »zu steinigen«, nach dem er den Blindgeborenen geheilt hatte. Sie gaben ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass er angesichts einer solchen Gefahr für sein Leben auch nur dar an denken konnte, nach Judäa zu reisen.
11,9 »Jesus antwortete« ihnen Folgendes: Normalerweise gibt es am Tag »zwölf Stunden« Licht, in denen die Menschen arbeiten können. Solange ein Mensch während dieser bestimmten Zeit arbeitet, läuft er nicht Gefahr, zu stolpern und zu fallen, »weil er sieht«, wohin er geht und was er tut. »Das Licht dieser Welt« oder das Tageslicht bewahrt ihn vor dem Stolpern und damit auch vor einem entsprechenden tödlichen Missgeschick. Die geistliche Bedeutung der Worte des Herrn ist folgende: Der Herr Jesus wandelte in vollkommenem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Deshalb lief er nicht Gefahr, vor der rechten Zeit getötet zu werden. Er würde bewahrt werden, bis er sein Werk vollendet hätte. In gewissem Sinne gilt das für jeden Gläubigen. Wenn wir in Gemeinschaft mit dem Herrn leben und seinen Willen tun, dann gibt es keine Macht auf Erden, die uns vor Gottes vorherbestimmter Zeit töten kann.
11,10 Wer »in der Nacht umhergeht«, ist jemand, der Gott nicht treu ist, sondern nach seinem eigenen Willen lebt. Dieser wird leicht »anstoßen«, weil er nicht die göttliche Führung besitzt, die ihm seinen Weg erhellt.
11,11 Der Herr sprach vom Tod des Lazarus als Schlaf. Dennoch sollte man hier beachten, dass sich im NT der Schlaf nie auf die Seele, sondern immer nur auf den Leib bezieht. Es gibt keine Lehre in der Schrift, die besagt, dass sich die Seele zur Zeit des Todes in einem schlafähnlichen Zustand befindet. Die Seele des Gläubigen geht stattdessen zu Christus, was auch weitaus besser ist. Der Herr Jesus bewies durch diese Aussage seine Allwissenheit. Er wusste, dass Lazarus schon gestorben war, obwohl die Nachricht, die er erhalten hatte, nur besagte, dass Lazarus krank sei. Er wusste es besser, weil er Gott ist. Während jeder einen anderen aus leiblichem Schlaf erwecken kann, konnte nur der Herr Lazarus vom Tod erwecken. Hier drückte Jesus seine Absicht aus, genau das zu tun.
11,12 Seine »Jünger« verstanden nicht, was der Herr mit »schlafen« meinte. Sie erkannten nicht, dass er vom Tod sprach. Vielleicht dachten sie, dass Schlaf ein Zeichen der Besserung war. Deshalb schlussfolgerten sie, dass Lazarus wohl das Schlimmste überstanden hatte, weil er tief schlafen konnte, und dass er »geheilt werden« würde. Der Vers könnte auch Folgendes bedeuten: Ihrer Meinung nach war es nicht nötig, nach Betanien zu gehen, wenn das Einzige, das Lazarus fehlte, leiblicher Schlaf war. Es ist möglich, dass die Jünger um ihre eigene Sicherheit besorgt waren und diese Ausrede benutzen wollten, um Maria und Marta nicht zu besuchen.
11,13.14 Hier wird deutlich ausgesagt, dass Jesus, als er vom »Schlaf« sprach, den Tod meinte, seine Jünger dies aber nicht verstanden hatten. Daran gibt es keine Zweifel. Deshalb sagte Jesus seinen Jüngern nun »geradeheraus: ›Lazarus ist gestorben.‹« Wie gelassen die Jünger diese Nachricht aufnahmen! Fragten sie den Herrn nicht: »Woher willst du das wissen?« Er sprach mit völliger Vollmacht, und sie hinterfragten seine Aussagen nicht.
11,15 Der Herr war nicht froh darüber, dass Lazarus gestorben war. Vielmehr war er »froh« angesichts der Tatsache, dass er sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Betanien aufgehalten hatte. Wenn er dort gewesen wäre, wäre Lazarus nicht gestorben. Nirgendwo im Neuen Testament ist davon die Rede, dass ein Mensch in Christi Gegenwart gestorben wäre. Die Jünger sollten ein größeres Wunder als die Tatsache sehen, dass der Tod eines Menschen nur verhindert wurde. Vielmehr sollten sie einen Menschen sehen, der aus den Toten erweckt wurde. Auf diese Weise sollte ihr Glaube gestärkt werden. Deshalb sagte der Herr Jesus, dass er um ihretwillen froh war, nicht in Betanien gewesen zu sein. Er fügte hinzu: »… damit ihr glaubt«. Der Herr sagt damit keineswegs, dass die Jünger bisher noch nicht an ihn geglaubt hatten. Natürlich war bei ihnen Glaube vorhanden! Aber das Wunder, das sie in Betanien sehen würden, sollte ihren Glauben an ihn außerordentlich stärken. Deshalb drängte er sie, mit ihm zu gehen.
11,16 Thomas kam nun zu dem Schluss, dass der Herr Jesus von den Juden getötet werden würde, wenn er in dieses Gebiet ginge. Wenn die Jünger mit Jesus gehen würden, dann war er überzeugt davon, dass man auch sie töten würde. In seiner pessimistischen Grundhaltung und Trübsinnigkeit drängte er alle, den Herrn Jesus zu begleiten. Seine Worte sind kein Beispiel für außerordentlichen Glauben oder Mut, sondern vielmehr ein Beispiel für entmutigendes Reden.
D. Jesus ist die Auferstehung und das Leben (11,17-27)
11,17.18 Die Tatsache, dass Lazarus schon »vier Tage« im Grab gelegen hatte, wird hier als Beweis berichtet, dass er wirklich tot war. Man beachte, wie der Heilige Geist hier jede Vorsichtsmaßnahme ergreift, um zeigen zu können, dass die Auferweckung des Lazarus wirklich ein Wunder war. Lazarus muss gestorben sein, kurz nachdem die Männer mit der Botschaft zu Jesus losgingen, dass Lazarus krank sei. Zwischen Betanien und BetBara, wo Jesus sich aufhielt, lag eine Tagesreise. Nachdem er gehört hatte, dass Lazarus krank war, blieb Jesus noch zwei Tage dort, dann brauchte er einen Tag bis Betanien. Das erklärt die vier Tage, die Lazarus im Grab war.
Wie schon oben angemerkt, war Betanien »etwa fünfzehn Stadien weit« (das entspricht etwa drei Kilometer) von Jerusalem entfernt.
11,19 Die Nähe Betaniens zu Jerusalem machte es möglich, dass »viele von den Juden zu Marta und Maria gekommen« waren, »um sie … zu trösten«. Sie erkannten nicht, dass ihr Trost schon in kurzer Zeit nicht mehr nötig wäre und das Trauerhaus in ein Haus voller Freude verwandelt werden würde.
11,20 »Marta nun, als sie hörte, dass Jesus komme, ging«, um ihn zu treffen. Kurz vor dem Ort begegnete sie Jesus. Uns wird nicht gesagt, warum »Maria … im Haus« blieb. Vielleicht hatte sie die Nachricht, dass Jesus kommt, noch nicht erhalten. Vielleicht war sie auch noch von Trauer gelähmt, oder aber sie wartete einfach im Gebet und im Vertrauen auf Jesus. Fühlte sie vielleicht, was kommen sollte, weil sie so vertraut mit dem Herrn war? Wir wissen es nicht.
11,21 Es war echter Glaube, der es Marta ermöglichte zu glauben, dass Jesus den Tod des Lazarus hätte verhindern können. Dennoch war ihr Glaube unvollkommen. Sie dachte, er könne das nur, wenn er leiblich anwesend war. Sie erkannte nicht, dass er auch aus der Ferne heilen konnte, viel weniger noch, dass er Tote auferwecken konnte. In Zeiten der Not reden wir oft wie Marta. Wir denken, dass einer unserer Lieben nicht hätte sterben müssen, wenn nur dieses oder jenes Medikament schon erfunden gewesen wäre. Doch all dies steht in der Hand des Herrn, und keinem der Seinen geschieht etwas, das der Herr nicht zuvor erlaubt hätte.
11,22 Und wieder zeigte sich der Glaube dieser hingegebenen Schwester. Sie wusste nicht, wie der Herr Jesus helfen würde, doch sie glaubte, dass er es konnte. Sie hatte das Vertrauen, dass Gott ihm seine Bitte gewähren würde und er dieser scheinbaren Tragödie ein gutes Ende bereiten konnte. Doch sogar jetzt wagte sie nicht zu glauben, dass ihr Bruder aus den Toten auferweckt werden könnte. Das Wort, das Marta für »bitten« verwendete, ist das Wort, das benutzt wird, um ein Geschöpf zu beschreiben, das seinen Schöpfer um etwas bittet. Daraus scheint hervorzugehen, dass Marta den Herrn Jesus Christus nicht als Gott erkannt hatte. Sie hatte erkannt, dass er ein großer und ungewöhnlicher Mann war, doch sie hielt ihn wohl nicht für größer als die in alter Zeit lebenden Propheten.
11,23 Um ihren Glauben zu vertiefen, kündigte der Herr überraschend an, dass Lazarus »auferstehen« würde. Es ist so wundervoll zu sehen, wie der Herr mit dieser trauernden Frau umgeht und sie schrittweise zum Glauben an ihn als den Sohn Gottes führt.
11,24 Marta wusste, dass Lazarus eines Tages aus den Toten auferstehen würde, doch sie dachte nicht daran, dass es sogar an diesem Tag noch geschehen konnte. Sie glaubte an »die Auferstehung« der Toten und wusste, dass sie an dem Tag stattfinden würde, den sie den »letzten Tag« nannte.
11,25 Es ist, als ob der Herr sagen wollte: »Du hast mich nicht richtig verstanden, Marta. Ich meine nicht, dass Lazarus am letzten Tag auferstehen wird. Ich bin Gott, und ich habe die Macht der ›Auferstehung‹ und des ›Lebens‹ in meiner Hand. Ich kann Lazarus auch sofort aus den Toten auferwecken, und das werde ich tun.«
Dann lässt uns der Herr einen Blick auf den Zeitpunkt werfen, da alle Gläubigen auferweckt werden. Das wird stattfinden, wenn der Herr Jesus wiederkommt, um die Gläubigen in den Himmel heimzuholen.
Zu dieser Zeit wird es zwei Gruppen von Gläubigen geben. Einmal wird es diejenigen geben, die im Glauben gestorben sind, und dann gibt es außerdem jene, die zur Zeit seiner Wiederkunft noch leben. Zu den Ersten kommt er als die Auferstehung, zu den anderen als das Leben. Die Ersten werden im zweiten Teil von Vers 25 beschrieben: »Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.« Das bedeutet, dass diejenigen Gläubigen, die vor der Wiederkunft Christi gestorben sind, aus den Toten auferweckt werden. Burkitt merkt dazu an:
O Liebe, stärker als der Tod! Das Grab kann Christus und seine Freunde nicht voneinander scheiden. Andere Freunde begleiten uns bis zum Grabesrand und müssen uns dann verlassen. Doch weder Tod noch Leben kann uns von der Liebe Christi scheiden.36 Bengel kommentiert: »Es steht in wunderbarer Übereinstimmung mit der Voraussicht Gottes, dass man von keinem Menschen liest, dass er gestorben sei, als der Fürst des Lebens anwesend war.«
11,26 Die zweite Gruppe wird in Vers 26 beschrieben. Diejenigen, die bei der Wiederkunft des Erlösers leben und an ihn glauben, werden »nicht sterben in Ewigkeit«. Sie werden in einem Augenblick, in einem Nu, verwandelt werden und mit denen, die aus den Toten auferweckt worden sind, in die himmlische Heimat gebracht werden. Welch wunderbare Wahrheiten haben wir durch den Tod des Lazarus erfahren. Gott lässt aus dem Bitterem Süßes erstehen und kann der Asche Schönheit verleihen. Dann fragt der Herr Marta ausdrücklich, um ihren Glauben zu prüfen: »Glaubst du das?«
11,27 Martas Glaube scheint nun hell wie die Sonne am Mittag. Sie bekennt, dass Jesus »der Christus« ist, »der Sohn Gottes«, der nach den Worten der Propheten »in die Welt kommen soll«. Und wir sollten beachten, dass sie dieses Bekenntnis ablegte, ehe Jesus ihren Bruder aus den Toten auferweckt hatte, und nicht hinterher!
E. Jesus weint am Grab des Lazarus (11,28-37)
11,28.29 Sofort nach diesem Bekenntnis eilte Marta zurück ins Dorf und empfing Maria atemlos mit der Mitteilung: »Der Lehrer ist da und ruft dich.« Der Schöpfer des Universums und der Erlöser der Welt war nach Betanien gekommen und rief sie. Und so ist es auch noch heute. Derselbe wundervolle Herr Jesus Christus ist da und ruft mit den Worten des Evangeliums die Menschen zu sich. Jeder ist eingeladen, die Tür seines Herzens zu öffnen und den Erlöser einzulassen. Maria reagierte sofort. Sie verschwendete keine Zeit, sondern »stand … schnell auf« und ging zu Jesus.
11,30.31 Marta und Maria treffen Jesus nun vor dem Dorf Betanien. »Die Juden« wussten nicht, dass er in der Nähe war, weil Marta der Maria die Botschaft »heimlich« überbracht hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie folgerten, Maria wolle zur Gruft gehen, »um dort zu weinen«.
11,32 »Maria … fiel« dem Heiland »zu Füßen«. Das kann bedeuten, dass sie ihn anbetete, es kann aber auch sein, dass sie einfach nur von Trauer überwältigt war. Wie Marta bedauerte sie, dass Jesus nicht rechtzeitig nach Betanien gekommen war, denn in diesem Fall, so glaubte sie, wäre ihr »Bruder nicht gestorben«.
11,33 Als der Herr Jesus Maria und ihre Freunde so trauern sah, »ergrimmte er im Geist und wurde erschüttert«. Zweifellos dachte er an all die Trauer, das Leid und den Tod, der durch die Sünde des Menschen in die Welt gekommen ist. Das erschütterte ihn zutiefst.
11,34 Der Herr wusste natürlich, wo Lazarus begraben lag, doch stellte er die Frage, um bei den Beteiligten Erwartung hervorzurufen, ihren Glauben zu stärken und ihre Bereitschaft zur Mitwirkung bei dem geplanten Vorhaben zu wecken. Zweifellos führten die Trauernden den Herrn mit tiefer Ernsthaftigkeit und echtem Verlangen zum Grab.
11,35 Vers 35 ist der kürzeste in der deutschen Bibel.37 Er ist einer der drei Verse des NT, die erwähnen, dass der Herr geweint hat. (Er weinte aus Schmerz über die Stadt Jerusalem und im Garten Gethsemane.) Die Tatsache, dass »Jesus weinte«, war ein Beweis seines Menschseins. Er vergoss echte Tränen der Trauer, als er die schrecklichen Folgen der Sünde an den Menschen sah. Die Tatsache, dass Jesus angesichts des Todes weinte, zeigt, dass es nicht ungebührlich ist, wenn Christen weinen, wenn ihnen ihre Lieben genommen werden. Doch sollen Christen nicht so trauern wie andere, die keine Hoffnung haben.
11,36 »Die Juden« sahen in den Tränen des Menschensohnes einen Beweis seiner Liebe zu Lazarus. Natürlich hatten sie damit recht. Doch er liebte auch sie mit einer tiefen und unsterblichen Liebe, wobei viele dies nicht erkannten.
11,37 Und wieder rief die Anwesenheit des Herrn Jesus unter den Menschen Fragen hervor. Einige erkannten ihn als den, der »die Augen des Blinden auftat«. Sie fragten sich, ob er nicht hätte bewirken können, »dass auch dieser nicht gestorben wäre«. Natürlich hätte er das tun können, doch stattdessen wollte er ein größeres Wunder tun, das den gläubigen Seelen größere Hoffnung bringen würde. F. Das siebte Zeichen: Die Auferweckung des Lazarus (11,38-44)
11,38 Es scheint, dass »die Gruft« des Lazarus eine »Höhle« in der Erde war, in die man auf einer Leiter oder über eine Treppe hinabsteigen musste. Ein »Stein« lag über der Höhle. Das Grab war nicht wie das Grab Jesu gebaut, das aus dem Fels ausgehauen war und in das man ebenerdig hineingehen konnte, ohne klettern oder hinabsteigen zu müssen.
11,39 Jesus befahl den Umherstehenden, den Stein von der Öffnung der Höhle wegzunehmen. Er hätte das durch ein einziges Wort selbst tun können. Doch normalerweise erledigt Gott nicht die Aufgaben, die Menschen selbst bewältigen können.
Marta drückte ihre Angst vor der Öffnung des Grabes aus. Sie wusste, dass der Leib ihres Bruders schon vier Tage dort lag, und fürchtete, dass die Verwesung bereits begonnen hatte. Offensichtlich hatte man den Leib des Lazarus nicht einbalsamiert. Er ist wahrscheinlich am gleichen Tag begraben worden, an dem er auch gestorben war, wie es der damaligen Sitte entsprach. Die Tatsache, dass Lazarus schon »vier Tage« im Grab gelegen hatte, ist besonders wichtig. Es ist nicht möglich, dass er nur schlief oder bewusstlos war. Alle Juden wussten, dass er tot war. Seine Auferstehung kann nur durch ein Wunder erklärt werden.
11,40 Es ist nicht klar, wann Jesus die Worte von Vers 40 sprach. In Vers 23 hatte er Marta erklärt, dass ihr Bruder wiederauferstehen würde. Doch zweifellos war das, was er ihr hier sagte, im Wesentlichen das Gleiche, was er ihr auch vorher gesagt hatte. Man beachte die Reihenfolge dieses Verses: »Glauben … sehen«. Es ist, als ob der Herr Jesus sagen wollte: »Wenn du mir nur glaubst, wirst du sehen, wie ich ein Wunder vollbringe, das nur Gott vollbringen kann. Du wirst ›die Herrlichkeit Gottes‹ in mir geoffenbart sehen. Doch musst du erst glauben, um dann zu sehen.«
11,41 Der Stein wurde dann vom Grab entfernt. Ehe Jesus das Wunder tat, dankte er zunächst seinem »Vater«, dass er sein Gebet »erhört« habe. Jedoch ist in den bisherigen Versen dieses Kapitels kein Gebet aufgezeichnet. Zweifellos hatte Jesus während der gesamten Zeit ständig mit seinem Vater gesprochen und darum gebeten, dass Gottes Name durch die Auferstehung des Lazarus verherrlicht werden möge. Hier dankte er dem Vater schon im Voraus.
11,42 Jesus betete laut, sodass die »Volksmenge … glauben« sollte, dass der Vater ihn »gesandt« hat und ihm befohlen hatte, was er tun und sagen sollte als derjenige, der immer in völliger Abhängigkeit von Gott dem Vater handelte. Hier wird wieder die Einheit von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus betont.
11,43 Das ist eines der wenigen Male im NT, wo von Jesus gesagt wird, er habe »mit lauter Stimme« gerufen. Einige Bibelausleger meinen, wenn er dabei nicht Lazarus mit Namen genannt hätte, dann wären alle Toten in den Gräbern auferstanden!
11,44 Wie kam Lazarus nun heraus? Manche Ausleger sind der Meinung, dass er aus dem Grab herausgestolpert sei, andere sind der Meinung, dass er auf Händen und Füßen gekrochen sei, und wieder andere weisen darauf hin, dass sein Leib so fest in die Grabtücher gehüllt war, dass es für ihn unmöglich gewesen sein muss, aus eigener Kraft hinauszukommen. Sie sind der Ansicht, dass sein Leib aus dem Grab durch die Luft flog und zu den Füßen des Herrn Jesus landete. Die Tatsache, dass »sein Gesicht … mit einem Schweißtuch umbunden« war, ist ein weiterer Beweis dafür, dass er tot gewesen war. Niemand hätte vier Tage überleben können, wenn sein Gesicht mit einem solchen Tuch eingebunden war. Und wieder forderte der Herr die Anwesenden zur Mitarbeit auf und befahl ihnen, Lazarus frei zu machen und ihn gehen zu lassen. Nur Christus kann die Toten auferwecken, doch er gibt uns die Aufgabe, die Steine, die im Weg liegen, zu entfernen und die Fesseln zu lösen. G. Gläubige und ungläubige Juden (11,45-57)
11,45.46 Für viele der Zuschauer bedeutete dieses Wunder unmissverständlich, dass der Herr Jesus Christus Gott ist, und sie »glaubten an ihn«. Wer außer Gott konnte eine Leiche vier Tage nach dem Tod aus dem Grab rufen?
Doch die Auswirkung eines Wunders auf das Leben eines Menschen hängt von seiner moralischen Verfassung ab. Wenn das Herz eines Menschen böse, aufrührerisch und ungläubig ist, wird es auch dann nicht glauben, wenn vor seinen Augen ein Toter zum Leben erweckt wird. Das war auch hier der Fall. Einige der Juden, die Zeugen dieses Wunders waren, waren trotz des unleugbaren Beweises nicht bereit, den Herrn Jesus als ihren Messias anzunehmen. Und so gingen sie »hin zu den Pharisäern« um zu berichten, was in Betanien geschehen war. Berichteten sie, damit die Pharisäer kommen und an Jesus glauben sollten? Wohl kaum. Vielmehr wollten sie die Pharisäer noch mehr gegen den Herrn Jesus aufbringen, damit diese weiter ihre Mordpläne schmieden konnten.
11,47 »Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat«, um zu diskutieren, welche Maßnahmen zu ergreifen wären. Die Frage: »Was tun wir?«, bedeutet: »Was wollen wir nun tun? Warum handeln wir nicht schneller? ›Dieser Mensch‹ tut so viele Wunder, und wir tun nichts, um ihn daran zu hindern.« Die jüdischen Führer sprachen sich mit diesen Worten ihr eigenes Urteil. Sie gaben zu, dass der Herr Jesus »viele Zeichen« tat. Warum glaubten sie dann nicht an ihn? Sie wollten nicht an ihn glauben, weil sie ihre Sünden dem Heiland vorzogen. Ryle sagt ganz richtig:
Dies ist ein wunderbares Eingeständnis. Sogar die schlimmsten Feinde unseres Herrn bezeugen, dass er Wunder – viele Wunder – tat. Können wir daran zweifeln, dass sie die Echtheit seiner Wunder geleugnet hätten, wenn sie dazu imstande gewesen wären? Aber sie scheinen es noch nicht einmal versucht zu haben. Er hatte zu viele Wunder getan, zu viele Menschen hatten sie gesehen; und sie waren viel zu gut bezeugt, als dass die Feinde gewagt hätten, sie zu leugnen. Wie können angesichts dieser Tatsache Ungläubige und Skeptiker unserer Zeit davon reden, dass die Wunder unseres Herrn Illusion und Schwindel gewesen seien? Die Pharisäer, die zur Zeit unseres Herrn lebten und Himmel und Erde in Bewegung setzten, um die Ausweitung seiner Popularität zu verhindern, wagten es nicht, die Tatsache anzuzweifeln, dass er Wunder tat. Ist es dann nicht absurd, seine Wunder nun zu leugnen, nachdem über 1800 Jahre ins Land gegangen sind (John Charles Ryle, anglikanischer Bischof von Liverpool, lebte von 1816 bis 1900; Anm. d. Übers.)?38
11,48 Die Obersten der Juden waren der Meinung, dass sie nicht länger untätig bleiben konnten. Wenn sie hier nicht eingriffen, würde die Masse des Volkes von den Wundern Jesus überzeugt werden. Wenn die Menschen Jesus nun als ihren König anerkannten, dann würde das Schwierigkeiten mit Rom bringen. Die Römer würden denken, dass Jesus gekommen sei, um das Reich zu besiegen, und sie würden mit ihren Legionen kommen, um die Juden zu bestrafen. Der Ausdruck »unsere Stadt wie auch unsere Nation wegnehmen« bedeutet, dass die Römer den Tempel zerstören und die Juden zerstreuen würden. Genau das geschah 70  n. Chr.  – nicht jedoch, weil die Juden den Herrn angenommen hätten, sondern weil sie ihn abgelehnt hatten. F. B. Meyer drückte es sehr gut aus: Das Christentum gefährdet Unternehmen, untergräbt profitable, aber unlautere Geschäfte, stiehlt den Heiligtümern Satans die Kunden, gefährdet persönliche Interessen und stellt die Welt auf den Kopf. Das Christentum ist eine ermüdende, störende und das Geschäft verderbende Angelegenheit.39
11,49.50 »Kaiphas« war von 26 bis 36 n. Chr. »Hoherpriester«. Er stand dem religiösen Gericht vor, das den Herrn verurteilte. Außerdem war er dabei, als Pet rus und Johannes in Apostelgeschichte 4,6 vor den Hohen Rat gebracht wurden. Er glaubte nicht an den Herrn Jesus – trotz der Worte, die er hier äußert. Kaiphas zufolge dachten die Hohenpriester und Pharisäer falsch, wenn sie meinten, dass die Juden wegen Jesus sterben würden. Er sagte stattdessen voraus, dass Jesus für die Juden sterben würde. Er sagte, dass es besser sei, wenn Jesus »für das Volk sterbe«, statt dass »die Nation« wegen Jesus mit den Römern Schwierigkeiten bekommen sollte. Es hört sich fast so an, als ob Kaiphas wirklich verstanden habe, warum Jesus in diese Welt gekommen war. Wir könnten fast denken, dass Kaiphas Jesus als Stellvertreter für Sünder angenommen habe – und damit die wichtigste Lehre des Christentums. Doch leider ist dies nicht der Fall. Was er sagte, traf zu, doch er selbst glaubte nicht an Jesus, sodass seine Seele nicht errettet war.
11,51.52 Dieser Vers erklärt, warum Kaiphas so sprach. »Dies aber sagte er nicht  aus  sich  selbst«,  d. h.  er  hatte  sich dies nicht selbst ausgedacht. Er sprach nicht nach eigenem Gutdünken. Seine Botschaft wurde ihm von Gott eingegeben, und zwar mit einer tieferen Bedeutung, als er selbst beabsichtigte. Er äußerte die göttliche Prophezeiung, »dass Jesus für die Nation sterben sollte«. Das war dem Kaiphas gegeben, weil »er jenes Jahr Hoherpriester war«. Gott sprach durch ihn, weil er dieses Amt innehatte, und nicht wegen seiner persönlichen Gerechtigkeit, denn er war ein sündiger Mensch.
Die Prophezeiung des Kaiphas lautete nicht nur, dass der Herr »für die Nation allein« sterben würde, »sondern dass er auch« seine Auserwählten unter den Heiden »in eins versammelte«. Einige Ausleger sind der Meinung, dass die Aussage des Kaiphas sich auf die Juden in der Zerstreuung bezog. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er die Heiden meinte, die durch die Predigt des Evangeliums an Christus glauben würden.
11,53.54 Die Pharisäer waren durch das Wunder in Betanien nicht überzeugt. Stattdessen feindeten sie den Sohn Gottes immer mehr an. »Von jenem Tag an ratschlagten sie nun« mit neuem Elan, »um ihn zu töten«.
Jesus erkannte die wachsende Feindschaft der Juden und ging deshalb »in eine Stadt mit Namen Ephraim«. Wir wissen heute nicht, wo Ephraim lag. Uns ist nur bekannt, dass der Ort in einem ruhigen, abgelegenen Gebiet »nahe bei der Wüste« gelegen war.
11,55 Die hier befindliche Mitteilung (»Es war aber nahe das Passah der Juden«) erinnert uns daran, dass wir uns nun dem Ende des öffentlichen Wirkens Jesu nähern. An diesem Passah sollte er gekreuzigt werden. Die Menschen sollten »hinauf nach Jerusalem« gehen »vor dem Passah, um sich zu reinigen«. Wenn etwa ein Jude eine Leiche berührt hatte, dann musste er bestimmte Reinigungszeremonien durchlaufen, um sich von der rituellen Unreinheit zu befreien. Die Reinigung wurde durch verschiedene Arten von Waschungen und Opfern erreicht. Es war eine traurige Tatsache, dass die Juden so versuchten, sich zu reinigen, während sie gleichzeitig den Tod des Passahlammes planten. Welch eine schreckliche Offenb arung des menschlichen Herzens!
11,56.57 Als sich die Menschen »im Tempel« versammelten, dachten sie über den Wundertäter namens Jesus nach, der in ihrem Land gewesen war. Man diskutierte, ob er wohl »zu dem Fest kommen« würde. Der Grund dafür, dass einige dachten, er würde nicht kommen, wird in Vers 57 angegeben. Es war ein offizieller Befehl von den »Hohenpriestern und den Pharisäern« erteilt worden, Jesus festzunehmen. Jeder, der wusste, wo er sich aufhielt, sollte den Behörden davon berichten, »damit sie ihn ergreifen« (Schl 2000) und ihn töten könnten.
VII. Der Dienst des Sohnes Gottes an den Seinen (Kap. 12 – 17) A. Jesus wird in Betanien gesalbt (12,1-8)
12,1 Das Haus in »Betanien« war ein Ort, wo Jesus gerne weilte. Dort genoss er die wertvolle Gemeinschaft mit »Lazarus«, Maria und Marta. Als er diesmal nach Betanien kam, setzte er sich, menschlich gesprochen, größter Gefahr aus, weil im nahen Jerusalem das Zentrum aller Mächte lag, die sich gegen ihn zusammengefunden hatten.
12,2 Trotz der vielen Menschen, die Jesus feindlich gesinnt waren, gab es noch immer einige, die ihm treu ergeben waren. »Lazarus aber war einer von denen, die mit« dem Herrn »zu Tisch lagen«, während »Marta diente«. Die Schrift sagt uns nichts, ob Lazarus in der Zeit, in der er tot war, etwas gesehen oder gehört hatte. Vielleicht hatte Gott ihm verboten, solche Informationen weiterzugeben.
12,3 Es wird in den Evangelien mehrmals berichtet, dass eine Frau den Herrn Jesus salbte. All diese Berichte sind etwas unterschiedlich, doch man ist allgemein der Ansicht, dass dieser Bericht hier eine Parallele zu Markus 14,3-9 darstellt. Marias Hingabe an Christus ließ sie »ein Pfund Salböl von echter, sehr kostbarer Narde« nehmen und »seine Füße« damit salben. Sie drückte damit im Grunde aus, dass ihr für den Herrn Jesus nichts zu kostbar war. Er ist all dessen wert, was wir besitzen und was wir sind. Immer, wenn wir Maria begegnen, finden wir sie zu Füßen Jesu. Hier trocknet sie »seine Füße mit ihren Haaren«. Da das Haar einer Frau ihre Ehre ist, legte sie ihm hier ihre Ehre zu Füßen. Natürlich trug Maria den Duft des Salböls noch eine Weile nach diesem Ereignis an sich. So ist es auch, wenn Christus angebetet wird: Dann tragen die Anbetenden selbst auch etwas vom Duft dieser Stunde an sich. Kein Haus wird so von Wohlgeruch erfüllt wie dasjenige, worin Jesus der ihm gebührende Platz eingeräumt wird.
12,4.5 Hier sieht man, wie das Fleisch einen der heiligsten Augenblicke unterbricht. Derjenige, »der ihn überliefern sollte«, konnte es nicht ertragen, dass solch ein wertvolles Öl an seinen Meister verschwendet werden sollte. Es geht hier nicht darum, dass Jesus in Judas’ Augen »dreihundert Denare« wert war. Er war vielmehr der Ansicht, dass dieses Salböl »verkauft und den Armen« hätte gegeben werden sollen. Doch das war schlichte Heuchelei. Er machte sich weder etwas aus den Armen noch aus dem Herrn. Er wollte ihn verraten, nicht für »dreihundert Denare«, sondern für ein Zehntel dieses Wertes. Ryle merkt dazu sehr schön an: Dass jemand Christus drei Jahre lang als Jünger nachfolgen, all seine Wunder sehen, seine Predigten hören, aus seiner Hand wiederholt Wohltaten annehmen, zu den Aposteln gezählt werden und sich schließlich doch als so verdorben im Herzen erweisen konnte – im ersten Augenblick erscheint dies unglaublich und unmöglich. Doch der Fall des Judas zeigt ganz deutlich, dass es möglich ist. Nur weniges wird so sehr verkannt, wenn überhaupt, wie das Ausmaß des Sündenfalls.40
12,6 Johannes beeilt sich, hier anzufügen, dass Judas dies nicht sagte, weil er »die Armen« besonders geliebt hätte, »sondern weil er ein Dieb war«, habgierig war »und die Kasse hatte und beiseiteschaffte, was eingelegt wurde«.
12,7 Der Herr antwortete im Grunde: »Halte sie nicht davon ab. Sie hat das Öl ›aufbewahrt … für den Tag meines Begräbnisses!‹41 Sie will es nun in Liebe und Anbetung über mich gießen. Das soll ihr gewährt sein.«
12,8 Es wird nie eine Zeit geben, zu der es keine »Arme« gibt, denen wir unsere Freundlichkeit erweisen könnten. Doch der Dienst des Herrn auf Erden neigte sich schnell seinem Ende zu. Maria würde nicht jederzeit die Gelegenheit haben, dieses Öl für ihn zu verwenden. Das sollte uns daran erinnern, dass geistliche Gelegenheiten vorübergehen können. Wir sollten niemals etwas aufschieben, das wir für den Herrn tun können. B. Anschläge der Hohenpriester gegen Lazarus (12,9-11)
12,9 Das Wort, dass Jesus in der Nähe von Jerusalem war, verbreitete sich schnell. Es war nicht länger möglich, seine Anwesenheit zu verheimlichen. »Eine große Volksmenge aus den Juden« kam nach Betanien, um ihm zu begegnen, andere kamen, »damit sie auch den Lazarus sähen, den er aus den Toten auferweckt hatte«.
12,10.11 Der unsinnige Hass des menschlichen Herzens wird auch in diesem Vers wieder deutlich. »Die Hohenpriester aber ratschlagten, auch den Lazarus zu töten.« Man könnte meinen, dass er Hochverrat begangen hätte, indem er aus den Toten auferstand. Obwohl er darauf keinen Einfluss gehabt hatte, meinten sie, dass er den Tod dafür verdient hätte. Wegen Lazarus »glaubten … viele von den Juden an Jesus«. Lazarus war deshalb ein Feind des jüdischen »Establishments« und musste aus dem Weg geräumt werden. Diejenigen, die andere zum Herrn führen, werden immer zum Ziel der Verfolgung und sogar zu Märtyrern. Einige Exegeten sind der Meinung, dass die Hohenpriester als Sadduzäer nicht an die Auferstehung glaubten und deshalb den Gegenbeweis – den auferweckten Lazarus – aus dem Weg räumen wollten.
C. Der triumphale Einzug in Jerusalem (12,12-19)
12,12.13 Nun kommen wir zum triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Das war am Sonntag vor seiner Kreuzigung. Es ist schwierig, genau zu wissen, was die Angehörigen der »Volksmenge« von Jesus dachten. Hatten sie wirklich verstanden, dass er der Sohn Gottes und der Messias Israels war? Oder sahen sie ihn einfach nur als einen König an, der sie von der römischen Herrschaft befreien würde? Wurden sie nur durch die augenblickliche Gefühlsregung mit fortgetragen? Zweifellos fanden sich in der Menge wahre Gläubige, doch der allgemeine Eindruck bleibt bestehen, dass die meisten dieser Leute kein echtes Interesse an dem Herrn hatten.
Palmzweige sind ein Bild für Ruhe und Frieden nach Leiden (Offb 7,9). Das Wort »Hosanna« bedeutet: »Erlöse uns doch jetzt!«, oder: »Hilf doch, Herr!« Wenn man diese Gedanken zusammen sieht, dann scheint es so, als ob die Menschen Jesus als den anerkannt hätten, der von Gott gesandt wurde, um sie von der grausamen Herrschaft der Römer zu befreien und ihnen nach dem Leiden jahrelanger heidnischer Unterdrückung Ruhe und Frieden zu geben.
12,14.15 Jesus ritt auf »einem jungen Esel« in die Stadt ein, einem damals üblichen Lasttier. Doch darüber hinaus erfüllte der Herr eine Prophezeiung, indem er so in die Stadt ritt. Dieses Zitat stammt nämlich aus Sacharja 9,9. Der Prophet sagte voraus, dass der König bei seinem Einzug »sitzend auf einem Eselsfüllen« käme. Der Ausdruck »Tochter Zion« ist ein bildlicher Ausdruck für das jüdische Volk, wobei der Zion ein Hügel in Jerusalem ist.
12,16 »Seine Jünger« erkannten nicht, dass Sacharjas Prophezeiung vor ihren Augen in Erfüllung ging, als Jesus tatsächlich als der rechtmäßige König Israels in Jerusalem einzog. Doch nachdem der Herr in den Himmel zurückgekehrt war, um dort zur Rechten des Vaters »verherrlicht« zu werden, dämmerte den Jüngern, dass diese Ereignisse in Erfüllung der Schrift geschehen waren.
12,17.18 In der Menge, die den Einzug Jesu in Jerusalem miterlebten, befanden sich auch Menschen, die gesehen hatten, wie er »Lazarus … aus den Toten auferweckt« hatte. Diese erzählten den Umstehenden, dass dieser derselbe sei, der auch Lazarus das Leben wiedergegeben hatte. Als sich die Nachricht dieses bemerkenswerten »Zeichens« verbreitete, kam eine große »Volksmenge« Jesus entgegen. Leider ging es den meisten ihrer Angehörigen mehr um Neugier als um wahren Glauben.
12,19 Als die Menge immer größer wurde und das Interesse am Heiland seinen Höhepunkt erreichte, waren »die Pharisäer« außer sich. Weder ihr Reden noch ihr Tun hatte den geringsten Einfluss. Mit maßloser Übertreibung schrien sie, dass die ganze »Welt … ihm nachgegangen« sei. Sie erkannten nicht, dass das Interesse des Volkes sehr vergänglich war und diejenigen, die sich wirklich bereit fanden, Jesus als den Sohn Gottes anzubeten, nur sehr wenige waren. D. Einige Griechen wollen Jesus sehen (12,20-26)
12,20 Die »Griechen«, die zu Jesus kamen, waren Heiden, die sich zum Judentum bekehrt hatten. Die Tatsache, dass sie »hinzukamen, um auf dem Fest anzubeten«, zeigt, dass sie nicht mehr den relig iösen Riten ihrer Vorfahren folgten. Dass sie zu diesem Zeitpunkt zum Herrn Jesus kommen, ist ein Bild dafür, dass die Heiden nach der Verwerfung Jesu durch die Juden das Evangelium hören und viele von ihnen gläubig werden würden.
12,21 Uns wird nicht gesagt, warum sie »zu Philippus kamen«. Vielleicht war er wegen seines griechischen Namens und seiner Herkunft aus »Betsaida« für die heidnischen Proselyten anziehend. Ihre Bitte war wirklich edel: »Herr, wir möchten Jesus sehen.« Niemand, der mit einem ernsthaft suchenden Herzen kommt, wird von Gott unbelohnt wieder fortgeschickt.
12,22 Vielleicht war sich Philippus nicht sicher, ob der Herr diese Griechen empfangen würde. Christus hatte erst vor Kurzem den Jüngern gesagt, sie sollten mit dem Evangelium nicht zu den Heiden gehen; deshalb ging er hin und »sagt es Andreas«, und gemeinsam sagten sie es Jesus.
12,23 Warum wollten die Griechen Jesus sehen? Wenn wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, können wir vermuten, dass die Weisheit Jesu sie anzog und sie ihn als einen ihrer Volksphilosophen bekannt machen wollten. Sie wussten, dass er mit den jüdischen Führern auf Kollisionskurs lag, und wollten sein Leben retten, vielleicht, indem sie ihn mit nach Griechenland nahmen. Ihre Philosophie lautete: Schone dich selbst, doch Jesus sagte ihnen, dass diese Philosophie dem Gesetz der Ernte genau entgegengesetzt ist. Er würde durch seinen Opfertod und nicht durch ein bequemes Leben »verherrlicht« werden.
12,24 Samen bringt nie eine Ernte, ehe er nicht »in die Erde fällt und stirbt«. Der Herr Jesus verglich sich selbst hier mit einem »Weizenkorn«. Würde er nicht sterben, so bliebe er allein. Er würde die Herrlichkeit des Himmels allein genießen, doch dann gäbe es keinen einzigen erretteten Sünder, der seine Herrlichkeit teilen könnte. Doch wenn er stürbe, würde er einen Weg zur Erlösung öffnen, durch den viele gerettet werden können. Das Gleiche gilt auch für uns, wie T. G. Ragland sagt:
Wenn wir uns weigern, Weizenkörner zu sein – in die Erde zu fallen und zu sterben; wenn wir weder Aussichten opfern, weder Ansehen noch Besitz oder Gesundheit riskieren; wenn wir auch dann nicht, wenn wir gerufen werden, unsere Heimat verlassen und Familienbande abschneiden um Christi willen, dann werden wir allein bleiben. Doch wenn wir Frucht für den Herrn bringen wollen, dann müssen wir ihm selbst folgen, zum Weizenkorn werden und sterben; dann werden wir viel Frucht bringen.42
12,25 Viele Menschen meinen, dass im Leben nur Essen, Kleidung und Vergnügen zählt. Sie leben ausschließlich dafür. Doch indem sie so ihr Leben lieben, erkennen sie nicht, dass die Seele weitaus wichtiger als der Leib ist. Indem sie das Wohlergehen ihrer Seele vernachlässigen, verlieren sie ihr Leben. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die alles um Christi willen für Verlust achten. Um ihm zu dienen, verzichten sie auf das, was die Menschen so hoch schätzen. Das sind die Menschen, die ihr Leben »zum ewigen Leben bewahren«. Das eigene Leben zu hassen, bedeutet, Christus mehr zu lieben als die eigenen Interessen.
12,26 Um Christus zu dienen, muss man ihm »folgen«. Er will, dass seine Diener seinen Lehren gehorchen und ihm in moralischer Hinsicht gleichen. Sie müssen das Beispiel seines Todes auf sich selbst anwenden. Allen Dienern ist die ständige Gegenwart ihres Meisters und die Bewahrung durch ihn verheißen; und das bezieht sich nicht nur auf das jetzige Leben, sondern auch auf die Ewigkeit. Der Dienst jetzt wird Gottes Wohlwollen an einem zukünftigen Tag ernten. Was immer man an Schande und Schmähung hier auf Erden erdulden muss, ist klein im Vergleich zu der Ehre, von Gott dem Vater im Himmel vor allen gelobt zu werden!
E. Jesus sieht seinem bevor stehenden Tod entgegen (12,27-36)
12,27 Immer mehr wanderten die Gedanken des Herrn zu den Ereignissen, die ihm nun unmittelbar bevorstanden. Er sah das Kreuz vor sich und dachte über die Zeit nach, wenn er zum Träger der Sünde werden und den Zorn Gottes über unsere Sünden ertragen würde. Wenn er an diese Stunde dachte, war seine »Seele bestürzt«. Wie sollt er in einem solchen Augenblick beten? Sollte er seinen Vater bitten, ihn »aus dieser Stunde« zu retten? Dafür konnte er nicht bitten, denn er war in die Welt gekommen, um ans Kreuz zu gehen. Er wurde geboren, um zu sterben.
12,28 Statt darum zu bitten, dass ihm das Kreuz erspart bliebe, bat der Herr Jesus, dass der »Name« seines Vaters verherrlicht werden möge. Er war mehr dara n interessiert, dass Gott die Ehre erhielt, als an seiner eigenen Bequemlichkeit und Sicherheit. Gott sprach nun vom Himmel und bestätigte, dass er seinen Namen »verherrlicht … habe und … ihn wieder verherrlichen werde«. Durch Jesu irdischen Dienst wurde der Name Gottes verherrlicht. Die dreißig Jahre in der Verborgenheit in Nazareth, die drei Jahre des öffentlichen Wirkens, die wunderbaren Worte und Taten des Heilands – all das verherrlichte den Namen des Vaters über alles. Doch noch größere Herrlichkeit würde Gott durch den Tod, die Grablegung, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi zuteilwerden.
12,29 Einige der Zuschauer hielten die Stimme Gottes irrtümlich für Donner. Solche Menschen versuchen immer, geistliche Ereignisse auf natürliche Weise zu erklären. Menschen, die nicht bereit sind, die Tatsache der Wunder anzunehmen, versuchen, die Wunder durch das eine oder andere Naturgesetz zu erklären. Andere wussten dagegen, dass es kein Donner war, und dennoch erkannten sie darin nicht die Stimme Gottes. Sie hatten nur erkannt, dass die Stimme übermenschlich gewesen war, und konnten sich nur vorstellen, dass »ein Engel« gesprochen hatte. Gottes Stimme kann nur von denen gehört und verstanden werden, denen der Heilige Geist hilft. Menschen können das Evangelium immer wieder hören, und doch kann es ihnen stets bedeutungslos erscheinen, bis eines Tages der Heilige Geist durch das Wort zu ihnen spricht.
12,30 Der Herr erklärte den Zuhörern, dass nicht um seinetwillen diese Stimme zu hören war. Die Stimme Gottes war vielmehr wegen der Umstehenden vernehmbar gewesen.
12,31 »Jetzt ist das Gericht dieser Welt«, sagte er. Die Welt würde bald den Herrn des Lebens und der Herrlichkeit kreuzigen. Damit würde sie sich selbst verurteilen. Bald würde sie die Strafe für ihre furchtbare Verwerfung Christi erfahren. Das meinte der Heiland hier. Die Verdammung sollte über die schuldige Menschheit kommen. »Der Fürst dieser Welt« ist Satan. In einem sehr realen Sinne wurde Satan auf Golgatha besiegt. Er dachte, es sei ihm gelungen, den Herrn Jesus ein für alle Mal zu beseitigen. Stattdessen hatte der Herr einen Weg zur Errettung der Menschheit geschaffen und gleichzeitig Satan sowie seine Gefolgschaft besiegt. Die Strafe an Satan ist noch nicht vollzogen worden, doch sein Schicksal ist besiegelt. Er geht noch immer durch diese Welt, um seinen bösen Geschäften nachzugehen, doch es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er endlich in den Feuersee »geworfen« werden wird.
12,32 Der erste Teil dieses Verses bezieht sich auf den Tod Christi am Kreuz. Er wurde an ein Holzkreuz genagelt und »von der Erde erhöht«. Der Herr sagte, dass er, wenn er so gekreuzigt werden würde, »alle zu« sich »ziehen« werde. Für diese Aussage sind verschiedene Erklärungen gegeben worden. Einige Ausleger sind der Meinung, dass Jesus alle Menschen entweder zur Erlösung oder zum Gericht zu sich zieht. Nach Ansicht anderer liegt große Vollmacht in einer Predigt, wenn Jesus bei der Evangeliumsverkündigung erhöht wird. Dann werden viele Seelen zu ihm gezogen werden. Doch wahrscheinlich lautet die korrekte Erklärung, dass durch die Kreuzigung alle Arten von Menschen zu ihm gezogen werden. Das bedeutet nicht alle Menschen ohne Ausnahme, sondern Menschen aus jedem Volk und Stamm und jeder Sprache.
12,33 Als der Herr Jesus davon sprach, erhöht zu werden, wies er damit auf die Art seines Todes hin, d. h. auf die Kreuzigung. Hier haben wir wieder einen Beweis für die Allwissenheit des Herrn. Er wusste im Voraus, dass er weder in seinem Bett noch bei einem Unfall sterben, sondern an ein Kreuz genagelt werden würde.
12,34 Die Angehörigen der »Volksmenge« waren über die Aussage des Herrn verblüfft, dass er »erhöht« werde. Sie wussten, dass er den Anspruch auf die Messiasstellung erhob, während ihnen doch vom AT her bekannt war, dass der Messias ewig leben würde (s. Jes 9,6; Ps 110,4; Dan 7,14; Micha 4,7). Man beachte, dass die Leute Jesus folgendermaßen zitierten: »… dass der Sohn des Menschen erhöht werden müsse.« In Wirkl ichkeit hatte er gesagt: »Ich, wenn ich von der Erde erhöht bin.« Natürlich hatte Jesus sich selbst oft »Sohn des Menschen« genannt, und vielleicht hatte er auch schon vorher davon gesprochen, dass der Sohn des Menschen erhöht werden würde. Deshalb war es nicht schwierig für die Menschen, hier zwei und zwei zusammenzuzählen.
12,35 Als die Menschen Jesus fragten, wer der Menschensohn sei, sprach er von sich selbst als dem »Licht« der Welt. Er erinnerte sie hier daran, dass das »Licht« nur »eine kleine Zeit« bei ihnen sein würde. Sie sollten zum Licht kommen und in ihm wandeln; anderenfalls würde »Finsternis« sie »ergreifen«, und sie würden in Unwissenheit umherirren. Der Herr schien sich hier mit der Sonne und dem von ihr gespendeten Tageslicht zu vergleichen. Die Sonne geht morgens auf, erreicht ihren Höhepunkt am Mittag und steigt bis abends wieder hinab zum Horizont. Sie ist nur eine begrenzte Anzahl Stunden bei uns. Wir sollten sie nutzen, solange sie scheint, denn wenn die Nacht kommt, haben wir keinen Nutzen mehr von ihr. Geistlich gesehen wandelt derjenige, der an den Herrn Jesus glaubt, im Licht. Wer ihn ablehnt, »wandelt in der Finsternis« und »weiß nicht, wohin er geht«. Er hat keine göttliche Führung und stolpert deshalb mehr schlecht als recht durchs Leben.
12,36 Und wieder forderte der Herr Jesus seine Zuhörer auf, zu glauben, solange es noch möglich ist. Würden sie gläubig, so würden sie »Söhne des Lichtes« werden. Sie wären sich auch der Führung durchs Leben und in die Ewigkeit sicher. Nachdem der Herr diese Worte gesprochen hatte, ging er von den Menschen weg und blieb eine Weile verborgen. F. Der Unglaube der meisten Juden (12,37-43)
12,37 Johannes hält an dieser Stelle inne, um seine Verwunderung darüber auszudrücken, dass so viele »nicht an ihn glaubten, … obwohl« der Herr Jesus »so viele Zeichen vor ihnen getan hatte«. Wie wir schon oben erwähnt haben, hatte ihr Unglaube seinen Grund nicht dari n, dass es zu wenig Beweise gegeben hätte. Der Herr hatte ihnen die stichhaltigsten Beweise für seine Göttlichkeit gegeben, doch die Menschen wollten ihm nicht glauben. Sie wollten einen König als Herrscher über sich haben, aber Buße wollten sie nicht tun.
12,38 Der Unglaube der Juden war eine Erfüllung der Prophezeiung in Jesaja 53,1. Dort wird gefragt: »Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt?« Darauf muss leider geantwortet werden: »Nicht allzu viele!« Weil der »Arm« in der Schrift von Macht oder Stärke redet, bedeutet hier »der Arm des Herrn« die mächtige Kraft Gottes. Gottes Macht wird nur denen »offenbart«, die den Berichten über den Herrn Jesus Christus glauben. Weil nicht viele die Verkündigung des Messias annahmen, wurde die Macht Gottes daher nur wenigen offenbart.
12,39 Als der Herr Jesus sich den Angehörigen des Volkes Israel vorstellte, lehnten sie ihn ab. Immer wieder kam er mit dem Heilsangebot zu ihnen, doch sie blieben bei ihrem »Nein«. Je mehr ein Mensch das Evangelium ablehnt, desto schwieriger wird es für ihn, es anzunehmen. Wenn die Menschen ihre Augen vor dem Licht verschließen, dann macht Gott es ihnen schwerer, das Licht zu sehen. Gott lässt sie mit »gerichtlicher« Blindheit schlagen, d. h. mit Blindheit, die Gottes Gericht dafür ist, dass sie seinen Sohn verworfen haben.
12,40 Dieses Zitat stammt aus Jesaj a 6,9.10. Gott »verblendete« die Augen der Israeliten und »verstockte ihr Herz«. Er tat dies als Reaktion darauf, dass sie ihre Augen verschlossen und ihr Herz selbst verhärtet hatten. Als Folge davon, dass die Angehörigen des Volkes Israel in ihrer Widerspenstigkeit und ihrem Eigensinn den Messias abgelehnt hatten, hatten sie sich selbst vom Augenlicht, dem Verständnis, der Bekehrung und der Heilung abgeschnitten.
12,41 In Jesaja 6 wird beschrieben, wie der Prophet die »Herrlichkeit« Gottes sah. Johannes fügte nun die Erklärung hinzu, dass es Christi Herrlichkeit war, die Jesaja geschaut hat, und dass er von Christus sprach. Deshalb ist dieser Vers ein weiteres Glied in der Kette von Beweisen, dass Jesus Christus Gott ist.
12,42 Viele »von den Obersten« der Juden wurden überzeugt, dass Jesus der Messias war. Doch wagten sie nicht, anderen ihre Überzeugung mitzuteilen, weil sie den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde fürchteten. Wir würden uns wünschen, dass diese Männer wahre Gläubige gewesen sind, doch das ist zweifelhaft. Wahrer Glaube bekennt sich früher oder später zu Jesus. Wer Jesus wirklich als Heiland angenommen hat, zögert nicht, dies ungeachtet der Konsequenzen bekannt zu machen.
12,43 Es war offensichtlich, dass diesen Männern mehr an der »Ehre bei den Menschen« gelegen war als an der »Ehre bei Gott«. Sie dachten mehr an die Zustimmung der Menschen als an die Anerkennung bei Gott. Kann ein solcher Mensch wirklich ein echter Gläubiger in Christus sein? Man lese Kapitel 5,44, um diese Frage zu beantworten. G. Die Gefahr des Unglaubens (12,44-50)
12,44 Man kann Vers 44 wie folgt umschreiben: »Wer an mich glaubt, glaubt nicht nur an mich, sondern auch an den Vater im Himmel, der mich gesandt hat.« Wieder lehrte Jesus hier sein absolutes Einssein mit dem Vater. Es ist unmöglich, an den einen zu glauben, ohne gleichzeitig an den anderen zu glauben. Wer an Christus glaubt, der glaubt an Gott den Vater. Man kann nicht an den Vater glauben, ehe man nicht die gleiche Ehre auch dem Sohn gibt.
12,45 In gewissem Sinne kann niemand Gott den Vater sehen. Er ist Geist und deshalb unsichtbar. Doch der Herr Jesus ist in die Welt gekommen, damit wir erfahren können, wer Gott ist. Damit meinen wir jedoch nicht, dass er uns mitteilt, wie Gott körperlich aussieht, sondern dass er uns seine moralischen Eigenschaften vermittelt. Er hat uns den Charakter Gottes offenbart. Deshalb hat jeder, der Christus gesehen hat, auch Gott den Vater gesehen.
12,46 Das Bild vom Licht war wohl eines der Lieblingsbilder unseres Herrn. Wieder nennt er sich »Licht«, das »in die Welt gekommen« ist, damit diejenigen, die an ihn glauben, »nicht in der Finsternis« bleiben. Ohne Christus leben die Menschen in großer Finsternis. Sie haben nicht das rechte Verständnis vom Leben, vom Tod oder von der Ewigkeit. Doch diejenigen, die im Glauben zu Christus kommen, brauchen nicht länger nach der Wahrheit zu suchen, weil sie diese in ihm gefunden haben.
12,47 Der Zweck des ersten Kommens Christi war nicht, dass er »die Welt richte, sondern … die Welt errette«. Er saß nicht zu Gericht über diejenigen, die seine Worte nicht hören oder nicht an ihn glauben wollten. Das bedeutet nicht, dass diese Ungläubigen einer Verurteilung durch ihn an einem kommenden Tag entgehen werden, doch dieses Gericht war nicht das Ziel seines ersten Kommens.
12,48 Der Herr sah nun in die Zukunft auf den Tag, an dem diejenigen, die seine Worte abgelehnt haben, vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Dann werden das »Wort« oder die Lehren des Herrn Jesus ausreichen, um sie zu verurteilen.
12,49 Was Jesus lehrte, hatte er sich weder selbst ausgedacht noch in einer menschlichen Schule gelernt. Als gehorsamer Diener und Sohn Gottes hatte er nur das gepredigt, wozu ihn sein Vater beauftragt hatte. Diese Tatsache wird die Menschen am letzten Tag verurteilen. Das Wort Jesu war das Wort Gottes, und die Menschen wollten es nicht hören. Der Vater hatte ihm nicht nur gesagt, was er »sagen«, sondern auch, was er »reden« sollte. Der erste Ausdruck bezieht sich auf die Botschaft an sich, der zweite auf die genauen Worte, die der Herr Jesus verwenden sollte, wenn er die Wahrheiten Gottes lehrte.
12,50 Jesus wusste, dass der Vater ihn beauftragt hatte, denen »ewiges Leben« zu geben, die an ihn glauben würden. Deshalb gab Jesus die Botschaft so weiter, wie »der Vater« sie ihm »gesagt hat«.
Hier kommen wir nun an einen wichtigen Wendepunkt in der Erzählung. Bis zu diesem Punkt hat der Herr sich dem Volk Israel vorgestellt. Sieben Zeichen oder Wunder werden berichtet, von denen jedes eine Erfahrung zeigt, die ein Sünder macht, wenn er an Christus glaubt. Die Zeichen sind: 1. Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit in Kana, Galiläa (2,1-12). Dies ist ein Bild für den Sünder, dem die göttliche Freude fremd ist und der durch die Macht Christi verwandelt wird.
2. Die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten (4,46-54). Dies ist ein Bild für den kranken Sünder, dem geistliche Gesundheit fehlt. 3. Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda (Kap. 5). Der Sünder hat keine Kraft, er ist hilflos und nicht in der Lage, nur das Geringste zu tun, um seinen Zustand zu verbessern. Jesus heilt ihn von seiner Schwäche. 4. Die Speisung der Fünftausend (Kap. 6). Der Sünder hat keine Nahrung, er ist hungrig und braucht Speise, die ihm Kraft gibt. Der Herr gibt ihm Speise für seine Seele, sodass er nie mehr hungern braucht. 5. Stillung des Sturmes auf dem See Genezareth (6,16-21). Der Sünder befindet sich in ständiger Gefahr. Der Herr rettet ihn aus dem Sturm. 6. Die Heilung des Blindgeborenen (Kap. 9). Dieser Mann ist ein Bild für die Blindheit des menschlichen Herzens, ehe es von der Macht Christi angerührt wird. Der Mensch kann weder seine eigene Sündhaftigkeit noch die Schönheiten des Heilands erkennen, bevor er vom Heiligen Geist erleuchtet wird.
7. Die Auferweckung des Lazarus aus den Toten (Kap. 11). Das erinnert uns natürlich daran, dass der Sünder tot in Übertretungen und Sünden ist und Leben von oben braucht.
Alle diese Zeichen dienten dem Beweis, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes, ist.
H. Jesus wäscht die Füße seiner Jünger (13,1-11) In Kapitel 13 beginnt das Gespräch im Obersaal. Jesus hielt sich nicht mehr unter den feindlichen Juden auf. Er hatte sich mit seinen Jüngern in einen Obersaal in Jerusalem zurückgezogen, um mit ihnen eine Zeit der intensiven Gemeinschaft zu verbringen, ehe er in seine Gerichtsverhandlung und in den Tod am Kreuz gehen würde. Johannes 13 bis 17 beinhaltet einen der beliebtesten Abschnitte des gesamten NT.
13,1 Am Tag vor seiner Kreuzigung »wusste Jesus«, dass für ihn die Zeit »gekommen war«, da er sterben, wiederauferstehen und in den Himmel zurückkehren würde. Er hatte »die Seinen geliebt«, d. h. diejenigen, die echte Gläubige waren. Er »liebte sie bis ans Ende« seines irdischen Dienstes, und er wird sie in alle Ewigkeit lieben. Doch er liebte sie auch in unendlichem Maße, wie er nun bald beweisen sollte.
13,2 Johannes erklärt hier nicht, welches Abendessen gemeint ist – das Passah, das Mahl des Herrn oder ein gewöhnliches Essen. »Der Teufel« säte im Herzen des »Judas« den Gedanken, dass die Zeit nun reif sei, »ihn zu überliefern«. Judas hatte seinen bösen Plan gegen den Herrn schon lange vorher gefasst, doch jetzt wurde ihm das Zeichen gegeben, seine hinterhältigen Pläne durchzuführen.
13,3 Vers 3 betont, wer hier die Aufgabe eines Sklaven erfüllte – nicht nur ein Rabbi oder Lehrer, sondern »Jesus«, der sich seiner Göttlichkeit bewusst war. Er kannte das Werk, das ihm übergeben worden war, und er wusste, dass er »von Gott ausgegangen war« und sich schon auf seinem Weg zurück »zu Gott« befand.
13,4 Das Bewusstsein seiner Identität, seiner Mission und seiner Bestimmung befähigte ihn, sich niederzubeugen und den Jüngern die Füße zu waschen. Jesus steht »von dem Abendessen auf« und legt seine langen »Oberkleider« ab. Dann nimmt er ein »leinenes Tuch«, das er als Schürze benutzt, und nimmt die Stellung eines Sklaven ein. Wir mögen dieses Ereignis eher im Markusevangelium vermuten, dem Evangelium des vollk ommenen Knechtes. Doch die Tatsache, dass es im Evangelium des Sohnes Gottes steht, macht es umso bemerkenswerter.
Diese symbolische Handlung erinnert uns daran, dass der Herr die Herrlichkeit des Himmels verließ und als ein Knecht auf diese Erde kam, um seinen Geschöpfen zu dienen.
13,5 In den Ländern des Nahen Ostens war es aufgrund des Gebrauchs von offenen Sandalen erforderlich, dass man sich häufig die Füße wusch. Es gehörte zur normalen Höflichkeit des Gastgebers, einen Sklaven zum Waschen der Füße seiner Gäste bereitzustellen. Hier wurde der göttliche Gastgeber selbst zum Sklaven und führte diesen niedrigen Dienst aus. »Jesus zu Füßen des Verräters – welch ein Bild, welch eine Lehre für uns!«
13,6 Petrus war über den Gedanken schockiert, dass der Herr seine Füße waschen würde, und gab seiner Missbilligung Ausdruck, dass jemand, der so groß war wie der Herr, sich zu so einem Unwürdigen wie ihm herablassen sollte. »Wenn wir Gott in der Rolle des Dienenden sehen, so verwirrt uns das.«
13,7 Jesus erklärte Petrus nun, dass sein Tun eine geistliche Bedeutung hatte. Die Fußwaschung ist ein Bild für eine bestimmte Art der geistlichen Waschung. Petrus wusste, dass der Herr die äußerliche Handlung vollzog, doch er »wusste nicht« um ihre geistliche Bedeutung. Er würde es jedoch »nachher verstehen«, weil der Herr es ihm erklärte. Und später würde er es aufgrund eigener Erfahrung verstehen lernen, wenn er nach der Verleugnung des Herrn wiederhergestellt werden würde.
13,8 Petrus zeigt uns die Extreme der menschlichen Natur. Zunächst schwört er, dass der Herr »nimmermehr« seine »Füße waschen« sollte – wobei man das Wort »nimmermehr« wörtlich mit »nicht in Ewigkeit« übersetzen kann. Der Herr antwortete nun, dass Petrus ohne eine solche Waschung keine Gemeinschaft mit ihm haben könne. Hier wird nun die Bedeutung der Fußwaschung entfaltet. Wenn Christen in dieser Welt leben, dann ziehen sie sich immer wieder gewisse Verunreinigungen zu. Man hört ein anstößiges Gespräch, sieht ungöttliche Dinge und arbeitet mit gottlosen Menschen zusammen – das alles verunreinigt den Gläubigen unausweichlich. Er braucht immer wieder Reinigung. Diese Reinigung geschieht durch das Wasser des Wortes. Wenn wir die Bibel lesen und studieren, wenn wir Predigten hören und uns gemeinsam darüber austauschen, merken wir, dass das Wort Gottes uns von den bösen Einflüssen um uns her reinigt. Auf der anderen Seite können die bösen Einflüsse, wenn wir die Bibel vernachlässigen, in unserem Gedächtnis und Leben Fuß fassen, ohne dass wir uns größere Sorgen darum machen. Als Jesus sagte: »… so hast du kein Teil mit mir«, meinte er damit nicht, dass Petrus nur dann gerettet werden könne, wenn er von ihm gewaschen würde. Vielmehr bedeutete dies, dass die Gemeinschaft mit dem Herrn nur durch die ständige Reinigungskraft der Schrift in seinem Leben aufrechterhalten werden kann.
13,9.10 Nun verfiel Petrus ins andere Extrem. Noch vor einer Minute hatte er »nimmermehr« gesagt. Nun bittet er: »Wasche mich bitte völlig!« Auf dem Weg vom öffentlichen Bad nach Hause wurden die Füße eines Menschen wieder schmutzig. Er brauchte nicht nochmals zu baden, sondern musste sich nur die Füße waschen lassen. »Wer gebadet ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen die Füße, sondern ist ganz rein.« Es gibt einen Unterschied zwischen dem Bad und dem Waschbecken. Das Bad spricht von der Reinigung, die man bei seiner Errettung erfährt. Die Reinigung von der Strafe für die Sünde durch das Blut Christi findet nur einmal statt. Das Waschbecken aber zeugt davon, dass durch Sünden verursachte Verunreinigungen beseitigt werden können. Dies muss ständig durch das Wort Gottes geschehen. Es gibt nur ein Bad, aber viele Fußwaschungen. »Ihr seid rein, aber nicht alle«. Das bedeutet, dass die Jünger das Bad der Wiedergeburt empfangen hatten – d. h. alle Jünger außer Judas. Er war nie gerettet worden.
13,11 Da der Herr alles wusste, war ihm auch bekannt, dass Judas »ihn überliefern« würde. Daher spielte er mit dieser Bemerkung auf denjenigen an, der das Bad der Wiedergeburt nie empfangen hatte.
I. Jesus lehrt seine Jünger, seinem Beispiel zu folgen (13,12-20)
13,12 Es scheint so, dass Jesus die »Füße« aller Jünger »gewaschen« hat. Dann legte er »seine Oberkleider« wieder an und »legte sich wieder zu Tisch«, um die geistliche Bedeutung dessen, was er getan hatte, zu erklären. Er begann das Gespräch, indem er eine Frage stellte. Die Fragen des Heilands sind ein interessanter Gegenstand für das Bibelstudium. Sie gehören zu seinen besten Lehrmethoden.
13,13.14 Die Jünger hatten anerkannt, dass Jesus ihr »Lehrer und Herr« war, und damit hatten sie recht. Doch sein Beispiel zeigte, dass der höchste Rang im Reich Gottes der Rang eines Dieners ist. »Wenn … der Herr und Lehrer« den Jüngern die »Füße gewaschen« hatte, welche Ausrede hatten sie da noch, einander nicht die Füße zu waschen? Meinte der Herr, dass sie einander im wörtlichen Sinne die Füße mit Wasser waschen sollten?43 Wollte er hier eine kirchliche Zeremonie einführen? Nein, die Bedeutung seiner Handlung war geistlicher Art. Er wollte ihnen sagen, dass sie einander rein erhalten sollten, indem sie ständige geistliche Gemeinschaft pflegen sollten. Wenn man sieht, dass der Bruder geistlich erkaltet oder zunehmend weltlich gesinnt ist, sollte man ihn in Liebe mit der Bibel ermahnen.
13,15.16 Der Herr hatte ihnen »ein Beispiel« gegeben, ein Musterbeispiel dafür, was sie einander in geistlicher Hinsicht tun sollten.
Wenn Stolz oder persönliche Feindseligkeit uns davon abhalten, unseren Geschwistern zu dienen, sollten wir uns daran erinnern, dass wir »nicht größer« als unser Herr sind. Er erniedrigte sich selbst, um die Füße derjenigen zu waschen, die unwürdig und undankbar waren. Dabei wusste er, dass einer von ihnen ihn sogar verraten würde. Würden Sie jemandem auf diese Weise dienen, wenn Sie wüssten, dass er bald hingehen und Sie für ein bisschen Geld verraten würde? Diejenigen, die »gesandt« sind (die Jünger), sollten es nicht als unter ihrer Würde ansehen, etwas zu tun, das derjenige, der sie ausgesandt hat (der Herr Jesus), auch getan hat.
13,17 Diese Wahrheiten über Demut und Selbstlosigkeit zu »wissen«, ist das eine, aber man kann sie kennen und doch nie anwenden. Wirklich wertvoll und segensreich werden sie erst, wenn man sie »tut«.
13,18 Was der Herr gerade eben über den Dienst gelehrt hatte, bezog sich »nicht« auf Judas. Er war keiner von denen, die der Herr mit dem Evangelium in die Welt senden würde. Jesus wusste, dass die Schrift – wie etwa Psalm 41,10 – bezüglich seines Verrats »erfüllt« werden musste. Judas hatte drei Jahre mit dem Herrn zusammen gegessen, und doch hat er »seine Ferse gegen« ihn »aufgehoben« – ein Ausdruck, der den Verrat bezeichnet. In Psalm 41 wird der Verräter vom Herrn sogar als »mein Freund, auf den ich vertraute«, bezeichnet.
13,19 Der Herr offenbarte seinen Jüngern vorher, dass er verraten werden würde, sodass die Jünger wüssten, dass Jesus wirklich Gott war, »wenn es geschieht«. Das Wort »es« am Ende des Satzes kann ausgelassen werden. »Damit ihr glaubt, dass Ich bin.« Der Jesus des NT ist mit dem Jahwe des AT identisch. Deshalb ist die erfüllte Prophetie einer der besten Beweise der Göttlichkeit Christi und auch, so können wir hinzufügen, ein Beweis für die Inspiration der Schrift.
13,20 Unser Herr wusste, dass der Verrat die anderen Jünger zu Fall bringen oder in Zweifel stürzen konnte. So fügt er hier noch dieses Wort der Ermutigung hinzu. Sie sollten sich immer daran erinnern, dass sie einen göttlichen Auftrag hatten. Sie würden so sehr mit Jesus identifiziert werden, dass derjenige, der sie aufnahm, auch ihn aufnahm. Auch gilt, dass diejenigen, die Christus annahmen, auch Gott den Vater angenommen haben. Auf diese Weise sollte ihnen durch die enge Verbindung mit Gott dem Sohn und Gott dem Vater Mut zugesprochen werden.
J. Jesus sagt den Verrat durch Judas voraus (13,21-30)
13,21.22 Das Wissen, dass einer seiner Jünger ihn verraten würde, »erschüttert e« Jesus sehr. Es scheint so, als wollte Jesus hier dem Verräter eine letzte Gelegenheit geben, seinen bösen Plan fallen zu lassen. Ohne ihn direkt bloßzustellen, enthüllte der Herr sein Wissen, dass »einer von« den Zwölfen ihn »überliefern« würde. Doch selbst diese Aussage konnte den Entschluss des Verräters nicht mehr erschüttern.
Der Rest der Jünger verdächtigte Judas nicht. Sie waren überrascht, dass einer von ihnen so etwas tun könnte, und rätselten, wer es sein könnte.
13,23 Zur Zeit Jesu saßen die Menschen beim Essen nicht auf Stühlen an Tischen, sondern legten sich auf niedrige Sofas. Der Jünger, »den Jesus liebte«, war Johannes, der Schreiber dieses Evangeliums. Er unterließ es, seinen Namen zu nennen. Dennoch zögert er nicht, die Tatsache zu erwähnen, dass er einen besonderen Platz im Herzen des Heilands einnahm. Der Herr liebte alle Jünger, doch Johannes stand ihm besonders nahe.
13,24.25 Petrus »winkte« diesem nun, wahrscheinlich sprach er dabei nicht hörbar. Vielleicht bat er Johannes nur durch ein Nicken, den Namen des Verräters herauszufinden. Johannes »lehnte sich an die Brust Jesu« und stellte flüsternd die schicksalsschwere Frage, die wahrscheinlich ebenso flüsternd beantwortet wurde.
13,26 »Jesus antwortete«, dass er dem Verräter einen »eingetauchten Bissen« geben werde (wahrscheinlich in Wein oder Fleischsaft eingetaucht). Einige Ausleger sagen, dass ein orientalischer Gastgeber einem besonders geehrten Gast beim Mahl das Brot reichte. Indem er Judas zum Ehrengast erhob, versuchte der Herr, ihn durch seine Gnade und Liebe zur Buße zu gewinnen. Andere sind der Meinung, dass beim Passah das Brot allgemein auf diese Weise weitergereicht wurde. Wenn das stimmt, dann verließ Judas während des Passah noch vor der Einsetzung des Herrenmahls den Saal.
13,27 Satan hatte Judas schon eingegeben, den Herrn zu verraten. Nun »fuhr der Satan in ihn«. Zunächst machte Satan nur einen Vorschlag. Doch Judas gefiel der Vorschlag, er erwog ihn und stimmte ihm schließlich zu. Deshalb übernahm nun Satan die Kontrolle über ihn. Da der Herr wusste, dass der Verräter nun zum Handeln entschlossen war, sagte er ihm, dass er »schnell« handeln solle. Offensichtlich ermutigte er ihn nicht, Böses zu tun, sondern drückte damit vielmehr traurige Resignation aus.
13,28.29 Dieser Vers bestätigt, dass das vorangegangene Gespräch zwischen Jesus und Johannes über das Brot von den anderen Jüngern nicht gehört worden war. Sie wussten immer noch nicht, dass Judas ihren Herrn verraten würde. »Einige meinten«, dass Jesus Judas einfach nur gesagt hatte, schnell noch etwas »für das Fest« zu kaufen. Oder sie meinten, dass Jesus Judas beauftragt hatte, »den Armen« eine Spende zu geben, weil Judas die Kasse der Jünger verwaltete.
13,30 Judas nahm »den Bissen« als Zeichen der besonderen Aufmerksamkeit Jesu an und verließ dann die Gemeinschaft des Herrn sowie der anderen Jünger. Die Schrift fügt hier die bedeutungsvollen Worte an: »Es war aber Nacht.« Es war nicht nur im wörtlichen Sinne Nacht, sondern für Judas war es auch in geistlicher Hinsicht Nacht – eine Nacht der Finsternis und der Zerknirschtheit, die niemals enden würde. Es ist immer Nacht, wenn Menschen dem Heiland den Rücken kehren.
K. Das neue Gebot (13,31-35)
13,31 Sobald Judas gegangen war, fing Jesus an, offener und vertrauter zu reden. Die Spannung war verflogen. »Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht«, sagte er. Der Herr schaute auf das Erlösungswerk, das er nun bald vollenden würde. Sein Tod mag wie eine Niederlage erschienen sein, doch er war das alleinige Mittel, wodurch verlorene Sünder gerettet werden konnten. Auf seinen Tod folgten die Auferstehung sowie Himmelfahrt, und durch alles wurde er außerordentlich geehrt. »Und Gott ist verherrlicht« im Werk des Heilands. Damit wurde er als heiliger Gott verkündigt, der die Sünde nicht einfach hinnehmen konnte, doch auch als liebender Gott, der den Tod des Sünders nicht will. Dieses Werk verkündigte Gott auch als gerechten Gott, der dennoch imstande ist, Sünder zu rechtfertigen. Auf Golgatha wurde jede Eigenschaft Gottes in außerordentlicher Weise verherrlicht.
13,32 »Wenn Gott verherrlicht ist in ihm«, und das ist der Fall,44 »so wird auch Gott ihn verherrlichen in sich selbst«. Gott achtet darauf, dass seinem Sohn die ihm gebührende Ehre entgegengebracht wird. »Und er wird ihn sogleich verherrlichen« – ohne Verzögerung. Gott der Vater erfüllte diese Vorhersage des Herrn Jesus, als er ihn aus den Toten auferweckte und ihm den Platz zu seiner Rechten im Himmel gab. Gott wollte nicht warten, bis das Reich Gottes sichtbar aufgerichtet werden würde. Er wollte seinen Sohn »sogleich verherrlichen«.
13,33 Zum ersten Mal nennt der Herr Jesus seine Jünger »Kinder« – ein Kosename. Und er verwendete ihn erst, nachdem Judas gegangen war. Er würde nur »noch eine kleine Weile« bei ihnen sein. Dann würde er am Kreuz sterben. Sie würden ihn dann »suchen«, doch wären sie nicht in der Lage, ihm zu folgen, denn er würde in den Himmel zurückkehren. Der Herr hatte das Gleiche »den Juden« auch gesagt, doch meinte er es hier in einem anderen Sinn. Für die Jünger würde er nur zeitweilig weggehen. Er würde wieder zu ihnen kommen (Kap. 14). Aber »die Juden« würde er endgültig verl assen. Er würde in den Himmel zu rückkehren, und sie würden ihm wegen ihres Ung laubens nicht dorthin folgen können.
13,34 Während seiner Abwesenheit sollten sich die Jünger durch das »Gebot« der Liebe bestimmen lassen. Dieses Gebot war zu diesem Zeitpunkt nicht neu, denn die Zehn Gebote lehren, Gott und den Nächsten zu lieben. Doch dieses Gebot war auf andere Weise »neu«. Es war »neu«, weil der Heilige Geist den Gläubigen die Fähigkeit schenken würde, ihm zu gehorchen. Es war »neu« in dem Sinne, dass es dem alten überlegen war. Das alte Gebot sagte: »Liebe deinen Nächsten.« Das neue Gebot sagte: »Liebe deine Feinde.« Jemand hat einmal treffend gesagt, dass das Gesetz, den anderen zu lieben, nun mit neuer Klarheit ausgelegt, durch eine neue Motivation und neue Verpflichtungen verstärkt, durch ein neues Beispiel veranschaulicht und ihm auf neue Weise gehorcht wird.
Wie es in diesem Vers erklärt wird, ist es auch neu im Sinne einer höheren Ebene der Liebe: »… wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt.«
13,35 Das sichtbare Zeichen christlicher Jüngerschaft ist nicht ein am Hals oder am Revers getragenes Kreuz oder sonst eine besondere Art der Kleidung. Jeder könnte auf diese Art behaupten, ein Christ zu sein. Das wahre Kennzeichen des Christen ist seine Liebe zu seinen Mitchristen. Das erfordert göttliche Kraft, und diese Kraft wird nur denen gegeben, die den Heiligen Geist haben. L. Jesus kündigt die Verleugnung durch Petrus an (13,36-38)
13,36 »Simon Petrus« verstand nicht, dass Jesus von seinem Tod gesprochen hatte. Er war der Meinung, dass Jesus eine Reise unternehmen wolle, und verstand nicht, warum er nicht mitkommen könne. Der Herr erklärte Petrus, dass er ihm wirklich einmal »folgen« würde (d. h. wenn er sterben würde), dass es jedoch jetzt nicht möglich sei.
13,37 Mit seiner typischen Hingabe und Begeisterung gibt Petrus nun seiner Bereitschaft Ausdruck, für den Herrn zu sterben. Er war der Ansicht, aus eigener Kraft das Martyrium ertragen zu können. Später starb er wirklich für den Herrn, doch nur deshalb, weil ihm dazu von Gott spezielle Kraft und besonderer Mut gegeben worden waren.
13,38 Jesus erprobt den »unwissenden Eifer« des Petrus, indem er Petrus mitteilt, was er nicht wissen konnte, nämlich die Tatsache, dass er den Herrn »dreimal« verleugnen würde, ehe diese Nacht vorbei war. So wurde Petrus an seine Schwäche und Feigheit und daran erinnert, dass er aus eigener Kraft nicht imstande war, dem Herrn auch nur wenige Stunden zu folgen.
M. Jesus: Der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,1-14)
14,1  Einige  Ausleger  verbinden  V. 1  mit dem letzten Vers von Kapitel 13 in der Annahme, dass V. 1 zunächst Petrus galt. Obwohl er den Herrn verleugnen würde, gab es hier ein trostreiches Wort für ihn. Doch die Pluralformen im Griechischen (»ihr«) lassen erkennen, dass der Vers an alle Jünger gerichtet war. Daher sollten wir nach Kapitel 13 innehalten. Der Gedanke  in  V. 1  scheint  zu  sein:  »Ich  gehe weg, und ihr werdet mich nicht mehr sehen können. Doch zuvor heißt es: ‹Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubt an Gott‹, und doch seht ihr ihn nicht. Deshalb ›glaubt‹ in der gleichen Weise ›auch an mich‹«. Wieder haben wir hier eine wichtige Stelle, wo Jesus den Anspruch erhebt, Gott gleich zu sein.
14,2 Der Ausdruck »Haus meines Vaters« bezieht sich auf den Himmel, in dem es »viele Wohnungen« gibt. Dort ist Platz für alle Erlösten. »Wenn es nicht so wäre«, würde der Herr es »gesagt haben«, denn er wollte nicht, dass sie falsche Hoffnungen hegten. Der Satz: »Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten«, kann zweierlei Bedeutung haben. Der Herr Jesus ging nach Golgatha, um den Seinen »eine Stätte zu bereiten«. Durch seinen stellvertretenden Tod können sich die Gläubigen sicher sein, dass sie im Himmel eine Heimat haben. Doch der Herr ging auch zurück in den Himmel, um dort »eine Stätte zu bereiten«. Obwohl uns über diesen Ort nicht sehr viel bekannt ist, wissen wir, dass für jedes Kind Gottes dort Vorbereitungen getroffen werden – »eine bereitete Stätte für ein bereitetes Volk«!
14,3 Vers 3 bezieht sich auf die Zeit der Wiederkunft des Herrn in der Luft, wenn diejenigen auferstehen werden, die im Glauben gestorben sind, und die lebenden Gläubigen verwandelt werden. Dann werden alle, die durch sein Blut erkauft sind, in den Himmel heimgeholt werden. (1. Thess  4,13-18;  1. Kor  15,51-58).  Das ist das persönliche Kommen Christi im wörtlichen Sinne. So sicher, wie er wegging, so wird er auch wiederkommen. Sein Verlangen ist es, die Seinen für alle Ewigkeit bei sich zu haben.
14,4.5 Er würde in den Himmel gehen, und sie kannten diesen »Weg«, denn er hatte ihnen gegenüber sehr oft darüber gesprochen.
Offensichtlich verstand Thomas die Worte des Herrn nicht. Wie Petrus dachte er wohl an eine Reise an einen Ort auf der Erde.
14,6 Dieser wunderbare Vers macht deutlich, dass der Herr Jesus Christus selbst »der Weg« zum Himmel ist. Er zeigt den Weg nicht nur, er ist der Weg. Die Erlösung liegt in einer Person. Wer diese Person annimmt, der hat gleichzeitig die Erlösung. Wahres Christentum bedeutet Christus. Der Herr Jesus ist nicht einfach einer von vielen Wegen. Er ist der einzige Weg. »Niemand kommt zum Vater als nur durch« ihn. Der Weg zu Gott führt weder über die Zehn Gebote noch über die goldene Regel, die Sakramente oder die Kirchenmitgliedschaft – der einzige Weg zu Gott ist Christus und Christus allein. Heute sagen viele, dass es nicht wichtig ist, was man glaubt, solange man es ehrlich meint. Sie sagen, dass sich in allen Religionen das Gute findet und sie schließlich alle in den Himmel führen. Doch Jesus hat gesagt: »Niemand kommt zum Vater als nur durch mich.« Außerdem ist der Herr »die Wahrheit«. Er ist nicht einer, der die Wahrheit lehrt, sondern er selbst ist die Wahrheit. Er ist die menschgewordene Wahrheit. Wer Christus hat, der hat die Wahrheit. Sie ist nirgendwo anders zu finden. Christus ist »das Leben«. Er ist die Quelle des Lebens, sowohl in geistlicher als auch in ewiger Hinsicht. Wer ihn annimmt, hat ewiges Leben, weil er das Leben ist.
14,7 Und wieder lehrte der Herr die geheimnisvolle Einheit zwischen seinem Vater und sich selbst. Wenn die Jünger wirklich erkannt hätten, wer Jesus war, hätten sie auch seinen »Vater erkannt«, weil der Herr den Menschen den Vater offenbarte. »Von jetzt an« und insbesondere nach der Auferstehung Jesu würden die Jünger verstehen, dass Jesus Gott der Sohn ist. Dann würden sie erkennen, dass Christuserkenntnis bedeutet, auch den Vater zu kennen. Demnach gilt ebenso: Wer den Herr Jesus sieht, der sieht Gott. Dieser Vers lehrt nicht, dass Gott und der Herr Jesus dieselbe Person sind. Gott ist eine Dreieinheit – drei eigenständige Personen, aber nur ein Gott.
14,8 Philippus bat den Herrn um eine besondere Offenbarung des Vaters, und das hätte ihm genügt. Er verstand nicht, dass alles, was der Herr war, tat und sagte, eine Offenbarung des Vaters war.
14,9 Jesus korrigierte ihn geduldig. Philippus war »lange« mit Jesus zusammen gewesen. Er war einer der ersten Jünger, die Jesus berief (Joh 1,43). Doch die volle Wahrheit der Göttlichkeit Christi und seine Einheit mit dem Vater waren ihm noch nicht aufgegangen. Er wusste nicht, dass er, sobald er auf Jesus blickte, den Einen sah, der den Vater vollkommen widerspiegelte.
14,10.11 Diese Worte (»Ich bin in dem Vater und der Vater ist in mir«) beschreiben die enge Beziehung der Einheit zwischen Vater und Sohn. Sie sind zwar eigenständige Personen, doch in ihren Eigenschaften und ihrem Willen sind sie völlig gleich. Wir sollten nicht entmutigt sein, wenn wir das nicht ganz verstehen. Kein sterblicher Geist hat Gott je wirklich verstehen können. Gott weiß Tatsachen, die wir nie wissen können. Wenn wir ihn ganz verstehen könnten, dann wären wir so groß wie er! Jesus hatte die Macht, die Worte Gottes zu reden und Wunder zu tun, doch er kam als Knecht Jahwes in diese Welt, indem er im vollkommenen Gehorsam dem Vater gegenüber sprach und handelte.
Die Jünger sollten glauben, dass er mit dem Vater eins sei, weil Jesus davon Zeugnis abgelegt hatte. Doch wenn das nicht ausreichte, dann sollten sie wenigstens um seiner Werke willen glauben.
14,12 Der Herr sagte voraus, dass diejenigen, die an ihn glauben, die Wunder tun würden, die auch er getan hatte, und sogar noch »größere als diese«. In der Apostelgeschichte lesen wir, wie die Jünger Heilungswunder ähnlich wie Jesus taten. Doch wir lesen auch von größeren Wundern – wie der Bekehrung von dreitausend Menschen am Pfingsttag. Zweifellos gehört zu dem, was der Herr mit dem Ausdruck »größere Werke« bezeichnete, auch die weltweite Verkündigung des Evangeliums, die Rettung so vieler Menschen und der Bau der Gemeinde. Es ist ein »größeres Werk«, Menschen zu retten, als nur ihren Leib zu heilen. Als der Herr in den Himmel zurückkehrte, wurde er verherrlicht, und der Heilige Geist wurde auf die Erde gesandt. Durch die Macht des Heiligen Geistes vollführten die Apostel die größeren Wunder.
14,13 Welch ein Trost muss für die Jünger das Wissen gewesen sein, dass sie in Jesu Namen zum Vater beten konnten und er ihre Bitten annehmen würde, auch wenn der Herr Jesus sie bald verlassen würde. Dieser Vers bedeutet nicht, dass der Gläubige von Gott alles bekommt, was er sich wünscht. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Verheißung liegt in den Worten »in meinem Namen« – »was immer ihr bitten werdet in meinem Namen«. In Jesu Namen zu beten, bedeutet nicht, dass man seinen Namen am Ende des Gebets nennt. Es geht darum, in Übereinstimmung mit seinem Geist und seinem Willen zu bitten. Es geht dar um, um etwas zu bitten, das Gott verherrlicht, ein Segen für die Menschheit ist und unserem eigenen geistlichen Wohlergehen dient. Um in Christi Namen zu bitten, müssen wir in enger Gemeinschaft mit ihm leben. Anderenfalls kennen wir seinen Willen nicht. Je mehr wir in seiner Nähe leben, desto mehr werden unsere Wünsche mit seinem Verlangen übereinstimmen. »Der Vater« wird »im Sohn verherrlicht«, weil der Sohn nur das begehrt, was Gott gefällt. Wenn Gebete dieser Art vorgebracht und erfüllt werden, dann wird Gott sehr geehrt.
14,14 Die Verheißung wird durch die Wiederholung unterstrichen und ist dadurch eine große Ermutigung für das Volk Gottes. Leben Sie immer in Gottes Willen, leben Sie in der Gemeinschaft mit dem Herrn, bitten Sie um etwas, das dem Herrn gefällt, und Ihre Gebete werden erhört werden.
N. Die Verheißung eines anderen Beistandes (14,15-26)
14,15 Der Herr Jesus würde nun bald seine Jünger verlassen, und sie würden Leid tragen. Wie würden sie dann ihre Liebe zu ihm zum Ausdruck bringen? Indem sie seine »Gebote« halten, lautet die Antwort. Nicht durch Tränen, sondern durch Gehorsam. Die »Gebote« des Herrn sind die Anweisungen, die uns in den Evangelien, aber auch im restlichen NT gegeben werden.
14,16 Das Wort, das hier mit »bitten« übersetzt ist, entspricht nicht dem Wort, das benutzt wird, um die Bitte eines Untergebenen gegenüber seinem Vorgesetzten zu bezeichnen. Vielmehr geht es um eine Bitte an einen Gleichgestellten. Der Herr würde seinen »Vater bitten, … einen anderen Beistand« zu senden. Mit dem Wort »Beistand« (Paraklet) ist jemand gemeint, der an die Seite eines anderen berufen wird, um ihm zu helfen. Dieses Wort wird auch mit »Fürsprecher«  übersetzt  (1. Joh  2,1).  Der  Herr  Jesus ist unser Fürsprecher oder Beistand, und der Heilige Geist ist »ein anderer Beistand« – kein andersgearteter, sondern ein weiterer der gleichen Art. Der Heilige Geist bleibt »in Ewigkeit« bei den Gläubigen. Im AT kam zu verschiedenen Zeiten der Geist auf bestimmte Menschen, doch er verließ sie meist wieder. Nun sollte er kommen, um in »Ewigkeit« zu bleiben.
14,17 Der Heilige Geist wird »Geist der Wahrheit« genannt, weil seine Lehre wahr ist und er Christus verherrlicht, der die Wahrheit ist. »Die Welt kann« den Heiligen Geist »nicht empfangen«, weil sie ihn nicht sehen kann. Ungläubige wollen sehen, ehe sie glauben – auch wenn sie an den Wind und an die Elektrizität glauben, die sie auch nicht sehen können. Die Unerretteten können den Heiligen Geist weder erkennen noch verstehen. Er kann sie von der Sünde überführen, und es kann dennoch sein, dass sie sein Wirken an ihnen nicht erkennen. Die Jünger kannten den Heiligen Geist. Sie hatten erkannt, dass er in ihrem eigenen Leben am Werk war, und sein Wirken durch den Herrn Jesus gesehen.
»Er bleibt bei euch und wird in euch sein.« Vor Pfingsten kam der Heilige Geist und blieb »bei« den Menschen. Aber seit Pfingsten nimmt der Geist in den Menschen, die an den Herrn Jesus glauben, für immer Wohnung. Das entsprechende Gebet Davids (»Nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir«) ist heute nicht mehr angebracht. Der Heilige Geist wird keinem Gläubigen mehr genommen, auch wenn er betrübt, behindert oder unterdrückt werden kann.
14,18 Der Herr wollte seine Jünger nicht »verwaist zurücklassen«. Er würde wieder zu ihnen kommen. In gewissem Sinne kam er nach seiner Auferstehung wieder zu ihnen, doch ist es sehr zweifelhaft, ob das hier gemeint ist. In einem anderen Sinne kam er zu Pfingsten in der Gestalt des Heiligen Geistes zu ihnen. Dieses geistliche Kommen ist hier gemeint. »Pfingsten war gewissermaßen ein Kommen Jesu«. In einem dritten Sinne wird er am Ende dieses Zeitalters wieder zu seinen Jüngern kommen, wenn er seine Auserwählten nach Hause in den Himmel holen wird.
14,19 Kein Ungläubiger sah den Herrn Jesus nach seiner Grablegung. Nachdem er auferstanden war, wurde er nur von denen gesehen, die ihn liebten. Doch sogar nach seiner Himmelfahrt sahen ihn die Jünger noch immer im Glauben. Das ist zweifellos mit den Worten gemeint: »Ihr aber seht mich.« Nachdem die Welt ihn nicht mehr sehen konnte, sollten seine Jünger ihn weiterhin sehen können. »Weil ich lebe, werdet auch ihr leben.« Hier schaut Jesus in die Zukunft auf den Tag der Auferstehung zum Leben. Das war die Verheißung des Lebens für alle, die auf ihn vertrauen. Selbst wenn sie sterben sollten, würden sie auferweckt werden, um nie wieder den Tod zu sehen.
14,20 »An jenem Tag« bezieht sich wahrscheinlich auf das Kommen des Heiligen Geistes. Er sollte die Gläubigen in der Wahrheit unterweisen, damit es so, wie es ein besonderes Band zwischen dem Sohn und dem Vater gibt, auch eine wunderbare Einheit des Lebens und der Anliegen zwischen Christus und seinen Heiligen geben soll. Es ist schwierig zu erklären, wie Christus in einem Gläubigen wohnt und der Gläubige gleichzeitig in Christus ist. Das übliche Bild dafür ist ein Scheit im Feuer. Das Scheit ist im Feuer, doch das Feuer ist auch im Scheit.45 Doch dieses Bild gibt die Wahrheit nur unvollkommen wieder. Christus wohnt im Gläubigen in dem Sinne, dass Jesu Leben auf ihn übertragen wird. Er wohnt durch den Heiligen Geist in uns. Der Gläubige ist in Christus in dem Sinne, dass er vor Gott in alle Verdienste der Person und des Werkes Jesu Christi eingehüllt steht.
14,21 Der wirkliche Beweis der Liebe zum Herrn ist Gehorsam gegenüber seinen »Geboten«. Es ist nutzlos, von Liebe gegenüber Gott zu reden, wenn wir ihm nicht gehorchen wollen. In gewisser Weise liebt der Vater die gesamte Welt. Doch er hat eine besondere Liebe für diejenigen, die seinen Sohn lieben. Je mehr wir den Erlöser lieben, desto besser lernen wir ihn kennen.
14,22 Der Judas, der hier erwähnt wird, hatte das Unglück, denselben Namen zu tragen wie der Verräter. Doch der Geist Gottes war so freundlich, ihn von Judas »Iskariot« zu unterscheiden. Er konnte nicht verstehen, wie der Herr den Jüngern erscheinen könnte, ohne auch von »der Welt« gesehen zu werden. Zweifellos dachte er, dass Christus als erobernder König oder Volksheld wiederkommen würde. Er verstand nicht, dass der Herr sich den Seinen auf geistliche Weise »offenbaren« würde. Sie würden ihn im Wort Gottes durch den Glauben sehen können.
Durch den Geist Gottes können wir Christus heute sogar besser kennenlernen, als die Jünger es konnten, während er noch auf der Erde lebte. Als er hier war, war er denen in der ersten Reihe der Volksmenge näher als denen, die weiter hinten standen. Doch heute kann jeder von uns im Glauben die engste Gemeinschaft mit Jesus haben. Die Antwort Jesu auf die Frage des Judas zeigt, dass die verheißene Offenbarung seinen Jüngern gegenüber in Verbindung mit dem Wort Gottes geschieht. Gehorsam gegenüber dem Wort führt dazu, dass der Sohn und der Vater zu dem Betreffenden kommen und Wohnung bei ihm machen.
14,23 Wenn ein Mensch wirklich den Herrn »liebt«, wird er alle seine Lehren »halten« wollen, nicht nur einzelne Gebote. Der Vater liebt diejenigen, die gewillt sind, seinem Sohn zu gehorchen, ohne etwas infrage zu stellen oder Vorbehalte zu haben. Sowohl der Vater als auch der Sohn sind solchen liebenden und gehorsamen Herzen besonders nahe.
14,24 Auf der anderen Seite werden diejenigen, die ihn nicht lieben, seine Worte »nicht halten«. Und sie werden nicht nur die Worte Christi, sondern damit auch den Vater ablehnen.
14,25 Als der Herr bei ihnen war, lehrte er sie bis zu einem gewissen Punkt. Er konnte sie keine weiteren Wahrheiten lehren, weil sie nicht imstande waren, diese zu verstehen.
14,26 Doch der »Heilige Geist« würde mehr offenbaren. Er wurde zu Pfingsten vom Vater im »Namen« Jesu gesandt. Der Geist kam in Christi Namen in dem Sinne, dass er die Interessen Christi auf Erden vertritt. Er kam nicht, um sich selbst zu verherrlichen, sondern um Menschen zum Heiland zu ziehen. »Der wird euch alles lehren«, sagte der Herr. Er tat dies in erster Linie durch den mündlichen Dienst der Apostel, dann aber auch durch das geschriebene Wort Gottes, das wir heute haben. Der Heilige Geist »erinnerte« die Jünger an alle Lehren des Heilands. Hier scheint der Herr Jesus den Samen für die Lehre gelegt zu haben, die durch den Heiligen Geist im NT entfaltet wird. O. Jesus hinterlässt seinen Jüngern seinen Frieden (14,27-31)
14,27 Ein Mensch, der bald stirbt, verfasst normalerweise ein Testament, in welchem er seinen Besitz seinen Lieben hinterlässt. Genau das tut der Herr Jesus hier. Doch er hat den Jüngern nichts Materielles hinterlassen, sondern etwas, das man für Geld nicht kaufen kann – »Frieden«, inneren Frieden für das Gewissen, der aus dem Bewusstsein der vergebenen Sünde und der Versöhnung mit Gott entsteht. Christus kann ihn geben, weil er ihn auf Golgatha mit seinem Blut erkauft hat. Dieser Friede wird nicht gegeben, »wie die Welt gibt« – sparsam, selbstsüchtig und zeitweilig. Jesu Geschenk des Friedens gilt für immer. Warum sollte dann ein Christ »bestürzt« oder »furchtsam« sein?
14,28 Jesus hatte den Jüngern schon gesagt, dass er sie verlassen und dann später wiederkommen würde, um sie mit sich in die himmlische Heimat zu nehmen. »Wenn« sie ihn liebten, dann würde diese Ankündigung sie »freuen«. Natürlich liebten sie Jesus in gewissem Sinne. Doch sie erkannten nicht völlig, wer er war, und deshalb war ihre Liebe nicht so groß, wie sie hätte sein sollen. »Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich.« Zunächst scheint dieser Vers allem zu widersprechen, was Jesus bisher über seine Gottgleichheit gelehrt hat. Doch gibt es keinen Widerspruch, und der Zusammenhang erklärt die Bedeutung. Als Jesus auf der Erde war, wurde er gehasst und gejagt, verfolgt und geschunden. Die Menschen lästerten und verachteten ihn, und sie spuckten ihn sogar an. Von seinen eigenen Geschöpfen erduldete er schreckliche Demütigungen.
Gott der Vater hatte eine solche Behandlung durch die Menschen nie ertragen müssen. Er blieb im Himmel, weit weg von der Bosheit der Sünder. Als der Herr Jesus in den Himmel zurückkehrte, kehrte er an einen Ort ohne Demütigungen zurück. Deshalb sollten sich die Jünger freuen, als Jesus sagte, dass er »zum Vater« gehe, weil in diesem Sinne der Vater »größer« als er selbst war. Als Gott war der Vater nicht größer, doch er war größer, weil er nie als Mensch in die Welt kam, um dort erniedrigt zu werden. Soweit es um die Eigenschaften der Göttlichkeit geht, sind der Sohn und der Vater gleich. Doch wenn wir an die niedrige Stellung denken, die der Herr Jesus als Mensch hier auf Erden einnahm, erkennen wir, dass in diesem Sinne Gott der Vater »größer« war als er. Er war in seiner Stellung größer, nicht als Person.
14,29 In selbstloser Sorge für seine ängstlichen Jünger enthüllt ihnen der Herr diese zukünftigen Ereignisse, damit sie weder entmutigt oder ängstlich würden noch Anstoß nähmen, sondern damit sie »glauben«.
14,30 Der Herr wusste, dass der Zeitpunkt, zu dem er verraten werden würde, nun nahe war und er nicht mehr sehr viel Zeit hatte, um mit den Seinen zu »reden«. Satan nahte, doch der Heiland wusste, dass der Feind an ihm keinen Makel der Sünde finden konnte. In Christus gab es nichts, das auf die bösen Versuchungen Satans reagiert hätte. Es wäre lächerlich, wollte man von irgendjemandem außer Jesus sagen, dass Satan an ihm »nichts« habe.
14,31 Mit anderen Worten können wir diesen Vers wie folgt wiedergeben: »Die Zeit des Verrats ist nahe. Ich werde freiwillig ans Kreuz gehen. Das ist der Wille des Vaters für mich. Das wird der Welt zeigen, wie sehr ich ›den Vater liebe‹. Deshalb gehe ich nun ohne Widerstand.« Damit bat der Herr die Jünger, sich zu erheben und mit ihm fortzugehen. Es ist nicht eindeutig, ob sie an diesem Punkt den Obersaal verließen. Vielleicht fand der Rest dieses Gespräches auf dem Weg statt.
P. Jesus, der wahre Weinstock (15,1-11)
15,1 Im AT wird das Volk Israel durch einen Weinstock versinnbildlicht, der von Jahwe gepflanzt worden ist. Doch das Volk erwies sich als untreu und unfruchtbar, sodass der Herr Jesus sich selbst hier als den »wahren Weinstock« vorstellt, der die vollkommene Erfüllung aller anderen Vorbilder und Vorschattungen ist. Gott der »Vater ist der Weingärtner«.
15,2 Die Meinungen gehen auseinander, was mit »Rebe …, die nicht Frucht bringt«, gemeint ist. Einige Ausleger sind der Meinung, dass damit ein falscher Bekenner gemeint ist. Er gibt vor, ein Christ zu sein, doch ist er nie mit Christus im Glauben vereint worden. Andere denken, dass es sich um einen echten Christen handelt, der seine Errettung verliert, weil er keine Frucht bringt. Das ist unmöglich, weil dies den vielen anderen Schriftstellen widerspricht, die lehren, dass ein Gläubiger ewige Errettung hat. Wieder andere Ausleger sind der Ansicht, dass es sich um einen echten Christen handelt, der abtrünnig wird. Er weicht immer mehr vom Herrn ab und interessiert sich nur noch für die Welt. Er kann keine geistliche Frucht mehr bringen – Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit.
Was der Herr genau mit der unfruchtbaren Rebe macht, hängt davon ab, wie man das griechische Verb airo übersetzt. Es kann »wegnehmen« bedeuten, wie es üblicherweise übersetzt wird (so wird es auch in Joh 1,29 wiedergegeben). Dann würde es sich auf die Strafe des körperlichen Todes beziehen (1. Kor 11,30). Doch dasselbe Wort kann auch »aufheben« bedeuten (wie in Joh 8,59). Dann wäre damit der auf das Gute hin ausgerichtete Dienst Gottes gemeint, der die fruchtlose Rebe ermutigt, indem er ihr hilft, mehr Licht und Luft zu erhalten, und dabei hofft, dass sie mehr Frucht bringt. Die »Rebe, … die Frucht bringt«, ist der Christ, der dem Herrn Jesus immer ähnlicher wird. Doch sogar solche Reben müssen gereinigt werden. So wie Reben im wörtlichen Sinne von Insekten, Mehltau und anderen Schädlingen gereinigt werden müssen, muss ein Christ von weltlichen Dingen gereinigt werden, die ihm anhängen.
15,3 Das Reinigungsmittel ist »das Wort« des Herrn. Die Jünger waren zunächst bei ihrer Bekehrung durch das Wort gereinigt worden. Und als der Heiland dann mit ihnen sprach, hatte sein Wort einen reinigenden Effekt auf sie. So kann sich dieser Vers auf die Rechtfertigung und die Heiligung beziehen.
15,4 »Bleiben« bedeutet, an dem Ort zu verharren, an den man gestellt ist. Der Christ ist in Christus, das ist seine Stellung. Im täglichen Leben sollte er in enger Gemeinschaft mit dem Herrn bleiben. Eine Rebe bleibt am Weinstock, weil sie all ihr Leben und ihre Nahrung aus dem Weinstock bezieht. So bleiben wir in Christus, indem wir Zeit im Gebet verbringen, sein Wort lesen und ihm gehorchen, Gemeinschaft mit seinen Jüngern haben und uns ständig der Gemeinschaft mit ihm bewusst sind. Wenn wir auf diese Weise einen ständigen Kontakt mit ihm aufrechterhalten, dann wird uns bewusst, dass er in uns bleibt und uns mit geistlicher Stärke und Kraft ausrüstet. »Die Rebe« kann nur dann »Frucht bringen«, wenn »sie am Weinstock bleibt«. Ein Gläubiger kann nur dann die Frucht eines christusähnlichen Charakters bringen, wenn er jeden Augenblick in der Nähe Christi lebt.
15,5 Christus selbst ist »der Weinstock«, die Gläubigen sind »die Reben«. Es geht nicht darum, dass die Rebe ihr Leben um des Weinstocks willen führt, sondern nur darum, dass das Leben des Weinstocks durch die Rebe hindurchfließt. Manchmal bitten wir: »Herr, lass mich mein Leben doch für dich führen.« Es wäre besser, folgendermaßen zu beten: »Herr Jesus, setze du dein Lebensziel durch mich um.« »Getrennt von« Christus können wir »nichts tun«. Eine Rebe hat nur eine große Aufgabe: Sie soll Frucht bringen. Sie ist nicht zu gebrauchen, um daraus ein Möbelstück oder einen Balken für ein Haus zu machen. Sie liefert noch nicht einmal gutes Feuerholz. Doch zum Fruchtbringen ist sie zu gebrauchen – solange sie am Weinstock bleibt.
15,6 Dieser Vers ist die Ursache vieler Streitgespräche. Einige sind der Meinung, dass die beschriebene Person ein Gläubiger ist, der in Sünde fällt und daraufhin verloren ist. Solch eine Auslegung steht im direkten Gegensatz zu vielen Schriftstellen, die lehren, dass ein wahres Kind Gottes nicht mehr verlorengehen kann. Andere sind der Meinung, dass es sich hier um einen »Bekenner« handelt, der zwar dem Bekenntnis nach Christ ist, aber nie eine Wiedergeburt erfahren hat. Judas ist oft als Beispiel dafür herangezogen worden.
Wir glauben, dass es sich bei dieser Person um einen wahren Gläubigen handelt, weil es in diesem Abschnitt um wahre Christen geht. Das Thema ist aber nicht die Errettung, sondern das Bleiben und das Fruchtbringen. Doch durch Unachtsamkeit und Gebetslosigkeit verliert der Gläubige die Verbindung zum Herrn. Infolgedessen sündigt er, und sein Zeugnis ist damit verdorben. Dadurch, dass er nicht in Christus geblieben ist, wird er »hinausgeworfen wie die Rebe« – nicht von Christus, sondern durch andere Menschen. Die Reben werden gesammelt und »ins Feuer« geworfen, »und sie verbrennen«. Es ist nicht Gott, der das tut, sondern Menschen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Menschen einen abtrünnigen Christen verachten. Sie ziehen seinen Namen in den Schmutz. Sie werfen sein Zeugnis als Christ ins Feuer. Das kann man zum Beispiel am Leben Davids sehr gut sehen. Er war ein echter Gläubiger, doch er wurde unachtsam und fiel in die Sünden Ehebruch und Mord. Das führte dazu, dass die Feinde des Herrn lästerten. Selbst heute noch machen sich Atheisten über David (und über den Gott Davids) lustig. Sie werfen ihn gewissermaßen ins Feuer.
15,7 »Bleiben« ist das Geheimnis eines erfolgreichen Gebetslebens. Je enger wir beim Herrn bleiben, desto mehr lernen wir, ihm gemäß zu denken. Je mehr wir ihn durch sein Wort kennenlernen, desto mehr werden wir seinen Willen verstehen. Je mehr unser Wille mit dem seinen übereinstimmt, desto sicherer können wir uns sein, dass unsere Gebete erhört werden.
15,8 Wenn die Kinder Gottes das Ebenbild Christi für die Welt sind, wird der »Vater verherrlicht«. Menschen werden gezwungen zu bekennen, dass dieser Gott groß sein muss, wenn er solch böse Sünder in so gottesfürchtige Heilige verwandeln kann. Man beachte die Steigerung in diesem Abschnitt: »Frucht« (V. 2), »mehr  Frucht«  (V. 2)  und  »viel  Frucht« (V. 8).
»… dass ihr … meine Jünger werdet.« Dies bedeutet, dass wir uns als seine Jünger erweisen, wenn wir wahre Jünger sind. Andere können dann sehen, dass wir wahre Jünger sind, weil wir unserem Herrn gleichen.
15,9 Die Liebe, womit unser Heiland uns liebt, entspricht der Liebe, mit der »der Vater« den Sohn liebt. Unsere Herzen neigen sich anbetend, wenn wir solche Worte lesen. Diese Liebe Jesu zu uns hat die gleiche Qualität und das gleiche Ausmaß. Sie ist eine »ungemein große, weite, tiefe, unermessliche Liebe, die alle Erkenntnis übersteigt und vom Menschen in ihren Ausmaßen nie völlig erfasst werden kann«. Sie ist »so tief, dass alle unsere Gedanken im Meer dieser Liebe versinken«. »Bleibt in meiner Liebe«, hat unser Herr gesagt. Das bedeutet, dass wir immer wieder seine Liebe in unserem Leben erkennen und uns daran erfreuen sollen.
15,10 Der erste Teil von Vers 10 sagt uns, wie wir in seiner Liebe bleiben können – indem wir die »Gebote halten«. »Es gibt keinen anderen Weg, in Jesus glücklich zu sein, als zu vertrauen und zu gehorchen.« Die zweite Hälfte des Verses nennt uns ein vollkommenes Beispiel: Der Herr Jesus hat »die Gebote« seines »Vaters gehalten«. Alles, was er tat, geschah im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Er erfreute sich ständig der Liebe des Vaters. Es gab nichts, was das wunderbare Gefühl der liebevollen Gemeinschaft trüben konnte.
15,11 Jesus fand seine tiefste Freude in der Gemeinschaft mit dem Vater. Er wollte, dass seine Jünger ebenfalls diese Freude empfangen, die aus der Abhängigkeit von ihm entspringt. Er wollte, dass seine Freude ihnen zugeeignet würde. Die Vorstellung der meisten Menschen von Freude geht dahin, dass sie so glücklich wie möglich sein und dabei Gott aus ihrem Leben ausschließen wollen. Nach der Lehre des Herrn entsteht wahre Freude dadurch, dass man Gott so weit wie möglich an seinem Leben teilhaben lässt. »Damit … eure Freude völlig werde« oder »vollkommen« werde. Die Freude der Jünger würde vollkommen werden, wenn sie in Christus blieben und seine Gebote hielten. Viele haben Johannes 15 dazu benutzt, um Zweifel bezüglich der Heilsgewissheit der Gläubigen zu lehren. Sie haben die oben besprochenen Verse gebraucht, um zu zeigen, dass ein Schaf Christi eventuell verlorengehen kann. Doch das Ziel unseres Herrn besteht nicht darin, dass »unsere Zweifel völlig werden«, sondern darin, dass »unsere Freude völlig wird«. Q. Das Gebot, einander zu lieben (15,12-17)
15,12 Der Herr würde seine Jünger bald verlassen. Sie würden in einer feindlichen Welt zurückgelassen werden. Wenn die Spannung steigen würde, würde es die Gefahr des Streits unter den Jüngern geben. Und deshalb gibt der Herr ihnen diese beständige Anweisung: »Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.«
15,13 Ihre Liebe sollte so geartet sein, dass sie bereit wären, füreinander zu sterben. Menschen, die dazu bereit sind, streiten nicht miteinander. Das größte Beispiel für menschliche Selbstaufopferung ist ein Mensch, der »für seine Freunde sein Leben hingibt«. Die Jünger Christi werden zu dieser Hingabe aufgefordert. Einige verlieren ihr Leben im wörtlichen Sinne, andere verbringen ihr gesamtes Leben im unermüdlichen Dienst für das Volk Gottes. Der Herr Jesus ist diesbezüglich das große Vorbild. Er starb für seine Freunde. Natürlich waren sie noch seine Feinde, als er für sie starb, doch wenn sie gerettet werden, so werden sie seine Freunde. Daher ist die Aussage zutreffend, dass er sowohl für seine Feinde als auch für seine Freunde starb.
15,14 Wir zeigen, dass wir seine »Freunde« sind, wenn wir tun, was er uns »gebietet«. Dadurch werden wir nicht zu seinen Freunden, sondern zeigen damit der Welt unsere Freundschaft zu Jesus.
15,15 Der Herr betont hier den Unterschied zwischen »Sklaven« und »Freunden«. Von Sklaven erwartet man, dass sie einfach die Arbeit tun, die man ihnen aufgetragen hat, doch Freunde werden von ihrem Herrn ins Vertrauen gezogen. Unseren Freunden offenbaren wir unsere Pläne für die Zukunft. Unseren Freunden teilen wir auch Vertrauliches mit. In gewissem Sinne werden die Jünger immer Sklaven des Herrn bleiben, doch sie sind auch mehr als das – sie sind Freunde. Der Herr offenbarte ihnen gerade in diesem Augenblick das, was er von seinem »Vater gehört« hat. Er berichtete ihnen von seinem Weggehen, vom Kommen des Heiligen Geistes, von seiner Wiederkunft und von ihrer Verantwortlichkeit ihm gegenüber in der Zwischenzeit. Jemand hat einmal festgestellt, dass wir als Reben empfangen  (V. 5),  als  Jünger  folgen  (V. 8)  und als Freunde Gemeinschaft haben (V. 15).
15,16 Damit die Jüngern gar nicht erst auf den Gedanken kämen, sich entmutigen zu lassen und aufzugeben, erinnerte Jesus sie daran, dass er derjenige sei, der sie »erwählt« hat. Das kann bedeuten, dass er sie zur ewigen Erlösung, zur Jüngerschaft oder zum Fruchtbringen erwählt hat. Er hatte die Jünger für ihre zukünftige Aufgabe eingesetzt. Wir sollen »hingehen und Frucht bringen«. Mit Frucht sind hier die Tugenden eines christlichen Lebens wie Liebe, Freude, Friede usw. gemeint. Frucht kann aber auch für die Menschen stehen, die für den Herrn Jesus Christus gewonnen werden. Zwischen beiden Arten der Frucht besteht ein enger Zusammenhang. Nur wenn wir die erste Art der Frucht bringen, werden wir imstande sein, ebenso die zweite zu bringen.
Der Ausdruck »damit eure Frucht bleibe« führt uns zu der Auffassung, dass er hier die Rettung von Menschen gemeint hat. Der Herr erwählte die Jünger, damit sie bleibende Frucht brächten. Er war nicht an bloßen Glaubensbekenntnissen, sondern an wahren Bekehrungen interessiert. L. S. Chafer bemerkt, dass wir in diesem Kapitel wirksames Gebet finden (V. 7), himmlische Freude (V. 11) und bleibende Frucht (V. 16). »Damit, was immer ihr … bitten werdet …« Das Geheimnis des wirksamen Dienstes ist das Gebet. Die Jünger wurden mit der Zusicherung ausgesandt, dass »der Vater« ihnen gewähren würde, was immer sie in Christi »Namen« erbitten würden.
15,17 Der Herr wollte die Jünger nun vor der Feindschaft der Welt warnen. Er begann damit, indem er ihnen auftrug, »einander« zu lieben, zusammenzuhalten und gemeinsam gegen den Feind zu kämpfen.
R. Jesus sagt den Hass der Welt auf die Jünger voraus (15,18 – 16,4)
15,18.19 Die Jünger sollten nicht überrascht oder entmutigt sein, »wenn die Welt« sie hassen würde. Mit dem Wort »wenn« wird angedeutet, dass dies auf jeden Fall so kommen würde. Die Welt hat den Herrn »gehasst«, und alle die ihm ähnlich sind, hasst sie ebenso. Die Menschen dieser Welt lieben diejenigen, die so leben wie sie – diejenigen, die sich einer unflätigen Sprache bedienen und die Lüste des Fleisches pflegen, oder auch diejenigen, die gebildet sind, aber nur sich selbst leben. Christen verurteilen sie durch ihr geheiligtes Leben, »darum hasst … die Welt« sie.
15,20 Ein Jünger sollte von der Welt keine bessere Behandlung erwarten, als sein Meister erfuhr. Er wird genauso verfolgt werden wie Christus. Sein Wort wird ebenso wie das Reden des Herrn abgelehnt werden.
15,21 Dieser Hass und diese Verfolgung geschieht »um meines Namens willen«. Weil der Gläubige mit Christus verbunden und durch ihn von der Welt getrennt ist und weil er Christi Namen sowie Ebenbild trägt, erfährt er diese Verfolgung. Die Welt kennt Gott nicht. Sie weiß nicht, dass der Vater den Herrn in diese Welt »gesandt« hat, um ihr Heiland zu werden. Doch Unwissenheit ist keine Entschuldigung.
15,22 Der Herr will hier nicht lehren, dass die Menschen keine Sünder wären, wenn er nicht gekommen wäre. Seit der Zeit Adams sind alle Menschen Sünder gewesen. Doch die Sünde der Menschen zur Zeit Jesu wäre nicht annähernd so groß gewesen, wie sie jetzt war. Sie hatten den Sohn Gottes gesehen und seine wunderbaren Worte gehört. Sie konnten an ihm keinen Makel finden. Und doch lehnten sie ihn ab. Das macht ihre Sünde so schrecklich. Und deshalb haben wir hier einen Vergleich vor uns. Verglichen mit ihrer schrecklichen Sünde, den Herrn der Herrlichkeit verworfen zu haben, waren ihre anderen Sünden nichts. Nun hatten sie keine Entschuldigung »für ihre Sünde«. Sie hatten doch das Licht der Welt abgelehnt!
15,23 Indem sie Christus hassten, hassten sie auch den »Vater«. Die beiden sind eins. Sie konnten nicht behaupten, Gott zu lieben, denn wenn sie ihn geliebt hätten, hätten sie auch denjenigen geliebt, den Gott gesandt hat.
15,24 Sie waren nicht nur verantwortlich dafür, dass sie die Lehre Christi gehört hatten, sie hatten auch seine Wunder gesehen. Das trug weiter zu ihrer Verdammnis bei. Sie sahen »Werke …, die kein anderer getan hat«. Christus angesichts dieser Beweise zu verwerfen, ist unentschuldbar. Der Herr verglich ihre anderen Sünden mit dieser Sünde und sagte, dass die ersten in der Zusammenschau mit der zweiten wie nichts seien. Weil sie den Sohn hassten, hassten sie auch seinen »Vater«, und das war ihr eigenes furchtbares Verdammungsurteil.
15,25 Der Herr erkannte, dass der Hass gegen ihn eine genaue Erfüllung der Prophezeiungen war. In Psalm 69,5 wurde vorausgesagt, dass Christus »ohne Ursache gehasst« werden würde. Da dies nun geschehen war, bemerkte der Herr, dass genau dasjenige AT, das diese Menschen so ehrten, ihren sinnlosen Hass gegen ihn vorausgesagt hat. Die Tatsache, dass es geweissagt war, bedeutete nicht, dass diese Menschen Christus hassen mussten. Sie hassten ihn, weil sie sich willentlich dazu entschlossen hatten, doch weil Gott vorausgesehen hatte, dass es so kommen würde, ließ er es David in Psalm 69 niederschreiben.
15,26 Trotz der Verwerfung durch den Menschen sagte Jesus voraus, dass es immer ein Zeugnis für ihn geben würde. Es würde durch »den Beistand« gegeben – durch den Heiligen Geist. Hier sagt der Herr, dass er den Geist »von dem Vater senden« werde. In Johannes 14,16 ist der Vater derjenige, der den Geist sendet. Haben wir hier nicht einen weiteren Beweis der Stellungsgleichheit von Vater und Sohn? Wer außer Gott selbst könnte jemanden senden, der Gott ist? »Der Geist der Wahrheit« geht von dem Vater aus. Das bedeutet, dass er ständig vom Vater ausgesandt wird, und sein Kommen zu Pfingsten war nur ein besonderer Anlass der Sendung. Der Geist legt von Christus Zeugnis ab. Das ist seine Aufgabe. Er versucht nicht, Menschen mit sich selbst zu beschäftigen, auch wenn er ein Teil der Dreieinheit ist. Doch er leitet die Aufmerksamkeit sowohl des Sünders als auch des Gläubigen auf den Herrn der Herrlichkeit.
15,27 Der Geist würde direkt durch die Jünger Zeugnis geben. Sie waren »von Anfang an« beim Herrn gewesen, von Beginn seines öffentlichen Wirkens an, und waren besonders geeignet, von seiner Person und seinem Werk zu erzählen. Wenn irgendjemand etwas Unvollkommenes am Herrn hätte entdecken können, dann waren es sicherlich diese Jünger, die immer bei ihm gewesen waren. Aber sie wussten von keiner Sünde, die er begangen hatte. Sie konnten bezeugen, dass er der sündlose Sohn Gottes und der Erlöser der Welt war.
16,1 Die Jünger hatten wahrscheinlich die gleiche Hoffnung gehegt, wie die anderen Juden auch. Sie bestand darin, dass der Messias sein Reich aufrichten und die Macht Roms brechen würde. Stattdessen erklärte der Herr ihnen, dass er sterben, auferstehen und in den Himmel zurückkehren würde. Der Geist würde kommen, und die Jünger würden als Zeugen Christi in die Welt hinausgehen. Sie würden gehasst und verfolgt werden, der Herr sagte ihnen dies im Voraus, damit sie sich nicht an ihm »ärgern« würden, nicht desillusioniert oder schockiert wären.
16,2.3 Der Ausschluss aus der »Syn ago ge« war für einen Juden das Schlimmste, was ihm geschehen konnte. Doch genau das würde mit diesen Juden passieren, die Jünger Jesu waren. Der christliche Glaube würde so gehasst werden, dass diejenigen, die ihn ausrotten wollten, meinten, damit »Gott einen Dienst« zu tun. Das zeigt, wie ein Mensch sehr aufrichtig und eifrig und doch im Unrecht sein kann.
Der Grund dieser Verirrung war die Unfähigkeit, die Gottheit Christi zu erkennen. Die Juden wollten ihn nicht annehmen, und damit lehnten sie auch »den Vater« ab.
16,4 Und wieder warnt der Herr seine Jünger im Voraus, damit sie durch diese Anfechtungen in Zeiten der Bedrängnis nicht ins Wanken gerieten. Sie sollten sich daran erinnern, dass der Herr die Verfolgung vorausgesagt hatte. Sie sollten wissen, dass Verfolgung ein Teil seines Planes für ihr Leben war. Der Herr hatte ihnen das vorher noch nicht gesagt, weil er da noch bei ihnen war. Es war nicht nötig, sie vor der Zeit zu beunruhigen oder ihre Gedanken von den anderen Dingen abzulenken, die er sie lehren wollte. Doch da er sie nun bald verlassen würde, musste er ihnen den Weg beschreiben, der vor ihnen lag.
S. Das Kommen des Geistes der Wahrheit (16,5-15)
16,5 Vers 5 scheint Bedauern auszudrücken, dass die Jünger kein allzu großes Interesse an dem hatten, was dem Herrn bevorstand. Obwohl sie allgemein gefragt hatten, »wohin« er gehen würde, schienen sie nicht allzu betroffen zu sein.
16,6 Sie waren mehr mit ihrer eigenen Zukunft beschäftigt als mit dem, was vor dem Herrn lag. Vor Jesus standen das Kreuz und das Grab. Vor ihnen lag Verfolgung im Dienst für Christus. Sie waren mehr wegen ihrer eigenen Schwierigkeiten als seinetwegen von »Traurigkeit … erfüllt«.
16,7 Doch sie sollten nicht ohne Hilfe und Trost bleiben. Christus würde ihnen den Heiligen Geist senden, der ihr »Beistand« sein sollte. Es war den Jüngern »nützlich«, dass der Beistand kommen sollte. Er würde ihnen Kraft und Mut geben, sie lehren und ihnen Christus lebendiger machen als er ihnen je geworden war. »Der Beistand« sollte erst kommen, nachdem der Herr Jesus in den Himmel zurückgekehrt und verherrlicht worden war. Natürlich wirkte der Heilige Geist auch schon vor Pfingsten in der Welt, doch er sollte auf eine neue Art kommen – um die Welt zu überführen und den Erlösten zu dienen.
16,8 Der Heilige Geist sollte »die Welt überführen von Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht«. Man nimmt allgemein an, dass dieser Satz bedeutet, dass er im Inneren des einzelnen Sünders diese Dinge bewusst macht. Obwohl dies stimmt, ist damit die Lehre dieses Verses nicht genau erfasst. Der Heilige Geist verurteilt »die Welt« allein durch die Tatsache seiner Anwesenheit. Er sollte nicht hier sein, weil der Herr Jesus eigentlich hier sein und über die Welt regieren sollte. Doch die Welt verwarf Jesus, und deshalb kehrte er in den Himmel zurück. Der Heilige Geist tritt hier an die Stelle des verworfenen Christus und zeigt dadurch die Schuld der Welt auf.
16,9 Der Geist überzeugt die Welt »von der Sünde«, dass sie nicht an Christus glaubt. Es gab an Christus nichts, das es unmöglich gemacht hätte, an ihn zu glauben. Aber die Menschen wollten nicht. Und die Anwesenheit des Heiligen Geistes in der Welt ist ein Zeuge ihres Verbrechens.
16,10 Der Heiland sagte von sich, dass er gerecht sei, aber die Menschen hatten ihn beschimpft, dass er von einem Dämon besessen sei. Doch Gott sprach hier das letzte Wort. Er sagte im Grunde: »Mein Sohn ist gerecht, und das werde ich beweisen, indem ich ihn aus den Toten auferwecke und ihn in den Himmel zurückhole.« Der Heilige Geist ist ein Zeuge der Tatsache, dass Christus im Recht war und die Welt unrecht hatte.
16,11 Die Anwesenheit des Heiligen Geistes überführt die Welt auch vom kommenden »Gericht«. Die Tatsache, dass der Geist hier ist, bedeutet, dass der Teufel am Kreuz schon verurteilt worden ist. Außerdem bedeutet dies, dass alle, die den Heiland verwerfen, an einem noch zukünftigen Tag das furchtbare, dem Teufel zugedachte Gericht teilen werden.
16,12 Es gab »noch vieles«, das der Herr den Jüngern »zu sagen« hatte, doch sie hätten es noch nicht verstehen können. Das ist ein wichtiges Lehrprinzip. Man muss bestimmte Inhalte verstanden haben, ehe man weitergehende Wahrheiten lernen kann. Nie überforderte der Herr seine Jünger mit seinen Lehren. Er lehrte sie »Zeile für Zeile, Thema für Thema«.
16,13 Das Werk, das der Herr begonnen hatte, sollte vom »Geist der Wahrheit« weitergeführt werden. Er sollte sie »in die ganze Wahrheit leiten«. In gewissem Sinne wurde den Aposteln die ganze Wahrheit während ihrer Lebenszeit offenbart. Sie haben sie wiederum schriftlich niedergelegt, und wir haben sie heute in unserem NT. Dies ist zusammen mit dem AT die vollständige schriftliche Offenb arung Gottes an den Menschen. Und es gilt natürlich für alle Zeitalter, dass der Heilige Geist das Volk Gottes in alle Wahrheit leitet. Er tut dies durch die Schrift. Er wird nur »reden«, was ihm vom Vater und Sohn aufgetragen worden ist. »Das Kommende wird er euch verkündigen.« Das finden wir natürlich im NT und besonders im Buch der Offenbarung, in dem die Zukunft enthüllt wird.
16,14 Seine Hauptaufgabe jedoch wird es sein, Christus zu »verherrlichen«. Daran können wir jede Lehre und jede Predigt messen. Wenn sie den Heiland verherrlicht, dann ist sie vom Heiligen Geist. »Von dem Meinen wird er nehmen« bedeutet, dass er die großen Wahrheiten empfangen wird, die Christus betreffen. Diese wird er dann den Gläubigen offenbaren. Dieses Thema ist unerschöpflich!
16,15 »Alle« Eigenschaften, die der Vater hat, besitzt auch der Sohn. Von dieser Vollkommenheit hat Christus in Vers 14 gesprochen. Der Geist enthüllte den Aposteln die herrlichen Vollkommenheiten, Dienste, Stellungen und Tugenden sowie die Fülle des Herrn Jesus. T. Traurigkeit verwandelt sich in Freude (16,16-22)
16,16 Der genaue Zeitrahmen dieses Verses ist unsicher. Mit dem hier Gesagten kann gemeint sein, dass der Herr drei Tage weggehen und dann nach seiner Auferstehung zu ihnen zurückkehren würde. Damit kann auch gemeint sein, dass Jesus zu seinem Vater in den Himmel zurückgehen würde, um dann, nach »einer kleinen Weile« (dem gegenwärtigen Zeitalter), zu ihnen zurückzukehren (bei seiner Wiederkunft). Es kann aber auch bedeuten, dass sie ihn »eine kleine Weile« nicht mit ihren leiblichen Augen sehen können, doch dass sie ihn nach dem Kommen des Heiligen Geistes zu Pfingsten im Glauben auf eine Art und Weise werden sehen können, wie sie ihn nie zuvor geschaut haben.
16,17 Seine »Jünger« waren verwirrt. Der Grund für diese Reaktion war, dass der Heiland in Vers 10 gesagt hatte: »Ich (gehe) zum Vater … und ihr (werdet) mich nicht mehr« sehen. Nun sagt er: »Eine kleine Weile, und ihr seht mich nicht, und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich sehen.« Sie konnten diese beiden Aussagen nicht miteinander vereinbaren.
16,18 Sie fragten einander nach der Bedeutung der Worte »kleine Weile«. Seltsamerweise haben wir noch heute dieses Problem. Wir wissen nicht, ob sich Jesus auf die drei Tage zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung, auf die vierzig Tage zwischen Auferstehung und Himmelfahrt oder auf die mehr als 1900 Jahre vor seiner Wiederkunft bezieht!
16,19.20 Da der Herr Jesus Gott ist, konnte er die Gedanken der Jünger lesen. Durch seine Frage offenbarte er, dass er ihre Verwirrung in jeder Beziehung kannte.
Er antwortete nicht direkt auf ihre Frage, sondern gab noch weitere Informationen über die »kleine Weile«. »Die Welt« würde sich »freuen«, weil es ihr gelungen war, den Herrn Jesus zu kreuzigen, aber die Jünger würden »weinen und wehklagen«. Doch das würde nicht lange dauern. Ihre »Traurigkeit« würde »zur Freude werden«. Das geschah auch – zuerst bei der Auferstehung und dann durch das Kommen des Geistes. Und eines Tages wird für die Jünger aller Zeitalter die Traurigkeit in Freude verwandelt werden, wenn der Herr Jesus wiederkommt.
16,21 Nichts ist bemerkenswerter als die Schnelligkeit, womit eine Mutter die »Bedrängnis« vergisst, nachdem ihr »Kind« geboren ist. So wird es auch bei den Jüngern sein. Die Traurigkeit, die sie aufgrund der Abwesenheit ihres Herrn empfänden, würde vergessen sein, sobald sie ihn sehen würden.
16,22 Und wieder müssen wir zugeben, dass wir nicht wissen, auf welche Zeit sich die Worte des Herrn beziehen: »Ich werde euch wiedersehen.« Bezieht es sich auf seine Auferstehung, auf die Sendung des Geistes zu Pfingsten oder auf seine Wiederkunft? In allen drei Fällen ist das Ergebnis Freude, eine Freude, die niemand mehr nehmen kann.
U. Gebet zum Vater im Namen Jesu (16,23-28)
16,23 Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Jünger mit all ihren Fragen und Anliegen zum Herrn gekommen. »An jenem Tag« (dem Zeitalter, das durch das Kommen des Geistes zu Pfingsten begann) würde er nicht mehr leiblich bei ihnen sein, sodass sie ihm keine Fragen mehr stellen könnten. Doch bedeutete das, dass sie niemanden mehr haben würden, zu dem sie gehen könnten? Nein, »an jenem Tag« würde es ihr Vorrecht sein, »den Vater« zu bitten. Er würde ihre Bitten um Jesu willen erfüllen. Bitten werden erfüllt, nicht weil wir würdig wären, sondern weil der Herr Jesus würdig ist.
16,24 Bis dahin hatten die Jünger Gott den Vater noch nicht im »Namen« unseres Herrn gebeten. Nun wurden sie eingeladen, entsprechend zu bitten. Durch ihre erhörten Gebete würde ihre »Freude völlig« werden.
16,25 Die Bedeutung der Lehre des Herrn liegt zu einem großen Teil nicht immer offen zutage. Er hat oft die »Bildrede« und Gleichnisse benutzt. Sogar in diesem Kapitel können wir nicht immer genau herausfinden, was im Einzelnen gemeint ist. Mit dem Kommen des Heiligen Geistes wurde die Lehre »von dem Vater« deutlicher. In der Apostelgeschichte und den Briefen ist die Wahrheit nicht länger in Gleichnissen verhüllt, sondern in direkten Aussagen ausgedrückt.
16,26 Mit dem Ausdruck »jener Tag« ist wieder das Zeitalter des Heiligen Geistes gemeint, in dem wir jetzt leben. Es ist unser Vorrecht, zum Vater im »Namen« des Herrn Jesus zu beten. »Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde.« Das bedeutet, dass man den Vater nicht drängen muss, unsere Gebete zu erhören. Der Herr wird ihn nicht anflehen müssen. Doch sollten wir uns immer vor Augen halten, dass der Herr Jesus der Vermittler zwischen Gott und Mensch ist und für sein Volk vor dem Thron Gottes eintritt.
16,27 »Der Vater« liebt die Jünger, weil sie Christus angenommen haben, ihn lieben und an seine Göttlichkeit »geglaubt« haben. Das ist der Grund, warum der Herr den Vater nicht bitten brauchte. Mit dem Kommen des Heiligen Geistes würden sie ein neues Gespür für die innige Gemeinschaft mit dem Vater erhalten. Sie würden mit Zuversicht zu ihm kommen können, und zwar deshalb, weil sie seinen Sohn »geliebt« haben.
16,28 Hier wiederholt der Herr seinen Anspruch, Gott dem Vater gleich zu sein. Er sagte nicht: »Ich bin von Gott ausgegangen«, als ob er einfach ein Prophet wäre, der von Gott gesandt wurde. Vielmehr sagte er: »Ich bin von dem Vater ausgegangen.« Das bedeutet, dass er der ewige Sohn des ewigen Vaters ist, Gott dem Vater gleich. Er kam »in die Welt« als einer, der vor seinem Kommen im Himmel gelebt hatte. Bei seiner Himmelfahrt verließ er die Welt und kehrte »zum Vater« zurück. Damit werden die Lebensstationen des Herrn der Herrlichkeit kurz nachgezeichnet.
V. Drangsal und Friede (16,29-33)
16,29.30 Die »Jünger« Jesu dachten, dass sie ihn nun zum ersten Mal verstehen könnten. Er benutzte nicht länger eine bildliche Sprache, sagten sie. Sie dachten, dass sie nun das Geheimnis seiner Person erforscht hätten. Nun waren sie sich sicher, dass er allwissend und »von Gott ausgegangen« war. Doch er hatte gesagt, dass er vom Vater ausgegangen war. Hatten sie die Bedeutung dessen erkannt? Verstanden sie, dass Jesus eine Person der Dreieinheit ist?
16,31 Jesus wollte mit dieser Frage ausdrücken, dass ihr Glaube noch immer unvollkommen war. Er wusste, dass sie ihn liebten und ihm vertrauten, doch wussten sie wirklich, dass er Gott im Fleisch offenbart ist?
16,32 Schon in kurzer Zeit sollte Jesus gefangen genommen, vor Gericht gestellt und gekreuzigt werden. Die Jünger würden ihn alle verlassen und »in ihre Heimat« fliehen. Doch er würde nicht allein sein, weil der »Vater bei« ihm sein würde. Sie verstanden seine Gemeinschaft mit Gott nicht. Sie würde ihn aufrecht halten, wenn alle Jünger um ihr Leben geflohen wären.
16,33 Der Zweck dieser Gespräche war, dass die Jünger »Frieden« hätten. Wenn sie gehasst, verfolgt, falsch angeklagt und sogar gefoltert würden, konnten sie in ihm doch »Frieden haben«. Er überwand »die Welt« am Kreuz von Golgatha. Trotz aller Drangsal konnten sie beruhigt sein, dass sie auf der Seite des Siegers standen.
Mit dem Kommen des Heiligen Geistes würden sie auch neue Kraft zum Durchhalten und neuen Mut erhalten, dem Feind entgegenzutreten. W. Jesus betet für seinen Dienst (17,1-5) Wir kommen nun zum sogenannten hohenpriesterlichen Gebet des Herrn Jesus. In diesem Gebet tritt Jesus für die Seinen ein. Darin haben wir ein Bild für seinen gegenwärtigen Dienst im Himmel, wo er für sein Volk betet. Marcus Rainsford drückt das sehr gut aus: Das gesamte Gebet ist ein wunderschönes Bild für das Eintreten unseres geliebten Herrn zur Rechten Gottes. Nicht ein Wort gegen die Angehörigen seines Volkes, keine Erwähnung ihrer Fehler und Mängel … Nein. Er spricht von ihnen nur, als ob sie ganz im Willen des Vaters und in Verbindung mit ihm selbst leben. Sie sind für ihn Empfänger der Fülle, für die er vom Himmel kam, um sie ihnen zu schenken … Alle Bitten des Herrn für die Seinen betreffen Geistliches, alle beziehen sich auf himmlische Segnungen. Der Herr erbittet weder Reichtümer noch Ehre für sie, keinen weltlichen Einfluss oder besondere Privilegien. Stattdessen betet er voller Ernst dafür, dass sie vor dem Bösen bewahrt werden, von der Welt getrennt bleiben, für ihre Pflicht ausgerüstet sein und sicher in die himmlische Heimat finden mögen. Geistlicher Reichtum ist der beste Reichtum, er ist das Zeichen für echten Reichtum.46
17,1 »Die Stunde« war »gekommen«. Immer wieder war es seinen Feinden nicht möglich gewesen, ihn festzunehmen, weil seine Stunde noch nicht gekommen war. Doch jetzt war die Zeit gekommen, da der Herr Jesus sterben sollte. »Verherrliche deinen Sohn«, betete der Heiland. Er sah damit auf seinen baldigen Tod am Kreuz. Wenn er im Grab bleiben würde, dann würde die Welt wissen, dass er nur ein gewöhnlicher Mensch war. Doch wenn Gott ihn verherrlichen würde, indem er ihn aus den Toten auferweckte, dann wäre das der Beweis dafür, dass er der Sohn Gottes und der Erlöser der Welt ist. Gott erhörte sein Gebet, indem er ihn am dritten Tag aus den Toten auferweckte, ihn dann später wieder in den Himmel aufnahm und ihn mit Herrlichkeit und Ehre krönte. »… damit der Sohn dich verherrliche«, fuhr der Herr fort. Die Bedeutung dieser Worte wird in den nächsten beiden Versen erläutert. Jesus verherrlicht den Vater, indem er denen ewiges Leben gibt, die an ihn glauben. Es bringt Gott viel Ehre ein, wenn gottlose Menschen sich bekehren und das Leben Jesu hier auf Erden kundtun.
17,2 Infolge des Erlösungswerks am Kreuz hat Gott dem Sohn »Vollmacht gegeben über alles Fleisch«. Diese »Vollmacht« berechtigte ihn, »ewiges Leben« denen zu geben, die der Vater »ihm ge geben« hat. Hier werden wir wieder daran erinnert, dass Gott schon vor Grundlegung der Welt bestimmte Menschen auserwählt hat, die zu Christus gehören. Man vergesse jedoch nicht, dass Gott jedem die Erlösung anbietet, der Jesus Christus aufnehmen will. Es gibt keinen, der nicht errettet werden kann, wenn er dem Heiland vertraut.
17,3 Hier haben wir eine einfache Erklärung dafür, wie man das ewige Leben erhält: Indem man »Gott und … Jesus Christus« erkennt. Der »allein wahre Gott« steht im Gegensatz zu den Götzen, die gar keine wirklichen Götter sind. Dieser Vers bedeutet nicht, dass Jesus Christus nicht wahrer Gott wäre. Die Tatsache, dass sein Name zusammen mit dem Namen Gottes des Vaters genannt und als der Ursprung des ewigen Lebens erwähnt wird, bedeutet, dass sie gleich sind. Hier nennt sich der Herr selbst »Jesus Christus«. Christus bedeutet dasselbe wie Messias. Dieser Vers widerlegt die Aussage einiger, dass Jesus nie beansprucht habe, der Messias zu sein.
17,4 Als der Herr diese Worte sprach, redete er, als ob er schon gestorben, begraben und wiederauferweckt worden sei. Er hatte den Vater durch sein sündloses Leben »verherrlicht«, durch seine Wunder, durch sein Leiden und seinen Tod und durch seine Auferstehung. Er hat »das Werk« der Erlösung »vollbracht«, das der Vater ihm gegeben hat. Ryle drückt das so aus:
Die Kreuzigung verherrlichte den Vater. Sie verherrlichte seine Weisheit, Treue, Heiligkeit und Liebe. Sie zeigte, dass er weise ist, indem er einen Plan vorsieht, durch den er gerecht und gleichzeitig der Rechtfertiger der Sünder sein konnte. – Sie zeigte, dass er treu ist, seine Verheißung zu halten, wonach der Same der Frau der Schlange den Kopf zertreten wird. – Sie zeigte seine Heiligkeit, indem die rechtmäßigen Forderungen des Gesetzes durch unseren Stellvertreter erfüllt wurden. – Sie zeigte, dass er die Liebe ist, weil er den sündigen Menschen einen solchen Mittler, Erlöser und Freund wie seinen Sohn schenkte, der wie er bereits vor aller Ewigkeit lebte.
Die Kreuzigung verherrlichte auch den Sohn. Sie verherrlichte seine Barmherzigkeit, seine Geduld und seine Macht. Sie zeigte, dass er äußerst barmherzig ist, indem er für uns starb, an unserer Stelle litt und es zuließ, dass er zur Sünde und zum Fluch für uns gemacht wurde. Sie stellte sein Er barmen auch dadurch unter Beweis, dass er mit dem Preis seines eigenen Blutes unsere Er lösung erkaufte. – Sie bewies, dass er äußerst ged uldig war, indem er nicht den normalen Tod der meisten Menschen starb, sondern sich willentlich solchen Schmerzen und solch unerhörter Pein aussetzte, die sich kein Mensch vorstellen kann, während er doch mit einem Wort die himmlischen Heers charen seines Vaters hätte herbeirufen können, um sich befreien zu lassen. – Sie zeigt, dass er die größte Macht hat, denn er nahm die Last aller Übertretungen der Seinen auf sich und bezwang Satan, indem er ihm seine Beute abnahm.47
17,5 Ehe Christus in die Welt kam, war er beim Vater im Himmel. Als die Engel den Herrn betrachteten, sahen sie die Herrlichkeit Gottes. Für jedermanns Auge war er Gott. Doch als er unter die Menschen kam, wurde seine Göttlichkeit verhüllt. Obwohl er noch immer Gott war, konnten die meisten, die ihn sahen, das nicht erkennen. Sie sahen in ihm nur den Sohn des Zimmermanns. Hier bittet Jesus nun darum, dass die Sichtbarkeit seiner Herrlichkeit wiederhergestellt werden möge. Die Worte »verherrliche mich bei dir selbst » bedeuten: »Verherrliche mich im Himmel in deiner Gegenwart. Lass die ursprüngliche Herrlichkeit, die ich vor meiner Menschwerdung mit dir gemeinsam hatte, wiederherg estellt werden.« Das lehrt uns eindeutig, dass Christus schon vor seinem Erdenleben existierte.
X. Jesus betet für seine Jünger (17,6-19)
17,6 Jesus hatte den Jüngern den »Namen« des Vaters offenbart. Mit dem »Namen« sind in der Schrift immer die Person, ihre Eigenschaften und ihr Charakter gemeint. Christus hatte die wahre Natur des Vaters aufgezeigt. Die Jünger sind dem Herrn »aus der Welt gegeben« worden. Sie sind von der ungläubigen Masse der Menschheit getrennt und für Christus abgesondert worden. »Sie gehörten durch Erwählung zum Vater, ehe die Welt gegründet wurde, und wurden Christi Eigentum durch die Gabe des Vaters und infolge der Tatsache, dass sie Bluterkaufte sind«, schreibt J. G. Bellet. »Sie haben dein Wort bewahrt«, sagte der Herr. Trotz all ihrer Fehler und Mängel lobt er die Jünger hier dafür, dass sie seiner Lehre geglaubt und ihr gehorcht haben. »Nicht ein Wort sagt der Herr gegen seine Jünger«, schreibt Rainsford, »es gibt keine Anspielung auf das, was sie ihm angetan hatten bzw. im Begriff standen, ihm anzutun – die Tatsache, dass sie ihn im Stich lassen würden.«
17,7.8 Der Heiland hat seinen Vater vollkommen vertreten. Er erklärte den Jüngern, dass er nicht aus eigener Vollmacht sprach, sondern nur so, wie ihn der Vater beauftragte. Deshalb »glaubten« sie nun, dass der Vater den Sohn »gesandt« hatte.
Außerdem entsprang die Sendung Christi nicht seiner eigenen Initiative. Er kam im Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters. Er war der vollkommene Knecht Jahwes.
17,9 Als Hoherpriester bat er für seine Jünger, er bat »nicht für die Welt«. Das bedeutet jedoch nicht, dass Jesus nie für die Welt gebetet habe. Am Kreuz betete er: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Doch hier betete er als derjenige, der die Gläubigen vor dem Thron Gottes vertritt. Dort kann er nur für die Seinen beten.
17,10 Hier wird die vollkommene Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn gezeigt. Kein gewöhnlicher Mensch hätte solche Worte äußern können, ohne dabei zu lügen. Vielleicht können wir sagen: »Alles, was mein ist, ist dein«, doch wir können nicht sagen: »Was dein ist, ist mein.« Weil der Sohn dem Vater gleich ist, konnte er dies sagen. In diesen Versen (6-19) spricht Jesus über seine arme und zurückgebliebene Herde, indem er jedes Lamm in einen bunten Leibrock kleidet (1. Mose 37,3) und erklärt: »Ich bin in ihnen verherrlicht.«
17,11 Und wieder nahm der Herr seine Rückkehr in den Himmel vorweg. Er betete, als ob er schon dort wäre. Man beachte den Titel »Heiliger Vater«. »Heilig« spricht von dem, der unendlich erhaben ist. »Vater« spricht von dem, der unendlich nahe ist.
Das Gebet Jesu, »dass sie eins seien«, bezieht sich auf die Einheit christlicher Wesensart. Wie der Vater und der Sohn moralisch gleich sind, so sollten die Gläubigen in dieser Hinsicht eins sein – nämlich dahin gehend, dass sie dem Herrn Jesus gleichen.
17,12 Als Jesus bei den Jüngern war, »bewahrte« er sie im »Namen« des Vaters,  d. h.  durch  seine  Kraft  und  Vollmacht und getreu dem Gebot des Vaters. »Keiner von ihnen ist verloren«, sagte Jesus, »als nur der Sohn des Verderbens«, d. h. Judas. Doch das bedeutet nicht, dass Judas einer von denen war, die dem Sohn vom Vater gegeben waren, oder dass er je ein echter Gläubiger gewesen wäre. Der Satz bedeutet: »Diejenigen, die du mir gegeben hast, habe ich bewahrt, doch der Sohn des Verderbens geht verloren, um die Schrift zu erfüllen.« Der Titel »Sohn des Verderbens« bedeutet, dass Judas durch seine Entscheidung das ewige Verderben bzw. Verdammungsurteil wählte. Judas war nicht gezwungen, Jesus zu verraten, um die Prophezeiung zu erfüllen, doch er entschied sich freiwillig, den Heiland zu verraten. Damit wurde »die Schrift erfüllt«.
17,13 Der Herr erklärte, warum er in der Gegenwart seiner Jünger betete. Es war, als wollte er ihnen damit sagen: »Ich werde niemals aufhören, auf diese Weise im Himmel vor Gott für euch einzutreten. Doch nun ›rede ich in der Welt‹, sodass ihr es hören könnt, damit ihr genau versteht, wie ich dort damit beschäftigt bin, für euer Wohlergehen einzustehen, damit ihr in vollkommener Weise an ›meiner Freude‹ teilhabt.«
17,14 Der Herr gab den Jüngern Gottes »Wort«, und sie nahmen es an. Infolgedessen würde sich »die Welt« gegen sie wenden und sie »hassen«. Sie waren dem Herrn Jesus zu ähnlich, deshalb verachtete die Welt die Jünger. Sie passten einfach nicht zu den Einstellungen und Zielen der Welt.
17,15 Der Herr bat nicht darum, dass der Vater die Gläubigen »aus der Welt« unmittelbar in den Himmel nahm. Sie mussten hier auf Erden bleiben, um in der Gnade zu wachsen und Zeugen für Christus zu sein. Doch betete Christus dafür, dass sie »vor dem Bösen« bewahrt würden. Es geht nicht um Flucht, sondern um Bewahrung.
17,16 Christen »sind nicht von der Welt, wie« Jesus »nicht von der Welt« war. Wir sollten uns immer daran erinnern, wenn wir versucht sind, uns mit irgendeinem weltlichen Vergnügen die Zeit zu vertreiben, oder irgendwelche weltlichen Verbindungen eingehen wollen, wo der Name Jesu nicht willkommen ist.
17,17 »Heiligen« bedeutet absondern. Das Wort Gottes hat eine heiligende Wirkung auf die Gläubigen. Wenn sie darin lesen und ihm gehorchen, werden sie als dem Hausherrn nützliche Gefäße abgesondert. Genau dafür bittet der Herr hier. Er wollte ein Volk, das für Gott von der Welt abgesondert und ihm nützlich ist. »Dein Wort ist Wahrheit«, sagte Jesus. Er sagte nicht, wie es heute viele tun: »Dein Wort enthält Wahrheit«, sondern vielmehr: »Dein Wort ist Wahrheit.«
17,18 Der Vater »sandte« den Herrn Jesus »in die Welt«, um den Menschen sein Wesen zu offenbaren. Als der Herr betete, wusste er, dass er bald in den Himmel zurückkehren würde. Doch auch die zukünftigen Generationen brauchten noch ein Zeugnis von Gott. Diese Aufgabe muss von den Gläubigen durch die Macht des Heiligen Geistes erfüllt werden. Natürlich können Christen Gott nie so vollkommen vertreten, wie Christus das konnte, weil sie nie Gottgleichheit erlangen. Doch die Gläubigen sind aus dem gleichen Grund auf der Erde: Sie sollen Gott vor der Welt vertreten. Aus diesem Grund hat Jesus »sie in die Welt gesandt«.
17,19 Heiligen muss nicht unbedingt bedeuten, etwas oder jemanden heilig zu machen. Jesus ist heilig hinsichtlich seines Wesens als Person. Es ist hier daran gedacht, dass der Herr sich selbst für das Werk absonderte, zu dessen Vollbringung sein Vater ihn gesandt hatte – nämlich für seinen Opfertod. Es kann auch bedeuten, dass er sich selbst absonderte, indem er seinen Platz außerhalb der Welt einnahm und in die Herrlichkeit einging. »Seine Heiligung ist unser Vorbild und die Kraft für unsere Heiligung«, sagt Vine. Wir sollten von der Welt abgesondert sein und unser Erbteil bei ihm suchen. Y. Jesus betet für alle Gläubigen (17,20-26)
17,20 Nun dehnt der Hohepriester sein Gebet über die Jünger hinaus aus. Er betet für Generationen, die noch nicht geboren worden waren. Jeder Gläubige, der diesen Vers liest, kann mit Recht behaupten: »Jesus hat schon vor über 1900 Jahren für mich gebetet.«
17,21 Das Gebet zielt auf Einheit unter den Gläubigen, doch diesmal im Hinblick auf die Errettung von Sündern. Die Einheit, für die Christus betet, hat mit äußerer Einheit der Kirchen nichts zu tun. Die Einheit, die hier gemeint ist, hat ihre Ursache in einer gemeinsamen moralischen Ähnlichkeit der Gläubigen. Jesus betete, dass die Gläubigen dadurch »eins« seien, dass sie das Wesen Gottes und Christi widerspiegeln. Aufgrund dessen würde die Welt glauben, dass der Vater Christus »gesandt« hat. Diese Einheit lässt die Welt sagen: »Ich kann Christus in diesen Christen sehen, so wie der Vater in Christus erkennbar war.«
17,22 In Vers 11 bat der Herr um die Einheit der Gemeinschaft. In Vers 21 ging es um die Einheit im Zeugnisgeben. Nun geht es um die Einheit in der Herrlichkeit. Dies bezieht sich auf die Zeit, wenn die Heiligen ihre verherrlichten Leiber haben werden. »Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast«, ist die Herrlichkeit der Auferstehung und der Himmelfahrt. Wir haben diese Herrlichkeit noch nicht. Sie ist uns zwar schon gegeben, soweit es die Seite Gottes betrifft, doch wir werden sie erst empfangen, wenn der Heiland zurückkehrt, um uns in den Himmel aufzunehmen. Sie wird vor der Welt enthüllt werden, wenn Jesus wiederkommt, um sein Reich auf Erden zu errichten. Zu dieser Zeit wird die Welt die besondere Einheit von Vater und Sohn sowie das Einssein des Sohnes mit seinem Volk erkennen und wird (zu spät) glauben, dass Jesus von Gott gesandt wurde.
17,23 »Die Welt« wird nicht nur erkennen, dass Jesus Gottes Sohn ist, sondern sie wird auch wissen, dass die Gläubigen so wie Christus von Gott geliebt wurden. Dass wir so geliebt werden, scheint uns fast unglaublich, doch hier steht es!
17,24 Der Sohn will sein Volk bei sich in der Herrlichkeit haben. Jedes Mal, wenn ein Gläubiger stirbt, ist dies in gewissem Sinne eine Erhörung dieses Gebetes. Wenn wir das erkennen würden, dann wäre es ein Trost in unserem Schmerz. Sterben bedeutet, zu Christus zu gehen und seine »Herrlichkeit« zu »schauen«. Diese Herrlichkeit ist nicht nur die göttliche Herrlichkeit, die er bei Gott vor Anbeginn der Welt hatte. Es ist auch die Herrlichkeit, die er als Heiland und Erlöser der Welt erwarb. Diese Herrlichkeit stellt unter Beweis, dass Gott Christus »vor Grundlegung der Welt geliebt« hat.
17,25 Die Welt erkannte nicht, dass Gott sich in Christus offenbart hat. Doch einige der Jünger hatten es erkannt, und sie glaubten, dass Gott Jesus gesandt hat. Am Vorabend seiner Kreuzigung gab es nur einige wenige treue Herzen – und sogar diese würden ihn verlassen!
17,26 Der Herr Jesus hatte den Jüngern den »Namen« Gottes »kundgetan«, als er bei ihnen war. Das bedeutet, dass er ihnen den Vater offenbart hatte. Seine Worte und Taten waren die Worte und Taten des Vaters. Sie sahen in Christus das vollkommene Abbild Gottes. Durch den Dienst des Heiligen Geistes tut Jesus auch heute noch den Namen des Vaters kund. Seit Pfingsten hat der Geist die Gläubigen über den Vater belehrt. Insbesondere durch das Wort Gottes können wir erkennen, wer Gott ist. Wenn Menschen den Vater annehmen, wie er durch den Herrn Jesus offenbart wurde, dann werden sie zum besonderen Gegenstand seiner Liebe. Weil der Herr Jesus in allen Gläubigen wohnt, kann der Vater sie so ansehen und behandeln, wie er seinen eigenen Sohn betrachtet und behandelt. Reuss bemerkt dazu:
Die Liebe Gottes, die schon vor der Schöpfung der diesseitigen Welt der Person des Sohnes galt (V. 24), gilt seit der Schöpfung der neuen geistlichen Welt all denen, die mit dem Sohn vereinigt sind. Und Godet fügt hinzu:
Als Gott seinen Sohn hier auf diese Erde sandte, verlangte er danach, inmitten der Menschheit für sich eine Familie von Kindern zu schaffen, die ihm ähnlich sind.48 Nur weil der Herr Jesus in den Gläubigen wohnt, kann Gott den Gläubigen so sehr lieben.
Der Vater hat den Sohn geliebt und liebt ihn allezeit;
die gleiche Liebe gilt nun uns heut’ und in Ewigkeit.
Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals Die Gebete, die Christus für sein Volk vorbringt, beziehen sich, wie Rainsford bemerkt, auf Folgendes:
Es geht um Geistliches, um himmlische Segnungen. Es geht nicht um Reichtum, Ehre oder Einfluss, sondern um Bewahrung vor dem Bösen, Trennung von der Welt, Fähigkeit zu Pflichterfüllung und eine sichere Ankunft im Himmel.49
VIII. Das Leiden und Sterben des Sohnes Gottes (Kap. 18 und 19) A. Judas verrät den Herrn (18,1-11)
18,1  Die  Worte  in  Kapitel  13 – 17  wurden in Jerusalem gesprochen. Nun verließ Jesus die Stadt und ging Richtung Osten zum Ölberg. Dabei überquerte er »den Bach Kidron« und kam zum Garten Gethsemane, der am Westhang des Ölbergs liegt.
18,2.3 Judas wusste, dass der Herr viel Zeit betend in diesem Garten verbrachte. Er »wusste«, dass er ihm höchstwahrscheinlich an diesem Ort des Gebets begegnen würde.
Die »Schar« bestand wahrscheinlich aus römischen Soldaten, während die »Diener« jüdische Beamte waren, welche die »Hohenpriester und Pharisäer« vertraten. Sie kamen »mit Leuchten und Fackeln und Waffen«. Jemand hat einmal dazu gesagt: »Welch schwachen Schein gaben ihre Leuchten, als sie kamen, um das Licht der Welt mit seinem unvergleichlichen Schein zu suchen.«
18,4 Der Herr »ging hinaus«, um ihnen zu begegnen, ohne darauf zu warten, dass sie ihn fänden. Das zeigte seine Bereitschaft, ans Kreuz zu gehen. Die Soldaten hätten ihre Waffen zu Hause lassen können, denn der Heiland wollte sich nicht wehren. Die Frage: »Wen sucht ihr?«, zielt darauf ab, aus ihrem eigenen Mund zu erfahren, warum sie gekommen waren.
18,5 Sie suchten »Jesus, den Nazoräer«. Sie erkannten dabei nicht, dass er ihr Schöpfer und Erhalter war – der beste Freund, den sie je haben konnten. Jesus sagte: »Ich bin«. (Das Wort »es« findet sich im Original nicht, es ist jedoch im Deutschen aus grammatischen Gründen notwendig.) Er meinte damit, dass er nicht nur Jesus, der Nazoräer, war, sondern auch Jahwe ist. Wie schon oben erwähnt, ist Ich bin einer der alttestamentlichen Namen Jahwes. Ließ das Judas vielleicht erneut nachdenklich werden, als er »bei ihnen« stand?
18,6 Für einen kurzen Augenblick hatte sich der Herr Jesus als der Ich bin, als der allmächtige Gott, geoffenbart. Die Offenbarung war so überwältigend, dass sie »zurückwichen und zu Boden fielen«.
18,7 »Wieder« fragte der Herr sie, wen sie suchten. Und erneut lautete die Antwort gleich – trotz der Wirkung, welche die beiden Worte Christi gerade auf sie gehabt hatten.
18,8.9 Wieder antwortete er, dass er es sei, Jahwe in Menschengestalt. »Ich habe euch gesagt, dass Ich bin.« Weil sie ihn suchten, sagte er ihnen, dass sie seine Jünger »gehen lassen« sollten. Es ist wunderbar, wie selbstlos er an anderen interessiert ist, wo doch sein eigenes Leben in Gefahr ist. So wurden auch die Worte von Johannes 17,12 erfüllt.
18,10 »Simon Petrus« dachte nun, dass die Zeit gekommen sei, Gewalt anzuwenden, um seinen Meister vor den Menschen zu bewahren. Ohne Anweisung seines Herrn zog er sein Schwert und »schlug den Knecht des Hohenpriesters«. Zweifellos wollte er ihn töten, doch sein Schlag wurde von einer unsichtbaren Hand abgelenkt, sodass er ihm nur »das rechte Ohr« abschlug.
18,11 Jesus tadelte den unangebrachten Eifer des Petrus. »Der Kelch« des Leides war ihm von seinem »Vater gegeben« worden, und er wollte ihn leeren. Der Arzt Lukas berichtet, wie der Herr daraufhin das Ohr des Malchus berührte und heilte (Lk 22,5).
B. Jesus wird gefangen genommen und gebunden (18,12-14)
18,12.13 Dies ist das erste Mal, dass sündige Menschen an Jesus Hand anlegen und ihn binden können.
»Hannas« war vor Kaiphas Hoherpriester gewesen. Es ist nicht klar, waru m Jesus zuerst zu ihm und dann erst zu Kaiphas, seinem Schwiegersohn, gebracht wurde, »der jenes Jahr Hoherpriester war«. Hier ist wichtig zu sehen, dass Jesus zuerst vor einem jüdischen Gerichtshof angeklagt wurde, wobei man versuchte, ihm Lästerung und Irrlehre nachzuweisen. Das war eine Verhandlung vor einem religiösen Gericht. Dann wurde er vor die römische Gerichtsbarkeit geführt, und hier wurde versucht, ihm nachzuweisen, dass er ein Feind des Kaisers sei. Dies geschah vor einem Zivilgericht. Da die Juden unter römischer Herrschaft standen, mussten sie sich der römischen Gerichtsbarkeit bedienen. Sie durften zum Beispiel keine Todesstrafe verhängen und vollziehen. Das musste durch Pilatus geschehen.
18,14 Johannes erklärte, dass der Hohepriester derselbe Kaiphas war, der prophezeit hatte, dass »ein Mensch für das Volk sterbe« (s. Joh 11,50). Er sollte nun seinen Teil an der Erfüllung dieser Prophezeiung haben. James Stewart schreibt: Dieser Mann war das anerkannte religiöse Oberhaupt der Nation. Er war abgesondert worden, im Namen des Allerhöchsten zu sprechen und ihn als oberste irdische Instanz zu vertreten. Ihm war das herrliche Vorrecht gegeben, einmal im Jahr in das Aller heiligste zu treten. Doch derselbe Mann verurteilte den Sohn Gottes. Die Geschichte bietet kein erschreckenderes Beispiel für die Tatsache, dass die besten religiösen Möglichkeiten der Welt und das verheißungsvollste Umfeld nicht die Gewähr für die Errettung eines Menschen bieten oder schon an sich die Seele eines Menschen bessern würden. »Da sah ich denn«, schrieb John Bunyan am Ende seines Buches »Die Pilgerreise«, »dass es sogar am Himmelstor noch einen Weg zur Hölle gibt.«50
C. Petrus verleugnet seinen Herrn (18,15-18)
18,15 Die meisten Ausleger sind der Meinung, dass der »andere Jünger«, der hier erwähnt wird, Johannes ist. Ihnen zufolge hinderte seine Bescheidenheit ihn jedoch daran, seinen eigenen Namen hier zu erwähnen, insbesondere angesichts des schmachvollen Versagens von Petrus. Uns wird nicht gesagt, warum Johannes mit »dem Hohenpriester bekannt« wurde, doch diese Tatsache ermöglichte ihm den Zugang »in den Hof«.
18,16.17 Petrus konnte nicht hineinkommen, bis Johannes hinausging und mit der »Türhüterin« sprach. Wenn wir zurückschauen, fragen wir uns, ob er Petrus einen Gefallen getan hat, hier seinen Einfluss geltend zu machen. Es ist bedeutsam, dass die erste Verleugnung des Herrn nicht vor einem bedrohlich wirkenden, Angst einflößenden Soldaten stattfand, sondern vor einer einfachen Türhüterin. Er leugnete, ein Jünger Jesu zu sein.
18,18 Petrus mischte sich nun unter die Feinde des Herrn und versuchte, seine Identität zu verbergen. Wie viele andere Jünger der heutigen Zeit »wärmte« er sich am »Kohlenfeuer« dieser Welt. D. Jesus vor dem Hohenpriester (18,19-24)
18,19 Es ist nicht eindeutig, ob der hier erwähnte Hohepriester Hannas oder Kaiphas war. Wenn es Hannas war, was am wahrscheinlichsten ist, wurde er wohl eher aus Höflichkeit Hoherpriester genannt, weil er dieses Amt einmal innegehabt hat. »Der Hohepriester nun fragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre«, als ob diese das mosaische Gesetz oder die römische Verwaltung bedroht hätten. Es ist offensichtlich, dass diese Leute keine echte Anklage gegen den Herrn vorbringen konnten. Deshalb versuchten sie, einen Anklagegrund zu erfinden.
18,20 »Jesus antwortete ihm«, dass sein Wirken »öffentlich« gewesen sei. Er hatte nichts zu verbergen. Er hatte in Gegenwart »aller Juden« gelehrt, »in der Syna goge und in dem Tempel«. Bei ihm gab es keine Geheimnisse.
18,21 An dieser Stelle hätte man einige Juden herbeibringen sollen, die ihn gehört hatten. Sie hätten die Anklage formulieren sollen. Wenn er etwas Falsches getan oder gesagt hatte, hätten jetzt Zeugen dafür auftreten sollen.
18,22 Diese Aufforderung irritierte die Juden offensichtlich. Sie hatten damit keine Anklage mehr. Und deshalb flüchteten sie sich in Beschimpfungen. »Einer der Diener« schlug Jesus dafür, so mit »dem Hohenpriester« geredet zu haben.
18,23 Völlig gelassen und mit unanfechtbarer Logik zeigte der Heiland, wie unfair ihre Haltung war. Sie konnten ihn nicht anklagen, etwas Böses gesagt zu haben; dennoch schlugen sie ihn dafür, dass er die Wahrheit sagte.
18,24 Die vorhergehenden Verse beschreiben das Verhör vor Hannas. Die Verhandlung vor Kaiphas wird von Johannes nicht beschrieben. Sie fand zwischen Kapitel 18,24 und 18,28 statt. E. Petrus leugnet zum zweiten und dritten Mal (18,25-27)
18,25 Die Erzählung wendet sich nun wieder Simon Petrus zu. In der Kälte der frühen Morgenstunde »wärmte sich« Petrus am Feuer. Zweifellos ließen seine Kleidung und sein Dialekt erkennen, dass er ein galiläischer Fischer war. Derjenige, der am nächsten bei ihm stand, fragte ihn, ob er ein Jünger Jesu sei. Doch wieder »leugnete« er seinen Herrn.
18,26 Nun sprach ihn ein »Verwandter« des Malchus an. Er hatte ihn gesehen, als »Petrus das Ohr« seines Verwandten »abgehauen hatte«. Er fragte: »Sah ich dich nicht in dem Garten bei« diesem Jesus?
18,27 Zum dritten Mal »leugnete« Petrus, den Herrn zu kennen. »Gleich darauf« hörte er das Krähen eines Hahns und erinnerte sich an die Worte seines Herrn: »Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast.« Aus den anderen Evangelien wissen wir, dass Petrus nun hinausging und bitterlich weinte. F. Jesus vor Pilatus (18,28-40)
18,28 Die religiöse Verhandlung war vorüber, nun sollte der zivilrechtliche Prozess beginnen. Die Szene spielt im Gerichtssaal oder dem Palast des Statthalters. Die Juden wollten nicht in den Palast eines Heiden hineingehen. Sie waren der Ansicht, dass sie sich damit »verunreinigen« würden und deshalb nicht »das Passah essen könnten«. Es schien sie wenig zu beunruhigen, dass sie ihre gegen den Sohn Gottes gerichteten Mordpläne verwirklichen wollten. Es wäre für sie eine Tragödie gewesen, ein heidnisches Haus zu betreten, doch Mord zählte in ihren Augen kaum. Augustinus bemerkt dazu: O gottlose Blindheit! Sie meinten, sich zu verunreinigen, wenn sie in einem Haus blieben, das einem anderen gehörte. Doch darin, dass sie selbst ein Verbrechen begingen, sahen sie keine Verunreinigung. Sie hatten Angst, sich im Prätorium eines heidnischen Richters zu verunreinigen, und fürchteten nicht, sich zu verunreinigen, indem sie das Blut eines unschuldigen Bruders vergossen.51 Hall kommentiert:
Wehe euch Priestern, Schriftgelehrten, Ältesten und Heuchlern! Gibt es einen Ort, der so unrein wie euer eigener Leib wäre? Nicht die Mauern des Palasts des Pilatus, sondern eure eigenen Herzen sind unrein. Ihr wollt morden und schreckt vor einer örtlichen Infektion zurück? Gott wird euch strafen, ihr weiß getünchten Wände! Ihr wollt euch mit Blut besudeln – mit dem Blut Gottes? Und ihr fürchtet, euch durch Berührung des Bodens, den Pilatus betritt, zu verunreinigen? Bleibt nicht die kleine Mücke in eurem Hals stecken, während ihr das Kamel der Sünde hinunterschluckt? Hinaus mit euch aus Jerusalem, ihr hinterhältigen Ungläubigen, wenn ihr nicht unrein werden wollt! Pilatus hat mehr Grund zu fürchten, dass seine Mauern verunreinigt werden durch die Anwesenheit solch ehebrecherischer Ungeheuer der Bosheit.52
Poole bemerkt: »Nichts ist verbreiteter, als dass Menschen, die übereifrig an Ritualen festhalten, mit moralischen Grundwerten lässig umgehen.«53 Mit dem hier befindlichen Ausdruck (»damit sie das Passah essen könnten«) ist wahrscheinlich das Fest gemeint, das auf das Passah folgte. Das Passah selbst war in der vorherigen Nacht gefeiert worden. (Anm. d. Übers.: Im Sinne der oben befindlichen Ausführungen zu Lk 22,7 wäre es aber auch möglich, dass zwei verschiedene Passahkalender verwendet wurden und die Feinde Jesu noch vor der Hauptmahlzeit des Passahfestes standen.)
18,29 Pilatus, der römische Prokurator, gab den religiösen Skrupeln der Juden nach, indem er zu ihnen »hinausging«. Er begann die Verhandlung, indem er fragte, »welche Anklage« sie gegen diesen Gefangenen vorzubringen hätten.
18,30 Ihre Antwort war voreilig und gleichzeitig mutig. Sie sagten im Grunde, dass sie diesen Fall schon verhandelt und Jesus für schuldig befunden hätten. Sie wollten nur noch, dass Pilatus die Strafe verhängte.
18,31 Pilatus versuchte, der Verantwortung auszuweichen und sie den Juden zuzuschieben. Wenn sie Jesus schon einen Prozess gemacht und ihn für schuldig befunden hatten, warum bestraften sie ihn dann nicht nach ihrem »Gesetz«? Die Antwort der Juden ist sehr bedeutsam. Sie sagten mit ihren vielen Worten: »Wir sind kein unabhängiges Volk. Wir sind von den Römern beherrscht. Die öffentliche Gerichtsbarkeit ist uns entzogen, deshalb haben wir nicht mehr die Vollmacht, ›jemanden zu töten‹.« Ihre Antwort war der Beweis für ihre Knechtschaft und Unterwerfung unter eine heidnische Macht. Außerdem wollten sie die Verantwortung für den Tod Christi Pilatus zuschieben.
18,32 Dieser Vers kann zweierlei bedeuten:
1. In Matthäus 20,19 hatte Jesus vorhergesagt, dass er den Heiden übergeben würde, um getötet zu werden. Hier erfüllen die Juden diese Prophezeiung.
2. An vielen Stellen sagte der Herr, dass er »erhöht« würde (Joh 3,14; 8,28; 12,32.34). Das bezog sich auf den Tod durch Kreuzigung. Die Juden steinigten Menschen, welche die Todesstrafe verdient hatten; die Kreuzigung war eine römische Hinrichtungsm ethode. So erfüllten die Juden unbewusst durch ihre Weigerung, die Todesstrafe selbst durchzuführen, diese beid  en  Messiasweissagungen  (s. a. Ps 22,16).
18,33 Pilatus nahm Jesus mit sich »hinein in das Prätorium«, um ihn privat auszufragen. Er fragte ihn ganz direkt: »Bist du der König der Juden?«
18,34 Jesus antwortete ihm im Grunde: »Hast du als Prokurator je davon gehört, dass ich versucht hätte, die römische Herrschaft zu brechen? Ist dir je berichtet worden, dass ich mich als König habe ausrufen lassen, der Cäsars Macht untergraben will? Hast du selbst Grund für diese Anklage, oder hast du nur gehört, was diese Juden behauptet haben?«
18,35 Pilatus drückte mit seiner Frage (»Bin ich etwa ein Jude?«) echte Verachtung aus. Er meinte damit, dass er zu wichtig sei, um sich mit den internen Problemen der Juden herumzuschlagen. Doch durch seine Antwort gab er auch zu, dass er keine echte Anklage gegen Jesus hatte. Er wusste nur, was die Obersten der Juden ihm gesagt hatten.
18,36 Der Herr bekannte dann, dass er ein König wäre. Aber er war nicht ein König, auf den die Anklagen der Juden zutrafen. Er wollte Rom nicht bedrohen. Die Aufrichtung des Reiches Christi wird nicht mit Waffen erstritten. Anderenfalls hätten seine Jünger »gekämpft«, um seine Gefangennahme durch die Juden zu verhindern. Christi »Reich ist nicht von dieser Welt«. Es erhält keine Macht oder Autorität von ihr, seine Ziele und Perspektiven sind nicht fleischlicher Art.
18,37 Als Pilatus Jesus fragte, ob er »ein König« sei, antwortete Jesus: »Du sagst es, dass ich ein König bin.« Doch sein Reich ist ein Reich der »Wahrheit«, nicht der Waffen. Jesus ist »dazu in die Welt gekommen«, dass er »für die Wahrheit Zeugnis gebe«. Mit »Wahrheit« sind hier die Wahrheiten über Gott, Christus selbst, den Heiligen Geist, den Menschen, die Sünde und die Erlösung sowie alle anderen wichtigen Lehren des christlichen Glaubens gemeint. »Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört« seine »Stimme«, und auf diese Weise wächst das Reich Jesu.
18,38 Es ist schwer zu sagen, was Pilatus meinte, als er zu ihm sagte: »Was ist Wahrheit?« War er erstaunt, wurde er sarkastisch oder zeigte er Interesse? Wir wissen nur, dass die fleischgewordene Wahrheit vor ihm stand und er sie nicht erkannte. Pilatus eilte nun zu den Juden mit dem Geständnis, dass er an Jesus »keinerlei Schuld« finden konnte.
18,39 Bei den Juden war es »Brauch«, zum »Passah« für einen jüdischen Gefangenen von den Römern die Freiheit zu erbitten. Pilatus erinnerte sich an diesen Brauch, um den Juden zu gefallen und gleichzeitig Jesus freizulassen.
18,40 Der Plan ging fehl. Die Juden wollten nicht Jesus, »sondern den Barabbas. Barabbas aber war ein Räuber.« Das böse menschliche Herz wollte lieber einen Banditen als seinen Schöpfer. G. Das Urteil des Pilatus: Unschuldig und doch verurteilt (19,1-16)
19,1 Es war höchst ungerecht von Pilatus, einen Unschuldigen geißeln zu lassen. Vielleicht hoffte er, dass diese Strafe die Juden besänftigen würde und sie nicht weiterhin den Tod Jesu verlangten. Die Geißelung war eine römische Form der Strafe. Der Gefangene wurde mit einer Peitsche geschlagen. Darin waren Metalloder Knochenstücke eingearbeitet, die tiefe Wunden ins Fleisch schlugen.
19,2.3 »Die Soldaten« machten sich über Jesu Behauptung lustig, ein König zu sein. Nun sollte eine Krone für den König her! Doch sie nahmen »eine Krone aus Dornen«. Diese muss starke Schmerzen verursacht haben, als man sie ihm auf das Haupt drückte. Die Dornen sind ein Zeichen des Fluches, den die Sünde der Menschheit brachte. Hier haben wir das Bild des Herrn Jesus vor uns, wie er den Fluch unserer Sünden trägt, damit wir die Krone der Herrlichkeit empfangen können. Auch das »Purpurgewand« diente dem Spott. Purpur ist die Farbe der Könige. Doch wieder erinnert es uns daran, wie unsere Sünden auf den Herrn Jesus gelegt wurden, damit wir mit dem Gewand der Gerechtigkeit Gottes bekleidet werden können.
Wie schrecklich ist es, sich vorzustellen, dass der ewige Sohn Gottes von seinen eigenen Geschöpfen geschlagen wird! Münder, die er erschaffen hat, öffnen sich nun, um ihn zu verspotten!
19,4 »Pilatus ging wieder hinaus« zu den Angehörigen der Menschenmenge und kündigte an, dass er Jesus zu ihnen bringen würde, dieser aber unschuldig sei. So verurteilte sich Pilatus durch seine eigenen Worte. Er hatte an Christus keine Schuld gefunden, doch er wollte ihn nicht freilassen.
19,5 »Jesus nun ging hinaus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand.« Angesichts dieses Anblicks rief Pilatus aus: »Siehe, der Mensch.« Es ist schwer festzustellen, ob er das im Spott, in Sympathie oder ohne jede Gefühlsregung sagte.
19,6 »Die Hohenpriester« bemerkten, dass Pilatus wankend geworden war, und so schrien sie laut, dass Jesus gekreuzigt werden solle. Es waren religiöse Menschen, die auf den Tod des Heilands hinwirkten. Oft sind es durch die Jahrhunderte hindurch Vertreter der Amtskirche gewesen, die die wahren Gläubigen am bittersten bekämpft haben. Pilatus scheint von ihnen und ihrem rasenden Hass gegen Jesus angewidert gewesen zu sein. Er sagte im Grunde: »Wenn ihr dieser Meinung seid, warum ›nehmt ihr‹ ihn nicht selbst ›und kreuzigt ihn‹? Meiner Meinung nach ist er unschuldig.« Doch Pilatus wusste, dass die Juden ihn nicht hinrichten durften, weil Exekutionen zu dieser Zeit nur von den Römern durchgeführt werden durften.
19,7 Als sie sahen, dass sie mit ihrem Anliegen, Jesus als Gefahr für die Herrschaft Cäsars darzustellen, nicht erfolgreich gewesen waren, brachten sie wieder ihre religiöse Anklage gegen ihn vor. Christus behauptete, Gott gleich zu sein, indem er gesagt hatte, er sei »Gottes Sohn«. Für die Juden war das eine Lästerung, die mit dem Tode bestraft werden musste.
19,8.9 Die Möglichkeit, dass Jesus Gottes Sohn sein könnte, beunruhigte Pilatus. Er fühlte sich sowieso bei der ganzen Angelegenheit nicht recht wohl, doch auf dieses Wort hin »fürchtete er sich noch mehr«.
Pilatus nahm Jesus wieder »hinein in das Prätorium« bzw. das Gerichtsgebäude und fragte ihn, »woher« er komme. In dieser ganzen Angelegenheit ist Pilatus wirklich eine tragische Figur. Er selbst bekannte, dass Jesus kein Unrecht getan hatte, und doch hatte er nicht den Mut, ihn freizulassen, weil er die Juden fürchtete. Warum antwortete Jesus nun nicht? Weil er wahrscheinlich wusste, dass Pilatus sowieso nicht entsprechend seiner Erkenntnis handeln würde. Pilatus hatte durch seine Sünde den Tag der Errettung verpasst. Er sollte nicht noch mehr Licht erhalten, da er nicht auf das ihm schon gegebene Licht reagiert hatte.
19,10 Pilatus wollte dem Herrn eine Antwort entlocken, indem er ihn bedrohte. Er erinnerte Jesus daran, dass er als römischer Prokurator die »Macht« oder Autorität hatte, ihn »loszugeben« oder »zu kreuzigen«.
19,11 Die Selbstbeherrschung des Herrn Jesus ist bemerkenswert. Er war ruhiger als Pilatus selbst. Er antwortet ruhig, dass jede »Macht«, die Pilatus haben mochte, ihm von Gott »gegeben wäre«. Jede Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, und jede Autorität, ob in zivilrechtlicher, staatlicher oder geistlicher Hinsicht, kommt von Gott.
»Der, welcher mich dir überliefert hat«, kann sich beziehen auf: 1. Kaiphas, den Hohenpriester, 2. Judas, den Verräter, oder 3. das jüdische Volk im Allgemeinen. Der Gedanke hierbei ist, dass die Juden es besser gewusst haben sollten. Sie hatten die Schrift, die das Kommen des Messias voraussagte. Sie hätten ihn erkennen müssen, als er kam. Doch sie lehnten ihn ab und wollten nun sogar seinen Tod erzwingen. Dieser Vers lehrt uns, dass es verschiedene Grade der Schuld gibt. Pilatus war schuldig, doch Kaiphas, Judas und alle anderen bösen Juden hatten noch größere Schuld.
19,12 Als Pilatus gerade bereit war, Jesus »loszugeben«, benutzten die Juden ihr letztes und vielversprechendstes Argument. »Wenn du diesen losgibst, bist du des Kaisers Freund nicht.« Als wenn sie an Cäsar interessiert gewesen wären! Sie hassten ihn. Sie hätten ihn gerne bes eitigt, statt unter seiner Herrschaft zu stehen. Doch hier geben sie vor, das Reich Cäsars vor der Bedrohung durch diesen Jesus zu schützen, der von sich behauptete, ein König zu sein! Sie ernteten die Bestrafung für diese schreckliche Heuchelei, als die Römer 70 n. Chr. in Jerusalem einm arschierten, die Stadt dem Erdb oden gleichmachten und ihre Einwohner abschlachteten.
19,13 Pilatus konnte es sich nicht leisten, dass diese Juden ihn der Untreue Cäsar gegenüber anklagten, deshalb unterw arf er sich gefügig der Menge. Er ließ Jesus jetzt an einen öffentlichen Platz namens »Steinpflaster« führen, wo solche Angelegenheiten verhandelt wurden.
19,14 In Wirklichkeit war das Passah am vorhergehenden Abend gefeiert worden. Der »Rüsttag des Passah« entspricht dem Rüsttag für das darauffolgende Fest. »Um die sechste Stunde« ist wahrscheinlich 6 Uhr morgens, doch gibt es einige ungelöste Probleme zur Zeitrechnung in den Evangelien. »Siehe, euer König!« Sehr wahrscheinlich wollte Pilatus die Juden mit diesem Ausruf ärgern und herausfordern. Er wollte ihnen die Schuld dafür geben, dass er aufgrund ihrer Vorgehensweise keine Argumente mehr hatte, Jesus freizugeben.
19,15 Die Juden bestanden darauf, dass Jesus gekreuzigt werden sollte. Pilatus verhöhnte sie mit der Frage: »Euren König soll ich kreuzigen?« Da erniedrigten sich die Juden so weit zu sagen: »Wir haben keinen König außer dem Kaiser.« Treuloses Volk! Sie lehnten Gott um eines bösen, heidnischen Herrschers willen ab.
19,16 Pilatus wollte den Juden einen Gefallen tun, und so übergab er Jesus den Soldaten, »dass er gekreuzigt würde«. Er liebte den Beifall der Menschen mehr als die Anerkennung durch Gott. H. Die Kreuzigung (19,17-24)
19,17 Das Wort, das mit »Kreuz« übersetzt wird, kann sich auf ein einzelnes Stück Holz (einen Pfahl) beziehen, aber auch auf zwei gekreuzte Balken. Jedenfalls war es so groß, dass ein Mann es normalerweise tragen konnte. Jesus »trug sein Kreuz« auf dem ersten Stück des Wegs zur Richtstätte. Die anderen Evangelien berichten, dass später ein anderer Mann namens Simon von Kyrene gezwungen wurde, es zu tragen. Die »Schädelstätte« könnte ihren Namen auf zweierlei Weise bekommen haben:
1. Der Ort selbst könnte einem Schädel geglichen haben, insbesondere, wenn es ein Hügel mit seitlichen Höhlen war. Dieses Golgatha nennt man heute in Israel »Gordons Golgatha«. 2. Golgatha war der Ort, an dem Kriminelle hingerichtet wurden. Man fand deshalb vielleicht Schädel und Knochen an dem Platz, doch im Licht der mosaischen Gesetze bezüglich der Bestattung ist das recht unwahrscheinlich.
19,18 Der Herr Jesus wurde mit Händen und Füßen an das Kreuz genagelt. Das Kreuz wurde aufgerichtet und in ein Loch im Erdboden gestellt. Der einzige vollkommene Mensch, der je gelebt hat, wurde so von den Seinen behandelt. Wenn Sie ihm bisher noch nicht Ihr Leben als Ihrem Herrn und Heiland anvertraut haben, frage ich Sie: Wollen Sie es nicht jetzt tun, wo Sie diesen schlichten Bericht lesen, wie er für Sie gestorben ist? Zwei Räuber wurden mit ihm gekreuzigt, »auf dieser und auf jener Seite«. Das war eine Erfüllung der Prophezeiung aus Jesaja 53,12: Er ließ »sich zu den Verbrechern zählen.«
19,19 Es war Sitte, eine »Aufschrift« über dem Kopf des Gekreuzigten zu befestigen, die den Grund seiner Hinrichtung angab. Pilatus befahl, dass sie folgenden Wortlaut haben sollte: »Jesus, der Nazoräer, König der Juden«. Sie wurde am Kreuz in der Mitte befestigt.
19,20 Alexander drückt die entsprechenden Gedanken mit folgenden wohlgesetzten Worten aus:
Auf Hebräisch, der heiligen Sprache der Stammväter und der Propheten. Auf Griechisch, der musikalischen und erhabenen Sprache, die dem sinnlich Wahrnehmbaren eine Seele zuschrieb und den philosophischen Abstraktionen eine Leiblichkeit verlieh. Auf Lateinisch, der Sprache der Menschen, die ursprünglich die stärksten aller Menschensöhne waren. Die drei Sprachen vertreten die drei Rassen und ihre Ideale: Offenbarung, Kunst und Literatur; Fortschritt, Krieg und Rechtsprechung. Wo immer diese drei Ziele der menschlichen Rasse existieren, wo immer eine Ankündigung in menschlicher Sprache gemacht werden kann, wo immer ein Herz zum Sündigen, eine Zunge zum Sprechen und ein Auge zum Lesen ist – dort hat das Kreuz eine Botschaft auszurichten.54 »Die Stätte … war nahe bei der Stadt.« Der Herr Jesus wurde außerhalb der Stadtmauer gekreuzigt. Der genaue Ort ist heute unbekannt.
19,21 »Die Hohenpriester« mochten die Formulierung der Aufschrift auf Jesu Kreuz ganz und gar nicht. Sie wollten eine Änderung dahin gehend, dass es sich um eine Behauptung Jesu und nicht um eine Tatsache handelte (die es allerdings war).
19,22 Pilatus wollte die Aufschrift jedoch nicht ändern. Er wurde immer unwilliger über die Juden und wollte ihnen nicht nochmals nachgegeben. Doch er hätte seine Entschlossenheit schon früher zeigen sollen!
19,23 Bei solchen Hinrichtungen war es den »Soldaten« erlaubt, die persönliche Habe des Hingerichteten unter sich aufzuteilen. Hier sehen wir, wie sie »seine Kleider« teilen. Offensichtlich waren es fünf Kleidungsstücke. Sie verteilten vier, doch blieb »das Unterkleid« übrig, das »ohne Naht« gewebt war und nicht zerrissen werden konnte, ohne dadurch wertlos zu werden.
19,24 Sie »losten« um das Gewand und gaben es dem hier nicht genannten Gewinner. Sie wussten wohl kaum, dass sie dadurch eine außergewöhnliche Prophezeiung erfüllten, die schon tausend Jahre vorher niedergeschrieben worden war (Ps 22,19). Diese erfüllten Weissagungen erinnern uns wieder von Neuem daran, dass dieses Buch das inspirierte Wort Gottes ist, wobei Jesus Christus wirklich der verheißene Messias ist. I. Jesus befiehlt seine Mutter Johannes an (19,25-27)
19,25 Viele Bibelausleger sind der Meinung, dass in diesem Vers die folgenden vier Frauen erwähnt werden: 1. Maria, die »Mutter« Jesu; 2. Marias »Schwester«, Salome, die Mutter des Johannes;
3. »Maria, des Klopas Frau« und 4. »Maria Magdalena«.
19,26.27 Trotz seiner eigenen Leiden hatte Jesus noch liebevoll auf andere acht. Als er seine »Mutter« und »den Jünger« Johannes sah, stellt er ihr Johannes als den vor, der nach seinem Tod den Platz ihres Sohnes einnehmen sollte. Indem er seine Mutter mit »Frau« ansprach, ließ er keineswegs Respektlosigkeit ihr gegenüber erkennen. Doch ist es bemerkenswert, dass er sie nicht »Mutter« nennt. Ist das eine Lehre für diejenigen, die versucht sein könnten, Maria auf einen Platz zu erheben, an dem sie angebetet wird? Jesus befahl Johannes hier, für Maria zu sorgen, als ob sie seine eigene Mutter sei. Johannes gehorchte und nahm Maria fortan »zu sich«.
J. Das Werk Christi wird vollendet (19,28-30)
19,28 Zwischen Vers 27 und 28 liegen zweifellos die drei Stunden der Finsternis – von Mittag bis um 15 Uhr. In dieser Zeit war Jesus von Gott verlassen und trug die Strafe für unsere Sünden. Sein Schrei (»Mich dürstet!«) weist auf tatsächlichen, leiblichen Durst hin, der durch die Kreuzigung verschlimmert wurde. Aber er erinnert uns auch daran, dass – so groß sein leiblicher Durst auch sein mochte – sein geistliches, durch den Durst versinnbildlichtes Verlangen nach der Errettung von Menschen noch größer war.
19,29 Die Soldaten gaben ihm »Essig« zu trinken. Sie banden wahrscheinlich einen »Schwamm« an einen Zweig Ysop und hielten ihn an seine Lippen. (Ysop ist eine Pflanze, die auch beim Passah Verwendung findet; s. 2. Mose 12,22.) Das ist nicht mit dem Essig zu verwechseln, der mit Galle gemischt und ihm schon vorher angeboten worden war (Matth 27,34). Dieses Betäubungsmittel hatte er nicht getrunken, weil es seine Schmerzen gelindert hätte. Er musste sein volles Bewusstsein behalten, als er unsere Sünden trug.
19,30 »Es ist vollbracht!« Das Werk, das der Vater ihm aufgetragen hatte, war vollendet! Er hat seine Seele als Sündopfer für uns ausgegossen. Es war das Werk der Erlösung und der Sühnung. Es ist wahr, dass er noch nicht gestorben war, doch sein Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung waren schon so sicher, als ob sie schon geschehen wären. Deshalb konnte der Herr Jesus auf diese Weise ankündigen, dass der Weg bereitet war, Sünder zu erlösen. Wir wollen Gott heute für das vollendete Werk des Herrn Jesus am Kreuz von Golgatha danken! Einige Ausleger meinen, dass »das Haupt neigen« bedeutete, er habe seinen Kopf zurückgelegt. Vine sagt: »Er ließ nicht als Sterbender hilflos den Kopf fallen, sondern brachte ihn bewusst in eine Ruhestellung.«
Dass Jesus »den Geist übergab«, weist auf die Tatsache hin, dass sein Tod willentlich geschah. Er bestimmte den Zeitpunkt seines Todes. Er hatte noch alles unter Kontrolle und übergab seinen Geist – eine Handlungsweise, die keinem normalen Menschen möglich ist. K. Die Soldaten durchbohren Jesu Seite (19,31-37)
19,31 Und wieder sehen wir, wie sorgfältig diese frommen Juden ihre Vorschriften einhielten, obwohl sie gerade einen Mord begangen hatten. Sie siebten Mücken aus und verschluckten ein Kamel. Sie meinten, es sei nicht angemessen, dass »die Leiber am Sabbat (Samstag) am Kreuz blieben«. Es würde ein religiöses Fest in der Stadt gefeiert werden. So baten sie Pilatus, dass den dreien die »Beine gebrochen« würden, damit sie schneller stürben.
19,32 Die Schrift beschreibt nicht, wie man die Beine brach. Wahrscheinlich wurden sie an mehreren Stellen gebrochen, weil ein einziger Bruch nicht den Tod herbeiführen würde.
19,33 Die Soldaten hatten Erfahrung. Sie wussten, »dass Jesus schon gestorben war«. Es ist unmöglich, dass er nur betäubt oder ohnmächtig war. »Sie brachen ihm die Beine nicht.«
19,34 Es wird nicht erwähnt, warum »einer der Soldaten mit einem Speer seine Seite durchbohrte«. Vielleicht war es ein letzter Ausbruch der Verderbtheit seiner Seele. »Es war der kraftlose Schuss des besiegten Feindes nach der Schlacht, der den tief sitzenden Hass im Herzen des Menschen gegen Gott und seinen Christus beweist.« Es gibt keine einheitliche Auslegung der Bedeutung von »Blut und Wasser«. Einige sehen darin ein Zeichen, dass Jesus an gebrochenem Herzen starb, doch wir haben schon gelesen, dass sein Tod eine willentliche Handlung war. Andere sind der Meinung, dass sie von der Taufe und dem Herrenmahl sprechen, doch das scheint weit hergeholt zu sein. Blut bezeugt die Reinigung von der Sündenschuld, während Wasser die durch das Wort vollzogene Reinigung von der Befleckung durch die Sünde versinnbildlicht. Dies kommt in folgender Liedstrophe zum Ausdruck:
Lass das Wasser und das Blut, deiner Seite heil’ge Flut, mir das Heil sein, das frei macht von der Sündenschuld und -macht! Augustus Toplady,
deutscher Nachd ichter unbekannt
19,35 Vers 35 kann sich auf die Tatsache beziehen, dass seine Beine nicht gebrochen wurden, oder auf die Öffnung der Seite Jesu bzw. auf die gesamte Kreuzigungsszene.
19,36 Dieser Vers schaut offensichtlich auf Vers 33 zurück, der eine Erfüllung von 2. Mose 12,46 ist: »Ihr sollt kein Bein an ihm zerbrechen.« Das bezieht sich auf das Passahlamm. Gottes Anordnung lautete, dass die Knochen unzerbrochen blieben. Christus ist das wahre Passahl amm und erfüllt dieses Bild mit größter Genauigkeit.
19,37 Dieses Zitat bezieht sich auf Vers 34. Obwohl der Soldat es nicht wusste, erfüllte er auf wunderbare Weise eine andere Schriftstelle (Sach 12,10). »Der Mensch handelt in seiner Bosheit, doch Gott tut, was ihm gefällt.« Die Prophezeiung Sacharjas beschreibt den kommenden Tag, wenn gläubige Juden sehen werden, wie der Herr Jesus auf die Erde zurückkommt. »Sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen, wie man über den einzigen Sohn wehklagt.« L. Die Grablegung in Josefs Grab (19,38-42)
19,38 Hier beginnt der Bericht über die Grablegung Jesu. Bisher war »Josef von Arimathäa« nur im Geheimen ein Jünger Jesu gewesen. »Furcht vor den Juden« hatte ihn vom öffentlichen Bekenntnis zu Jesus abgehalten. Nun tritt er mutig in die Öffentlichkeit und bittet um »den Leib Jesu«, um ihn zu begraben. Indem er das tut, setzt er sich dem Ausschluss aus der jüdischen Volksgemeinschaft, der Verfolgung und der Gewalt aus. Es ist nur schade, dass er nicht bereit war, für seinen verworfenen Meister einzustehen, während Jesus noch seinen Dienst am Volk tat.
19,39.40 Die Leser des Johannesevangeliums kennen Nikodemus, nachdem sie ihm schon begegnet sind, als er »bei Nacht zu Jesus gekommen war« (Kap. 3) und als er darauf drängte, dass er ein gerechtes Verhör vor dem Hohen Rat bekäme (Joh 7,50.51). Er schloss sich nun Josef an und brachte »ungefähr hundert Pfund« »Myrrhe und Aloe« mit. Diese »wohlriechenden Öle« waren wohl zu Pulver verarbeitet worden und wurden über den Leib gestreut. Dann wurde der Leib »in Leinentücher« eingewickelt.
19,41 Fast jede Einzelheit dieses Abschnitts ist die Erfüllung einer Prophezeiung. Jesaja hatte vorausgesagt, dass die Menschen planen würden, den Messias mit den Gottlosen zu begraben, doch in seinem Tod ist er bei einem Reichen gewesen (Jes 53,9). »Eine neue Gruft« in einem »Garten« gehörte offensichtlich einem reichen Mann. Von Matthäus erfahren wir, dass das Grab Josef von Arimathäa gehörte.
19,42 Der Leib Jesu wurde in das Grab gelegt. Die Juden wollten die Sache mit dem Leib möglichst schnell erledigt haben, weil ihr Fest mit Sonnenuntergang begann. Doch all das war ein Teil des Beschlusses Gottes, dass der Leib drei Tage und drei Nächte lang im Herzen der Erde ruhen sollte. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass nach jüdischer Zählung auch ein angebrochener Tag als Tag gezählt wurde. So ist die Tatsache, dass der Herr drei Tage (angebrochene Tage mitgerechnet) im Grab lag, eine Erfüllung seiner Voraussage in Matthäus 12,40.
IX. Der Triumph des Sohnes Gottes (Kap. 20)
A. Das leere Grab (20,1-10)
20,1 Der »erste Wochentag« war unser heutiger Sonntag. »Maria Magdalena« ging vor Tagesanbruch »zur Gruft«. Es ist wahrscheinlich, dass die Gruft ein kleiner Raum war, der in den Abhang eines Hügels oder einer Klippe eingehauen war. Der Stein hatte Münzenform, rund und flach. Er passte in eine Rinne vor dem Eingang des Grabes und konnte darin vor die Öffnung der Gruft gerollt werden, um sie zu verschließen. Als Maria dorthin gelangte, war der Stein schon »von der Gruft weggenommen«. Das war übrigens geschehen, nachdem Christus auferstanden war, wie wir in Matthäus 28 erfahren.
20,2 Maria »läuft« sofort zu Petrus und Johannes und verkündigt ihnen atemlos, dass jemand »den Herrn aus der Gruft weggenommen« habe. Sie sagte nicht, wer das gewesen sein könnte. Sie gebraucht lediglich das Pronomen »sie«, um zu verstehen zu geben, dass sie nicht mehr wusste. Die Treue und Hingabe der Frauen bei der Kreuzigung und der Auferstehung unseres Herrn sollte beachtet werden. Die Jünger hatten den Herrn verlassen und waren geflohen. Die Frauen standen dabei, ohne auf ihre persönliche Sicherheit zu achten. Das ist durchaus bedeutungsvoll.
20,3.4 Man kann sich schwer vorstellen, was Petrus und Johannes gedacht haben mögen, als sie aus der Stadt zum Garten in der Nähe von Gethsemane eilten. Johannes sah »die Leinentücher daliegen«. Waren sie dem Leib abgenommen worden, oder lagen sie noch in der Weise da, wie sie um den Leib des Herrn gebunden waren? Wir vermuten, dass das Letztere der Fall war. »Doch ging er nicht hinein«, er blieb also draußen stehen.
20,6.7 Nun hatte Petrus Johannes eingeholt und »ging« ohne Zögern in das Grab »hinein«. Seine impulsive Art strahlt etwas aus, das uns spüren lässt, dass wir wesensmäßig mit ihm verwandt sind. Auch er »sieht die Leinentücher daliegen«, doch der Leib des Herrn war nicht da.
Die Einzelheit über das »Schweißtuch« ist hier angeführt worden, um anzudeuten, dass der Herr ordentlich und ohne Eile aufgebrochen war. Wenn jemand den Leib gestohlen hätte, so hätte er nicht das Schweißtuch »für sich zusammengewickelt an einem besonderen Ort« hingelegt!
20,8 Johannes ging nun in das Grab hinein und sah, dass die Leinentücher und das Schweißtuch ordentlich hingelegt worden waren. Doch wenn es heißt: »… und er sah und glaubte«, so geht es um mehr als um das Sehen mit den leiblichen Augen. Es bedeutet vielmehr, dass er verstand. Vor ihm lagen die Beweise für die Auferstehung Christi. Sie zeigten, was geschehen war, und »er glaubte«.
20,9 Bis dahin hatten die Jünger die entsprechende »Schrift« des AT nicht richtig verstanden. Dort hieß es, dass der Messias »aus den Toten auferstehen musste«. Der Herr selbst hatte es ihnen mehrmals gesagt, doch sie hatten es nicht begriffen. Johannes war der Erste, der es verstand.
20,10 Dann kehrten »die Jünger wieder heim«, wo immer sie sich auch in Jerusalem aufgehalten hatten. Sie hatten zweifellos geschlossen, dass es nutzlos war, weiter am Grab zu warten. Es war besser, umzukehren und den anderen Jüngern zu erzählen, was sie gesehen hatten.
B. Der Auferstandene erscheint Maria Magdalena (20,11-18)
20,11 Die ersten beiden Worte sind treffend: »Maria aber …« Die anderen beiden Jünger kehrten nach Hause zurück, Maria aber … Hier haben wir wieder die Liebe und Hingabe einer Frau. Ihr war viel vergeben worden, deshalb liebte sie viel. Sie hielt als Einzelne Wache außerhalb des Grabes und weinte, weil der Leib des Herrn, wie sie mutmaßte, von seinen Feinden gestohlen worden war.
20,12 Als sie nun in das Grab schaut, »sieht sie zwei Engel in weißen Kleidern dasitzen, … wo der Leib Jesu gelegen hatte«. Es ist bemerkenswert, wie ruhig und emotionslos diese aufregenden Tatsachen geschildert werden.
20,13 Maria schien weder erstaunt noch ängstlich zu sein. Sie beantwortete die Frage der Engel, als ob dies etwas ganz Normales war. Aus ihrer Antwort geht hervor, dass sie noch nicht verstanden hatte, dass Jesus auferstanden war und wieder lebte.
20,14 An diesem Punkt veranlasste sie irgendetwas, sich umzudrehen. Jesus selbst stand hinter ihr, doch sie erkannte ihn nicht. Es war noch immer früher Morgen, und vielleicht war es noch dämmrig. Weil sie fortwährend weinte, war ihre Sicht durch den Tränenschleier hindurch zweifellos getrübt. Auch verhinderte Gott eventuell, dass sie den Herrn erkannte, ehe nicht die richtige Zeit dazu gekommen war.
20,15 Der Herr stellte Maria zwei Fragen und wusste zugleich die Antwort darauf, doch er wollte ihr Anliegen aus ihrem eigenen Mund hören. Maria meinte, »es sei der Gärtner«. Der Heiland der Welt kann den Menschen manchmal sehr nahe sein, ohne dass er erkannt wird. Er kommt normalerweise in einer bescheidenen Haltung und nicht als einer der Großen der Erde. In ihrer Antwort benannte sie den Herrn nicht. Dreimal bezog sie sich auf »ihn«. Ihre Gedanken beschäftigten sich nur mit einer Person, wobei es ihrer Ansicht nach unnötig war, diese näher zu beschreiben.
20,16 Maria hörte nun eine bekannte Stimme, die sie beim Namen rief. Es konnte nun keinen Zweifel mehr geben – das war Jesus! Sie nannte ihn »Rabbuni« (mein großer »Lehrer«). Sie dachte noch immer an ihn als ihren großen Lehrer. Sie erkannte nicht, dass er nun viel mehr war als ihr Lehrer – er war jetzt ihr Herr und Heiland. Deshalb wollte ihr der Herr nun erklären, wie sie ihn künftig auf neue und bessere Weise erkennen würde.
20,17 Maria hatte Jesus persönlich als Menschen gekannt. Sie hatte Wunder geschehen sehen, als er leiblich anwesend war. Deshalb schloss sie, dass sie nicht darauf hoffen konnte, gesegnet zu werden, wenn er nicht auf sichtbare Weise bei ihr war. Der Herr musste hier ihr Denken korrigieren. Er sagte deshalb: »›Rühre mich nicht an‹, denn ich bin mehr als ein Mensch aus Fleisch und Blut. ›Ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.‹ Wenn ich in den Himmel zurückkehre, wird der Heilige Geist auf die Erde gesandt. Wenn er kommt, wird er mich deinem Herzen offenbaren, und zwar auf eine nie zuvor gekannte Weise. Ich werde dir näher und lieber sein, als es während meines Lebens hier auf der Erde möglich war.« Dann gab er ihr den Auftrag, zu seinen »Brüdern« zu gehen und ihnen davon zu berichten, dass die neue Ordnung begonnen habe. Zum ersten Mal nannte der Herr seine Jünger »meine Brüder«. Sie sollten wissen, dass sein Vater ihr Vater und sein Gott ihr Gott ist. Erst zu diesem Zeitpunkt waren die Gläubigen zu Söhnen und Erben Gottes geworden. Der Herr Jesus sagte nicht »unser Vater«, sondern »mein Vater und euer Vater«. Dies war darin begründet, dass Gott auf andere Weise der Vater Jesu ist, als dies in unserem Fall zutrifft. Gott ist von Ewigkeit her Vater des Herrn Jesus. Christus ist dadurch Sohn, dass er vor aller Ewigkeit gezeugt wurde. Der Sohn ist stellungsgleich mit dem Vater. Wir sind zu Söhnen Gottes geworden, indem er uns an Kindes statt angenommen hat. Es ist eine Beziehung, die mit dem Zeitpunkt unserer Errettung beginnt und niemals aufhören wird. Als Söhne Gottes sind wir nicht Gott gleichgestellt und werden es auch nie sein.
20,18 Maria Magdalena führte ihren Auftrag gehorsam aus und wurde, wie es jemand einmal ausgedrückt hat, »zur Gesandten für die Apostel«. Können wir dara n zweifeln, dass ihr dieses große Vorrecht als Belohnung für ihre Hingabe an Christus gegeben wurde?
C. Der Auferstandene erscheint seinen Jüngern (20,19-23)
20,19 Es war Sonntag-»Abend« geworden. »Die Jünger waren« versammelt, vielleicht in dem Obersaal, in dem sie sich auch vor drei Nächten eingefunden hatten. »Die Türen« waren »aus Furcht vor den Juden« verschlossen. Plötzlich sahen sie Jesus in ihrer »Mitte« und hörten ihn sprechen: »Friede euch!« Es scheint klar zu sein, dass der Herr den Raum betrat, ohne die Türen zu öffnen. Das war ein Wunder. Man sollte sich daran eri nnern, dass sein Auferstehungsleib ein echter Leib aus Fleisch und Bein war. Doch er hatte die Macht, Hindernisse zu überwinden und auch auf andere Weise unabhängig von den Naturgesetzen zu handeln. Die Worte aus seinem Mund (»Friede euch«) haben nun eine neue Bedeutung, weil Christus durch sein Blut am Kreuz Frieden gemacht hat. Diejenigen, die durch den Glauben gerechtfertigt sind, haben Frieden mit Gott.
20,20 Nachdem er ihnen den Frieden zugesprochen hatte, »zeigte er ihnen« die Zeichen seiner Leiden, wodurch der Friede erkauft worden war. Sie sahen die Nägelmale und die Wunde, die durch den Speer verursacht worden war. Freude erfüllte ihre Herzen, als sie erkannten, dass es wirklich »der Herr« war. Er hatte erfüllt, was er vorausgesagt hatte. Er war aus den Toten auferstanden. Der auferstandene Herr ist die Quelle aller Freude des Christen.
20,21 Vers 21 ist ein wunderbarer Vers. Die Gläubigen sind nicht dazu bestimmt, nur selbstsüchtig seinen Frieden zu genießen. Sie sollen ihn an andere weitergeben. So sendet er sie in die Welt, wie ihn »der Vater ausgesandt hat«: – Christus kam in Armut in die Welt. – Er kam als Knecht.
– Er machte sich selbst zu nichts. – Er fand Gefallen daran, den Willen des Vaters zu tun.
– Er machte sich eins mit den Menschen.
– Er ging umher und tat Gutes. – Er tat alles in der Kraft des Heiligen Geistes.
– Sein Ziel war das Kreuz. Nun sagte er zu den Jüngern: So »sende ich auch euch«.
20,22 Dies ist einer der schwierigsten Verse des gesamten Evangeliums. Wir lesen, dass Jesus die Jünger »anhauchte« und sagte: »Empfangt Heiligen Geist!« Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Geist erst später gegeben wurde, nämlich zu Pfingsten. Doch wie konnte der Herr diese Worte sprechen, ohne dass sie sofort verwirklicht wurden? Mehrere Erklärungen sind dafür gegeben worden:
1. Einige schlagen vor, dass der Herr hier nur eine Verheißung dessen gibt, was zu Pfingsten passieren sollte. Das ist kaum eine angemessene Erklärung.
2. Andere Ausleger stellen heraus, dass der Herr sagte: »Empfangt Heiligen Geist«, und nicht: »Empfangt den Heiligen Geist«. Sie schließen daraus, dass die Jünger nicht den Heiligen Geist in seiner Fülle empfingen. Vielmehr war der Geist in begrenztem Maße wirksam, als er sie z. B. die Wahrheit besser erkennen ließ, ihnen Kraft für ihren Auftrag zueignete und sie diesbezüglich führte. Nach Meinung dieser Ausleger sicherte der Herr den Jüngern hiermit zu, dass sie den Heiligen Geist empfangen würden, wobei er ihnen bereits einen Vorgeschmack auf diese Zeit gab. 3. Wieder andere meinen, dass hier eine volle Ausgießung des Heiligen Geistes stattfand. Angesichts solcher Feststellungen wie Lukas 24,49 und Apostelgeschichte 1,4.5.8 erscheint das unwahrscheinlich, weil dort das Kommen des Heiligen Geistes noch als zukünftiges Ereignis genannt wird. Aus Johannes 7,39 geht hervor, dass der Geist erst in seiner Fülle kommen konnte, nachdem Jesus verherrlicht worden, d. h. in den Himmel zurückgekehrt, war.
20,23 Dies ist ein anderer schwieriger Vers, über den es viele Kontroversen gegeben hat.
1. Eine Ansicht lautet, dass Jesus seinen Aposteln (und ihren Nachfolgern) die Macht gegeben habe, Sünden zu vergeben oder zu behalten. Dies ist ein direkter Widerspruch zu der biblischen Lehre, dass nur Gott Sünden vergeben kann (Lk 5,21). 2. Gaebelein zitiert eine andere Ansicht: »Die verheißene Macht und gegebene Autorität steht im Zusammenhang mit der Predigt des Evangeliums. Dari n wird verkündigt, zu welchen Bedingungen Sünden vergeben werden, und dass die Sünden bestehen bleiben, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden.«
3. Eine dritte Ansicht ist der zweiten sehr ähnlich und entspricht der von uns akzeptierten Anschauung. Sie lautet, dass die Jünger das Recht erhielten, die Sünde für vergeben zu erklären.
Lassen Sie uns ein Beispiel für diese dritte Ansicht geben. Die Jünger gehen hinaus, um das Evangelium zu predigen. Einige Menschen tun Buße angesichts ihrer Sünden und nehmen den Herrn Jesus auf. Die Jünger sind nun bevollmächtigt, ihnen zu sagen, dass ihre Sünden vergeben sind. Andere verweigern sich einer Umkehr und wollen nicht an Jesus glauben. Die Jünger sagen ihnen nun, dass sie noch in ihren Sünden sind und für immer verlorengehen, wenn sie in diesem Zustand sterben sollten. Zusätzlich zu dieser Erklärung sollten wir auch festhalten, dass den Jüngern besondere Vollmacht gegeben wurde, mit bestimmten Sünden umzugehen. In Apostelgeschichte 5,1-11 benutzte Petrus diese Macht, und daraufhin sterben Hananias und Saphira. Wir sehen in 1. Korinther 5,3-5.12.13, wie Paulus einem Übeltäter die Sünde belässt und die Sünde in 2. Korinther 2,4-8 vergibt. In diesen Fällen geht es um die Vergebung von der Strafe für diese Sünden in diesem Leben.
D. Zweifel wird zu Glauben (20,24-29)
20,24 Wir sollten nicht vorschnell die Schlussfolgerung ziehen, dass Thomas zu tadeln ist, weil er nicht anwesend war. Hier wird über den Grund seiner Abwesenheit nichts mitgeteilt.
20,25 Thomas ist jedoch für seine ungläubige Haltung zu tadeln. Er will ein sichtbares, greifbares Zeichen der Auferstehung des Herrn haben. Anderenfalls »werde ich nicht glauben«, sagt er. Darin besteht heute die Haltung vieler, doch ist sie nicht vernünftig. Sogar Naturwissenschaftler glauben vieles, das sie weder sehen noch berühren können.
20,26 Eine Woche später erschien der Herr seinen Jüngern erneut. Diesmal war »Thomas bei ihnen«. Und wieder betrat der Herr den Raum auf wunderbare Weise, und wieder begrüßt er sie mit »Friede euch!«
20,27 Der Herr geht sehr behutsam und geduldig mit seinem ungläubigen Nachfolger um. Er lädt ihn ein, die Echtheit seiner Auferstehung zu prüfen und seine Hand in die Speerwunde seiner Seite zu legen.
20,28 Thomas war überzeugt. Wir wiss en nicht, ob er seine Hand je in die Seite des Herrn gelegt hat. Doch er wusste schließlich, dass Jesus auferstanden war und dass er »Herr« und »Gott« ist. John Boys drückt dies sehr schön aus: »Weil er die Wunden sah, erkannte er die Göttlichkeit, die er nicht sehen konnte, an.«
20,29 Es ist wichtig festzuhalten, dass Jesus die Verehrung als Gott annahm. Wenn er nur ein Mensch gewesen wäre, hätte er sie ablehnen müssen. Doch der Glaube des Thomas war nicht so geartet, wie er Jesus am meisten gefiel. Er beruhte auf dem Sichtbaren. Glückseliger sind diejenigen, »die nicht gesehen und doch geglaubt haben«!
Der sicherste Beweis ist das Wort Gottes. Wenn Gott etwas sagt, dann ehren wir ihn, wenn wir ihm glauben, doch wir verunehren ihn, wenn wir zusätzliche Beweise fordern. Wir sollten einfach glauben, weil er es gesagt hat und er weder lügen noch irren kann.
E. Der Zweck des
Johannesevangeliums (20,30.31)
20,30.31 Nicht alle Wunder Jesu sind im Johannesevangelium beschrieben. Der Heilige Geist wählte die Zeichen aus, die seinem Zweck am besten dienten. Hier finden wir das Ziel, das Johannes mit der Abfassung dieses Buches verfolgte. Er schrieb es, dass seine Leser »glauben« sollten, »dass Jesus der Christus«, der wahre Messias, und »der Sohn Gottes« ist. Wenn sie »Glauben« hätten, dann würden sie auch das ewige »Leben in seinem Namen« haben.
Glauben Sie?
X. Epilog: Der Auferstandene bei den Seinen (Kap. 21)
A. Christus erscheint seinen Jüngern in Galiläa (21,1-14)
21,1 Der Schauplatz verlagert sich nun an den »See von Tiberias« (d. h. an den See Genezareth). Die Jünger waren nordwärts in ihre Heimat gereist. Der Herr Jesus begegnete ihnen dort. Der Ausdruck »er offenbarte sich aber so« bedeutet, dass Johannes nun beschreibt, wie Jesus ihnen erschienen ist.
21,2 Sieben Jünger waren zu diesem Zeitpunkt »zusammen« – »Simon Petrus und Thomas, genannt Zwilling, und Nathanael, der von Kana in Galiläa war, und die Söhne des Zebedäus (Jakobus und Johannes) und zwei andere von seinen Jüngern«, deren Namen wir nicht kennen.
21,3 Simon Petrus beschloss, auf den See hinauszufahren, um zu »fischen«. Die anderen waren einverstanden, ihm dabei zu helfen. Das scheint eine ganz natürliche Entscheidung zu sein, obwohl einige Ausleger der Meinung sind, dass sie hinausfuhren, ohne vorher nach dem Willen Gottes gefragt zu haben. »In jener Nacht fingen sie nichts.« Doch sie waren nicht die ersten Fischer, die eine Nacht lang erfolglos fischten! Sie sind ein Bild für die Nutzlosigkeit menschlichen Handelns ohne göttliche Hilfe, insbesondere wenn es um die wichtige Aufgabe geht, Menschenfischer zu sein.
21,4 Jesus wartete auf sie, als sie am »frühen Morgen« ans Ufer kamen, obwohl sie ihn nicht erkannten. Es war vielleicht noch recht dunkel, oder aber Gottes Macht hielt sie davon ab, Jesus zu erkennen.
21,5 Der Herr fragte: »Habt ihr wohl etwas zu essen?« Enttäuscht mussten sie mit »Nein« antworten.
21,6 Ihres Wissens nach war er einfach ein Fremder, der am Ufer entlangging. Doch auf seinen Rat hin warfen »sie das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus«, und siehe da – sie fingen sehr viele Fische. Es waren so viele, dass sie das Netz nicht mehr ins Boot ziehen konnten. Das zeigt, dass der Herr Jesus genau wusste, wo sich die Fische im See befanden. Es lehrt uns auch, dass wir keine leeren Netze mehr haben, wenn der Herr unseren Dienst leitet. Er weiß, wo Menschen sind, die auf die Errettung warten. Dabei will er uns zu ihnen führen, wenn wir ihn gewähren lassen.
21,7 Johannes erkannte als Erster »den Herrn« und sagt es sofort Petrus. Der »gürtete das Oberkleid um« und näherte sich dem Ufer. Uns wird nicht gesagt, ob er schwamm oder ob er watete bzw. sogar auf dem Wasser ging (wie einige Ausleger meinen).
21,8 »Die anderen Jünger« ruderten mit dem Fischerboot zum Ufer und zogen das Netz das restliche Stück an Land.
21,9 Der Heiland hatte ihr Frühstück schon fertig – gebratenen »Fisch … und Brot«. Wir wissen nicht, ob der Herr diese Fische gefangen oder auf wunderbare Weise erhalten hat. Doch wir erkennen, dass er nicht von unseren schwachen Bemühungen abhängig ist. Zweifellos werden wir im Himmel erfahren, dass zwar viele Menschen durch Predigt und persönliches Zeugnis gerettet worden sind, doch bei vielen anderen geschah dies durch den Herrn selbst ohne jede menschliche Hilfe.
21,10 Er befahl ihnen nun, das Netz mit den Fischen an Land zu ziehen – nicht, um sie zu braten, sondern um sie zu zählen. Als sie dies taten, wurden sie daran erinnert, dass »das Geheimnis des Erfolgs darin besteht, auf sein Gebot hin zu wirken und im vorbehaltlosen Gehorsam gegenüber seinem Wort zu handeln«.
21,11 Die Bibel gibt uns die genaue Anzahl der Fische im Netz an (»hundertdreiundfünfzig«). Es gibt viele interessante Erklärungen hinsichtlich der Bedeutung dieser Zahl:
1. Die Zahl der Sprachen in der Welt zu jener Zeit.
2. Die Zahl der Volksgruppen oder Stämme in der Welt, die das Evangelium erreichen würde.
3. Die Zahl der verschiedenen Fischarten im See Genezareth bzw. in den Weltmeeren.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Zahl von der Vielfalt derer spricht, die durch die Predigt des Evangeliums gerettet werden würden – einige aus jedem Stamm und jedem Volk. Die Fischer wussten, wie bemerkenswert es war, dass »das Netz nicht zerriss«. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass es »Gottes Werk, nach Gottes Willen ausgeführt, nie an Gottes Möglichkeiten fehlen wird«. Wer so handelt, wird sehen, dass das Netz nicht reißt.
21,12 Die Jünger hörten die Einladung zum Frühstück und sammelten sich um das Kohlenfeuer, um an den guten Gaben teilzuhaben, die der Herr ihnen bereitet hatte. Petrus muss seinen eigenen Gedanken nachgehangen haben, als er das Kohlenfeuer erblickte. Erinnerte er sich an das Kohlenfeuer, an dem er sich wärmte, als er den Herrn verleugnet hatte? Die Jünger waren angesichts der Gegenwart des Herrn in seltsamer Weise von Ehrfurcht erfüllt. Sie waren sich auch des Ernstes dieser Situation bewusst. Da stand er in seinem Auferstehungsleib. Es gab so viele Fragen, die sie ihm gerne gestellt hätten. Doch sie wagten es nicht. »Sie wussten, dass es der Herr war«, selbst wenn sie spürten, dass ein gewisses Geheimnis seine Person umgab.
21,13 Jesus serviert ihnen nun das Frühstück. Und sie erinnerten sich sicherlich an ein ähnliches Ereignis, bei dem er die Fünftausend mit einigen Broten und Fischen versorgte.
21,14 Das war »das dritte Mal«, dass Johannes erwähnt, wie Jesus seinen Jüngern erschien. Aus den Evangelien geht hervor, dass er sich ihnen noch öfter zeigte. In diesem Evangelium erscheint er den Jüngern am Abend des Auferstehungstages, eine Woche später und nun am Ufer des Sees Genezareth. B. Die Wiederherstellung des Petrus (21,15-17)
21,15 Der Herr sorgte zuerst für die leiblichen Bedürfnisse der Jünger. Als sie sich aufgewärmt und gegessen hatten, wandte er sich an Petrus, um geistliche Angelegenheiten zu besprechen. Petrus hatte den Herrn dreimal öffentlich verleugnet. Seitdem hatte er Buße getan und war wieder in die Gemeinschaft des Herrn aufgenommen worden. In diesen Versen erkennt der Herr die Wiederherstellung des Petrus vor allen Anwesenden an. Es ist oft betont worden, dass in diesen Versen zwei verschiedene Worte für »lieben« gebraucht werden. Wir können Vers 15 folgendermaßen umschreiben: »›Simon, Sohn des Jona55, liebst du mich mehr, als diese« anderen Jünger mich lieben?‹ Er spricht zu ihm: »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.« Er wollte sich nicht mehr brüsten, dass er den Herrn nie verlassen würde, selbst wenn alle anderen es täten. Er hatte seine Lektion gelernt.
»Hüte meine Lämmer« lautete der Auftrag Jesu. Man kann seine Liebe gegenüber Christus auf sehr praktische Art dadurch zeigen, dass man die Jüngeren seiner Herde weidet. Interessant ist die Bemerkung, dass sich das Thema vom Fischen zum Schafehüten verlagert hatte. Das erste Thema spricht vom evangelistischen Dienst, das zweite steht für die Lehre und den Hirtendienst.
21,16 Zum zweiten Mal fragte der Herr Petrus, ob er ihn liebe. Petrus antwortete zum zweiten Mal, im echten Selbstmisstrauen: »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.« Diesmal spricht er zu ihm: »Hüte meine Schafe!« Es gibt Lämmer und Schafe in der Herde Christi, und sie brauchen die liebevolle Fürsorge eines Menschen, der den Hirten liebt.
21,17 So wie Petrus den Herrn dreimal verleugnet hatte, so wurde ihm dreimal Gelegenheit gegeben, ihn zu bekennen. Diesmal erwähnt Petrus die Tatsache, dass Jesus Gott ist und deshalb alles weiß. Er sagt zum dritten Mal: »Du erkennst, dass ich dich lieb habe.« Ein letztes Mal wird ihm gesagt, dass er seine Liebe zu Christus zeigen kann, indem er Christi »Schafe« hütet. Diesem Abschnitt liegt die Lehre zugrunde, dass Liebe gegenüber Christus der einzig annehmbare Beweggrund ist, um ihm zu dienen. C. Jesus sagt den Tod des Petrus voraus (21,18-23)
21,18 Als Petrus noch »jünger« war, hatte er große Bewegungsfreiheit. Er konnte gehen, »wohin« er »wollte«. Doch der Herr sagte ihm hier voraus, dass er gegen Ende seines Lebens gefangen genommen, gebunden und zur Hinrichtung geführt werden würde.
21,19 Dieser Vers erklärt Vers 18. Petrus »sollte Gott« durch den Märtyrertod »verherrlichen«. Derjenige, der den Herrn verleugnet hatte, sollte den Mut erhalten, sein Leben für ihn hinzugeben. Dieser Vers erinnert uns daran, dass wir Gott sowohl im Tod als auch im Leben verherrlichen können. Dann rief Jesus aus: »Folge mir nach!« Als er dies sagte, muss Petrus aufgebrochen sein.
21,20 Es hat den Anschein, dass Petrus im Begriff stand, dem Herrn zu folgen, als er »sich umwandte« und sah, wie Johannes auch »nachfolgte«. Hier hält Johannes inne, um sich als der zu erkennen zu geben, »der sich auch bei dem Abendessen an« Jesu »Brust gelehnt« und nach dem Namen des Verräters gefragt hatte.
21,21 Als Petrus Johannes sah, kam ihm die Frage in den Sinn: »Was ist mit Johannes? Wird auch er ein Märtyrer werden? Oder wird er noch leben, wenn der Herr wiederkommt?« Er fragte den Herrn nach der Zukunft des Johannes.
21,22 Die Antwort des Herrn lautete, dass Petrus sich nicht um die Zukunft des Johannes sorgen solle. Selbst wenn er bis zur Wiederkunft Christi überleben würde, ergäbe sich damit für Petrus kein Unterschied. Viel Versagen im christlichen Dienst entsteht dadurch, dass Jünger sich mehr miteinander beschäftigen, als mit dem Herrn selbst.
21,23 Die Worte des Herrn wurden falsch wiedergegeben. Er »sprach nicht zu ihm«, dass Johannes noch leben würde, wenn er wiederkäme. Er fragte Petrus nur, was das für ihn ändern würde, selbst wenn es der Fall wäre. Viele lesen aus der Tatsache, dass Jesus Johannes mit seiner Wiederkunft in Verbindung brachte, eine Bedeutung heraus. Demzufolge hatte Johannes das Vorrecht, die Offenbarung Jesu Christi zu verfassen und dabei das Ende der Zeit in großer Ausführlichkeit zu beschreiben.
D. Das abschließende Zeugnis des Johannes über Jesus (21,24.25)
21,24 Johannes fügt ein Wort des persönlichen Zeugnisses bezüglich der Richtigkeit seiner Worte hinzu. Andere sehen darin die Anerkennung des Johannesevangeliums durch die Ältesten der Gemeinde in Ephesus.
21,25 Wir haben keine Bedenken im Blick darauf, Vers 25 wörtlich zu nehmen. Jesus ist Gott und deshalb unendlich. Es gibt für die Bedeutung seiner Worte oder die Zahl seiner Taten keine Grenze. Als er hier auf Erden weilte, war er schon der Erhalter aller Dinge – der Sonne, des Mondes und der Sterne. Wer kann je alles beschreiben, was daran beteiligt ist, das Universum in Bewegung zu halten? Sogar in den Berichten über seine Wunder auf Erden fällt die Beschreibung äußerst knapp aus. Man denke nur an die Nerven, Muskeln, Blutzellen und anderen Organe, die er bei einer Heilung unter Kontrolle hatte. Man denke daran, wie er Herr über Kleinstlebewesen, Fischeund andere Tiere ist. Man denke an seine Führung bezüglich der menschlichen An­ gelegenheiten. Man denke an seine Kon­trolle über die Atomstruktur jeder Materie des Universums. Könnte »die Welt« etwa »die Bücher fassen«, die nötig wären, solche unendlichen Einzel­heiten festzuhalten? Die Frage verlangt ein bestimmtes »Nein« als Antwort.
Und so kommen wir zum Ende un­seres Kommentars über das Johannesevangelium. Vielleicht wissen wir nun etwas besser, warum es einer der am meisten geliebten Teile der Bibel ist. Sicher­lich kann man es kaum unter Gebet und Nachdenken lesen, ohne den darin vorgestellten Hochgelobten von Neuem ins Herz zu schließen.
1,1 Das Buch der Apostelgeschichte beginnt mit einer Erinnerung. Lukas, der geliebte Arzt, hatte für »Theophilus« schon einmal ein Werk verfasst, das wir heute als Evangelium nach Lukas kennen (vgl. Lk 1,1-4). In den letzten Versen dieses Evangeliums hatte er Theophilus berichtet, wie der Herr Jesus seinen Jüngern kurz vor seiner Himmelfahrt verheißen hatte, dass sie mit dem Heiligen Geist getauft werden würden (Lk 24,48-53). Nun will Lukas seinen Bericht fortführen. Daher wendet er sich nochmals dieser überwältigenden Verheißung zu und nimmt sie als Ausgangspunkt. Das ist auch sehr angemessen, weil in dieser Verheißung des Heiligen Geistes der Same für alle geistlichen Siege gelegt ist, die wir im Buch der Apostelgeschichte finden. Lukas beschreibt sein Evangelium als »ersten Bericht«. In ihm hatte er dargestellt, »was Jesus angefangen hat, zu tun und auch zu lehren«. In der Apostelgeschichte setzt er den Bericht fort, indem er die Dinge berichtet, die Jesus durch den Heiligen Geist fortfuhr, zu tun und zu lehren, nachdem er in den Himmel aufgefahren war.
Man beachte, dass der Dienst des Herrn sowohl im Tun als auch im Lehren bestand. Es war keine Lehre ohne Dienst und kein Bekenntnis ohne Tat. Der Heiland war die lebendige Verkörperung seiner Lehren. Er tat, was er anderen predigte.
1,2 Theophilus würde sich sicher dara n erinnern, dass das erste Buch des Lukas mit dem Bericht der Himmelfahrt endete, mit »dem Tag, an dem er in den Himmel aufgenommen wurde«. Er würde sich auch an die liebevollen letzten Anweisungen erinnern, die der Herr den elf »Aposteln« gegeben hatte, ehe er sie verließ.
1,3 Während der »vierzig Tage« zwischen seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt war der Herr seinen Jüngern erschienen und hatte ihnen die überzeugendsten »Kennzeichen« oder Beweise geliefert, dass er leiblich auferstanden war (vgl. Joh 20,19.26; 21,1.14). Während dieser Zeit hat er mit ihnen auch über »das Reich Gottes« gesprochen. Seine Aufmerksamkeit galt nie den Reichen dieser Welt, sondern dem Reich oder dem Herrschaftsgebiet, in dem Gott als König anerkannt wird. »Das Reich« darf nicht mit der Gemeinde verwechselt werden. Der Herr Jesus hatte sich selbst dem Volk Israel als König vorgestellt, wurde jedoch verworfen (Matth 23,37). Die Aufrichtung eines Reiches im wörtlichen Sinne musste deshalb zurückgestellt werden, bis sich Israel eines Tages bekehren und ihn als Messias annehmen wird (Apg 3,19-21). Im gegenwärtigen Zeitalter ist der König abwesend. Er hat jedoch ein unsichtbares Reich auf Erden (Kol 1,13). Es besteht aus allen, die sich zu ihm bekennen (Matth 25,1-12). In gewissem Sinne gehört dazu jeder, der behauptet, ein Christ zu sein. Das ist der äußere Bereich (Matth 13,1-52). Doch es gibt auch einen inneren Bereich, der nur die Menschen umfasst, die wiedergeboren sind (Joh 3,3.5). Das Reich in seinem gegenwärtigen Zustand wird in den Gleichnissen in Matthäus 13 beschrieben. Die Gemeinde ist etwas vollkommen Neues. Sie wurde in den Prophezeiungen des AT nicht erwähnt (Eph 3,5). Sie besteht aus allen Gläubigen von Pfingsten an bis zur Entrückung. Als Braut Christi wird die Gemeinde mit Christus im Tausendjährigen Reich regieren und für immer seine Herrlichkeit teilen. Christus wird gegen Ende der Großen Trübsal als König zurückkehren, seine Feinde vernichten und seine gerechte Herrschaft über die ganze Erde aufrichten (Ps 72,8).
Obwohl Christi Regierung von Jerusalem aus nur tausend Jahre dauern wird (Offb 20,4), so ist doch »das Reich« in dem Sinne ewig, dass alle Feinde Gottes für immer vernichtet sein werden und er ohne Widerstand oder Hindernisse für immer im Himmel herrschen wird (2. Petr 1,11).
1,4 Lukas berichtet nun von einer Zusammenkunft des Herrn mit seinen Jüngern, »als er mit ihnen versammelt« war, und zwar in einem Haus in »Jerusalem«. Der auferstandene Erlöser befahl »ihnen, sich nicht von Jerusalem zu entfernen«. Doch warum »Jerusalem«, werden sie sich gefragt haben! Für sie war das diejenige Stadt, in der sie gehasst, verfolgt und geschlagen wurden!
Aber in »Jerusalem« würde die Erfüllung der »Verheißung des Vaters« stattfinden. Das Kommen des Heiligen Geistes sollte in der Stadt geschehen, worin der Heiland gekreuzigt worden war. Die Gegenwart des Heiligen Geistes dort sollte ein Zeugnis gegen die Verwerfung des Sohnes Gottes durch die Menschen sein. Der Geist der Wahrheit sollte die Welt von der Sünde, der Gerechtigkeit und dem Gericht überführen – und das sollte zuerst in »Jerusalem« geschehen. Und die Jünger sollten den Heiligen Geist in der Stadt bekommen, in der sie den Herrn verleugnet hatten und geflohen waren, um ihre Haut zu retten. Sie sollten an dem Ort stark und furchtlos gemacht werden, an dem sie sich schwach und feige gezeigt hatten. Das war nicht das erste Mal, dass die Jünger von der »Verheißung des Vaters« hörten. Während seines gesamten irdischen Dienstes, insbesondere während seiner Rede im Obersaal, hatte Jesus ihnen von dem Helfer erzählt, der kommen sollte (s. Lk 24,49; Joh 14,16.26; 15,26; 16,7.13).
1,5 Nun wiederholt er bei seiner letzten Zusammenkunft mit ihnen seine Verheißung. Einige, wenn nicht alle von ihnen, waren bereits von »Johannes … mit Wasser« getauft worden. Die Taufe des Johannes war rein äußerlicher Art. Doch »nach nicht mehr vielen Tagen«2 sollten sie »mit Heiligem Geist getauft werden«, und diese Taufe sollte dann innerlicher und geistlicher Art sein. Die erste Taufe machte sie äußerlich eins mit dem bußfertigen Teil des Volkes Israel. Die zweite würde sie in die Gemeinde aufnehmen, in den Leib Christi. Sie würde ihnen die Kraft zum Dienst schenken. Jesus versprach, dass sie »mit Heiligem Geist getauft werden nach nicht mehr vielen Tagen«, doch die Taufe mit Feuer wird hier nicht erwähnt (Matth 3,11.12; Lk 3,16.17). Die letztere ist die Taufe des Gerichts nur für die Ungläubigen und wird erst in der Zukunft stattfinden. B. Der Auftrag des Herrn für die Apostel vor seiner Himmelfahrt (1,6-11)
1,6 Vielleicht fand das hier aufgezeichnete Ereignis auf dem Ölberg gegenüber von Betanien statt. Das war der Ort, von dem aus der Herr Jesus in den Himmel auffuhr (Lk 24,50.51).
Die Jünger hatten über das Kommen des Heiligen Geistes nachgedacht. Sie erinnerten sich, dass der Prophet Joel von einer Ausgießung des Geistes im Zusammenhang mit der herrlichen Regentschaft des Messias sprach (Joel 3,1). Deshalb schlossen sie, dass der Herr sein »Reich« bald aufrichten würde, da er zuerst gesagt hatte, dass er seinen Geist »nach nicht mehr vielen Tagen« senden würde. Ihre Frage offenbart, dass sie immer noch erwarteten, dass Christus sein irdisches Reich bald aufrichten würde.
1,7 Der Herr korrigierte ihre Haltung nicht, der zufolge sie seine irdische Herrschaft im wörtlichen Sinne erwarteten. Eine solche Hoffnung war und ist gerechtfertigt. Er sagte ihnen einfach, dass sie nicht »wissen« können, wann dieses Reich kommen werde. Das Datum wurde vom »Vater« in eigener »Vollmacht« festgesetzt, doch er hatte es vorgezogen, es nicht zu offenbaren. Das war eine Information, die nur Gott selbst besaß. Die Ausdrücke »Zeiten oder Zeitpunkte« wird in der Bibel benutzt, um auf verschiedene, von Gott vorhergesagte Ereignisse hinzuweisen, die im Zusammenhang mit dem Volk Israel noch ausstehen. Da die Jünger einen jüdischen Hintergrund hatten, würden sie verstehen, dass dieser Ausdruck sich hier auf die entscheidenden Tage vor und während der Aufrichtung der tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden bezieht.
1,8 Gerade hatte der Herr Jesus ihre Neugier im Blick darauf abgewiesen, wann dieses zukünftige Reich kommen wird. Nun lenkte der Herr Jesus ihre Aufmerksamkeit auf Naheliegenderes – auf das Wesen und den Bereich ihres Auftrags. Was das Wesen ihres Auftrags anging, sollten sie »Zeugen sein«; was ihren Wirkungsbereich betraf, sollten sie sowohl »in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde« Zeugen sein.
Doch zuerst mussten sie »Kraft empfangen«, nämlich die Kraft des »Heiligen Geistes«. Ohne diese Kraft gibt es kein christliches Zeugnis. Jemand mag hochbegabt, gut ausgebildet und sehr erfahren sein, doch ohne geistliche »Kraft« ist er machtlos. Auf der anderen Seite mag jemand ungebildet sowie wenig anziehend sein und sich nicht in der vornehmen Gesellschaft bewegen, doch wenn er mit der »Kraft« des »Heiligen Geistes« ausgestattet ist, wird er sich vor der Welt als ein Mensch erweisen, in dem das Feuer Gottes brennt. Die ängstlichen Jünger benötigten Kraft für ihr Zeugnis und heiligen Mut für die Evangeliumsverkündigung. Sie würden diese »Kraft« empfangen, »wenn der Heilige Geist auf« sie »gekommen ist«.
Ihr Zeugendienst sollte »in Jerusalem« beginnen. So hatte es die Gnade Gottes in bedeutungsvoller Weise vorher festgelegt. In der Stadt, worin der Herr gekreuzigt wurde, sollte man auch erstmals den Ruf zur Umkehr und zum Glauben an Jesus hören können.
Als Nächstes kam »Judäa,« der Süden Israels mit seinen im Judentum fest verwurzelten Bewohnern und Jerusalem als seiner Hauptstadt.
Dann folgte Samaria, das Gebiet im Herzen Palästinas mit seiner gehassten Mischbevölkerung, mit der die Juden nichts zu tun haben wollten. Und schließlich sollte es »bis an das Ende« der damals bekannten Welt gehen – sie sollten den heidnischen Völkern Zeugnis geben, die bisher von den gottesdienstlichen Vorrechten Israels ausgeschlossen waren. In diesen sich immer mehr weitenden Kreisen des Zeugnisses haben wir eine Zusammenfassung der Geschehnisse der Apostelgeschichte. 1. Das Zeugnis in Jerusalem (Kap. 1 – 7). 2. Das Zeugnis in Judäa und Samaria (Kap. 8,1 – 9,31).
3. Das Zeugnis bis an das Ende der Erde (Kap. 9,32 – 28,31).
1,9 Sobald der Herr seine Jünger ausgesandt hatte, »wurde er von ihren Blicken emporgehoben« in den Himmel. Mehr sagt uns die Schrift nicht: »Eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg.« Solch ein spektakuläres Ereignis wurde auf solch einfache und schlichte Weise beschrieben! Die Zurückhaltung, die sich die Autoren der Bibel bei ihrer Erzählung auferlegten, weist auf die Inspiration des Wortes hin, denn es ist normalerweise nicht so, dass die Menschen ungewöhnliche Ereignisse mit so viel Zurückhaltung berichten.
1,10 Wieder erzählt Lukas ohne Ausdruck von Erschrecken und Überraschung – und zwar von der Erschein ung »zweier Männer in weißen Kleid ern«. Sie waren offensichtlich Engelwesen, denen gestattet wurde, in Mens chengestalt auf der Erde zu erscheinen. Vielleicht waren es dieselben Engel, die am Grab nach der Auferstehung erschienen waren (Lk 24,4).
1,11 Als Erstes sprachen die Engel die Jünger als »Männer von Galiläa« an. Soweit wir wissen, stammten alle Jünger mit Ausnahme von Judas Iskariot aus dem Gebiet westlich des Sees Genezareth. Dann rissen die Engel sie aus ihrer Tagträumerei, während sie zum Himmel schauten. Warum sahen sie »hinauf zum Himmel«? War es Trauer, Anbetung oder Erstaunen? Sicherlich eine Mischung von allem, doch in erster Linie war es wohl Trauer. Deshalb wurde ihnen ein Trostwort gesagt: Der aufgefahrene Christus würde wiederkommen.
Hier haben wir eine deutliche Verheißung der Wiederkunft Christi, bei der er sein Reich auf Erden aufrichten wird. Es geht hier nicht um die Entrückung, sondern um die kommende Herrschaft Christi.
1. Er fuhr vom Ölberg in den Himmel auf (V. 12). 1. Er wird zum Ölberg zurückkehren (Sach 14,4). 2. Er fuhr persönlich in den Himmel auf. 2. Er wird persönlich wiederkommen (Mal 3,1). 3. Er fuhr sichtbar auf. 3. Er wird sichtbar wiederkehren (Matth 24,30). 4. Er wurde von einer Wolke aufgenommen (V. 9). 4. Er wird auf den Wolken des Himmels wiederkehren (Matth 24,30). 5. Er fuhr in Herrlichkeit auf. 5. Er wird mit großer Macht und Herrlichkeit wiederkehren (Matth 24,30).
C. Die Jünger warten unter Gebet in Jerusalem (1,12-26)
1,12 In Lukas 24,52 kehrten die Jünger mit großer Freude nach Jerusalem zurück. »Das Licht der Liebe Gottes erhellte die Herzen dieser Menschen und ließ ihre Gesichter trotz der vielen Anfechtungen um sie herum leuchten.«
Es war ein kurzer, ca. ein Kilometer langer Weg »von dem Berg, welcher Ölberg heißt«, durch das Kidrontal in die Stadt hinein. Es war die größte Entfernung, die ein Jude zur Zeit des Neuen Testaments an einem Sabbat gehen durfte.
1,13 Als sie in der Stadt waren, »stiegen sie hinauf in den Obersaal, wo sie sich aufzuhalten pflegten«.
Der Geist Gottes führt hier die Namen der Jünger zum vierten und letzten Mal auf (Matth 10,2-4; Mk 3,16-19; Lk 6,1416). Doch nun haben wir eine bemerkenswerte Lücke zu verzeichnen: Der Name des Judas Iskariot steht nicht mehr auf der Liste. Den Verräter hat sein verdientes Schicksal ereilt.
1,14 Als die Jünger sich versammelten, geschah das »einmütig«. Dieser Ausdruck, der elfmal in der Apostelgeschichte vorkommt, ist einer der Schlüssel zum Geheimnis des Segens. Wo Brüder in Einmütigkeit zusammenkommen, hat Gott den Segen verordnet – Leben bis in Ewigkeit (Ps 133).
Ein zweiter Schlüssel sind die Worte »verharrten … im Gebet«. Gott ist am Werk, wenn seine Leute beten. Das ist bis heute so geblieben. Normalerweise würden wir alles andere lieber tun als beten. Doch nur, wenn wir im ringenden, inständigen, gläubigen, innigen, andachtsvollen und gemeinsamen Gebet vor Gott verweilen, dann wird die belebende, kraftspendende Macht des Heiligen Geistes über uns ausgegossen. Man kann nicht genug betonen, dass Einheit und Gebetsfreudigkeit die Vorbedingungen dafür waren, dass Pfingsten kommen konnte.
»Mit« den Jüngern waren einige nicht namentlich genannte »Frauen« (wahrscheinlich diejenigen, die auch Jesus gefolgt waren) und auch »Maria, die Mutter Jesu, und seine Brüder« versammelt. Diesbezüglich sollten wir einige interessante Einzelheiten hervorheben. 1. Dies ist die letzte namentliche Erwähnung Marias im NT – zweifellos ein »stummer Protest gegen die Marienvergötzung«. Die Jünger beteten nicht zu ihr, sondern »mit« ihr. 2. Maria wird hier »Mutter Jesu« genannt, nicht jedoch »Mutter Gottes«. Jesus ist der irdische Name unseres Herrn. Weil er als Mensch von Maria geboren wurde, ist es nur richtig, wenn man sie »Mutter Jesu« nennt. Doch nirgends in der Bibel wird sie als »Mutter Gottes« bezeichnet. Obwohl Jesus Christus Gott ist, so ist es doch lehrmäßig ungenau und absurd, davon zu sprechen, dass Gott eine menschliche Mutter habe. Als Gott existierte Jesus Christus schon vor aller Zeit.
3. Aufgrund der Erwähnung der »Brüder« Jesu, die nach Maria erwähnt werden, ist es wahrscheinlich, dass diese wirkliche Söhne Marias und Halbbrüder Jesu waren. Einige andere Verse widerlegen außerdem die von vielen vertretene Ansicht, dass Maria zeitlebens jungfräulich geblieben sei und nach der Geburt Jesu keine Kinder mehr zur Welt gebracht habe (vgl. z. B.  Matth  12,46;  Mk  6,3;  Joh  7,3.5; 1. Kor 9,5; Gal 1,19; s. a. Ps 69,9).
1,15 Eines Tages, als »etwa hundertzwanzig« Jünger versammelt waren, wurde Petrus vom Geist geleitet, sie an die alttestamentlichen Schriften zu erinnern, die auf den Verräter des Messias hinwiesen.
1,16.17 Zu Beginn erwähnte Petrus eine Prophezeiung, die »David vorhergesagt hat über Judas,« die »erfüllt werden« musste. Doch bevor er diese Schriftstelle zitierte, wies er darauf hin, dass Judas als »Wegweiser« der Häscher Jesu gedient hatte, obwohl er einer der Zwölf gewesen war und an ihrem apostolischen Dienst teilgenommen hatte. Man beachte die zurückhaltenden Worte, die Petrus benutzt, um diese schreckliche Tat zu beschreiben. Judas wurde aus eigener Entscheidung zum Verräter und erfüllte damit die Prophezeiungen, dass jemand den Herrn an seine Feinde verkaufen würde.
1,18.19 Diese beiden Verse sind als Einschub des Lukas zu werten und sind kein Teil der Ansprache von Petrus. Sie ergänzen die historischen Tatsachen über Judas und seinen Tod und ebnen so den Weg für die Ernennung seines Nachfolgers.
Es besteht kein Widerspruch zwischen der Todesart des Judas, wie sie hier beschrieben wird, und der Beschreibung in Matthäus 27,3-10. Matthäus erklärt, dass Judas hinausging und sich erhängte, nachdem er die dreißig Silberstücke den Hohenpriestern und Ältesten zurückgegeben hatte. Die Hohenpriester nahmen dann das Geld und kauften eine Begräbnisstätte dafür.
Hier in der Apostelgeschichte heißt es, dass Judas »einen Acker« von dem Geld gekauft habe, »kopfüber gestürzt« sei und »alle seine Eingeweide … ausgeschüttet worden« seien.
Wenn man beide Berichte zusammen nimmt, dann ist es anscheinend so, dass das Feld von den Hohenpriestern gekauft wurde. Doch Judas kaufte den Acker in dem Sinne, dass die Hohenpriester sein Geld verwendeten und sozusagen handelten, als hätte er ihnen den Auftrag dazu erteilt. Er erhängte sich an einem Baum auf der späteren Begräbnisstätte, doch das Seil riss wahrscheinlich, sodass sein Leib hinunterfiel und dadurch »entzweigeborsten« ist.
Als dieser Vorfall in Jerusalem bekannt wurde, nannte man den Acker des Töpfers »Hakeldamach, das ist Blutacker« oder »blutiger Acker« auf Aramäisch.
1,20 Nach seinem erklärenden Einschub fährt Lukas mit der Ansprache des Petrus fort, nachdem er die Lage erklärt hat. Zuerst erklärt Petrus, dass David den Verräter in Psalm 69,26 beschrieben hat: »Seine Wohnung werde öde, und es sei niemand, der darin wohne.«3 Dann erwähnt er die Prophezeiung, die nun erfüllt werden muss: »Sein Aufseheramt empfange ein anderer« (Ps 109,8). Der Apostel Petrus verstand darunter, dass nach dem Abfall des Judas jemand anders als Ersatz ernannt werden müsse. Es ist gut, hier seinen Wunsch zu sehen, dem Wort Gottes zu gehorchen.
1,21.22 Wer immer auch gewählt werden mochte, musste zwei Anforderungen erfüllen:
1. Er musste einer von denen sein, die während der Zeit, in der Jesus seinen offiziellen Dienst auf der Erde tat, »mit« den Jüngern »gegangen sind« – das heißt »von der Taufe des Johannes« bis zur Himmelfahrt. 2. Er musste in der Lage sein, ein verlässliches Zeugnis der »Auferstehung« zu geben.
1,23-26 Zwei Männer werden nun vorgeschlagen, welche die notwendigen Bedingungen erfüllten, nämlich »Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen Justus, und Matthias«. Doch welchen sollten sie nun auswählen? Die Apos tel übergaben diese Angelegenheit dem Herrn und baten um eine Offenbarung seines Willens. Dann »gaben sie ihnen Lose«, und Matthias wurde als geeigneter Nachfolger des Judas, der »an seinen eigenen Ort«  gegangen  war  (d. h.  in  die  ewige Verdammnis), bestimmt.
Immer wieder wirft das Lesen dieses Abschnitts zwei Fragen auf: 1. Handelten die Jünger richtig, als sie Matthias aufstellten? Hätten sie nicht warten sollen, bis Gott den Apostel Paulus bestimmte, um die Lücke zu füllen?
2. War es richtig, Lose zu werfen, um den Willen des Herrn zu erfahren? In Bezug auf die erste Frage gibt es in den Aufzeichnungen keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Jünger falsch gehandelt haben könnten. Sie haben viel Zeit im Gebet verbracht. Sie wollten der Schrift gehorchen, und es bestand offensichtlich Einmütigkeit im Blick darauf, einen Nachfolger für Judas zu bestimmen. Außerdem war der Dienst des Paulus ganz anders als das Wirken der Zwölf, und es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass er Judas irgendwann hätte ersetzen sollen. Die Zwölf waren von Jesus auf der Erde auserwählt worden, um Israel das Evangelium zu predigen, während Paulus vom verherrlichten Christus in den Dienst gerufen und zu den Heiden gesandt wurde. Was das Losen angeht, finden wir diese Methode im AT als eine anerkannte Vorgehensweise, um den Willen des Herrn zu erfahren: »Im Gewandbausch schüttelt man das Los, aber all seine Entscheidung kommt vom Herrn« (Spr 16,33).
Offensichtlich war die Wahl des Matthias durch das Los vom Herrn gewollt, weil die Apostel danach wieder »die Zwölf« genannt werden (Apg 6,2).
Exkurs zum Gebet in der Apostelgeschichte
Die Apostelgeschichte ist ein Buch in Bezug auf erhörliches Gebet. Schon in Kapitel 1 haben wir gesehen, wie die Jünger bei zwei verschiedenen Anlässen beteten. Ihr Gebet im Obersaal nach der Auferstehung wurde zu Pfingsten erhört. Ihr Gebet um Führung bei der Wahl eines Nachfolgers für Judas wurde durch die Auslosung des Matthias erhört. Und so geht es im gesamten Buch weiter. Diejenigen, die zu Pfingsten bekehrt wurden, blieben beständig im Gebet (Apg 2,42). Die folgenden Verse beschreiben die idealen Bedingungen, die in dieser vom Gebet getragenen Gemeinschaft herrschten.
Nach der Freilassung von Petrus und Johannes beteten die Gläubigen um Freimütigkeit (4,29). Infolgedessen bebte das Haus, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimütigkeit (4,31). Die Zwölf schlugen vor, dass sieben Männer die finanziellen Angelegenheiten in die Hand nehmen sollten, damit sie ihre Zeit mehr dem Gebet und dem Dienst am Wort widmen konnten (6,3.4). Die Apostel beteten dann und legten den Sieben die Hände auf (6,6). Die nächsten Verse berichten von überwältigenden neuen Siegen für das Evangelium (6,7.8). Stephanus betete, als er den Märtyrertod starb (7,60). Kapitel 9 berichtet von einer Erhörung dieses Gebetes: Dort bekehrt sich ein Zuschauer dieser Steinigung, nämlich Saulus von Tarsus. Petrus und Johannes beteten für die Samariter, die gläubig geworden waren. Das Ergebnis war, dass sie den Heiligen Geist empfingen (8,15-17). Im Anschluss an seine Bekehrung betete Saulus von Tarsus im Hause des Judas. Gott beantwortete sein Gebet, indem er ihm Hananias sandte (9,11-17). Nachdem Petrus in Joppe gebetet hatte, wurde Tabita wiederauferweckt Paulus und Barnabas. Man hat darüber gesagt, dass dies »die vollmächtigste Auswirkung eines Gebetes war, die man je erlebt hat, denn durch Paulus und Barnabas, die beiden Missionare, wurden auf dieses Gebet hin die Enden der Erde (d. h. die Grenzen des Römischen Reiches) erreicht«.
Auf einer Rückreise über Lystra, Ikonion und Antiochia beteten Paulus und Barnabas für die gläubig gewordenen Menschen (14,23). Einer von ihnen war Timotheus. War es eine Antwort auf diese Gebete, dass sich Timotheus Paulus und Silas auf ihrer zweiten Missionsreise anschloss?
Im Gefängnis in Philippi wurden die mitternächtlichen Gebete von Paulus und Silas durch ein Erdbeben und die Bekehrung des Kerkermeisters sowie seiner Familie beantwortet (16,25-34). Paulus betete in Milet mit den Ältesten der Gemeinde in Ephesus (20,36). Nach diesem Gebet zeigten sie ihm ihre Zuneigung und ihre Trauer darüber, dass sie ihn in diesem Leben nicht mehr sehen würden.
Die Christen in Tyrus beteten am Ufer mit Paulus (21,5), und diese Gebete folgten ihm zweifellos bis nach Rom und bis zur Hinrichtungsstätte.
Vor seinem Schiffbruch betete Paulus öffentlich und dankte Gott für die Speise. Dies ermunterte die verzweifelte Besatzung und die Passagiere (27,35.36). Auf der Insel Melite (Malta) betete Paulus für den kranken Vater des Statthalters. Als Ergebnis wurde der Mann auf wunderbare Weise geheilt (28,8). So scheint es eindeutig zu sein, dass die erste Gemeinde in einer Atmosphäre des Gebets lebte. Und wenn die Christen beteten, handelte Gott!
D. Pfingsten und die Geburt der Gemeinde (2,1-47)
2,1 Das Pfingstfest, das die Ausgießung des Heiligen Geistes versinnbildlichte, fand fünfzig Tage nach dem Fest der Erstlinge statt, das von der Auferstehung Christi kündete. An diesem besonderen »Tag des Pfingstfestes« waren »alle« Jünger »an einem Ort beisammen«. Die Stellen aus dem AT, die sich mit dem Pfingstfest befassen, könnten für sie ein geeignetes Gesprächsthema gewesen sein (s. z. B. 3. Mose 23,15.16). Oder vielleicht sangen sie Psalm 133: »Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen.«4
2,2 Das Kommen des Geistes konnte man hören, sehen und als Wunder erfahren. Das »Brausen«, das »aus dem Himmel« kam und »das ganze Haus … erfüllte«, war wie »ein gewaltiger Wind«. Wind steht zusammen mit anderen Sinnbildern (Öl, Feuer, Wasser) in der Bibel für den Heiligen Geist. Diese Bilder sprechen von seinem souveränen, unvorhergesehenen Wirken.
2,3 Sehen konnte man »zerteilte Zungen wie von Feuer«, die sich »auf jeden einzelnen« Jünger »setzten«. Es heißt nicht, dass es Feuerzungen waren, sondern »Zungen wie von Feuer«. Dieser Vorgang darf nicht mit der Feuertaufe verwechselt werden. Obwohl die Taufe mit dem Geist und die Feuertaufe gemeinsam behandelt werden (Matth 3,11.12; Lk 3,16.17), handelt es sich doch um zwei verschiedene, voneinander getrennte Ereignisse. Bei der ersten handelt es sich um eine Segenstaufe, bei der zweiten um eine Gerichtstaufe. Die erste betrifft Gläubige, die zweite hat mit Ungläubigen zu tun. Durch die erste empfingen Gläubige den innewohnenden Geist, der ihnen Vollmacht gab und die Gemeinde gründete. Durch die zweite werden die Ungläubigen vernichtet werden. Wenn Johannes der Täufer unter seinen Zuhörern sowohl Bußfertige als auch Unbußfertige hatte (s. Matth 3,6.7), sagte er, dass Christus sie mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen werde (Matth 3,11). Wenn er nur vor denen sprach, die wirklich Buße taten (Mk 1,5), verhieß er ihnen, dass Christus sie mit dem Heiligen Geist taufen werde (Mk 1,8).
Was bedeuten nun die »zerteilten Zungen wie von Feuer« in der Apostelgeschichte? Die Zungen beziehen sich sicherlich auf die Sprache, und wahrscheinlich auf die wunderbare Gabe des Sprechens in fremden Sprachen, die den Aposteln bei diesem Ereignis zugeeignet wurde. Das »Feuer« kann sich auf den Heiligen Geist als Quelle dieser Gabe beziehen. Es kann auch den unerschrockenen, brennenden und eifrigen Predigtdienst beschreiben, der auf die Ausgießung des Geistes folgen sollte. Der Gedanke des Eifers scheint hier besonders angebracht zu sein, weil Eifer für Christus der Normalzustand eines geisterfüllten Lebens ist und das Zeugnis eine normale Folge davon darstellt.
2,4 Das mit Pfingsten verbundene Wunder war die Erfüllung »mit Heiligem Geist«, der das Reden »in anderen Sprachen« folgte.
Bis dahin war der Geist Gottes bei den Jüngern gewesen, doch nun nahm er seine Wohnung in ihnen (Joh 14,17). Deshalb markiert dieser Vers einen wichtigen Wendepunkt in der Beziehung des Heiligen Geistes zu den Menschen. Im AT kam der Geist auf die Menschen, wohnte jedoch nicht ständig in ihnen (Ps 51,13). Seit Pfingsten wohnte der Geist ständig in Menschen: Er kam, um zu bleiben (Joh 14,16).
Seit Pfingsten wohnte der Heilige Geist nicht nur in den Gläubigen, sondern sie wurden von ihm auch erfüllt. Sobald wir gerettet werden, wohnt der Geist Gottes in uns, doch um mit dem Geist erfüllt zu werden, müssen wir die Bibel studieren, über dem Wort Gottes nachsinnen, regelmäßig beten und im Gehorsam gegenüber dem Willen des Herrn leben.5 Wenn das Erfülltsein mit dem Geist auch heute automatisch bei der Bekehrung erfolgen würde, so würden wir nicht ermahnt werden: »Werdet voller Geist« (Eph 5,18).
Das Kommen des Geistes zu Pfingsten bildete aus den Gläubigen die Gemeinde, den Leib Christi. »Denn in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt worden«  (1. Kor  12,13).  Von  nun  an  sollten die gläubigen Juden und Heiden zu einem neuen Menschen in Jesus Christus werden und damit zu Gliedern an einem Leib (Eph 2,11-22).
Die Jünger, die »mit Heiligem Geist erfüllt« wurden, »fingen an, in anderen Sprachen zu reden, wie der Geist ihnen gab auszusprechen«. Aus den folgenden Versen wird deutlich, dass ein Wunder geschehen war, wodurch sie in die Lage versetzt wurden, wirklich in fremden Sprachen zu reden, die sie nie vorher gelernt hatten. Es ging hier nicht um Gestammel oder ekstatische Äußerungen, sondern um definierte Sprachen, die zu dieser Zeit in verschiedenen Weltgegenden in Gebrauch waren. Diese Gabe der »Sprachen« (»Zungen« in der Anmerkung der revidierten Elberfelder Bibel) war eines der Zeichen oder Wunder, die Gott benutzte, um die Wahrheit der Botschaft zu bezeugen, die von den Aposteln gepredigt wurde (Hebr 2,3.4). Zu dieser Zeit war das NT noch nicht geschrieben. Weil das vollständige Wort Gottes heute in schriftlicher Form verfügbar ist, ist die Notwendigkeit der Zeichengaben im Großen und Ganzen nicht mehr gegeben (obwohl der souveräne Geist Gottes sie natürlich noch immer benutzen könnte, wenn er es wünschen würde). Man darf die Gabe der »Sprachen« am Pfingsttag nicht als Beweis dafür verwenden, dass diese Gabe ständig mit der Gabe des Geistes einhergeht. Wenn das der Fall wäre, warum wird die Sprachenrede nicht erwähnt bei:
1. der Bekehrung der 3000 (Apg 2,41)? 2. der Bekehrung der 5000 (Apg 4,4)? 3. dem Empfang des Heiligen Geistes durch die Samariter (Apg 8,17)? Die Gabe des Sprachenredens wird in der Apostelgeschichte nur zweimal erwähnt, und zwar:
1. bei der Bekehrung der Heiden im Hause des Kornelius (Apg 10,46); und 2. bei der erneuten Taufe der Johannesjünger in Ephesus (Apg 19,6). Ehe wir Vers 4 verlassen, sollten wir noch anmerken, dass es unter den Auslegern über das Thema der Taufe mit dem Heiligen Geist erhebliche Meinungsverschiedenheiten gibt. Dabei geht es sowohl darum, wie oft sie stattfand, als auch um ihre Auswirkungen.
Bezüglich der Häufigkeit vertreten Ausleger folgende Ansichten: 1. Die Taufe mit dem Heiligen Geist fand nur einmal statt – nämlich zu Pfingsten. Der Leib Christi entstand bei diesem Ereignis, und alle Gläubigen sind seitdem durch die Taufe in diesen Leib eingegliedert worden. 2. Die Taufe mit dem Heiligen Geist fand in drei oder vier Phasen statt – zu Pfingsten (Kap 2), in Samaria (Kap 8), im Haus des Kornelius (Kap 10) und in Ephesus (Kap 19).
3. Sie findet jedes Mal statt, wenn ein Mensch gläubig wird.
Wenn es um die Auswirkungen im Leben des Einzelnen geht, sind einige der Ansicht, dass es sich um »ein zweites Werk der Gnade« handelt, das normalerweise nach der Bekehrung stattfindet und zu einer mehr oder weniger vollständigen Heiligung führt. Diese Ansicht findet von der Schrift her jedoch keinerlei Unterstützung. Wie wir schon erwähnt haben, ist die Taufe mit dem Heiligen Geist ein Vorgang, bei dem hinsichtlich der Gläubigen Folgendes geschieht:
1. Sie werden in den Leib Christi, die Gemeinde, eingegliedert (1. Kor 12,13). 2. Sie werden mit Vollmacht ausgerüstet (Apg 1,8).
2,5-13 »Juden, gottesfürchtige Männer« aus der gesamten damals bekannten Welt, hatten sich in Jerusalem versammelt, um das Pfingstfest zu feiern. Als sie das Gerücht über die Geschehnisse hörten, versammelten sie sich bei dem Haus, in dem die Apostel waren. Damals wurden die Menschen angezogen, als der Heilige Geist Gottes am Werk war. Dies ist auch heute der Fall. Nun hatte »die Menge« das Haus erreicht, worin die Apostel bereits in Sprachen redeten. Zu ihrem Erstaunen hörten die Besucher, dass diese galiläischen Jünger in vielen verschiedenen fremden Sprachen redeten. Das Wunder geschah jedoch nicht an den Zuhörern, sondern an den Jüngern. Ob die Zuhörer nun Juden durch Geburt oder zum Judentum übergetreten waren, ob sie aus dem Osten oder Westen, dem Norden oder Süden kamen – jeder von ihnen hörte, wie die Jünger »in ihren Sprachen … von den großen Taten Gottes« redeten. Das Wort, das in Vers 6 und Vers 8 mit »Sprache« übersetzt wird, ist dasselbe Wort, von dem unser Fremdwort »Dialekt« abstammt (vgl. »Mundart« in ER; Anm. d. Übers.). Viele nehmen an, dass ein Ziel der Zungenrede zu Pfingsten darin bestand, dass das Evangelium den Menschen in vielen verschiedenen Sprachen gleichzeitig verkündigt wurde. So sagt z. B. ein Autor: »Gott gab sein Gesetz einem Volk in einer Sprache, doch er gab sein Evangelium allen Völkern in allen Sprachen.« Doch der Text unterstützt diese Annahme nicht. Diejenigen, die in Zungen redeten, sprachen »von den großen Taten Gottes« (2,11). Das war ein Zeichen für  das  Volk  Israel  (1. Kor  14,21.22),  das sie in Erstaunen versetzen sollte. Petrus predigte dann im Gegensatz dazu das Evangelium in einer Sprache, welche die meisten seiner Zuhörer, wenn nicht alle, verstehen konnten.
Die Besucher reagierten sehr unterschiedlich auf die Sprachenrede. Einige waren sehr interessiert, während andere den Aposteln vorwarfen, »voll süßen Weines« zu sein. Die Jünger standen wirklich unter dem Einfluss einer fremden Macht, doch es war der Einfluss des Heiligen Geistes und nicht derjenige des Weingeistes!
Nicht wiedergeborene Menschen haben für ein geistliches Ereignis immer eine natürliche Erklärung parat. Als einmal Gottes Stimme vom Himmel zu hören war, sagten einige, es habe gedonnert (Joh 12,28.29). Nun erklärten Ungläubige die überschwängliche Freude der Jünger spottend mit »süßem Wein«. »Es liebt die Welt,« so sagte Schiller, »das Strahlende zu schwärzen und das Erhab’ne in den Staub zu zieh’n«.
2,14 Der Jünger, der einst den Herrn mit Schwüren und Flüchen verleugnet hat, tritt nun vor die Menge und spricht sie an. Er ist nicht mehr der furchtsame und schwankende Jünger. Stattdessen ist er kräftig wie ein Löwe geworden. Pfingsten hat ihn so verändert. Petrus ist nun vom Geist erfüllt.
In Cäsarea Philippi hatte der Herr dem Petrus versprochen, ihm die Schlüssel des Himmelreiches zu geben (Matth 16,19). Hier in Apostelgeschichte 2 sehen wir, wie er diese Schlüssel benutzt, um den Juden die Tür zu öffnen. Später (in Kapitel 10) wird er sie den Heiden ebenfalls öffnen.
2,15 Zunächst erklärt der Apostel, dass die ungewöhnlichen Ereignisse dieses Tages nicht auf süßen Wein zurückzuführen seien. Schließlich war es erst 9 Uhr morgens, und es wäre wirklich unerhört gewesen, wenn so viele Menschen schon zu so früher Stunde »betrunken« gewesen wären. Auch aßen und tranken Juden, die an den gottesdienstlichen Abläufen der Synagoge teilnahmen, an diesem Festtag normalerweise bis um 10 Uhr morgens, manchmal sogar bis zum Mittag, nichts. Dies richtete sich danach, wann das tägliche Opfer dargebracht wurde.
2,16-19 Die wirkliche Erklärung lautete, dass Gottes Geist ausgegossen worden war, wie »durch den Propheten Joel gesagt ist« (Joel 3,1.2). Jedoch waren die Ereignisse zu Pfingsten keine vollständige Erfüllung der Prophezeiung Joels. Die meisten Ereignisse, die in den Versen 17-20 beschrieben werden, sind während des Pfingstfestes nicht in Erfüllung gegangen. Doch was zu Pfingsten geschah, war ein Vorgeschmack der Ereignisse »in den letzten Tagen, … ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt«. Wenn Pfingsten die Prophezeiung Joels erfüllt hätte, fragt man sich: Warum wurde später eine Verheißung gegeben (3,19), dass Jesus zurückkommen und der Tag des Herrn kommen werde, wenn die Israeliten als Volk Buße tun und denjenigen annehmen würden, den sie gekreuzigt haben? Das Joelzitat ist ein gutes Beispiel für mehrfache Erfüllung einer Prophezeiung (auch als »Grundsatz des doppelten Bezugs« bekannt). Demzufolge geht eine biblische Weissagung zu einem gewissen Zeitpunkt teilweise und zu einem späteren vollständig in Erfüllung. Der Geist Gottes wurde zu Pfingsten ausgegossen, jedoch nicht wörtlich auf alles Fleisch. Die Prophezeiung wird zum Ende der Drangsalszeit endgültig erfüllt werden. Vor der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit wird es am Himmel »Wunder« geben und »Zeichen« auf der Erde (Matth 24,29.30). Der Herr Jesus Christus wird dann auf der Erde erscheinen, um seine Feinde zu besiegen und sein Reich aufzurichten. Zu Beginn seiner tausendjährigen Herrschaft wird der Geist Gottes »auf alles Fleisch« ausgegossen werden, sowohl auf Juden als auch Heiden, und dieser Zustand wird fast während des gesamten Tausendjährigen Reiches fortdauern. Es werden verschiedene Offenbarungen des Geistes ungeachtet des Geschlechts, des Alters oder der sozialen Stellung auftreten. Es wird »Gesichte« und »Traumgesichte« geben, womit die Tatsache angedeutet wird, dass die Betreffenden Erkenntnis empfangen. Außerdem werden Weissagungen auftreten, womit die Weitergabe der Erkenntnis an andere gemeint ist. So werden die Gaben der Offenbarung und Mitteilung für alle Menschen sichtbar. Das alles wird nach Joels Angaben »in den letzten Tagen« geschehen  (V. 17).  Dies  bezieht  sich  natürlich auf die letzten Tage Israels und nicht der Gemeinde.
2,20 Die übernatürlichen Zeichen am Himmel werden ausdrücklich für die Zeit vorhergesagt, »ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt«. In diesem Zusammenhang ist mit »dem Tag des Herrn« seine persönliche Wiederkunft auf die Erde gemeint. Dann wird er seine Feinde vernichten und in Macht und großer Herrlichkeit regieren.
2,21 Petrus schließt sein Joelzitat mit der Verheißung, dass »jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, errettet werden« wird. Die gute Botschaft für alle Zeitalter besteht darin, dass die Rettung aufgrund des Glaubens an den Herrn allen Menschen angeboten wird. Der »Name des Herrn« ist ein Ausdruck, der alles umschließt, was unser Herr ist. Deshalb bedeutet, seinen Namen anzurufen, ihn selbst anzurufen. Nur an ihn sollen wir glauben, wobei er der einzige Weg zur Errettung ist.
2,22-24 Doch wer ist der Herr? Petrus wird nun als Nächstes die aufrüttelnde Nachricht bringen, dass Jesus, den sie gekreuzigt haben, Herr und Christus ist. Er tut das, indem er zunächst vom Leben Jesu spricht, dann von seinem Tod, seiner Auferstehung, seiner Himmelfahrt und schließlich von seiner Verherrlichung »zur Rechten Gottes« des Vaters. Wenn die Menschen noch immer die Vorstellung hegten, dass Jesus noch in einem jüdischen Grab läge, dann wollte Petrus diese Vorstellungen schnell korrigieren! Ihnen musste gesagt werden, dass der, den sie ermordet hatten, nun im Himmel ist und sie noch immer mit ihm zu rechnen hätten.
So argumentiert der Apostel: »Jesus von Nazareth« wurde als »Mann … von Gott« durch die vielen »Wunder« erwiesen, die er in der Macht Gottes vollführte (V. 22).  »Nach  dem  bestimmten  Ratschluss und nach Vorkenntnis« Gottes wurde er »hingegeben« in die Hand des jüdischen Volkes. Sie wiederum übergaben ihn den Heiden (»Gesetzlosen«), damit er »an das Kreuz geschlagen und umgebracht« würde (V. 23). Doch »Gott« hat ihn »auferweckt« aus den Toten, »nachdem er die Wehen des Todes6 aufgelöst hatte«. Es war dem Tod »nicht möglich, dass« Jesus »von ihm behalten« wurde, denn es gilt Folgendes:
1. Das Wesen Gottes erforderte die Auferstehung Jesu. Er war als Sündloser für die Sünder gestorben. Gott musste ihn als Beweis dafür auferwecken, dass ihn das Sühnungswerk Christi vollkommen zufriedengestellt hatte. 2. Die Prophezeiungen des AT verlangten seine Auferstehung. Diesen wichtigen Punkt verfolgt Petrus in den folgenden Versen weiter.
2,25-27 In Psalm 16 hat David prophetisch über das Leben, den Tod, die Auferstehung und die Verherrlichung unseres Herrn geschrieben.
Was sein Leben betraf, so beschrieb David das unbegrenzte Vertrauen und die Zuversicht desjenigen, der in fortwährender Gemeinschaft mit dem Vater lebte. Sein Herz, seine Zunge und auch sein Fleisch und damit sein ganzes Sein waren von Freude und »Hoffnung« erfüllt. Über seinen Tod sagte David voraus, dass Gott seine »Seele nicht im Hades zurücklassen noch zugeben« würde, dass sein »Frommer Verwesung sehe«. Mit and eren Worten: Die Seele des Herrn Jesus sollte nicht in einem körperl osen Zustand bleiben, noch würde sein Leib der Verwerfung unterworfen werden. (Dieser Vers sollte nicht herangezogen werden, um zu beweisen, dass der Herr Jesus in irgendein »Gefängnis« von abges chiedenen Geistern in den Tiefen der Erde gegangen sei, während er tot war. Seine Seele ging in den Himmel7 (Lk 23,43), während sein Leib in ein Grab gelegt wurde.)
2,28 David drückt bezüglich der Auferstehung des Herrn seine Zuversicht im Blick darauf aus, dass Gott ihm den Weg des Lebens zeigen werde. In Psalm 16,11a schrieb David: »Du wirst mir kundtun den Weg des Lebens.« In Apostelgeschichte 2,28a zitiert Petrus folgendermaßen: »Du hast mir kundgetan Wege des Lebens.« Petrus veränderte die Zeitform: Statt der Zukunft gebrauchte er nun die Vergangenheit. Der Heilige Geist wies ihn offensichtlich dazu an, weil die Auferstehung nun Vergangenheit war. Die gegenwärtige Verherrlichung des Heilands wurde von David mit den Worten vorausgesagt: »Du wirst mich mit Freude erfüllen vor deinem Angesicht«, oder, wie Psalm 16,11 es ausdrückt: »Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar.«
2,29 Petrus erläutert weiter, dass David dies nicht von sich selbst sagen konnte, weil sein Leib zweifellos verwest war. »Sein Grab« war den Juden seiner Zeit wohlbekannt. Sie wussten, dass er nicht auferstanden war.
2,30.31 Als er den Psalm schrieb, sprach David als »Prophet«. Er erinnerte sich, dass Gott ihm verheißen hatte, »einen seiner Nachkommen auf seinen Thron zu setzen«. David erkannte, dass dieser Nachkomme der Messias sein würde. Dieser Verheißene würde zwar selbst sterben, doch seine Seele würde »weder im Hades zurückgelassen« werden, noch würde »sein Fleisch die Verwesung« sehen.
2,32.33 Nun wiederholt Petrus eine Ankündigung, die seine jüdischen Zuhörer sehr schockiert haben muss. Der Messias, von dem David gesprochen hat, war »Jesus« von Nazareth. »Diesen Jesus hat Gott auferweckt«, wie alle Apostel bezeugen konnten, da sie Augenzeugen seiner Auferstehung waren. Nach seiner Auferstehung wurde der Herr Jesus »durch die Rechte Gottes erhöht«, und nun war der »Heilige Geist« gemäß der Verheißung vom Vater gesandt worden. Dies war die Erklärung für die außergewöhnlichen Ereignisse dieses Tages in Jerusalem.
2,34.35 Hatte nicht auch »David« die Erhöhung des Messias vorausgesehen? Er sprach in Psalm 110,1 nicht von sich selbst. Stattdessen zitierte er, wie Jahwe zu seinem Messias sagt: »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße.« (Man beachte, dass die Verse 33-35 eine Wartezeit zwischen der Verherrlichung Christi und seiner Wiederkunft zur Bestrafung seiner Feinde und der Errichtung seines Reiches voraussagen.)
2,36 Und wieder fällt die Verkündigung wie ein Hammer auf die Juden. Gott hat gemacht sowohl zum Herrn als auch zum Christus – diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt. (Reihenfolge der Worte im Gr.) Bengel sagte dazu: »Der Stachel der Rede sitzt am Ende:« – «Diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt«. Sie hatten den Gesalbten Gottes »gekreuzigt« und das Kommen des Heiligen Geistes war der Beweis, dass Jesus in den Himmel erhoben worden war (s. Joh 7,39).
2,37 Die überführende Macht des Heiligen Geistes war so stark, dass die Zuhörer sofort reagierten. Ohne jede Einladung oder ohne jeden Aufruf von Petrus fragten sie: »Was sollen wir tun?« Die Frage wurde durch ein tiefes Verstehen ihrer Schuld ausgelöst. Sie erkannten nun, dass der Jesus, den sie ermordet hatten, Gottes geliebter Sohn war! Dieser Jesus war aus den Toten auferweckt und in den Himmel erhöht worden. Nachdem das geschehen war, stellte sich die Frage: Wie konnten sie als schuldige Mörder doch noch dem Gericht entgehen?
2,38 Die Antwort des Petrus lautete, dass sie »Buße tun« und sich »taufen lassen« sollten »auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung« ihrer »Sünden«. Als Erstes mussten sie »Buße tun«, ihre Schuld eingestehen und sich gegen sich selbst auf Gottes Seite stellen.
Dann sollten sie sich »zur Vergebung« ihrer Sünden »taufen lassen«. Auf den ersten Blick scheint dieser Vers die Erlösung durch die Taufe zu lehren, und viele Menschen bestehen darauf, dass dies hier wirklich gemeint sei. Solch eine Auslegung ist jedoch aus den folgenden Gründen falsch:
1. In Dutzenden von neutestamentlichen Stellen wird ausgesagt, dass die Erlösung durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus geschieht (z. B. Joh 1,12; 3,16,36; 6,47; Apg 16,31; Röm 10,9). Ein einzelner Vers kann diesem überwältigenden Zeugnis nicht widersprechen, auch zwei sind dazu nicht imstande.
2. Der Verbrecher am Kreuz hatte die Verheißung der Erlösung auch ohne Taufe (Lk 23,43).
3. Vom Herrn wird nicht berichtet, dass er irgendjemanden getauft hätte. Das wäre jedoch sehr seltsam, wenn die Taufe für die Erlösung notwendig wäre.
4. Der Apostel Paulus war dankbar, dass er nur einige wenige Korinther getauft hatte. Das wäre seltsam, wenn die Taufe erlösende Wirkung haben würde (1. Kor 1,14-16). Es ist wichtig festzuhalten, dass nur die Juden aufgefordert wurden, sich zur Vergebung der Sünden taufen zu lassen (s. Apg 22,16). In dieser Tatsache liegt unseres Erachtens das Geheimnis zum Verständnis dieses Abschnitts. Das Volk Israel hatte den Herrn der Herrlichkeit kreuzigen lassen. Die Juden hatten geschrien: »Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!« Das Volk Israel hatte damit beim Mord am Messias große Schuld auf sich geladen. Nun hatten einige dieser Juden ihren Fehler eingesehen. Durch ihre Buße gestanden sie Gott gegenüber ihre Sünde ein. Indem sie den Herrn Jesus als ihren Retter annahmen, wurden sie wiedergeboren und erhielten die ewige Vergebung der Sünden. Durch die öffentliche Wassertaufe trennten sie sich von dem Volk, das den Herrn gekreuzigt hatte und identifizierten sich stattdessen mit ihm. Die Taufe wurde so zum äußeren Zeichen, dass ihre Sünde in Verbindung mit der Verwerfung Christi (ebenso wie ihre anderen Sünden) abgewaschen wurden. Die Taufe löste sie aus ihrem jüdischen Umfeld und verpflanzte sie in die Gemeinschaft der Christen. Doch die Taufe an sich gab ihnen keine ewige Errettung. Das konnte nur der Glaube an Christus. Wenn man etwas anderes lehrt, so lehrt man ein anderes Evangelium und ist dadurch verflucht (Gal 1,8.9). Eine andere Auslegung der Taufe »zur Vergebung der Sünden« wird von Ryrie angeboten:
Das bedeutet nicht, dass die Betreffenden getauft wurden, um Sündenvergebung zu empfangen, denn überall im NT werden die Sünden aufgrund des Glaubens an Christus vergeben, nicht infolge der Taufe. Es geht hier darum, dass man wegen der Vergebung der Sünden taufte. Die griechische Präposition eis (für) hat nicht nur an dieser Stelle die Bedeutung »wegen«, sondern auch an solchen Stellen wie Matthäus 12,41, wo die Bedeutung nur sein kann »sie taten Buße wegen der Predigt des Jona«. Die Buße der Zuhörer Jonas war eine Folge seiner Verkündigung und keine Hinführung zu ihr. Die Buße brachte den Menschen zu Pfingsten die Vergebung der Sünden, und weil ihnen die Sünden vergeben waren, sollten sie sich taufen lassen.8 Petrus versicherte ihnen, dass sie, wenn sie Buße täten und »sich taufen« ließen, »die Gabe des Heiligen Geistes empfangen« würden. Wenn wir darauf bestehen wollten, dass diese Ordnung noch auf uns heute zuträfe, so würde das bedeuten, dass man Gottes Handeln in den ersten Tagen der Gemeinde missverstehen würde. Wie H. P. Barker so fundiert in The Vicar of Christ gesagt hat, gibt es vier Gemeinschaften der Gläubigen in der Apostelgeschichte, und die Abfolge der Ereignisse in Verbindung mit dem Empfang des Heiligen Geistes ist jedes Mal anders. Hier in Apostelgeschichte 2,38 lesen wir über die Judenchristen. Für sie galt die Ordnung:
1. Sie taten Buße.
2. Sie wurden mit Wasser getauft. 3. Sie empfingen den Heiligen Geist. Die Bekehrung der Samariter wird in Apg 8,14-17 beschrieben. Dort lesen wir von dieser Reihenfolge:
1. Sie glaubten.
2. Sie wurden mit Wasser getauft. 3. Die Apostel beteten für sie. 4. Die Apostel legten ihnen die Hände auf.
5. Sie empfingen den Heiligen Geist. In Apostelgeschichte 10,44-48 sehen wir die Bekehrung von Heiden. Man beachte hier die Reihenfolge: 1. Sie glaubten.
2. Sie empfingen den Heiligen Geist. 3. Sie wurden mit Wasser getauft. Als letzte Gemeinschaft finden wir noch den Kreis der Jünger Johannes’ des Täufers in Apostelgeschichte 19,1-7: 1. Sie glaubten.
2. Sie wurden erneut getauft. 3. Der Apostel Paulus legte ihnen die Hände auf.
4. Sie empfingen den Heiligen Geist. Bedeutet dies nun, dass es vier Heilswege in der Apostelgeschichte gibt? Natürlich nicht. Erlöst wurde damals derjenige, der an den Herrn Jesus Christus glaubte. Dies gilt auch heute und in Zukunft. Doch während der Übergangszeit in der Apostelgeschichte gefiel es Gott, die Ereignisse beim Empfang des Heiligen Geistes einmal in dieser, dann in jener Reihenfolge stattfinden zu lassen. Warum es ihm so gefiel, weiß nur er allein. Er hat uns darüber nichts geoffenbart. Welches dieser Muster gilt nun für uns heute? Weil Israel als Nation den Messias verworfen hat, haben die Juden alle Vorrechte verloren, die sie einmal gehabt haben. Heute beruft sich Gott aus den Nationen ein Volk für seinen Namen (Apg 15,14). Deshalb finden wir die Reihenfolge für heute in Apostelgeschichte 10:
1. Glaube
2. Empfang des Heiligen Geistes 3. Wassertaufe.
Wir glauben, dass diese Ordnung für alle Menschen heute gilt, sowohl für Juden als auch für Heiden. Das mag zunächst willkürlich erscheinen. Man mag fragen: »Wann wurde die Ordnung in Apostelgeschichte 2,32 für die Juden aufgehoben und die Ordnung in Apostelgeschichte 10,44-48 eingesetzt?« Natürlich können auch wir dafür kein genaues Datum angeben. Doch das Buch der Apos telgeschichte berichtet davon, dass ein allmählicher Übergang von der ausschließlichen Verkündigung des Evangeliums unter den Juden zur Verbreitung auch unter den Nationen stattfand, wobei die Heidenmission mit einer zunehmenden Ablehnung der Heilsbotschaft durch die Juden einherging. Zum Ende der Apostelgeschichte sind die Juden als Volk beiseitegesetzt. Durch ihren Unglauben hat Israel jedes besondere Recht als Gottes auserwähltes Volk verloren. Während des Zeitalters der Gemeinde wird Israel wie eine heidnische Nation behandelt, und Gottes Anordnung für die Heiden, wie sie in Apostelgeschichte 10,44-48 aufgezeigt wird, gilt auch für die Juden.
2,39 Petrus erinnert seine Zuhörer als Nächstes daran, dass »die Verheißung« ihnen  und  ihren  »Kindern«  (d. h.  dem jüdischen Volk) gelte, »und allen, die in der Ferne sind« (den Heiden), nämlich »so viele der Herr, unser Gott, hinzurufen wird«.
Die Angehörigen des Volkes, die gesagt hatten: »Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder«, erhalten nun die Verheißung der Gnade für sich und ihre Kinder, wenn sie nur dem Herrn vertrauen.
Dieser Vers ist oft irrtümlich dazu verwendet worden, um zu beweisen, dass Kinder gläubiger Eltern aufgrund dessen bestimmte »Bundesprivilegien« hätten oder damit gerettet seien. Spurgeon antwortet darauf treffend:
Weiß die Gemeinde Gottes nicht: »Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist«? »Wie könnte ein Reiner vom Unreinen kommen?« Die leibliche Geburt überträgt die fleischliche Unreinheit, doch sie kann den Frieden nicht vererben. Im neuen Bund wird uns ausdrücklich gesagt, dass die Kinder Gottes »nicht aus Geblüt, auch nicht aus dem Willen des Fleisches, auch nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind«.9
Wichtig ist hier festzuhalten, dass »die Verheißung« nicht nur »euch und euren Kindern«, sondern »allen« gilt, »die in der Ferne sind, so viele der Herr, unser Gott, hinzurufen wird«. Diese Verheißung gilt für alle, ebenso wie die Einladung des Evangeliums an »jeden« geht.
2,40 Es wird nicht die ganze Predigt des Petrus in diesem Kapitel wiedergegeben, doch im Wesentlichen lautete sie, dass die jüdischen Zuhörer sich aus diesem verdorbenen, »verkehrten Geschlecht« erretten lassen sollten, das den Herrn Jesus verworfen und ermordet hatte. Das konnte geschehen, indem sie Jesus als ihren Messias und Heiland annahmen und durch die christliche Taufe öffentlich erklärten, dass sie keinerlei Verbindung mehr mit dem schuldigen Volk Israel hätten.
2,41 Es gab eine große Bewegung unter den Menschen, die nach vorn drängten, weil sie getauft werden wollten. Die Taufe war ein öffentliches Zeichen dafür, dass sie die Predigt des Petrus als Wort des Herrn »gern10 annahmen« (LU 1912). So wurden an diesem Tag »etwa dreitausend Seelen« zur Gemeinschaft der Gläubigen »hinzugetan«. Wenn der beste Beweis für das Wirken des Geistes bei einer Predigt die Bekehrung von Seelen ist, dann war die Verkündigung des Petrus ganz bestimmt vom Geist erfüllt. Zweifellos wurde dieser galiläische Fischer durch die Vorfälle an die Worte Jesu erinnert, der gesagt hatte: »Ich werde euch zu Menschenfischern machen« (Matth 4,19). Und vielleicht auch an den Ausspruch des Heilands: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird auch die Werke tun, die ich tue, und wird größere als diese tun, weil ich zum Vater gehe« (Joh 14,12).
Es ist sehr lehrreich zu beachten, mit welcher Vorsicht die Zahl der Bekehrten genannt wird – »etwa dreitausend Seelen«. Alle Diener Christi sollten dieselbe Vorsicht walten lassen, wenn sie die sogenannten »Entscheidungen für Christus« zählen.
2,42 Der Beweis für die Echtheit einer Entscheidung ist die Beständigkeit. Diese Bekehrten bewiesen die Echtheit ihres Bekenntnisses durch das »Verharren«: 1. »In der Lehre der Apostel«. Das sind die inspirierten Lehren der Apostel, die zunächst mündlich überliefert wurden und nun im NT festgehalten sind.
2. »In der Gemeinschaft«. Ein weiterer Beweis des neuen Lebens war das Verlangen der neuen Gläubigen nach Gemeinschaft mit den anderen Gotteskindern und danach, mit ihnen die irdischen Güter zu teilen. Sie waren sich bewusst, dass sie von der Welt für Gott ausgesondert waren und mit den anderen Christen eine Gütergemeinschaft bildeten.
3. »Im Brechen des Brotes«. Dieser Ausdruck wird im NT dafür benutzt, um sowohl das Herrenmahl als auch eine gewöhnliche Mahlzeit zu bezeichnen. Die Bedeutung muss im Einzelfall aus dem Zusammenhang des Abschnitts bestimmt werden. Hier bezieht er sich offensichtlich auf das Herrenmahl, weil es völlig unnötig wäre festzuhalten, dass sie darin verharrten, gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen. Aus Apostelgeschichte 20,7 erfahren wir, dass die Praxis der ersten Christen darin bestand, das Brot am ersten Tag der Woche zu brechen. In den ersten Tagen der Gemeinde wurde im Zusammenhang mit dem Herrenmahl ein Liebesmahl gehalten, das die Liebe der Heiligen untereinander widerspiegeln sollte. Nachdem jedoch damit Missbrauch getrieben wurde, ließ man diese »Agapen« oder Liebesmähler fallen.
4. »In den Gebeten«. Das war das vierte Merkmal der Glaubenspraxis in der Urgemeinde. Es drückte die vollkommene Abhängigkeit vom Herrn in Bezug auf Gottesdienst, Führung, Bewahrung und Dienst aus.
2,43 Die Menschen in ihrem Umfeld wurden mit Ehrerbietung und Ehrfurcht erfüllt. Die Macht des Heiligen Geistes war so deutlich sichtbar, dass die Herzen Außenstehender bezwungen und überwältigt wurden. Erstaunen erfüllte sie, als sie sahen, dass »die Apostel … viele Zeichen und Wunder« taten, die die Aufmerksamkeit und die Verwunderung der Menschen auf sich zogen. »Zeichen« waren Wunder, die eine bestimmte Erkenntnis vermitteln sollten. Zu den Wundern gehörten sowohl Wunderwerke (göttliche Machttaten) als auch Zeichen.
2,44.45 Die Gläubigen versammelten sich beständig und »hatten alles gemeinsam«. Die Liebe Gottes wirkte so mächtig an ihren Herzen, dass sie ihre »Güter« nicht als ihr persönliches Eigentum ansahen (4,32). Wann immer jemand in der Gemeinschaft »bedürftig« war, verkauften sie ihr persönliches Eigentum und verteilten den Erlös. Dadurch entstand wahre Einheit.
»Unter den Gläubigen zeigte sich eine Herzenseinheit und Einmütigkeit. Dadurch wurde ein Großteil der natürlichen Selbstsucht des gefallenen Menschen durch die völlige Liebe, die das Bewusstsein für die göttliche Liebe hervorgerufen hatte, einfach überwunden. Sie gehörten so sehr zusammen, dass all ihr Besitz gemeinsames Eigentum war. Das kam jedoch nicht durch irgendein Gesetz oder einen sonstigen äußeren Zwang zustande, was alles zerstört hätte. Vielmehr entsprang dies dem Bewusstsein dafür, was sie selbst für Christus bedeuteten und Christus für jeden Einzelnen sowie für sie als Gemeinschaft bedeutete. Sie wurden durch seinen Segen, den nichts schmälern konnte, reich gemacht: Je mehr sie hingaben, desto mehr hatten sie auch. In dieser Gesinnung verkauften sie die Güter und die Habe und verteilten sie an alle, je nachdem einer bedürftig war.«11 Viele sind heute der Meinung, dass wir dieser Praxis der ersten Gläubigen nicht folgen müssten. Man könnte genauso gut sagen, dass wir unseren Nächsten nicht wie uns selbst lieben sollen. Dieses Teilen des Vermögens und persönlichen Eigentums war die unausweichliche Frucht eines Lebens, das mit dem Heiligen Geist erfüllt war. Es ist einmal gesagt worden: »Ein wahrer Christ kann es nicht ertragen, zu viel zu haben, wenn andere zu wenig haben.«
2,46 Dieser Vers zeigt die Auswirkungen des Pfingstereignisses auf das gottesdienstliche Leben und die Praxis, in den Häusern zusammenzukommen. Im gottesdienstlichen Leben müssen wir beachten, dass diese ersten Bekehrten einen jüdischen Hintergrund hatten. Obwohl es die Gemeinde nun gab, waren die Bindungen an den jüdischen Tempel noch nicht sofort gelöst. Der Prozess, die Grabtücher des Judentums abzuwerfen, zieht sich durch die gesamte Apostelgeschichte. Und deshalb gingen die Gläubigen noch immer zu den Gottesdiensten »im Tempel«,12 wo das AT vorgelesen und ausgelegt wurde. Zusätzlich dazu trafen sie sich natürlich in den Häusern. Für ihre Zusammenkünfte waren stets die vier in Vers 42 aufgeführten Merkmale charakteristisch.
Über das Leben in den Häusern lesen wir, dass sie »das Brot brachen« und »Speise mit Frohlocken und Schlichtheit des Herzens« zu sich nahmen. Hier scheint es eindeutig zu sein, dass sich der Ausdruck »Brot brechen« auf normale Mahlzeiten bezieht. Die Freude über ihre Errettung zeigte sich in allen Kleinigkeiten ihres Lebens und umgab das Profane mit einem Glanz der Herrlichkeit.
2,47 Ihr Leben wurde eine Lobeshymne und ein Dankpsalm für diejenigen, die aus der Macht der Finsternis errettet und in das Reich des geliebten Sohnes Gottes versetzt worden waren. Zu Beginn hatten die Gläubigen »Gunst beim ganzen Volk«. Doch das sollte nicht lange andauern. Das Wesen des Christentums ist so geartet, dass es unausweichlich den Hass und den Widerstand des menschlichen Herzens hervorruft. Der Heiland warnte seine Jünger davor, nach Popularität zu streben (Lk 6,26), und sagte ihnen Verfolgung und Leiden voraus (Matth 10,22.23). So war diese »Gunst« nur vorübergehend. Schon bald sollte unbeugsame Feindschaft an deren Stelle treten.
»Der Herr aber tat täglich hinzu, die gerettet werden sollten.« Die christliche Gemeinschaft wuchs täglich durch Bekehrungen. Diejenigen, die das Evangelium gehört hatten, waren dafür verantwortlich, Jesus Christus durch einen ausdrücklichen Willensakt aufzunehmen. Das Erwählen und Hinzufügen durch den Herrn hebt die menschliche Verantwortlichkeit nicht auf.
In diesem Kapitel haben wir somit den Bericht über die Ausgießung des Heiligen Geistes, die bemerkenswerte Predigt des Petrus vor den versammelten Juden, die Bekehrung einer großen Menge und eine kurze Beschreibung des Lebens der ersten Gläubigen. Eine sehr gute Zusammenfassung des Letzteren kann man in der 13. Auflage der Encyclopaedia Britannica nachlesen, und zwar im Artikel »Kirchengeschichte«:
Das Bemerkenswerteste im Leben der frühen Christen war ihr lebendiger Sinn dafür, ein Volk Gottes zu sein, das berufen und auserwählt ist. Die christliche Gemeinde war für sie eine göttliche, keine menschliche Einrichtung. Sie hatte ihren Ursprung in Gott. Er war Herr der Gemeinde, und selbst die Welt war ihretwegen erschaffen worden. Dieser Grundsatz … bestimmte das gesamte Leben der frühen Christen, ob es um den gemeinsamen oder den privaten Bereich ging. Sie sahen sich selbst als vom Rest der Welt geschieden und untereinander durch besondere Bande verbunden. Ihr Bürgerrecht war im Himmel, nicht auf Erden. Die Prinzipien und Gesetze, denen sie sich unterstellten, waren himmlisch. Die gegenwärtige Welt war für sie nur zeitlich, das wahre Leben lag für sie in der Zukunft. Christus sollte bald wiederkommen, und die Arbeit, die Sorgen und Freuden der jetzigen Zeit waren weniger wichtig … Im täglichen Leben der Christen wirkte der Heilige Geist, wobei die christlichen Tugenden als Früchte sichtbar wurden. Durch diesen Glauben erhielt ihr Leben eine besonders begeisterte oder inspirierende Prägung. Ihre Erfahrungen entsprachen nicht den alltäglichen Erfahrungen gewöhnlicher Menschen. Vielmehr lebten sie gleichsam in einer herausgehobenen, höheren Atmosphäre. Wenn man diesen Artikel liest, dann erkennt man in gewisser Hinsicht, wie weit sich die Kirche vom Eifer und der Solidarität der Urgemeinde entfernt hat!
Exkurs zur Hausgemeinde und übergemeindlichen Organisationen
Weil hier13 (Apg 2,47) zum ersten Mal in der Apostelgeschichte das Wort »Kirche« oder »Gemeinde« (gr. ekklesia) benutzt wird, halten wir an dieser Stelle kurz inne, um das Wesen der Gemeinde im Denken der ersten Christen ein wenig zu beleuchten.
Die Gemeinde in der Apostelgeschichte und im Rest des Neuen Testaments war oft eine sogenannte Hausgemeinde. Die ersten Christen trafen sich in Wohnhäusern und nicht in besonderen Kirchenbauten. Es ist einmal gesagt worden, dass die Religion sich von den heiligen Orten löste und am allgemeinen Wohnort ihr Zentrum fand, in den Häusern der Gläubigen. Unger sagt, dass die Hausgemeinden als christliche Versammlungsstätten etwa zwei Jahrhunderte lang bestanden.14
Es mag für uns einfach sein zu denken, dass die Benutzung von Wohnhäusern eher durch ökonomische Verhältnisse erzwungen wurde, als das Ergebnis von geistlichen Überlegungen zu sein. Wir haben uns so an Kirchengebäude und Gemeindehäuser gewöhnt, dass wir annehmen, sie entsprächen Gottes Ideal. Es gibt jedoch triftige Gründe für die Annahme, dass die Gläubigen des 1. Jahrhunderts sehr viel weiser waren als wir. Erstens ist es mit dem christlichen Glauben und dessen Betonung der Liebe nicht vereinbar, beträchtliche Geldbeträge in luxuriöse Gebäude zu stecken, wo es überall auf der Welt so große Not gibt. In diesem Zusammenhang schreibt E. Stanley Jones:
Ich sah das Bambino, das Jesuskind in der Peterskirche zu Rom, an, wie es mit teuren Juwelen überhäuft war. Dann ging ich hinaus und blickte in die Augen hungriger Kinder. Da fragte ich mich, ob Christus angesichts dieses Hungers seine Juwelen genießen könnte. Und mir kam in den Sinn, was mich nicht mehr losließ – nämlich die Tatsache, dass mich der Gedanke an Christus nicht länger freuen könnte, wenn ihm diese Juwelen nichts bedeuten würden. Dieses überhäufte Jesuskind und die hungrigen Kinder sind ein Symbol dafür, was wir getan haben, als wir um Christus herum den teuren Mantel von riesigen Kathedralen und Kirchenbauten drapierten, während wir die fundamentale Ungerechtigkeit der menschlichen Gesellschaft nicht veränderten, wodurch Christus in Gestalt der Arbeitslosen und Entrechteten hungrig geblieben ist.15 Es ist nicht nur unmenschlich, sondern auch unwirtschaftlich, riesige Summen für Gebäude auszugeben, die nur drei, vier oder fünf Stunden in der Woche genutzt werden. Wie sind wir nur dazu gekommen, in diese gedankenlose Traumwelt abzudriften, in der wir bereit sind, so viel für etwas auszugeben, wovon wir so wenig Nutzen haben? Unsere modernen Bauvorhaben sind die größten Hindernisse für die Ausbreitung der Gemeinde. Hohe Tilgungsraten für Hypotheken und Kredite veranlassen Gemeindeleiter dazu, jeden Versuch im Keim zu ersticken, die Gemeinde zu teilen, um eine neue Gemeinde zu gründen. Jeder Mitgliederverlust würde das benötigte Einkommen für die Abzahlungen und den Erhalt des Hauses in Gefahr bringen. Eine noch ungeborene Generation wird mit Schulden beladen, und jede Hoffnung auf Gemeindevermehrung wird zerstört.
Man argumentiert gern, dass wir eindrucksvolle Gemeindehäuser brauchen, um gemeindeferne Menschen in unsere Gottesdienste zu bringen. Ganz davon abgesehen, dass es sich dabei um fleischliches Denken handelt, übersieht dieser Gedanke vollständig das Vorbild des Neuen Testaments. Die Zusammenkünfte der Urgemeinde waren in erster Linie für die Gläubigen bestimmt. Die Christen versammelten sich, um auf die Lehre der Apostel zu hören, Gemeinschaft zu haben, das Brot zu brechen und zu beten (Apg 2,42). Sie evangelisierten nicht, indem sie Menschen zu den Zusammenkünften am Sonntag einluden, sondern indem sie den Menschen, denen sie während der Woche begegneten, Zeugnis gaben. Wenn diese Menschen sich bekehrten, wurden sie in die Gemeinschaft und warmherzige Atmosphäre einer Hausgemeinde geführt, damit sie dort ermutigt und weitergeführt würden. Es ist manchmal schwierig, Menschen dazu zu bringen, einen Gottesdienst in einem ehrwürdigen Gebäude zu besuchen. Oft behagt den Menschen dieser strenge Formalismus nicht. Auch gibt es immer wieder die Angst, um Geld angebettelt zu werden. »Die Kirche ist nur am Geld der eingeladenen Leute interessiert«, hört man die Betreffenden immer wieder klagen. Doch viele derselben Menschen sind bereit, zu einem Bibelgespräch in ein Wohnzimmer zu kommen. Dort müssen sie nicht auf Äußerlichkeiten achten, und sie genießen die ungezwungenere Atmosphäre.
Die Hausgemeinde ist wirklich für jede Kultur und jedes Land das Ideal. Und wenn wir die ganze Welt überblicken könnten, würden wir sicherlich sehen, wie sich viel mehr Gläubige in Wohnungen und Häusern treffen, als auf jede andere Art.
Im Gegensatz zu den heutigen imposanten Kathedralen, Kirchen und Gemeindehäusern – auch im Gegensatz zu der Vielzahl der völlig durchorganisierten Denominationen, Missionsgesellschaften und übergemeindlichen Organisationen, machten die Apostel in der Apostelgeschichte nicht den Versuch, das Werk des Herrn in irgendeiner Weise zu organisieren. Die Ortsgemeinde war das göttliche Mittel und Werkzeug auf Erden, wodurch der Glaube verbreitet wurde, und die Jünger gaben sich damit zufrieden, innerhalb dieses Rahmens zu wirken. In den letzten Jahren ist das Maß an Organisation in der Christenheit so explosionsartig angewachsen, dass einem dabei schwindlig wird. Immer dann, wenn ein Gläubiger eine neue Idee hat, wie man die Sache Christi fördern könnte, gründet er eine neue Missionsgesellschaft, ein neues Werk oder eine neue Einrichtung! Ein Ergebnis davon ist, dass fähige Lehrer und Prediger der Gemeinde von ihren vorrangigen Aufgaben weggerufen werden, um Verwaltungsangelegenheiten zu erledigen. Wenn alle Verwaltungsmitarbeiter der Missionsgesellschaften auf dem Missionsfeld mitarbeiteten, würde die Personalnot dort gewaltig verringert werden.
Ein anderes Ergebnis der immer neu entstehenden Organisationen sind die ungeheuren Geldsummen, die von der Verwaltung verschlungen werden und so nicht für die direkte Missionsarbeit zur Verfügung stehen. In vielen christlichen Organisationen wird der größte Teil jedes gespendeten Euros für die Verwaltung und nicht für den ursprünglichen Zweck verwendet, zu dem die Organisation gegründet wurde.
Organisationen behindern oft den großen Auftrag unseres Herrn. Jesus gab seinen Jüngern den Auftrag, die Jünger alles zu lehren, was er ihnen geboten hatte. Viele, die in christlichen Organisationen arbeiten, bemerken irgendwann, dass ihnen nicht erlaubt wird, die ganze Wahrheit Gottes zu lehren. Sie dürfen über Themen, die kontrovers diskutiert werden, nicht mehr sprechen, weil die Organisation fürchtet, ihre Spender zu verlieren, von denen sie lebt. Die Zunahme christlicher Institutionen hat zu oft zu Spaltungen, Neid und Rivalität geführt, die das christliche Zeugnis sehr behindert haben. Man beachte die sich überschneidenden Einsatzbereiche bei einer Vielzahl christlicher Organisationen, sei es in der Arbeitswelt, im eigenen Umfeld bzw. im Inland oder im Ausland. Alle konkurrieren um das begrenzte Personal und um die immer weniger werdenden finanziellen Mittel. Und man bedenke, wie viele dieser Organisationen ihr Dasein nur menschlicher Rivalität verdanken, obwohl sich ihre öffentlichen Verlautbarungen meist auf den Willen Gottes beziehen. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
Und es ist nur zu oft wahr, dass Organisationen immer wieder Möglichkeiten finden, ihr Weiterbestehen zu rechtfertigen, auch wenn sie schon lange niemandem mehr nützen. Die Mühlen der Verwaltung mahlen noch immer, auch wenn die Vision der Gründer und der Ruhm einer einst dynamischen Bewegung längst verloren gingen. Es war geistliche Weisheit, nicht primitive Naivität, die die ersten Christen davor bewahrte, menschliche Organisationen zu gründen, um mit ihnen das Werk des Herrn voranzutreiben. G. H. Lang schreibt: Ein sehr scharfsinniger Ausleger hat einmal gesagt, als er die apostolische Arbeitsweise mit unseren üblichen modernen Arbeitsweisen verglich, dass wir »Missionswerke gründen, während die Apostel Gemeinden gründeten«. Der Unterschied ist wichtig und bedeutungsvoll. Die Apostel haben Gemeinden und nichts anderes gegründet, weil für die angestrebten Ziele nichts darüber Hinausgehendes erforderlich war noch geeignet sein konnte. An jedem Ort, an dem sie arbeiteten, bildeten sie aus den Bekehrten eine Ortsgemeinde. Darin gab es Älteste (immer mehrere, nie ein einzelner Ältester; Apg 14,23; 15,6.23; 20,17; Phil 1,1), die leiteten, Führungsaufgaben übernahmen und die Herde hüteten (die Ältesten waren Männer, die von Gott berufen und von den Heiligen anerkannt waren). Außerdem gab es Diakone, die sich – im Gegensatz zu den Ältesten – den wenigen, aber wichtigen Aufgaben zur äußeren Aufrechterhaltung des Gemeindelebens widmeten, insbesondere der Verteilung des Geldes in der Gemeinde (Apg 6,1-6; Phil 1,1). Alles, was sie (die Apostel) an organisatorischer Arbeit taten, bestand darin, die Jünger in weiteren solcher Gemeinden zu sammeln. Wir finden im NT neben der Ortsgemeinde keine übergemeindlichen Organisationen, nicht einmal in Ansätzen.16 Für die ersten Christen und ihre apostolischen Leiter war die Ortsgemeinde das göttlich eingesetzte Werkzeug auf Erden, durch das Gott handeln wollte, und nur der Gemeinde hat er ewiges Bestehen verheißen.
E. Die Heilung des Lahmen und die Predigt des Petrus vor jüdischen Zuhörern (3,1-26)
3,1 Es war drei Uhr nachmittags, als »Petrus … und Johannes zusammen hinauf in den Tempel« in Jerusalem »gingen«. Wie schon weiter oben angemerkt, besuchten die ersten Judenchristen noch für einige Zeit nach der Gründung der Gemeinde weiter die Tempelgottesdienste. Während dieser Übergangszeit war der Bruch mit dem Judentum noch nicht vollzogen. Die Gläubigen heute sollten nicht diesem Vorbild folgen, weil wir die volle Offenbarung des Neuen Testaments haben und uns gesagt wird: »Deshalb lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, und seine Schmach tragen« (Hebr 13,13; s. a. 2. Kor 6,17.18).
3,2 Als sie sich dem Tempel näherten, sahen sie, wie man einen verkrüppelten Bettler an seinen gewohnten Platz an der »Pforte des Tempels, die man die schöne nennt«, brachten. Die Hilflosigkeit dieses Mannes, der von Geburt an lahm war, steht im starken Kontrast zur Schönheit der Tempelarchitektur. Sie erinnert uns an die Armut und die Unwissenheit, die gerade im Schatten von großen Domen und Kathedralen herrscht, und an die Hilflosigkeit von mächtigen kirchlichen Systemen, wenn sie Menschen helfen soll, die körperlich wie geistlich Krüppel sind.
3,3 Der Lahme hatte offensichtlich die Hoffnung aufgegeben, jemals geheilt zu werden, und deshalb war er damit zufrieden, um ein »Almosen« zu bitten.
3,4 Statt diesen Mann als hilfloses Wesen anzusehen, sah Petrus ihn als jemanden, an dem die herrliche Macht Gottes demonstriert werden sollte. »Wenn wir vom Geist geleitet werden, werden wir unsere Augen auf diejenigen richten, die Gott segnen möchte, statt ohne Munition dazustehen und unkontrolliert in die Luft zu schlagen« (ohne Quellenangabe). Die Aufforderung von Petrus (»Sieh uns an«) bedeutet nicht, dass er und Johannes im Mittelpunkt des Geschehens stehen wollten. Vielmehr wollte er nur die ungeteilte Aufmerksamkeit des Bettlers erlangen.
3,5.6 Der Krüppel »gab acht auf sie« und erwartete immer noch finanzielle Hilfe von ihnen. Dann hörte er eine Aussage, die ihn zunächst enttäuschte, dann aber auch erwartungsvoll stimmte. Ein Almosen konnte Petrus ihm nicht geben. Doch er hatte etwas Besseres zu bieten. »Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers«, befahl er dem Lahmen, aufzustehen und umherzugehen. Ein weiser alter Prediger sagte einmal: »Der Lahme bat um Almosen und bekam Beine.«
Über Thomas von Aquin wird berichtet, dass er den Papst zu einem Zeitpunkt besuchte, als gerade große Geldsummen gezählt werden sollten. Der Papst brüstete sich: »Wir müssen nicht länger mit Petrus sagen: ›Silber und Gold besitze ich nicht.‹« Thomas von Aquin antwortete: »Aber Ihr könnt auch nicht mit Petrus sagen: ›Steh auf und geh.‹«
3,7 Als Petrus dem Mann auf die Füße half, floss Kraft in seine bisher nutzlosen »Füße und … Knöchel«. Hier werden wir wieder daran erinnert, dass im geistlichen Leben göttliches und menschliches Handeln auf eigenartige Weise zusammenwirken. Petrus hilft dem Mann auf die Füße, und dann vollbringt Gott die Heilung. Wir müssen das tun, was wir können, und dann wird Gott dasjenige tun, was wir nicht können.
3,8 Das Wunder der Heilung fand sofort statt, nicht erst allmählich. Man beachte, wie der Geist Gottes hier mehrere Handlungsverben gebraucht, die mit Bewegung und Laufen zu tun haben: »… sprang auf, konnte stehen, … ging umher … trat … in den Tempel, ging umher und sprang.«
Wenn wir uns daran erinnern, welch ein langsamer, schmerzhafter Prozess es für ein Kind ist, wenn es laufen lernt, dann erkennen wir, wie wundervoll es für diesen Mann war, sofort und zum ersten Mal in seinem Leben gehen und springen zu können.
Dieses Wunder, das im Namen Jesu vollbracht wurde, war ein weiteres Zeugnis für das Volk Israel, dass derjenige, den sie gekreuzigt hatten, lebte und bereit war, sie zu heilen und zu erretten.
3,9.10 Die Tatsache, dass der Bettler täglich an der Tempelpforte gelegen hatte, machte ihn zu einem gewohnten Anblick. Als er nun geheilt war, wurde das Wunder natürlich überall bekannt. »Das ganze Volk« konnte nicht bestreiten, dass ein großes Wunder geschehen war, doch was bedeutete das alles?
3,11 Als der Geheilte »Petrus und Johannes festhielt«, die ja das Wunder an ihm vollbracht hatten, »lief das ganze Volk voll Erstaunen zu ihnen zusammen in der … Salomonshalle«, einem Teil des Tempels. Ihre Verwunderung war für Petrus die Gelegenheit, ihnen das Evangelium zu predigen.
3,12 Zuerst lenkt Petrus die Aufmerksamkeit der Menschen von dem Geheilten und den Aposteln weg. Dieses Wunder konnte auf keinen von ihnen zurückgeführt werden.
3,13-16 Schnell nennt er ihnen den wahren Wundertäter: Jesus, den sie verworfen und »getötet« hatten. Diesen hatte Gott »aus den Toten auferweckt« und im Himmel »verherrlicht«. Dieser Mann nun sei »durch … Glauben« an Jesus aus seinem Zustand der Hilflosigkeit befreit worden.
Der heilige Mut des Petrus, mit dem er die Angehörigen des Volkes Israel immer wieder anklagt, ist bemerkenswert. Seine Anklagen lauten:
1. Sie haben Jesus (den Heiden zur Verhandlung) »überliefert«. 2. Sie haben ihn »vor Pilatus verleugnet, als dieser geurteilt hatte, ihn loszugeben«.
3. Sie haben »den Heiligen und Gerechten verleugnet und gebeten«, dass ihnen stattdessen »ein Mörder geschenkt« würde (Barabbas). 4. Sie haben »den Fürsten des Lebens … getötet«.
Im Gegensatz dazu steht, wie Gott mit Jesus gehandelt hat:
1. Er hat ihn »aus den Toten auferweckt« (V. 15).
2. Er hat seinen »Knecht Jesus verherrlicht« (V. 13).
Man beachte schließlich, wie Petrus den »Glauben« an Christus als Ursache für die Wunderheilung betont (V. 16). In diesem Vers, wie auch an anderen Stellen, steht der »Name« für die Person. Deshalb bedeutet »Glauben an seinen Namen« Glauben an Christus.
3,17 In diesem Vers wechselt Petrus deutlich den Ton. Nachdem er die Israeliten des Mordes an dem Herrn Jesus angeklagt hat, spricht er sie nun als seine jüdischen »Brüder« an und gesteht ihnen gnädig zu, dass sie »in Unwissenheit gehandelt« haben, und bittet sie inständig, Buße zu tun und sich zu bekehren. Es scheint fast ein Gegensatz zu sein, wenn wir Petrus sagen hören, dass die Juden den Herrn Jesus »in Unwissenheit« gekreuzigt haben. Hatte Jesus nicht alle Beweise seiner Messianität erbracht? Hatte er nicht große Wunder in ihrer Mitte getan? Hatte er sie nicht durch seinen Anspruch erbost, Gott gleich zu sein? Das ist sicherlich alles wahr. Und doch wussten sie nicht, dass Jesus Christus der fleischgewordene Gott war. Sie erwarteten, dass der Messias nicht unscheinbar, sondern als mächtiger militärischer Befreier erscheinen würde. Für sie war Jesus ein Hochstapler.
Sie wussten nicht, dass er wirklich der Sohn Gottes war. Sie waren sicherlich der Meinung, dass sie Gott einen Dienst erweisen würden, wenn sie ihn umbrächten. So sagte der Heiland selbst bei der Kreuzigung: »Sie wissen nicht, was sie tun!« (Lk 23,24), und Paulus schrieb später: »Denn wenn sie [die Fürsten dieser Welt] Jesu Herrlichkeit erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrl ichkeit nicht gekreuzigt haben« (1. Kor 2,8). All das war geschehen, um den Angehörigen des Volkes Israel die Zusicherung zu geben, dass ihre Sünde – wie groß sie auch immer sein mochte – noch immer durch die Gnade Gottes vergeben werden konnte.
3,18 Ohne ihre Sünde zu entschuldigen, zeigt Petrus nun, dass Gott sie überwunden hat, um seine Ziele zu erreichen. Die »Propheten« des AT hatten vorausgesagt, dass der Messias »leiden sollte«. Die Juden waren diejenigen, die ihm dieses Leiden zufügten. Doch nun bot er sich ihnen selbst als Herr und Retter an. Durch ihn konnten sie die Vergebung ihrer Sünden erlangen.
3,19 Die Israeliten sollten Buße tun und eine Kehrtwendung vollziehen. Wenn sie das tun würden, würden ihre »Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn«.
Dabei sollte man nicht vergessen, dass diese Predigt den »Männern von Israel« gehalten  wurde  (V. 12).  Sie  betont,  dass vor der Wiederherstellung und Segnung des Volkes dessen Buße steht. Die »Zeiten der Erquickung … vom Angesicht des Herrn« beziehen sich auf die Segnungen im zukünftigem Reich Christi auf Erden, wie es im nächsten Vers beschrieben wird.
3,20 Auf die Bekehrung Israels hin wird Gott den Messias »Jesus Christus senden«. Wie schon oben erwähnt, bezieht sich dies auf die Wiederkunft Christi, wenn er seine tausendjährige Herrschaft auf Erden aufrichten wird.
3,21 Unausweichlich erhebt sich an diesem Punkt die Frage: »Wenn Israel sich auf diese Predigt hin bekehrt hätte, wäre Jesus dann schon auf die Erde gekommen? Große und gottesfürchtige Männer haben diese Frage unterschiedlich beantwortet. Einige sind der Ansicht, dass er wiedergekommen wäre, denn sonst wäre diese Verheißung nicht wahr. Andere erklären diesen Abschnitt als Prophetie, der die Reihenfolge zeigt, in der die Ereignisse wirklich stattfinden werden. Die Frage ist jedoch rein spekulativ. Die Tatsache bleibt bestehen, dass Israel sich nicht bekehrt hat und der Herr Jesus nicht wiedergekommen ist. Aus Vers 21 geht hervor, dass »Gott« vorausgesehen hat, dass das Volk Israel Christus verwerfen und das gegenwärtige Zeitalter der Gnade seiner Wiederkunft vorausgehen würde. »Der Himmel« musste Christus »aufnehmen bis zu den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge«. Die »Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge« beziehen sich auf das Tausendjährige Reich. Es geht hier nicht um eine allumfassende Errettung, wie einige behauptet haben; eine solche Lehre ist der Bibel fremd. Der Ausdruck bezieht sich auf eine Zeit, zu der die Schöpfung von der Knechtschaft der Sünde befreit sein und Christus in Gerechtigkeit als König über die gesamte Erde herrschen wird.
Diese »Zeiten der Wiederherstellung« sind von den »Propheten« der alttestamentlichen Zeit vorausgesagt worden. Vers 21 ist oft als Beweis dafür herangezogen worden, dass die Entrückung der Gläubigen nicht vor der Drangsalszeit stattfinden wird. Die Argumentation geht dahin, dass Jesus nicht vor der Trübsal wiederkommen könne, um seine Gemeinde zu sich zu holen, wenn er bis zum Tausendjährigen Reich im Himmel aufgenommen sein müsste. Die Antwort lautet natürlich, dass Petrus hier vor den »Männern  von  Israel«  (V. 12)  spricht.  Er behandelt Gottes Plan für das Volk Israel. Für das Volk Israel wird Jesus bis ans Ende der Drangsalszeit im Himmel bleiben, eben bis er sein Reich auf Erden aufrichten wird. Doch die einzelnen Juden, die während des gegenwärtigen Gemeindezeitalters gläubig werden, werden mit den gläubigen Heiden an der Entrückung der Gemeinde teilhaben, die jederzeit geschehen kann. Auch verlässt der Herr den Himmel für die Entrückung nicht, sondern wir werden in die Luft entrückt werden, ihm entgegen.
3,22 Als Beispiel für eine alttestamentliche Prophezeiung, die sich auf die zukünftige Herrschaft Christi bezieht, zitiert Petrus 5. Mose 18,15.18.19. Der Abschnitt zeigt Jesus als Gottes »Prophet« im goldenen Zeitalter Israels, der Gottes Willen und Gesetz verkündigt.
Als Mose sagte: »Einen Propheten wird euch der Herr, euer Gott, aus euren Brüdern erwecken, gleich mir«, meinte er nicht, dass ihm dieser hinsichtlich des Charakters oder der Fähigkeiten ähnelte. Vielmehr meinte er Ähnlichkeit in dem Sinne, dass beide von Gott erweckt wurden. »Er wird ihn erwecken, wie er mich erweckt hat.«
3,23 Während der Herrschaft Christi auf Erden werden diejenigen, die sich weigern, zu »hören« und zu gehorchen, »aus dem Volk ausgerottet werden«. Natürlich werden diejenigen, die ihn heute ablehnen, ebenso die ewige Verdammnis erleiden, doch geht es hier in erster Linie darum, dass Jesus noch immer mit eisernem Stab regieren wird und diejenigen, die ihm nicht gehorchen und gegen ihn aufstehen, sofort getötet werden.
3,24 Um weiter zu betonen, dass die Zeit der Wiederherstellung im AT gut bezeugt ist, fügt Petrus an, dass »alle Propheten, von Samuel an« und alle seine Nachfolger »diese Tage verkündigt« haben.
3,25 Petrus erinnert nun seine jüdischen Zuhörer daran, dass ihnen, den »Söhnen der Propheten« und Nachkommen Abrahams, diese Zeit verheißen wurde. Doch Gott hatte mit Abraham einen Bund geschlossen, »alle Geschlechter der Erde« in seinem »Samen« zu segnen. Bei allen Verheißungen des Segens während des Tausendjährigen Reiches steht der Same, d. h. Christus, im Mittelpunkt. Die Zuhörer sollten deshalb den Herrn Jesus als Messias annehmen.
3,26 »Gott« hat »seinen Knecht« schon erweckt (3,13), und ihn zuerst zum Volk Israel »gesandt«. Das bezieht sich mehr auf die Fleischwerdung und das Leben unseres Herrn als auf seine Auferstehung. Wenn sie ihn annähmen, würde sich »jeder« unter ihnen von seinen »Bosheiten« abwenden.
In dieser Predigt, die Petrus vor dem Volk Israel hielt, sehen wir, dass hier eher das Reich als die Gemeinde im Vordergrund steht. Auch betont Petrus eher die Volksgemeinschaft als den Einzelnen. Der Geist Gottes schweigt in langmütiger Gnade über Israels Sünde und bittet die Angehörigen des Volkes Gottes, den verherrlichten Herrn Jesus als ihren Messias anzunehmen, um so die Wiederkunft des Reiches Christi auf Erden zu beschleunigen.
Doch Israel wollte nicht hören. F. Die Verfolgung und das Wachstum der Gemeinde (4,1 – 7,60)
4,1-4 Die erste Verfolgung der noch jungen Gemeinde stand nun bevor. Wie gewöhnlich nahm sie bei den religiösen Führern ihren Anfang. »Die Priester und der Hauptmann des Tempels und die Sadduzäer« erhoben sich gegen die Apostel.
Scroggie erklärt hier, dass die »Priester« für religiöse Intoleranz stehen, der »Hauptmann des Tempels« für politische Anfeindung und die »Sadduzäer« für rationalistisch begründeten Unglauben. »Die Sadduzäer« bestritten die Lehre von der Auferstehung. Das brachte sie in offenen Konflikt mit den Aposteln, weil die »Auferstehung aus den Toten« das Zentrum der apostolischen Verkündigung bildete. Spurgeon sieht hier eine Parallele: Die Sadduzäer waren bekanntlich die Bibelkritiker, die Liberalen, die modernen Theologen, die Vordenker dieser Zeit. Wenn Sie nach bitterem Spott, nach Sarkasmus und Grausamkeit suchen, so kann ich Ihnen diese Leute, die Gottes Wort nicht so genau nahmen, empfehlen. Sie geben sich jedem gegenüber ausgesprochen liberal, außer natürlich gegenüber denjenigen, die die Wahrheit vertreten. Für diese haben sie einen ungeheuren Vorrat an konzentrierter Bitterkeit übrig, die Wermut und Galle bei Weitem übertrifft. Sie sind so liberal gegenüber ihren Irrlehre verbreitenden Brüdern, dass ihnen kein bisschen Toleranz mehr für die Evangelikalen übrig bleibt.17
Diese Führer nahmen es den Aposteln übel, dass sie das Volk lehrten. Sie waren nämlich der Ansicht, dass das ihr alleiniges Privileg sei. Dann waren sie natürlich auch aufgebracht, dass sie »in Jesus die Auferstehung aus den Toten« verkündigten. Wenn Jesus wirklich aus den Toten auferstanden war, dann waren die Sadduzäer nicht mehr länger glaubwürdig. In Vers 2 ist der Ausdruck »Auferstehung aus den Toten« besonders wichtig, weil er gegen die allgemein verbreitete Auffassung einer allgemeinen Auferstehung am Ende der Welt spricht. Dieser Abschnitt und weitere andere künden von einer Auferstehung aus den Toten. Mit anderen Worten: Einige werden auferweckt werden, während andere (die Ungläubigen) bis zu einem späteren Zeitpunkt im Grab bleiben.
Die Führer entschieden sich dafür, die Apostel bis zum nächsten Tag unter eine Art Hausarrest zu stellen, weil es schon spät war. (Die Wunderheilung in Kapitel 3 war etwa gegen drei Uhr nachmittags geschehen.)
Trotz der offiziellen Verfolgung wandten sich viele dem Herrn zu. Etwa »fünftausend … Männer« werden hier erwähnt, die zur christlichen Gemeinschaft hinzugetan wurden. Die Exegeten sind sich nicht einig, ob darin die Dreitausend eingeschlossen sind, die zu Pfingsten gerettet wurden. Jedoch gehören Frauen und Kinder auf keinen Fall dazu.
4,5.6 »Am folgenden Tag« hielt der religiöse Rat, auch unter dem Namen Synedrium bekannt, als Untersuchungsinstanz eine Sitzung ab, um die Aktivitäten dieser öffentlichen Ruhestörer zu unterbinden. Doch sie erreichten damit nur, dass sie den Aposteln eine weitere Chance gaben, für Christus Zeugnis abzulegen! Zu den »Obersten und Ältesten und Schriftgelehrten« gehörten: 1. Hannas, der Hohepriester, vor den der Herr zunächst geführt worden war. Er hatte das Amt des Hohenpriesters früher einmal innegehabt, aber der Titel war ihm wahrscheinlich aus Höflichkeit erhalten geblieben. 2. Kaiphas, der Schwiegersohn des Hannas, der beim Prozess gegen den Herrn den Vorsitz geführt hatte. 3. Johannes und Alexander, von denen wir sonst nichts wissen. 4. Das gesamte »hohenpriesterliche Geschlecht«, Männer von hohenpriesterlicher Abstammung.
4,7 Die Verhandlung begann, indem sie die Apostel fragten, »in welcher Kraft oder in welchem Namen« sie das Wunder vollbracht hätten. Petrus trat vor, um sein drittes öffentliches Bekenntnis für seinen Herrn Jesus Christus in Jerusalem abzulegen. Er hatte hier die unschätzbare Gelegenheit, dem religiösen Establishment das Evangelium zu predigen, und er ergriff diese Gelegenheit furchtlos und voller Eifer.
4,8-12 Zunächst erinnerte er sie daran, dass sie verärgert waren, weil die Apostel »eine Wohltat an einem kranken Menschen« vollbracht hatten. Obwohl Petrus es hier nicht erwähnte, hatte der Geheilte am Tempeltor gebettelt, und die religiöse Obrigkeit war nicht in der Lage gewesen, ihn zu heilen. Dann wartete Petrus mit einem Paukenschlag auf, indem er verkündigte, dass dies »im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt habt«, geschehen sei. Gott habe Jesus »aus den Toten … auferweckt«, und in seiner Macht wurde auch das Wunder vollbracht. Die Juden hatten in ihrem Glaubensgebäude keinen Platz für Jesus, deshalb »achteten sie ihn für nichts« und »kreuzigten« ihn. Doch »Gott hat ihn aus den Toten auferweckt« und in den Himmel erhöht. Der verworfene Stein ist so »zum Eckstein« geworden, der Stein, ohne den das gesamte Gebäude zusammenstürzt. Christus ist unersetzbar. Ohne ihn gibt es keine Errettung. Er ist der einzige Heiland. »Kein anderer Name unter dem Himmel ist den Menschen gegeben, in dem wir errettet werden« können. Wenn wir die Verse 8-12 lesen, sollten wir daran denken, dass diese Worte von dem gleichen Mann gesprochen wurden, der dreimal den Herrn unter Fluchen und Verwünschungen verleugnet hatte.
4,13 Eine Religion, die geistlich erstarrt und formell ist, kann niemals eine begeisterte, lebendige Evangelisation tolerieren, die im Herzen und Leben der Betreffenden Veränderungen bewirkt. Die Führer dieser Religion sind verblüfft, dass »ungelehrte und ungebildete Leute« die Menschen so beeinflussen, während sie sich in all ihrer Weisheit »nicht über Fleisch und Blut erheben können«. Im NT gibt es keine Unterscheidung von Priestern und Laien. Diese Unterscheidung ist ein Relikt aus der römisch-katholischen Kirche. Der Märtyrer Johannes Hus kämpfte in Böhmen für die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, und das Symbol der Hussiten ist bis zum heutigen Tag der Kelch über der aufgeschlagenen Bibel. Diese Wahrheit vom königlichen Priestertum, dass jeder Gläubige ein Zeuge ist, war die Triebkraft der ersten Gemeinde. Ohne die Hilfe moderner Ausrüstung und Verkehrsmittel, ohne Übersetzung und Verbreitungsmöglichkeit der Bibel erschütterte das Evangelium der Gnade Gottes das gesamte Römische Reich, bis es sogar im kaiserlichen Haus Heilige gab. Gott beruft uns zu diesem ursprünglichen Christentum zurück.18
Die Mitglieder des Hohen Rats waren über »die Freimütigkeit des Petrus und Johannes« erstaunt. Sie hätten sie gerne als ungebildete und unwissende Fischer aus Galiläa abgetan. Doch in ihrer Disziplin, ihrem bevollmächtigten Leben und ihrer Furchtlosigkeit war etwas, dass sie an die Verhandlung gegen Jesus eri nnerte. Sie schrieben den Mut der Apostel der Tatsache zu, »dass sie« in der Vergangenheit »mit Jesus gewesen waren«, doch die wahre Erklärung war, dass sie nun mit dem Heiligen Geist erfüllt waren.
4,14-18 Außerdem beschämte es den Hohen Rat, dass der Geheilte dort im Vorhof war. Sie konnten unmöglich bestreiten, dass ein Wunder stattgefunden hatte. J. H. Jowett schreibt:
Menschen mögen Ihnen in Diskussionen überlegen sein. Es mag sein, dass man Sie in intellektueller Hinsicht leicht besiegen kann. Doch den Beweis eines erlösten Lebens kann man nicht angreifen. »Und da sie den Menschen, der geheilt worden war, bei ihnen stehen sahen, konnten sie nichts dagegen sagen.«19
Um ihr Vorgehen zu besprechen, schickten sie Petrus und Johannes für eine Zeit nach draußen. Ihr Dilemma bestand in Folgendem: Sie konnten die Apostel kaum für ein wohltätiges Werk bestrafen. Doch wenn sie diese Fanatiker nicht stoppten, würden sie ihre Religion gefährden, weil sich immer mehr Menschen dem neuen Glauben zuwenden würden. Deshalb entschieden sie sich, Petrus und Johannes zu verbieten, mit Menschen privat über Jesus zu sprechen oder ihn öffentlich zu verkündigen.
4,19.20 »Petrus und Johannes« konnten solch einer Beschränkung nicht zustimmen. Sie waren in erster Linie »vor Gott« verantwortlich, nicht vor Menschen. Wenn die Führer ehrlich gewesen wären, hätten sie dies zugeben müssen. Die Apostel waren Zeugen der Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Sie hatten Tag für Tag seine Lehre gehört. Sie waren verantwortlich, dafür Zeugnis abzulegen, dass Jesus Christus ihr Herr und Heiland war.
4,21.22 Auf welch schwachem Posten die religiöse Obrigkeit stand, sieht man an der Tatsache, dass sie die Apostel nicht bestrafen konnte, denn alles »Volk« wusste, dass ein Wunder der Gnade geschehen war. Der Geheilte, der »mehr als vierzig Jahre alt« war, war sehr bekannt, weil sein bedauerlicher Zustand so lange öffentlich zur Schau gestanden hatte. Deshalb konnte der Hohe Rat die angeklagten Apostel nur unter weiteren Drohungen entlassen.
4,23 Aus dem Trieb freigemachter Kinder Gottes heraus gingen die Apostel sofort »zu den Ihren«, sobald die Obersten sie »entlassen« hatten. Sie suchten und fanden Gemeinschaft »mit der erwartungsfrohen, versammelten Herde, deren einziges Verbrechen darin bestand, Christus zu verkündigen«. So ist es in allen Zeitaltern bezeichnend für den Charakter eines Christen, wo er Gemeinschaft sucht.
4,24-26 Sobald die Heiligen »gehört« hatten, was geschehen war, riefen sie zu Gott im Gebet. Sie redeten Gott mit einem Wort an, das »absoluter Herrscher« bedeutet. Es ist ein Wort, das im NT nur selten verwendet wird, und sie priesen ihn zunächst als Schöpfer aller Dinge (der aus diesem Grund allen Geschöpfen überlegen ist, die nun seine Wahrheit bekämpften). Dann machten sie sich die Worte Davids in Psalm 2 zu eigen, in denen er durch die Leitung des Heiligen Geistes vom Widerstand der obrigkeitlichen Mächte »gegen deinen heiligen Knecht Jesus« berichtet. Eigentlich bezieht sich der Psalm auf die Zeit, zu der Christus sein Reich aufrichten wird, und »Könige … und … Fürsten« dies zu vereiteln suchen. Doch die ersten Christen erkannten, dass die Situation ihrer Tage ganz ähnlich war, und so wandten sie diese Worte auf ihre eigenen Umstände an. Es hat einmal jemand gesagt: »Sie zeigten echte Geistesleitung in der göttlichen Fertigkeit, die Worte der Heiligen Schrift in ihre Gebete einzuflechten.«
4,27.28 Nun folgt in ihrem Gebet die Anwendung des Psalmzitates. In Jerusalem hatten sich die Römer und die Juden gegen Gottes »heiligen Knecht20 Jesus … versammelt«. »Herodes« steht hier für die Juden, während »Pilatus« die Heiden vertritt. Aber in Vers 28 gibt es einen überraschenden Schluss: Man würde erwarten, dass es hier heißt, diese Regierenden hätten sich versammelt, um ihre bösen Pläne durchzuführen. Doch heißt es hier, dass sie sich »versammelt« haben, um »alles zu tun, was« Gottes »Hand und« sein »Ratschluss vorherbestimmt hat, dass es geschehen sollte«.
Matheson erklärt hierzu: Es geht hier darum, dass ihre Bemühungen, dem göttlichen Willen entgegenzuhandeln, dazu führten, dass sie ein Bündnis schlossen … Sie hatten sich in einem Kriegsrat gegen Christus versammelt, doch unbewusst unterzeichneten sie einen Vertrag zur Verkündigung der Herrlichkeit Christi … Unser Gott schlägt die Stürme nicht nieder, die sich gegen ihn erheben, er reitet auf ihnen und wirkt durch sie.21
4,29.30 Nachdem sie ihr Vertrauen auf Gottes überlegene Macht zum Ausdruck gebracht hatten, brachten die Christen drei konkrete Bitten vor: 1. »Sieh an ihre Drohungen.« Sie wagten nicht, Gott vorzuschreiben, wie er diese boshaften Männer bestrafen sollte, sondern überließen diese ganze Angelegenheit ihm.
2. »Gib deinen Knechten … alle Freimütigkeit.« Ihre persönliche Sicherheit war nicht wichtig. Das Ziel war die furchtlose Predigt des Wortes. 3. »Strecke deine Hand aus zur Heilung.« Die ersten Evangeliumspredigten wurden von Gott durch »Zeichen und Wunder« bestätigt, die im »Namen« seines »heiligen Knechtes Jesus« vollbracht wurden. Hier wird Gott gebeten, den Dienst der Apostel auf diese Weise weiter zu bestätigen.
4,31 »Als sie gebetet hatten, bewegte sich die Stätte, wo sie versammelt waren« – der sichtbare Ausdruck der geistlichen Macht, die hier anwesend war. »Sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt«, was ihren Gehorsam gegenüber Gott zeigt, dass sie im Licht wandelten und ihm ganz hingegeben lebten. Sie fuhren fort, »das Wort Gottes mit Freimütigkeit zu reden«, eine deutliche Antwort auf ihr Gebet in Vers 29. Siebenmal wird in der Apostelgeschichte erwähnt, dass Menschen mit Heiligem Geist erfüllt oder voll des Geistes sind. Man beachte den jeweiligen Zweck bzw. das Ergebnis: 1. um zu reden (2,4; 4,8 und hier) 2. um zu dienen (6,3)
3. um den Hirtendienst auszuführen (11,24) 4. um zu ermahnen (13,9) 5. um zu sterben (7, 55).
4,32-35 Wenn Herzen aus Liebe zu Christus brennen, werden sie auch zur Liebe untereinander bewegt. Diese Liebe zeigt sich im Geben. So erwiesen die frühen Christen die Echtheit ihres Glaubenslebens in Christus auch darin, dass sie eine Gütergemeinschaft hatten. Statt selbstsüchtig am Privateigentum festzuhalten, waren sie der Ansicht, dass ihr Eigentum der gesamten Gemeinschaft gehörte. Wann immer jemand »bedürftig« war, verkauften sie »Äcker oder Häuser« und brachten den Erlös den Aposteln, damit diese ihn verteilen konnten. Es ist hier wichtig zu sehen, dass sie »zuteilten«, wenn ein »Bedürfnis« gegeben war. Es war keine willkürliche, gleichmäßige Verteilung zu einer bestimmten Zeit. F. W. Grant erklärt:
Es gab demzufolge keinen generellen Verzicht auf persönlichen Besitz, sondern eine Liebe, die nicht zögerte, wenn jemand in Not war. Aus dem Trieb ihres Herzens heraus sahen sie, dass ihr wirklicher Reichtum woanders lag, nämlich in den Gefilden, in denen der auferstandene Christus war.22 Ein wenig sarkastisch, doch heute leider viel zu oft wahr, ist die moderne Parallele, die F. E. Marsh gezogen hat: Jemand hat einmal gesagt, als er die frühe Gemeinde mit unserem heutigen Christentum verglich: »Ist es nicht erschreckend, wenn wir daran denken, wie der Evangelist Lukas unser heutiges Christentum statt des Urchristentums beschreiben würde? Die Verse 4,32-35 der Apostelgeschichte müssten dann so lauten: … Und die Menge derer aber, die sich zum Christentum bekannten, war hartherzig und hatte Steine statt Seelen, und jeder sagte von aller seiner Habe, dass sie sein eigen sei; und alles wurde nach der neuesten Mode eingerichtet. Und mit großer Kraft gaben sie Zeugnis von den Attraktionen dieser Welt, und große Selbstsucht war auf ihnen allen. Und es gab viele unter ihnen, denen die Liebe fehlte, denn so viele Besitzer von Äckern oder Häusern waren, kauften neue hinzu und gaben manchmal einen kleinen Teil davon für einen guten Zweck, damit ihre Namen in den Zeitungen stünden, und jedem wurde so viel Lob zugeteilt, wie ihn verlangte.«23
Von dem Leben, das dem Herrn völlig hingegeben ist, geht eine geheimnisvolle Kraft aus. Deshalb ist es kein Zufall, dass wir in Vers 33 lesen: »Und mit großer Kraft legten die Apostel das Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus ab; und große Gnade war auf ihnen allen.« Gott fand hier Menschen, die gewillt waren, ihm ihr Eigentum zu geben. Es hat den Anschein, dass er dem Zeugnis solcher Menschen eine bemerkenswerte Ausstrahlungskraft und Wirkung schenkt.
Viele argumentieren, dass dieses Teilen der Güter nur auf eine gewisse Zeit der Urgemeinde beschränkt war und kein Beispiel für uns darstellt. Solch eine Argumentation stellt nur unsere eigene geistliche Armut bloß. Wenn wir die geistliche Kraft von Pfingsten in unseren Herzen tragen würden, dann würde unser Leben auch die Früchte von Pfingsten erkennen lassen.
Ryrie weist auf Folgendes hin: Wir haben es hier nicht mit einem »christlichen Kommunismus« zu tun. Der Verkauf des Eigentums war völlig freiwillig (V. 34). Das Recht auf Privateigentum wurde nicht aufgehoben. Die Gemeinschaft bestimmte nicht über das Geld, solange es nicht freiwillig den Aposteln übergeben worden war. Die Verteilung wurde nicht gleichmäßig vorgenommen, sondern nach den Bedürfnissen. Das sind absolut keine kommunistischen Prinzipien. Das ist christliche Nächstenliebe auf ihre schönste Art.24 Man beachte die beiden Merkmale einer geistlich gesunden Gemeinde in V. 33: große Kraft und große Gnade. Vance Havner listet noch vier andere solcher Merkmale auf: große Ehrfurcht (5,5.11); große Verfolgung (8,1); große Freude (8,8; 15,3); und eine große Anzahl Gläubiger (11,21).
4,36.37 Diese Verse stellen eine Verbindung und Einleitung zu Kapitel 5 dar. Die Großzügigkeit von Barnabas wird in Kontrast zur Heuchelei des Hananias gesetzt. Als »Levit« hatte »Josef … Barnabas genannt« eigentlich kein Land zum Eigentum. Der Herr sollte das Erbe der Leviten sein. Wie und warum er Land erworben hatte, wissen wir nicht. Doch wir wissen, dass das Gesetz der Liebe so mächtig im Leben dieses »Sohnes des Trostes« wirkte, dass er das Land »verkaufte« und »das Geld … brachte … und es zu den Füßen der Apostel« niederlegte.
5,1-4 Wenn Gott Großes tut, dann ist Satan schnell zur Hand, um hier entgegenzuarbeiten, um Menschen zu verderben und zu vereinnahmen. Doch wo es echte geistliche Kraft gibt, werden Betrug und Heuchelei schnell erkannt. Hananias und Saphira waren wahrscheinlich von der Großzügigkeit von Barnabas und anderen bewegt. Vielleicht wünschten sie sich, das Lob der Menschen durch einen ähnlichen Akt der Nächstenliebe zu erhalten. Deshalb »verkauften« sie »ein Gut« und gaben einen Teil des Erlöses den Aposteln. Ihre Sünde bestand darin, dass sie vortäuschten, das gesamte Geld zu geben, während sie nur einen Teil gaben. Niemand hatte sie überhaupt aufgefordert, das Gut zu verkaufen. »Nachdem es verkauft war«, waren sie noch immer nicht verpflichtet, alles für die Bedürftigen zu spenden. Doch sie taten so, als würden sie alles geben, während sie in Wirklichkeit einen Teil für sich behielten.
Petrus klagte Hananias an, »den Heiligen Geist belogen« zu haben, und »nicht Menschen«. Indem er »den Heiligen Geist belogen« hatte, hatte er auch »Gott« belogen, weil der Heilige Geist Gott ist.
5,5.6 In diesem Augenblick »fiel« Hananias tot »hin« und wurde von den jungen Männern hinausgetragen, um begraben zu werden. Das war ein ernstes Eingreifen der züchtigenden Hand Gottes in der Urgemeinde. Es geht hier nicht um die Frage der Erlösung oder der ewigen Sicherheit von Hananias. Vielmehr zeigte Gott dadurch sein Missfallen am ersten Aufkommen der Sünde in seiner Gemeinde. »Ein Exeget hat es folgendermaßen ausgedrückt«, zitiert Richard Bewes: »›Entweder musste Hananias oder der Geist Gottes die Gemeinde verlassen.‹ So rein war die Reinheit in der Gemeinschaft der ersten Christen, dass eine solche Lüge unter ihnen nicht bestehen konnte.«
5,7-11 »Etwa drei Stunden« später erschien Saphira, und Petrus klagte sie an, mit ihrem Ehemann »den Geist des Herrn« versucht zu haben. Er erzählte ihr vom Schicksal ihres Ehemannes und sagte ihr dasselbe Schicksal voraus. »Sie fiel aber sofort zu seinen Füßen nieder und verschied.« Sie wurde ebenso wie ihr Mann zum Begräbnis hinausgetragen. Die Vollmacht des Petrus, das Gericht über dieses Paar auszusprechen, ist ein Beispiel für die besonderen Wundergaben, die die Apostel erhalten hatten. Vielleicht haben wir hier auch die Erfüllung der Verheißung unseres Herrn: »Wenn ihr jemandem die Sünden … behaltet, sind sie ihm behalten« (Joh 20,23). Man sieht dies weiterhin in der Fähigkeit des Paulus, einen sündigen Christen zum Verderben des Fleisches dem Satan zu übergeben (1. Kor 5,5). Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Vollmacht über die Zeit der Apostel hinaus ausgedehnt wurde.
Man kann sich die Ehrfurcht vorstellen, die die Gemeindeglieder und alle anderen nun erfüllte, die vom Tod dieser beiden hörten.
5,12-16 Nach dem Tod von Hananias vollbrachten die Apostel weiterhin Wunder, wenn die Menschen sich »in der Säulenhalle Salomos« um sie versammelten. Die Gegenwart und Allmacht Gottes war so intensiv, dass sich die Menschen nicht leichtfertig mit ihnen zusammentun oder Glauben heucheln konnten. Und doch wurden die Apostel vom einfachen »Volk« gerühmt, und viele nahmen ihren Platz als gläubige Jünger Jesu ein. Die Menschen trugen »die Kranken auf die Straßen hinaus«, damit der Schatten von Petrus sie »überschatten möchte«. Jeder konnte sehen, dass das Leben der Apostel echt und vollmächtig war. Es war für alle offenkundig, dass sie Kanäle waren, durch die Gott andere Menschen segnen wollte. Auch aus den Orten in der Umgebung von Jerusalem kamen »Kranke und von unreinen Geistern Geplagte, die alle geheilt wurden«.
Aus Hebräer 2,4 geht hervor, dass dies Gottes Art und Weise war, den Dienst der Apostel zu beglaubigen. Mit der Vervollständigung des Neuen Testaments in schriftlicher Form wurden solche »Zeichen« überflüssig. Wenn wir sogenannte »Heilungsveranstaltungen« der heutigen Zeit betrachten, so sollte es uns nachdenklich machen, dass alle Menschen geheilt wurden, die zu den Aposteln gebracht wurden. Das gilt für unsere heutigen Wunderheiler nicht.
5,17-20 Wahrer Dienst im Heiligen Geist führt unausweichlich zu Bekehrungen einerseits und erbittertem Widerstand andererseits. So war es auch in diesem Fall. »Der Hohepriester« (wahrscheinlich Kaiphas) und seine sadduzäischen Freunde waren erbost darüber, dass diese fanatischen Jesusjünger einen solchen Einfluss auf das Volk hatten. Sie fürchteten jede Bedrohung ihrer ausschließlichen Rolle als religiöse Führer und verachteten insbesondere die Predigt von einer leiblichen Auferstehung, die sie natürlich voller Vehemenz leugneten. Da sie kein anderes Mittel als die Gewaltanwendung gegen »die Apostel« hatten, nahmen sie diese fest und »setzten sie in öffentlichen Gewahrsam«. In dieser Nacht »führte … ein Engel des Herrn … sie hinaus« aus dem Gefängnis und gab ihnen den Auftrag: »Geht und stellt euch hin und redet im Tempel zu dem Volk alle Worte dieses Lebens!« Lukas erwähnt dieses wunderbare Eingreifen durch einen Engel ohne besonderes Erstaunen. Obwohl die Apostel vielleicht selbst erschrocken waren, so haben wir keine Aufzeichnung darüber.
Der Engel bezeichnete den christlichen Glauben als »dieses Leben«. Es handelt sich hier eben nicht um ein Bekenntnis oder eine Anzahl von Dogmen, sondern um ein Leben – das Auferstehungsleben, das der Herr Jesus allen schenkt, die auf ihn vertrauen.
5,21 Bei Tagesanbruch waren die Apostel wieder im »Tempel und lehrten«. In der Zwischenzeit hatte der Hohepriester mit dem »Hohen Rat« (dem Synedrium) und dem Senat (»der ganzen Ältestenschaft«) eine geheime Sitzung abgehalten. Nun warteten die Versammelten darauf, dass ihnen die Gefangenen vorgeführt werden sollten.
5,22-25 Die verwirrten »Diener« hatten dem Gericht zu berichten, dass »im Gefängnis« alles in Ordnung war – nur die Gefangenen fehlten! »Die Türen« waren »mit aller Sorgfalt verschlossen«, und »die Wachen« standen auf ihrem Posten, doch die Gefangenen waren weg. Eine wahrlich peinliche Meldung! »Was sollte daraus nur werden?«, fragten sich »der Hauptmann des Tempels wie auch die Hohenpriester«: »Wie weit wird diese Volksbewegung noch gehen?« Da wurden ihre Fragen durch einen Boten unterbrochen, der verkündete, dass die Entflohenen zurück an ihrem alten Platz »im Tempel waren« und das Volk lehrten! Wir müssen ihren Mut bewundern, und wir müssen diese Fähigkeit der ersten Gemeinde wiedererlangen, bis aufs Äußerste für unsere Überzeugung einzustehen.
5,26 Die »Diener« wandten keine Gewalt an, als sie nun die Apostel vor den Rat brachten. »Sie fürchteten das Volk«, dass sie von ihm gesteinigt werden könnten, wenn sie sich gewaltsam an diesen Jesusjüngern vergriffen hätten, die jetzt vom gewöhnlichen Volk so geachtet wurden.
5,27.28 Der Hohepriester führte das Wort. »Wir haben euch streng geboten, in diesem Namen nicht zu lehren.« Er vermied es absichtlich, den Namen unseres Herrn Jesus Christus in den Mund zu nehmen. »Ihr habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt.« Dies war ein unfreiwilliges Kompliment für die Wirksamkeit des apostolischen Dienstes. »Ihr ›wollt das Blut dieses Menschen auf uns bringen‹.« Doch die jüdischen Führer hatten dies bereits getan, als sie schrien: »Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!« (Matth 27,25).
5,29-32 Weiter oben sahen wir, dass die Apostel um Freimut zur Verkündigung baten. Mit Mut von oben ausgestattet, bestanden die Apostel darauf, dass sie »Gott mehr gehorchen« mussten »als Menschen«. Sie erklären ganz einfach, dass Gott Jesus »auferweckt hat« und Israel ihn »ermordet« hat, indem es »ihn ans Holz« hängte. Doch Gott hat ihn »durch seine Rechte zum Führer und Heiland erhöht«. Als solcher war er bereit, »Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben«. Zum Schluss fügen die Apostel noch ein Argument an, nämlich die Tatsache, dass sie »Zeugen von diesen Dingen« seien, ebenso wie »der Heilige Geist, den Gott denen gegeben hat, die ihm gehorchen«, indem sie an seinen Sohn glauben.
Die Worte »Gott … hat Jesus auferweckt« (V. 30) kann sich sowohl auf seine Menschwerdung als auch auf seine Auferstehung beziehen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass es hier darum geht, dass er ihn durch die Menschwerdung »erweckt« hat, damit er Israel zum »Heiland« wurde.
5,33-37 Durch die Worte dieser »lebendigen Gewissen« wurden die Obersten der Juden überführt – so sehr, dass sie »ratschlagten, sie umzubringen«. An diesem Punkt griff Gamaliel ein. Er war einer der herausragendsten Gelehrten seiner Tage und Lehrer von Saulus von Tarsus. Sein Rat beweist nicht, dass er Christ gewesen ist oder den Christen wohlgesonnen war. Er beruhte auf rein menschlicher Weisheit. Nachdem die Apostel aus dem Saal geführt worden waren, erinnerte er die Mitglieder des Hohen Rats zunächst daran, dass diese Bewegung sicherlich bald zugrunde gehen würde, wenn sie nicht »aus Gott« wäre. Er führt zwei Beispiele für diesen Grundsatz an: 1. »Theudas«, den selbst ernannten Führer »von etwa vierhundert Männern«, der »getötet« wurde und dessen Männer »zerstreut« wurden; und 2. »Judas« den »Galiläer«, einen anderen Fanatiker, der einen fehlgeschlagenen Aufstand unter den Juden anzettelte, aber ebenso »umkam« und dessen Anhänger ebenfalls »zerstreut« wurden.
5,38.39 »Wenn« diese christliche Bewegung nicht »aus Gott« wäre, dann wäre es das Beste, sie zu »lassen«, denn bald würde sich die Sache von selbst erledigen. Würde man dagegen ankämpfen, würde man deren Anhänger nur entschlossener machen, sodass die Bewegung mit umso größerer Wahrscheinlichkeit überleben würde. (Dieses Argument hat sich jedoch nicht als wahr erwiesen. Viele gottlose Institutionen bestehen seit Jahrhunderten. Sie haben sogar mehr Anhänger gewonnen als die Wahrheit. Doch in Gottes Zeitrechnung gilt dieses Argument, wenn auch nicht in der menschlichen Zeitrechnung.)
Andererseits, so fuhr Gamaliel fort, »wenn« diese Bewegung »aus Gott« ist, dann würden sie »sie nicht zugrunde richten können« und sie würden sich in der unangenehmen Lage befinden, »gegen Gott« zu »streiten«.
5,40 Diese Logik verstanden die Obersten, und deshalb riefen sie »die Apostel«, ließen sie schlagen »und geboten ihnen, nicht im Namen Jesu zu reden, und entließen sie«. Die Prügelstrafe war unsinnig und unrechtmäßig, die unvernünftige Reaktion voreingenommener Herzen auf die Wahrheit Gottes.25 Das Gebot, das mit den Schlägen einherging, war töricht und vergebens, sie hätten ebenso gut der Sonne verbieten können zu scheinen, wie den Jüngern zu untersagen, »im Namen Jesu zu reden«!
5,41.42 Die Züchtigung hatte zwei unerwartete Folgen bei den Aposteln. Zunächst freuten sie sich zutiefst, »dass sie gewürdigt worden waren, für den Namen26 Schmach zu leiden«, den sie so liebten. Zweitens brachte sie erneuerten Eifer und neue Hingabe hervor, »jeden Tag im Tempel und in den Häusern zu lehren und Jesus als den Christus zu verkündigen«.
So hatte sich Satan wieder einmal selbst eine Falle gestellt.
Exkurs zum Thema Verhältnis des Christen zur Obrigkeit
Als die ersten Christen das Evangelium verbreiteten, war es unausweichlich, dass sie mit den Behörden in Konflikt gerieten, insbesondere mit den religiösen Führern, die zu dieser Zeit einen beachtlichen Einfluss hinsichtlich öffentlicher Angelegenheiten besaßen. Die Gläubigen waren darauf vorbereitet und reagierten mit Haltung und Würde.
Im Allgemeinen bestand ihre Haltung darin, die Obrigkeit zu respektieren und ihr zu gehorchen, weil sie die von Gott eingesetzte Dienerin Gottes ist, um das Allgemeinwohl sicherzustellen. Deshalb entschuldigte sich Paulus sofort, als er, ohne es zu wissen, den Hohenpriester ermahnte und dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, indem er 2. Mose 22,28 zitierte: »Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht schlecht reden« (Apg 23,5). Doch wenn menschliche Gesetze den Geboten Gottes entgegenstanden, gehorchten die Christen der Obrigkeit nicht und ertrugen lieber die Konsequenzen, wie immer diese auch aussehen mochten. Als zum Beispiel Petrus und Johannes verboten wurde, das Evangelium zu predigen, antworteten sie: »Ob es vor Gott recht ist, auf euch mehr zu hören als auf Gott, urteilt selbst! Denn es ist uns unmöglich, von dem, was wir gesehen und gehört haben, nicht zu reden« (4,19.20). Und als Petrus und die Apostel festgenommen wurden, weil sie noch immer in Jesu Namen predigten, antwortete Petrus: »Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen« (5,29).
Wir haben nicht den leisesten Hinweis darauf, dass sie je versucht haben, die Obrigkeit zu stürzen. Trotz Verfolgung und Unterdrückung wünschten sie ihren Herrschern nur das Beste (Apg 26,29). Es versteht sich von selbst, dass sie sich niemals zu einer Unehrlichkeit hergeben würden, nur um bei der Obrigkeit Gunst zu finden. Der Statthalter Felix z. B. wartete vergeblich auf ein Bestechungsgeld von Paulus (Apg 24,26). Jedoch waren sie nicht der Meinung, dass es ihrer christlichen Berufung widersprechen könnte, wenn sie ihre Bürgerrechte nutzten (Apg 16,37; 21,39; 22,2528; 23,17-21; 25,10.11). Doch sie selbst nahmen nicht am politischen Geschehen ihrer Tage teil. Waru m? Dafür erhalten wir keine genauere Erklärung. Doch so viel wird deutlich: Sie hatten ein Anliegen: Es ging darum, das Evangelium Christi zu predigen. Sie gaben sich dieser Aufgabe hin, ohne sich ablenken zu lassen. Sie müssen der Ansicht gewesen sein, dass das Evangelium die Lösung für die Probleme des Menschen darstellt. Diese Überzeugung war so stark, dass sie nicht mit solch untergeordneten Aufgaben wie der Politik zufrieden sein konnten.
6,1 Wenn Satan keinen Erfolg durch Angriffe von außen hat, wird er versuchen, durch Uneinigkeit von innen zu siegen. Ein Beispiel dafür sehen wir in diesen Versen.
In den ersten Tagen der Gemeinde war es üblich, die armen Witwen der Gemeinde, die keinerlei andere Versorgungsmöglichkeit hatten, durch tägliche Gaben zu unterhalten. Einige der Gläubigen, die vor ihrer Bekehrung Griechisch sprechende Juden gewesen waren, beklagten sich, »weil ihre Witwen« nicht mit den Witwen der »Hebräer« (d. h. der Juden aus Jerusalem und Judäa) gleichbehandelt wurden.
6,2.3 »Die Zwölf« erkannten, dass mit dem Wachstum der Gemeinde Vorkehrungen getroffen werden mussten, um diese äußerlichen Aufgaben durchzuführen. Sie selbst wollten den Dienst des »Wortes Gottes« nicht vernachlässigen, um Finanzangelegenheiten zu regeln. Deshalb gaben sie der Gemeinde den Rat, dass sie »sieben Männer« auswählen sollte, die geistlich anerkannt waren und Aufgaben zur äußeren Aufrechterhaltung des Gemeindelebens regeln konnten. Obwohl diese Männer in der Bibel nicht »Diakone« genannt werden, ist es durchaus angemessen, sie sich als solche vorzustellen. In dem Ausdruck »die Tische bedienen« bildet das gr. Wort für »bedienen« die Verbform des Hauptwortes, von dem wir das deutsche Wort »Diakon« ableiten. Daher war es, wörtlich übersetzt, ihre Aufgabe, an den Tischen »als Diakone zu wirken«. Hier wird eine dreifache Qualifikation für diese Aufgabe genannt. 1. »Von gutem Zeugnis« in zeugnismäßiger Hinsicht
2. »Voll Geist« in geistlicher Hinsicht 3. »voll Weisheit« in praktischer Hinsicht
Eine ausführlichere Liste der Qualifikationen für den Diakonendienst steht in 1. Timotheus 3,8-13.
6,4 Die Apostel wollten ganz »im Gebet und im Dienst des Wortes verharren«. Man beachte hier die Reihenfolge: zuerst das »Gebet« und dann erst der »Dienst des Wortes«. Ihnen war es ein Anliegen, zuerst mit Gott über Menschen zu reden, bevor sie mit Menschen über Gott sprachen.
6,5.6 Wenn wir nach den Namen der sieben Männer urteilen, die gewählt wurden, waren die meisten von ihnen Griechisch sprechende Juden, ehe sie sich bekehrten. Das war in der Tat ein äußerst großzügiges Zugeständnis an diejenige Gruppe der Gläubigen, die sich beklagt hatte. Danach konnte aus dieser Gruppe kein Vorwurf der Übervorteilung mehr kommen. Wenn die Liebe Gottes die Herzen der Menschen erfüllt, dann siegt sie über Selbstsucht und Kleinlichkeit. Nur zwei dieser Diakone sind uns wohlbekannt: Stephanus, welcher der erste Märtyrer der Gemeinde wurde, und Philippus, der Evangelist, der später das Evangelium nach Samaria brachte, den »Kämmerer aus Äthiopien« zu Christus führte und Paulus in Cäsarea beherbergte.
Nach dem Gebet drückten die Apostel ihre Gemeinschaft mit den Gewählten aus, indem sie ihnen »die Hände auflegten«.
6,7 Wenn wir diesen Vers zusammen mit den vorhergehenden Versen sehen, dann scheint hier angedeutet zu sein, dass durch die Wahl von Diakonen zur Regelung der Versorgungsangelegenheiten das Evangelium sehr gefördert wurde. Als »das Wort Gottes wuchs«, wurden viele »Jünger« zur Gemeinschaft in Jerusalem hinzugetan, »und eine große Menge« der jüdischen Priester wurde zu Nachfolgern des Herrn Jesus.
6,8 Der Bericht konzentriert sich nun auf Stephanus,27 einen Diakon, der von Gott in machtvoller Weise gebraucht wurde, sodass er Wunder tun und das Wort predigen konnte. Er ist in der Apostelgeschichte der Erste, der außer den Aposteln Wunder tut. War diese »Beförderung« zu einem höheren Dienst eine Folge seiner Treue als Diakon? Oder war dies einfach nur ein weiterer Dienst, den er zur selben Zeit tat? Vom Text her können wir die Frage unmöglich beantworten.
6,9 Der Widerstand gegen den vollmächtigen Dienst des Stephanus kam diesmal aus der Synagoge. Damit waren jene gottesdienstlichen Stätten gemeint, an denen sich die Juden am Sabbat versammelten, um im Gesetz unterwiesen zu werden. Die Synagogen wurden nach den Menschen genannt, die dort zusammenkamen.
Die »Libertiner« waren vielleicht Juden, die aus der Sklaverei bei den Römern befreit worden waren. Kyrene war eine Stadt in Afrika, aus der sich einige Juden offensichtlich in Jerusalem angesiedelt hatten. Die alexandrinischen Juden waren aus dem ägyptischen Hafen gleichen Namens gekommen. Zilizien war die südöstliche Provinz von Kleinasien, und Asien war eine Provinz Kleinasiens und bestand aus drei Gebieten. Offensichtlich gab es in Jerusalem und Umgebung Gemeinschaften von Juden, die aus diesen Orten stammten.
6,10-14 Es erwies sich, dass diese eifrigen Juden Stephanus nicht gewachsen waren, als sie mit ihm diskutierten. Seine Worte und seine Vollmacht beim Sprechen waren einfach unwiderstehlich. In einem verzweifelten Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, »stellten sie falsche Zeugen auf«, um Stephanus der Lästerung gegen »Mose und Gott« anzuklagen.28
Schon bald stand er vor dem Hohen Rat. Er wurde angeklagt, gegen den Tempel »und das Gesetz« zu reden. Fälschlicherweise unterstellten sie ihm, gesagt zu haben, dass Jesus den Tempel »zerstören« werde und die gesamte Rechtsordnung »verändern« wolle, das Mose Israel »überliefert hat«.
6,15 Der Hohe Rat hörte sich die Klagen an, doch als dessen Mitglieder Stephanus betrachteten, sahen sich nicht das Gesicht eines Dämons, sondern »eines Engels Angesicht«. Sie sahen die geheimnisvolle Schönheit eines Lebens, das vollkommen dem Herrn hingegeben ist. Aus ihm strahlte die Entschlossenheit, die Wahrheit zu verkünden. Er war ein Mensch, dem es mehr darum ging, was Gott sagt, als um das, was Menschen sagen werden. Sie sahen, wie sich in dem strahlenden Gesicht eines hingegebenen Anhängers Christi etwas von dessen Herrlichkeit widerspiegelte. In Kapitel 7 finden wir die gewaltige Verteidigungsrede des Stephanus. Er beginnt ganz ruhig mit einem Rückblick auf die jüdische Geschichte. Im weiteren Verlauf konzentriert er sich auf zwei Personen, Josef und Mose, die von Gott erweckt, von Israel verworfen und dann als Befreier und Retter erhöht wurden. Obwohl Stephanus ihre Erfahrungen nicht direkt mit dem Geschehen um Christus verknüpft, ist die Parallele nicht zu übersehen. Zum Schluss greift Stephanus dann die Führer Israels an, dass sie dem Heiligen Geist widerstanden, den Gerechten ermordet und das Gesetz Gottes nicht gehalten hatten.
Stephanus muss gewusst haben, dass sein Leben auf dem Spiel stand. Um sich selbst zu schonen, hätte er nur eine kompromissbereite, beruhigende Rede führen müssen. Doch er wollte lieber sterben, als das in ihn gesetzte geistliche Vertrauen zu missbrauchen. Wir sollten diesen Mut aufrichtig bewundern!
7,1-8 Der erste Abschnitt der Rede nimmt uns mit in die Anfangszeit des hebräischen Volkes. Es wird nicht klar, waru m hier Abrahams Geschichte so ausführlich dargestellt ist. Damit könnte Stephanus Folgendes beabsichtigt haben: 1. Er wollte zeigen, dass er mit dem Volk Israel vertraut ist und es liebt. 2. Er wollte zur Geschichte von Josef und Mose überleiten, die beide ein Typus dafür sind, wie Christus verworfen wurde.
3. Er wollte zeigen, dass Abraham Gott in rechter Weise verehrte, auch wenn seine Anbetung nicht an einen besonderen Ort gebunden war. (Stephanus war angeklagt, gegen den Tempel zu reden – «gegen die heiligen Stätte«.) Die wichtigen Punkte der Geschichte Abrahams sind:
1. Seine Berufung durch Gott in »Mesopotamien« (V. 2.3).
2. Seine Reise nach »Haran« und später nach Kanaan (V. 4).
3. Gottes Verheißung des Landes an Abraham, obwohl der Patriarch selbst nie etwas von dem Lande besaß – wie durch den Kauf der Höhle von Machpela  als  Grab  bewiesen  wird  (V. 5). Die Erfüllung dieser Verheißung liegt noch in der Zukunft (Hebr 11,13-40). 4. Gottes Voraussage der Knechtschaft Israels in Ägypten und die schließliche Befreiung aus diesem Zustand (V. 6.7). Beide Teile dieser Vorhersage wurden durch Männer herbeigeführt, die von ihren Brüdern zunächst abgelehnt  worden  sind:  Josef  (V. 9-19) und  Mose  (V. 20-36).  Die  in  Vers  6 und  1. Mose  15,13  erwähnten  »vierhundert Jahre« beziehen sich auf die Zeit, als die Juden in Ägypten unterdrückt wurden. Die 430 Jahre, die in 2. Mose 12,40 und in Galater 3,17 erwähnt werden, sind die Zeitspanne von der Ankunft Jakobs mit seiner Familie in Ägypten bis zum Auszug und der Gesetzgebung. Die Israeliten wurden in den ersten dreißig Jahren ihres Aufenthalts in Ägypten nicht unterdrückt, sondern sogar sehr großzügig behandelt.
5.  Der »Bund der Beschneidung« (V. 8a). 6. Die Geburt Isaaks, später die Geburt Jakobs und dann die Geburt der »zwölf  Patriarchen  (V. 8b).  Diese  Erwähnung bringt die Geschichte nun auf Josef, einen der zwölf Söhne Jakobs.
7,9-19 Von jedem Christustypus im AT ist Josef der deutlichste und kostbarste, auch wenn er als solcher in der Bibel nicht genannt wird. Sicherlich haben die Juden zur Zeit des Stephanus die scharfen Pfeile der Überführung gespürt, als sie hörten, wie Stephanus die einzelnen Schritte des Werdegangs Josefs nachzeichnete, und sie gleichzeitig daran denken mussten, was sie Jesus von Nazareth angetan hatten!
1. Sie »verkauften« Josef »nach Ägypten« (V. 9).
2. Der Verworfene kam in Ägypten zu Ehre und Macht (V. 10).
3. Josefs Brüder wurden durch »eine Hungersnot« nach »Ägypten« getrieben, doch sie erkannten ihren Bruder nicht (V. 11.12).
4. »Beim zweiten Mal wurde Josef von seinen Brüdern wiedererkannt.« So wurde der Abgelehnte zum Retter seiner Familie (V. 13.14). Man beachte: Es besteht hier scheinbar ein Widerspruch zwischen den »fünfundsiebzig Seelen«, die hier in Vers 14 angegeben werden, und den siebzig, die in 1. Mose 46,27 erwähnt werden. Stephanus zitierte hier die griechische Übersetzung  von  1. Mose  46,27  und 2. Mose  1,5  (wo  75  angegeben  werden). Im Hebräischen steht siebzig, was nur bedeutet, dass es mehrere Arten gibt, Jakobs Familie zu zählen.29 5. Der Tod der Patriarchen und ihr Begräbnis  im  Land  Kanaan  (V. 15.16). Eine weitere Schwierigkeit erhebt sich in diesem Vers. Hier heißt es, dass »Abraham« eine Grabstätte »von den Söhnen Hemors« gekauft habe. In 1. Mose 23,16.17 heißt es jedoch, dass Abraham die Höhle von Machpela in Hebron von den Söhnen Hets kaufte. Jakob kaufte Land in Sichem von den Kindern  Hamors  (1. Mose  33,19).  Es gibt mehrere Möglichkeiten der Erklärung:
a. Abraham kann sowohl in Sichem als auch in Hebron Land gekauft haben. Es kann sein, dass Jakob später das Grundstück in Sichem zurückgekauft hat.
b. Stephanus kann den Namen Abrahams für seinen Nachkommen Jakob gebraucht haben.
c. Um der Kürze willen könnte Stephanus die beiden Käufe von Abraham und Jakob zu einem Landerwerb zusammengefasst haben.30
d. Das Wachstum der Familie Jakobs in Ägypten und ihre Sklaverei nach dem Tode  Josefs  (V. 17-19).  Dies  bereitet uns natürlich auf den nächsten Schritt in der Argumentationskette des Stephanus vor – auf die Behandlung, die Mose durch sein eigenes Volk erfuhr.
7,20-43 Stephanus zeigt mutig auf, dass die Juden schon mindestens zweimal  vorher  (d. h.  vor  der  Verwerfung Christi; Anm. d. Übers.) schuldig geworden waren, die Retter verworfen zu haben, die Gott ihnen erweckt hatte, um sie zu befreien. Er beweist dies zweitens anhand von Mose.
Stephanus war angeklagt worden, gegen Mose zu lästern (Kap. 6,11). Er weist nach, dass das Volk Israel schuldig geworden ist – weil es diesen Mann, den Gott auserwählt hatte, verwarf. Stephanus geht folgende Punkte im Leben von Mose durch:
1. Geburt, Kindheit und Ausbildung in  Ägypten  (V. 20-22).  Der Ausdruck »mächtig in seinen Worten« kann sich auf seine Schriften beziehen, weil er selbst behauptete, nicht besonders wortgewandt zu sein (2. Mose 4,10). 2. Seine erste Ablehnung durch seine »Brüder«, als er einen von ihnen gegen einen »Ägypter« verteidigte. (V. 23-28).  Man  beachte  Vers  25!  Wie sehr erinnert uns dies an die Verwerfung Christi durch sein eigenes Volk! 3.  Sein Exil »im Land Midian« (V. 29). 4. Gottes Offenbarung an Mose im brennenden »Dornbusch«, als er zu den Angehörigen seines Volkes zurückgesandt wurde »nach Ägypten … um sie herauszureißen« (V. 30-35). 5. Er wurde zum Retter des Volkes (V. 36).
6.  Seine  Messiasprophetie  (V. 37)  (»Wie mich« bedeutet »wie er mich erweckt hat«.).
7. Seine Rolle als Gesetzgeber »der Gemeinde in der Wüste« (V. 38). 8. Mose wird zum zweiten Mal von den Israeliten verworfen, als sie das Goldene »Kalb« anbeteten (V. 39-41). Der Götzendienst Israels wird in Vers 42 und 43 näher beschrieben. Während sie vorgaben, dem Herrn »Opfertiere« darzubringen, nahmen sie »das Zelt des Moloch mit«. Der Molochdienst war eine der schrecklichsten Formen antiken Götzendienstes. Sie beugten sich auch vor »Räfan«, einem Sternengott. Wegen dieser Sünde kündigte Gott ihnen die Babylonische Gefangenschaft an. In den Versen 42 und 43 zitiert Stephanus die Lesart der Septuaginta aus Amos 5,25-27. Deshalb ist die Gefangenschaft »über Babylon hinaus« und nicht »über Damaskus hinaus« vorausgesagt. Beides ist jedoch wahr.
Die Geschichte wiederholt sich. In jeder Generation finden wir dieselben Vorgänge. Die Menschen bleiben immer gleich. Wenn sie Gottes Botschaft hören, dann verstehen sie diese nicht (V. 25). Wenn sie aufgefordert werden, in Frieden zu leben, wollen sie nicht hören (V. 27). Wenn ein gottgesandter Befreier kommt, lehnen sie ihn ab (V. 39). Wenn sie aus einer schrecklichen Situation befreit worden sind, geben sie nutzlosen Götzen vor dem gnädigen Gott den Vorzug (V. 41). So ist die menschliche Natur – aufrührerisch, undankbar, töricht. Gott bleibt derselbe. Der Gott, der zu Mose redete, war derselbe, der schon zu seinen Vorfahren gesprochen hatte (V. 32). Dieser Gott hört, wenn Menschen in Not sind (V. 34). Er kommt, um zu befreien (V. 34). Er führt sein Volk vom Tod ins Leben (V. 36). Er gibt diejenigen ihren eigenen Gelüsten hin, die ihn willentlich ablehnen (V. 42). So ist unser großer Gott – gnädig, mächtig, heilig. Er ist immer derselbe, was immer auch geschehen mag (Mal 3,6). Für die Zuhörer des Stephanus war es eine Warnung, nicht mit Gott zu spielen. Und wir haben hier auch die Zusicherung, dass jede Verheißung Gottes für immer feststeht.31
7,44-46 Stephanus war angeklagt worden, gegen den Tempel zu reden. Er antwortet, indem er sich auf die Zeit bezieht, als Israel das »Zelt des Zeugnisses in der Wüste« besaß. Während dieser Zeit verehrte das Volk auch die Gestirne. Als Josua und die Israeliten »das Land« Kanaan in Besitz nahmen und die heidnischen Einwohner vertrieben wurden, brachte man »das Zelt« in das Land. Dort blieb es »bis zu den Tagen Davids«. Die »Väter« hatten »begehrt, … eine Wohnstätte zu finden für den Gott Jakobs«. Damit hatten sie »Gnade … vor Gott« gefunden.
7,47-50 Davids Wunsch, den Tempel zu bauen, wurde nicht erfüllt, »Salomo aber baute ihm ein Haus«. Obwohl der Tempel die Wohnstätte Gottes unter seinem Volk verkörperte, war Gott doch nicht an dieses Gebäude gebunden. Das hat Salomo eindeutig festgestellt, als der Tempel geweiht wurde (1. Kön 8,27). Auch Jesaja hatte das Volk gewarnt, dass nicht Gebäude es sind, die wirklich vor Gott zählen, sondern die moralische und geistliche Verfassung im Leben der Betreffenden (Jes 66,1.2). Er sucht nach Menschen mit zerbrochenen Herzen und solchen, die vor seinem Wort zittern.
7,51-53 Die jüdischen Führer hatten Stephanus angeklagt, gegen das Gesetz zu sprechen. Er beantwortete die Anklage nun mit einer kurzen, gut formulierten Gegenklage.
Sie waren die »Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz und Ohren«. »Er tadelt sie, dass sie nicht das Israel Gottes seien, sondern Heiden mit störrischen und unbeschnittenen Herzen und Ohren.« Sie waren Söhne ihrer »Väter«, weil sie immer wieder »dem Heiligen Geist« widerstrebten. Ihre »Väter« hatten die »Propheten … verfolgt, … welche die Ankunft« Christi »zuvor verkündigten«. Und nun hatten sie noch »den Gerechten« verraten und ermordet. Sie waren das Volk, das das Gesetz nicht gehalten hatte – das Volk, das dieses Gesetz »durch Anordnung von Engeln empfangen« hatte.
Dazu war nichts mehr zu sagen! Man konnte einfach nichts mehr dazu sagen! Sie hatten versucht, Stephanus in die Defensive zu drängen. Doch er wurde der Ankläger, während sie sich als schuldige Angeklagte erwiesen. Seine Botschaft war eines der letzten Worte Gottes an das jüdische Volk, ehe das Evangelium zu den Heiden hinausging.
7,54-60 Als Stephanus öffentlich Zeugnis davon ablegte, dass er »die Himmel geöffnet« sehe, wollten die Angehörigen des Mobs ihm nicht länger zuhören. Sie schrien unbeherrscht, stürmten auf ihn los, schleppten ihn aus der Stadt und »steinigten ihn«.
Als wäre es eine reine Nebensächlichkeit, verzeichnet der Heilige Geist hier den Namen eines jungen Mannes, der dabei stand, um die Oberkleider der schwitzenden Mörder zu bewachen. Sein Name war Saulus. Es ist, als ob der Heilige Geist uns sagen wollte: »Merkt euch diesen Namen, dem werdet ihr noch häufiger begegnen!«
Das Martyrium des Stephanus glich dem Tod unseres Herrn in folgenden Punkten:
1. Er betete: »Herr Jesus, nimm meinen Geist  auf!«  (V. 59).  Jesus  betete:  »Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!« (Lk 23,46).
2. Er betete: »Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!« (V. 60). Jesus betete: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Lk 23,34). Legen diese Tatsachen nicht nahe, dass Stephanus durch die Beschäftigung mit dem Herrn »verwandelt« wurde »in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht« (2. Kor 3,18)? Nachdem er gebetet hatte, »entschlief er«. Wenn das Wort »schlafen« im NT in Verbindung mit dem Tod gebraucht wird, dann bezieht es sich auf den Leib, nicht auf die Seele. Die Seele des Gläubigen entfernt sich bei Eintritt des Todes, um bei Christus zu sein (2. Kor 5,8), der Leib wird dann in seinem Schlafzustand dargestellt.
Normalerweise war es den Juden nicht erlaubt, jemanden hinzurichten; dies war den römischen Besatzern vorbehalten. Doch scheinen die Römer Ausnahmen gemacht zu haben, wenn der Tempel bedroht war. Stephanus war angeklagt worden, gegen den Tempel zu reden, und obwohl die Anklage grundlos war, wurde er von den Juden hingerichtet. Der Herr Jesus war beschuldigt worden, weil er angeblich gedroht hatte, den Tempel zu zerstören (Mk 14,58), doch die Zeugenaussagen widersprachen sich.
II. Die Gemeinde in Judäa und Samaria (8,1 – 9,31)
A. Der Dienst des Philippus in Samaria (8,1-25)
8,1 Wieder führt der Geist Gottes den Namen Saulus an. In seiner Seele tobten schwere innere Kämpfe. Äußerlich sollte sein schreckliches Wüten weitergehen, doch seine Tage als Gegner des Christentums waren gezählt. »Saulus aber willigte in« die Tötung des Stephanus ein, doch indem er das tat, ebnete er den Weg dafür, dass er selbst bald kein Erzfeind der Christen mehr sein würde. Mit den Worten »an jenem Tag« beginnt ein neues Zeitalter. Der Tod des Stephanus scheint eine weitreichende »Verfolgung gegen die Gemeinde« ausgelöst zu haben. Die Gläubigen »wurden in die Landschaften von Judäa und Samaria zerstreut«.
Der Herr hatte seine Jünger beauftragt, ihr Zeugnis in Jerusalem zu beginnen, es nach Judäa zu tragen, dann nach Samaria zu gehen und es schließlich bis an die Enden der Erde zu verbreiten. Bis zu dieser Zeit war das Zeugnis ausschließlich auf Jerusalem beschränkt gewesen. Vielleicht hatten sie vor einer weiteren Ausbreitung selbst Angst gehabt. Nun wurden sie dazu durch die Verfolgung gezwungen.
»Die Apostel« selbst blieben in der Stadt. Wie Kelly ganz trocken anmerkt: »Diejenigen, die blieben, waren natürlich auch die Lästigsten.«
Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen war es für die Gläubigen eine finstere Zeit. Ein Mitglied ihrer Gemeinschaft war ermordet worden. Sie selbst wurden wie die Hasen gejagt. Doch vom göttlichen Standpunkt aus gesehen sah es überhaupt nicht finster aus. Ein Weizenkorn war in die Erde gefallen, und unausweichlich musste viel Frucht daraus entstehen. Die Stürme der Verfolgung versprengten die Samen des Evangeliums an entfernte Orte, und wer konnte wissen, wie groß die Ernte einmal sein würde?
8,2 Die »gottesfürchtigen Männer«, die Stephanus begruben, werden hier nicht mit Namen genannt. Vielleicht waren es Christen, die noch nicht aus Jerusalem vertrieben waren. Oder es waren vielleicht einige fromme Juden, die an dem Märtyrer etwas gesehen hatten, was ihn in ihren Augen würdig machte, ein ordentliches Begräbnis zu erhalten.
8,3 Wieder fällt der Name »Saulus«! Mit unbegrenzter Energie verfolgt er die »Gemeinde«, indem er seine unglückseligen Opfer aus ihren Häusern »schleppte« und sie »ins Gefängnis« überlieferte. Wenn er nur Stephanus vergessen könnte – welch eine Haltung, welch eine unerschütterliche Überzeugung, das Angesicht eines Engels! Er musste diese Erinnerung auslöschen, und er versuchte dies, indem er seine Angriffe gegen die Mitgläubigen des Stephanus verstärkte.
8,4-8 Die Zerstreuung der Christen konnte ihr Zeugnis nicht zum Schweigen bringen. Überall »gingen« sie »umher«, um die gute Nachricht vom Heil zu verbreiten. »Philippus«, der »Diakon« aus Kapitel 6, machte sich auf den Weg nach Norden »hinab in eine Stadt Samarias«.32 Er verkündigte nicht nur Christus, sondern tat auch »Zeichen«. »Unreine Geister« wurden ausgetrieben, »und viele Gelähmte und Lahme wurden geheilt«. Die Menschen hörten auf das Evangelium, sodass in dieser Stadt – wie nicht anders zu erwarten war – »große Freude« herrschte.
Die erste Gemeinde gehorchte den ausdrücklichen Anweisungen Jesu: Die Gläubigen gingen hinaus, wie Christus hinausgegangen war (Joh 20,21; vgl. Apg 8,1-4).
Sie verkauften ihr Eigentum und gaben es den Armen (Lk 12,33; 18,22; vgl. Apg 2,45; 4,34).
Sie verließen Vater, Mutter, Häuser und Äcker, um in der ganzen Welt das Evangelium zu verkünden (Matth 10,37; vgl. Apg 8,1-4).
Sie machten Menschen zu Jüngern und lehrten sie, zu arbeiten und zu gehorchen (Matth 28,18.19; vgl. 1. Thess 1,6). Sie nahmen ihr Kreuz auf sich und folgten Christus nach (Apg 4; 1. Thess 2). Sie freuten sich über Leid und Verfolgung (Matth 5,11.12; vgl. Apg 16,20-25; 1. Thess 1,6-8). Sie ließen die Toten ihre Toten begraben und gingen, um das Evangelium zu predigen (Lk 9,59.60).
Sie schüttelten den Staub von ihren Füßen und gingen weiter, wenn die Menschen sie nicht hören wollten (Lk 9,5; vgl. Apg 13,51).
Sie heilten, trieben Dämonen aus, weckten Tote auf und brachten bleibende Frucht (Mk 16,18; Apg 3-16).33
8,9-11 Unter den Beachtenswertesten derer, die auf Philippus hörten, war ein Zauberer »mit Namen Simon«. Er selbst hatte »vorher« durch seine erfolgreiche »Zauberei« viel Eindruck auf die Menschen in Samaria gemacht. Er machte sich sehr wichtig, und einige Menschen waren wirklich der Überzeugung, dass er »die Kraft Gottes, die man die große nennt«, sei.
8,12.13 Als viele Menschen »Philippus glaubten« und »getauft« wurden, bezeugte »auch Simon«, dass er ein Gläubiger sei.34 Er wurde getauft und folgte Philippus nach, weil ihn die von ihm vollbrachten »Wunder« faszinierten. Aus dem Folgenden scheint hervorzugehen, dass Simon nicht wiedergeboren war. Er bekannte lediglich, doch er besaß den Glauben nicht wirklich. Diejenigen, welche die Taufwiedergeburt lehren, haben ernsthafte Schwierigkeiten, diese Stelle zu erklären. Simon war getauft worden, doch er war noch immer in seinen Sünden.
Man beachte, dass Philippus »das Evangelium vom Reich Gottes und dem Namen Jesu Christi verkündigte«. Das »Reich Gottes« ist der Bereich, worin Gottes Herrschaft anerkannt wird. Zur Zeit ist der König abwesend. Statt eines irdischen Reiches im wörtlichen Sinne gibt es ein geistliches, unsichtbares Reich im Leben aller, die ihm treu sind. In der Zukunft wird der König auf die Erde zurückkehren und ein irdisches Reich mit Jerusalem als Hauptstadt aufrichten. Um in dieses Reich zu kommen (gleich welche Form es hat), muss man wiedergeboren werden. Glauben an »den Namen Jesu Christi« ist das Mittel, die Wiedergeburt zu erfahren. Das war zweifellos der Kern der Botschaft des Evangelisten Philippus.
8,14-17 Als die Nachricht, »dass Samaria das Wort Gottes angenommen habe«, »die Apostel in Jerusalem« erreichte, »sandten sie Petrus und Johannes zu ihnen«. Als sie ankamen, waren die Gläubigen »allein getauft auf den Namen des Herrn Jesus«, doch »den Heiligen Geist« hatten sie nicht empfangen. Offensichtlich aufgrund einer göttlichen Führung »beteten« die Apostel darum, dass diese Gläubigen »den Heiligen Geist empfangen möchten«, und »legten … ihnen die Hände auf«. Sobald das geschehen war, »empfingen« die betreffenden Samariter »den Heiligen Geist«.
Dabei erhebt sich sofort die Frage: »Warum haben wir hier eine andere Reihenfolge als zu Pfingsten?« Zu Pfingsten geschah mit den Juden Folgendes: 1. Sie taten Buße.
2. Sie wurden getauft.
3. Sie empfingen den Heiligen Geist. Hier bei den Samaritern sah die Reihenfolge so aus:
1. Sie glaubten.
2. Sie wurden getauft.
3. Die Apostel beteten für sie und legten ihnen die Hände auf.
4. Sie empfingen den Heiligen Geist. Eines können wir sicher sagen: Sie wurden alle auf die gleiche Weise errettet – durch Glauben an den Herrn Jesus Christus. Er ist der einzige Weg zur Errettung. Dennoch war es während dieser Übergangszeit zwischen Judentum und Christentum Gottes Wille, auf unterschiedliche Weise mit verschiedenen Gruppen von Gläubigen zu handeln. Die jüdischen Gläubigen wurden aufgefordert, sich vom Volk Israel durch die Taufe zu trennen, ehe sie den Heiligen Geist erhielten. Nun wurde es für die Samariter notwendig, dass die Apostel beteten und ihnen die Hände auflegten. Doch warum? Die vielleicht beste Antwort lautet, dass es hier darum ging, der Einheit der Gemeinde Ausdruck zu verleihen, ob sie nun aus Juden oder Samaritern bestand. Es bestand, nüchtern betrachtet, die Gefahr, dass die Gemeinde in Jerusalem die Anschauungen hinsichtlich der jüdischen Überlegenheit gegenüber den Samaritern beibehalten könnte und sie vielleicht weiterhin nichts mit ihren samaritischen Brüdern zu tun haben wollten. Um die Möglichkeit einer Spaltung oder den Gedanken an zwei Gemeindegruppen (eine jüdische und eine samaritische) zu vermeiden, sandte Gott die Apostel, um den Samaritern die Hände aufzulegen. Damit drückten sie die volle Gemeinschaft mit ihnen als Gläubige an den Herrn Jesus aus. Sie alle waren Glieder eines Leibes, alle eins in Christus.
Wenn es in Vers 16 heißt, dass sie »allein … auf (oder in) den Namen des Herrn Jesus« (s. a. 10,48 und 19,5) getauft waren, so bedeutet das nicht, dass dies etwas anderes wäre, als »auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« getauft zu sein (Matth 28,19). »Lukas gibt hier nicht eine Taufformel wieder«, schreibt W. E. Vine, »sondern berichtet einfach eine historische Tatsache«.
8,18-21 »Simon« der Zauberer war von der Tatsache sehr beeindruckt, »dass durch das Auflegen der Hände der Apostel der Geist gegeben wurde«. Er hatte kein tieferes Verständnis für die geistliche Bedeutung dieser Handlung, sondern sah darin die Zueignung einer übernatürlichen Macht, die ihm in seinem zwielichtigen Wirken nur nützen könnte. Deshalb bot er den Aposteln Geld an, um diese Macht zu kaufen.
Die Antwort des Petrus zeigt, dass Simon nicht wirklich bekehrt war: 1. »Dein Geld fahre mit dir ins Verderben.« Keinen Gläubigen wird das Verderben erwarten (Joh 3,16). 2. »Du hast weder Teil noch Recht an dieser Sache«, mit anderen Worten, er gehörte nicht zur Gemeinde. 3. »Dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott.« Das ist eine passende Beschreibung für einen Ungläubigen. 4. »Ich sehe, dass du voll bitterer Galle und in Banden der Ungerechtigkeit bist.« Könnten diese Worte für einen Wiedergeborenen gelten?
8,22-24 Petrus forderte Simon dringend auf, angesichts seiner großen Sünde »Buße« zu tun und zu beten, dass sein böser Plan vergeben werden möge. Simons Antwort war, dass er Petrus bat, als Mittler zwischen Gott und ihm selbst zu dienen. Er war der Erste derjenigen, die lieber zu einem menschlichen Vermittler gehen wollen, als sich dem Herrn selbst zuzuwenden. Dass es auf Simons Seite keine echte Buße gab, zeigt sich in den Worten: »Bittet ihr für mich den Herrn, damit nichts über mich komme von dem, was ihr gesagt habt.« Ihm tat seine Sünde nicht leid, sondern er fürchtete nur ihre Konsequenzen.
Von diesem Mann leitet sich unser heutiges Wort »Simonie« ab. Dabei geht es um den Verkauf oder Kauf geistlicher Ämter, sodass das Heilige zum Geschäft wird. Dazu gehört der Verkauf von Ablässen oder anderen vermeintlichen geistlichen Vorteilen und alle Formen des Kommerzes in göttlichen Angelegenheiten.
8,25 Nachdem Petrus und Johannes »das Wort des Herrn bezeugt und geredet hatten, kehrten sie nach Jerusalem zurück«. Doch nun, da ein Brückenkopf errichtet war, predigten sie in »vielen Dörfern der Samariter«.
B. Philippus und der Kämmerer aus Äthiopien (8,26-40)
8,26 Während der großen geistlichen Erweckung in Samaria zeigte »ein Engel des Herrn« Philippus ein neues Arbeitsfeld. Er sollte den Ort verlassen, wo viele gesegnet wurden, und einem einzigen Menschen dienen. Ein Engel konnte Philippus anweisen, aber ihm nicht die Aufgabe des Predigens abnehmen. Dieses Vorrecht ist nur Menschen gegeben, nicht jedoch Engeln.
In bedingungslosem Gehorsam ging Philippus südwärts – von Samaria nach Jerusalem und dann auf eine der Straßen, die »nach Gaza« führt.35 Es wird nicht deutlich, ob die Worte (»ist öde«) sich auf den Weg dorthin oder auf Gaza selbst beziehen. Die Auswirkung ist jedoch dieselbe: Philippus verließ einen belebten Ort geistlicher Fruchtbarkeit, um in ein Wüstengebiet zu ziehen.
8,27-29 Irgendwo auf dem Weg näherte er sich einer Karawane. Im wichtigsten Wagen saß der Schatzmeister, »ein Kämmerer36, ein Gewaltiger der Kandake37, der Königin der Äthiopier«. (Äthiopien umfasste den Südteil Ägyptens und den Sudan.) Dieser Mann hatte sich offensichtlich zum Judentum bekehrt, weil er »gekommen« war, »um zu Jerusalem anzubeten«, und nun nach Hause zurückkehrte. Während der Reise las er »den Propheten Jesaja«. Auf die Sekunde genau schickte der Heilige Geist gerade in diesem Augenblick Philippus, um sich dem Wagen anzuschließen.
8,30.31 Philippus eröffnete das Gespräch mit der freundlichen Frage: »Verstehst du auch, was du liest?« Der Kämmerer gab gern zu, dass er jemanden brauchte, um das Gelesene zu verstehen, und lud Philippus ein, »dass er aufsteige und sich zu ihm setze«. Wie erfrischend ist es, hier das völlige Fehlen rassistischer Vorurteile zu sehen!
8,32.33 Wie wundervoll, dass der Kämmerer gerade »zufällig« Jesaja 53 las, wo eine unübertroffene Beschreibung des leidenden Messias zu finden ist! Warum näherte sich Philippus gerade zu dieser Zeit dem Wagen?
Der Abschnitt in Jesaja zeichnet das Bild eines Menschen, der demütig und »stumm« war vor seinen Feinden, dem »Erniedrigung« widerfuhr, dem ein gerechter Prozess versagt blieb und der keine Hoffnung auf Nachkommen hatte, weil er in der Blüte seiner Jahre und als Unverheirateter getötet wurde.
8,34.35 Der Kämmerer fragte sich, ob Jesaja »von sich selbst oder von einem anderen« sprach. Das gab natürlich Philippus die ersehnte Möglichkeit zu zeigen, wie sich diese Schriftstelle im Leben und Tod des Jesus von Nazareth vollkommen erfüllt hat. Zweifellos hatte der Äthiopier in Jerusalem Berichte über einen gewissen »Jesus« gehört, doch diese Gerüchte hatten ihn sicherlich in einem schlechten Licht dargestellt. Nun erfährt der Kämmerer, dass Jesus von Nazareth der leidende Gottesknecht ist, von dem Jesaja geschrieben hat.
8,36 Es scheint wahrscheinlich, dass Philippus dem Äthiopier die Vorrechte der christlichen Taufe erklärt hat, in der man sich selbst mit Christus in seinem Tod, seiner Grablegung und seiner Auferstehung eins macht. Als sie nun »an ein Wasser« kamen, bat der Kämmerer, »getauft zu werden«.
8,37 Vers 37, der in manchen Bibelausgaben und in der Fußnote der revidierten Elberfelder Bibel enthalten ist, fehlt in den meisten griechischen Handschriften des Neuen Testaments. Es geht nicht darum, dass seine Lehre in irgendeiner Beziehung schriftwidrig wäre, denn Glaube an »Jesus Christus« ist sicherlich eine Vorbedingung für die Taufe. Doch der Vers wird von den meisten neutestamentlichen Handschriften einfach nicht unterstützt.38
8,38 »Der Wagen« wurde angehalten, und Philippus »taufte ihn«. Diese Taufe wurde durch Untertauchen vollzogen, wie aus der Beschreibung deutlich wird: »Sie stiegen beide in das Wasser hinab.« Danach heißt es: »Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen …«.39 Die Einfachheit der Zeremonie ist beeindruckend. Auf einer Wüstenstraße tauft ein Gläubiger einen Neubekehrten. Die Gemeinde war nicht anwesend. Keiner der Apostel war dabei. Zweifellos waren nur die zu dieser Karawane gehörenden Diener – das Gefolge des Kämmerers – Zeugen der Taufe ihres Herrn. Dadurch erkannten sie, dass er nun ein Nachfolger des Jesus von Nazareth war.
8,39 Sobald die Taufe vollzogen war, »entrückte der Geist des Herrn den Philippus«. Das bedeutet mehr als bloße Führung an einen anderen Ort. Es geht hier eher um ein wunderbares und plötzliches »Wegnehmen«. Das Ziel dieses Wunders war, dass der Kämmerer sich nicht mit dem menschlichen Werkzeug für seine Bekehrung, sondern mit dem Herrn selbst beschäftigen sollte. Will gar nichts mehr sein, nichts gelten, er führ’ mich allein hinfort; will er mich als Werkzeug gebrauchen, so diene ich ihm aufs Wort. Wohin er mich dann mag senden, weih’ ich ihm mein Leben zum Preis; will er, dass ein Auftrag soll enden, ich um seine Führung stets weiß. Verfasser unbekannt
Der Kämmerer »zog seinen Weg mit Freuden«. Es gibt eine Freude, die aus dem Gehorsam dem Herrn gegenüber entspringt und alle anderen schönen Gefühle übersteigt.
8,40 Philippus nahm in der Zwischenzeit seinen evangelistischen Dienst in »Aschdod« wieder auf, das nördlich von Gaza und westlich von Jerusalem an der Küste liegt. Von dort aus arbeitete er sich an der Küste weiter nach Norden vor, »bis er nach Cäsarea kam«. Was wurde nun aus dem Kämmerer? Es gab keine Möglichkeit einer sogenannten »Nacharbeit« durch Philippus. Der Evangelist konnte ihn nur Gott und den Schriften des AT überlassen. Doch in der Kraft des Heiligen Geistes kehrte dieser neue Jünger zweifellos nach Äthiopien40 zurück und erzählte dort von der errettenden Gnade des Herrn Jesus Christus.
Exkurs zur Gläubigentaufe
Die Taufe des Kämmerers, über die wir soeben nachgedacht haben, ist eine der vielen Hinweise, dass die christliche Taufe in der Gemeinde der Frühzeit gelehrt und praktiziert wurde (Apg 2,38; 22,16). Sie entsprach nicht der Taufe des Johannes, die eine Taufe der Buße darstellte (13,24; 19,4). Sie war vielmehr ein öffentliches Bekenntnis der Identifikation mit Christus.
Sie folgte ausnahmslos auf die Bekehrung (2,41; 8,12; 18,8) und wurde sowohl an Frauen als auch Männern (8,12) und sowohl an Heiden als auch Juden vollzogen (10,48). Es wird berichtet, dass ganze »Häuser« getauft wurden (10,47.48; 16,15; 16,33), nachdem alle Mitglieder dieses Haushaltes gläubig geworden sind. Nirgends wird die Taufe von Kindern erwähnt.
Die Gläubigen wurden kurz nach ihrer Bekehrung getauft (8,36; 9,18; 16,33). Offensichtlich wurde die Taufe aufgrund ihres Glaubensbekenntnisses zu Christus vollzogen. Es gab keine Erprobungszeit, um die Echtheit ihrer Bekehrung zu prüfen. Natürlich war durch die Verfolgungssituation die Wahrscheinlichkeit relativ gering, dass jemand leichtfertig ein Glaubensbekenntnis ablegte. Diese Taufe hatte keinen Wert, wenn es um die ewige Errettung ging, wie wir im Falle Simons sehen können (8,13). Selbst nachdem er sich zum Glauben bekannt hatte und getauft worden war, war er »voll bitterer Galle und in Banden der Ungerechtigkeit« (8,23). Sein »Herz« war »nicht aufrichtig vor Gott« (8,21). Wie schon erwähnt, wurde die Taufe durch Untertauchen vollzogen C. Die Bekehrung des Saulus von Tarsus (9,1-31)
9,1.2. Kapitel 9 markiert einen deutlichen Wendepunkt der Apostelgeschichte. Bisher hatte Petrus die herausragende Stellung als derjenige, der dem Volk Israel das Evangelium predigte. Von nun an wird der Apostel Paulus allmählich die wichtigere Person, und das Evangelium wird in zunehmendem Maße den Heiden verkündigt.
Saulus von Tarsus war zu dieser Zeit Anfang dreißig. Von den Rabbinern wurde er allgemein als der vielversprechendste junge Mann des Judentums angesehen. An Eifer übertraf er alle seine Altersgenossen.
Als er das Wachstum des Christentums beobachtete, das als der »Weg«41 bekannt war, sah er es als Bedrohung seiner eigenen Religion an. Deshalb nahm er sich vor, diese verderbliche Sekte mit scheinbar unbegrenztem Eifer zu zerschlagen. Zum Beispiel holte er sich eine offizielle Vollmacht vom »Hohenpriester«, um in »Damaskus« in Syrien nach Jüngern Jesu zu suchen und sie »gebunden nach Jerusalem« zu führen, damit sie dort vor Gericht gestellt und bestraft werden könnten.
9,3-6 Seine Reisegruppe näherte sich »Damaskus«. »Plötzlich umstrahlte ihn ein« helles »Licht aus dem Himmel«, aufgrund dessen er zu Boden fiel. Er »hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: ›Saul, Saul, was verfolgst du mich?‹« Als Saulus fragte: »Wer bist du, Herr?«, wurde ihm geantwortet: »Ich bin Jesus, den du verfolgst.«
Um die Empfindungen des Saulus zu diesem Zeitpunkt zu verstehen, ist es notwendig sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er überzeugt war, dass »Jesus« von Nazareth tot sei und in einem jüdischen Grab begraben liege. Weil der Anführer der Sekte schon getötet worden war, war es jetzt nur noch notwendig, seine Anhänger zu zerstreuen. Dann wäre die Welt von diesem Übel befreit.
Doch nun muss Saulus mit niederschmetternder Eindringlichkeit erfahren, dass Jesus gar nicht tot ist. Vielmehr ist er aus den Toten auferstanden und zur Rechten Gottes im Himmel verherrlicht! Dieser Anblick des verherrlichten Heilands veränderte die gesamte Ausrichtung seines Lebens.
Saulus lernte an diesem Tag auch, dass er den Herrn selbst verfolgte, als er gegen die Jünger Jesu vorging. Den Schmerz, der den Gliedern des Leibes auf Erden zugefügt wurde, empfand auch das Haupt im Himmel.
Saulus erhielt zuerst Belehrungen und dann einen Auftrag. Zunächst wurde er im Blick auf die Person Jesu unterwiesen. Dann wurde er nach Damaskus gesandt, wo er weitere Dienstanweisungen erhalten sollte.
9,7-9 »Die Männer aber, die mit ihm des Weges zogen«, waren zu dieser Zeit völlig benommen. Sie hörten zwar ein Geräusch vom Himmel, doch sie vernahmen keine verständlichen Worte, wie sie »Saulus« gehört hatte (22,9). Sie sahen den Herrn nicht; nur Saulus hatte ihn gesehen und war somit zum Apostel berufen worden.
Der stolze Pharisäer wurde nun »bei der Hand … nach Damaskus« geführt, wo er »drei Tage nicht sehen« konnte. Während dieser Zeit »aß« und »trank« er nicht.
9,10-14 Man kann sich die Wirkung der Nachricht auf die Christen in »Damaskus« vorstellen. Sie wussten, dass Saulus unterwegs gewesen war, um sie gefangen zu nehmen. Sie hatten um göttliches Eingreifen gebetet. Vielleicht hatten sie sogar gewagt, für die Bekehrung des Saulus zu beten. Nun hörten sie, dass der Erzfeind ihres Glaubens Christ geworden sei. Sie konnten ihren Ohren kaum trauen.
Als der Herr Hananias, einem der Gläubigen »in Damaskus«, befahl, »Saulus« zu besuchen, brachte Hananias Gott gegenüber all das drohende Unheil vor, das er mit der Ankunft dieses Mannes verband. Doch als Hananias hörte, dass »Saulus« nun »bete«, statt Christen zu verfolgen, ging er zum »Haus des Judas« in derjenigen Straße, die man die »Gerade« nannte.
9,15.16 »Der Herr« hatte wunderbare Pläne für Saulus: »… dieser ist mir ein auserwähltes Werkzeug, meinen Namen zu tragen sowohl vor Nationen als auch vor Könige und Söhne Israels. Denn ich werde ihm zeigen, wie vieles er für meinen Namen leiden muss.« In erster Linie sollte Saulus Apostel der »Heiden« werden, und seine Mission sollte ihn vor »Könige« führen. Doch er sollte auch seinen Volksgenossen nach dem Fleisch predigen, und von ihrer Seite würde er die schlimmste Verfolgung erfahren.
9,17.18 Hananias erwies Saulus auf bewegende Weise christliche Liebe und Güte, und drückte seine vollkommene Gemeinschaft mit dem Neubekehrten aus, »indem er ihm die Hände auflegte« und ihn »Bruder Saulus« nannte. Dabei erklärte er ihm den Zweck seines Besuches. Es ging darum, dass Saulus »wieder sehend« und »mit Heiligem Geist« erfüllt werden sollte.
Man sollte hier anmerken, dass der »Heilige Geist« Saulus durch einen einfachen Jünger weitergegeben wurde, als dieser ihm die Hände auflegte. Hananias war ein »Laie«, wie manche Exegeten sich ausdrücken. Der Herr gebrauchte jemanden, der kein Apostel war. Dies sollte auf jeden Fall eine Ermahnung an diejenigen sein, die danach streben, geistliche Vorrechte auf die »Geistlichkeit« zu beschränken.
Wenn ein Mensch sich wirklich bekehrt, geschehen immer einige Dinge. Es gibt bestimmte Kennzeichen, anhand derer die Echtheit der Bekehrung deutlich wird. Das galt auch für Saulus von Tarsus. Was waren diese Kennzeichen? Francis W. Dixon führt einige an: 1. Er begegnete dem Herrn und hörte seine Stimme (Apg 9,4-6). Er empfing eine göttliche Offenbarung, und nur das konnte ihn überzeugen und ihn zu dem demütig fragenden und hingegebenen Nachfolger machen, der er dann wurde.
2. Er wurde mit dem Verlangen erfüllt, dem Herrn zu gehorchen und seinen Willen zu tun (Apg 9,6). 3. Er fing an zu beten (Apg 9,11). 4. Er wurde getauft (Apg 9,18). 5. Er war mit den Gotteskindern verbunden (Apg 9,19).
6. Er begann, vollmächtig Zeugnis zu geben (Apg 9,20).
7. Er wuchs in der Gnade (Apg 9,22).
Exkurs zum Dienst der sogenannten »Laien«
Eine der wichtigsten Lektionen, die wir aus der Apostelgeschichte lernen können, besteht darin, dass das Christentum eine Laienbewegung ist. Wir erkennen, dass der Zeugendienst nie einer bestimmten Klasse wie den Priestern oder dem Klerus, sondern allen Gläubigen übertragen wurde.
Harnack stellt Folgendes fest: Als die Gemeinde ihre größten Siege in ihrer Frühzeit im Römischen Reich feierte, geschah dies nicht durch Lehrer, Prediger oder Apostel, sondern durch Missionare ohne Ordination bzw. ohne formelle theologische Ausbildung.42
Dean Inge schreibt:
Das Christentum begann als eine prophetische, von Laien geprägte Glaubensrichtung … Von den Laien hängt die Zukunft des Christentums ab …43
Bryan Green sagt:
Die Zukunft des Christentums und der Evangelisation der Welt ruht in den Händen einfacher Männer und Frauen und nicht vorrangig in den Händen derer, die ordinierte christliche Prediger sind.44 Leighton Ford sagt:
Eine Kirche, die nur ihre Experten … zum Zeugendienst abstellt, verletzt damit die Absichten ihres Hauptes und verzerrt das konsequente Vorbild der ersten Christen… . Die Evangelisation war Aufgabe der gesamten Gemeinde, nicht nur der »bekannten Persönlichkeiten«.45
Und schließlich schreibt noch J. A. Stewart:
Jedes Mitglied der Ortsgemeinde ging hin aus, um Menschen für Christus zu gewinnen, indem es persönlichen Kontakt zu ihnen pflegte und dann diese Neugeborenen in die Ortsgemeinde brachte, wo sie im Glauben an den Erlöser gelehrt und gestärkt wurden. Sie wiederum gingen genauso hinaus, um dasselbe zu tun.46
Die einfache Tatsache besteht darin, dass es in der apostolischen Gemeinde keine Geistlichkeit oder keine Pastoren gab, die einer Ortsgemeinde vorstanden. Die normale Ortsgemeinde bestand aus Heiligen, Aufsehern und Diakonen (Dienern; vgl. Phil 1,1). Im Sinne des Neuen Testaments waren alle Heiligen Geistliche. Die Bischöfe waren die Ältesten, die Aufseher oder geistlichen Führer. Die Diakone  waren  Diener,  die  z. B.  finanzielle Aufgaben in der Gemeinde übernahmen. Kein Bischof oder Ältester war ein Geistlicher mit einer besonderen Stellung. Es gab eine Gemeinschaft von Ältesten, die als Hirten der Herde zusammenarbeiteten.
Doch einige mögen fragen: »Was ist mit den Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern? Waren sie nicht die Geistlichen der ersten Gemeinden?« Diese Frage wird in Epheser 4,12 beantwortet. Diese Gaben wurden zur Auferbauung der Heiligen gegeben, damit sie (die Heiligen) den Dienst weiter ausführen und auf diese Weise ihrerseits die Glieder des Leibes Christi auferbauen konnten. Ihr Ziel war es nicht, sich als ständige Amtsträger über eine Ortsgemeinde zu stellen, sondern auf den Tag hinzuarbeiten, an dem die Ortsgemeinde auf eigenen Beinen stehen konnte. Sie konnten dann weiterziehen, um neue Gemeinden zu gründen oder andere zu stärken.
Nach den Berichten der Kirchenhistoriker entstand der Klerus im 2. Jahrhundert, nicht jedoch zur Zeit der Apostelgeschichte. Die Einführung einer klerikalen Ordnung war ein Hindernis für die Weltevangelisation und die Ausbreitung der Gemeinde, weil sie dazu geführt hat, dass zu viel von zu wenigen abhängt.
Die Gläubigen des Neuen Testaments sind nicht nur Geistliche, sondern sogar Priester. Als heilige Priester haben sie im Glauben ständigen Zugang zur Gegenwart Gottes, um ihn anzubeten  (1. Petr  2,5).  Als  königliche  Priester haben sie das Vorrecht, von Jesus Christus zu berichten, der sie aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat (1. Petr 2,9). Das Priestertum aller Gläubigen bedeutet nicht, dass jeder in der Lage ist, öffentlich zu predigen oder zu lehren. Vielmehr bezieht es sich in erster Linie auf die Anbetung und das Zeugnis. Immerhin bedeutet es, dass es in der Gemeinde keine besondere Klasse von Priestern mehr gibt, denen die Aufsicht über Gottesdienst und Anbetung anvertraut ist.
9,19-25 Die Jünger in Damaskus öffn eten »Saulus« ihre Herzen und Häuser. Schon bald fand er den Weg in »die Synag ogen« und verkündete dort mutig, dass Jesus »der Sohn Gottes ist«. Das entsetzte die jüdischen Zuhörer. Sie hatten doch gehört, dass er den Namen Jesus hassen würde. Doch nun lehrte er, dass Jesus Gott ist! Wie konnte das sein? Wie lange er bei seinem ersten Besuch »in Damaskus« blieb, wissen wir nicht. Aus Galater 1,17 erfahren wir jedoch, dass er Damaskus verließ, für eine unbekannte Zeit nach Arabien ging und dann nach Damaskus zurückkehrte. Wo lässt sich die Reise nach Arabien nun in Apostelgeschichte 9 einordnen? Wahrscheinlich zwischen den Versen 21 und 22. Viele der von Gott am meisten gebrauchten Diener haben eine gewisse Zeit in der »Wüste« verbracht, ehe sie ausgesandt wurden, um zu predigen. Dies ähnelt dem Aufenthalt des Paulus in der Abgeschiedenheit Arabiens. In Arabien hatte Saulus Gelegenheit, über die großartigen Ereignisse in seinem Leben und insbesondere über das Evangelium der Gnade Gottes nachzudenken, das ihm anvertraut worden war. Als er nach  »Damaskus«  zurückkehrte  (V. 22), war er imstande, »die Juden« in den Synagogen völlig aus der Fassung zu bringen, »indem er bewies, dass dieser der« Messias Israels ist. Das erboste sie so, dass sie »ratschlagten,« denjenigen umzubringen, der einmal ihr Mitstreiter gewesen war, aber sich jetzt als ein »Abtrünniger«, »Ketzer« und »Überläufer« erwies. Saulus entkam, indem er »bei Nacht … in einem Korb« durch ein Loch in der »Mauer« hinabgelassen wurde. Das war eine schmachvolle Flucht, doch er war sowieso ein Mann, dessen Ich zerbrochen worden war. Solche Menschen können um Christi willen Schmach ertragen, die andere scheuen würden.
9,26-30 Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen war »Jerusalem« die gefährlichste Stadt, die Saulus besuchen konnte. Doch wenn man sicher ist, dass man im Willen Gottes lebt, so kann man manches persönliche Risiko eingehen. Ob dies Sauls erster Besuch als Christ in »Jerusalem« war und er demjenigen entsprach, der drei Jahre nach seiner Bekehrung stattfand (Gal 1,18), ist zweifelhaft. Bei seinem ersten Besuch in Jerusalem begegnete er Petrus und Jakobus, doch keinem der anderen Apostel. Hier heißt es jedoch in Vers 27, dass »Barnabas … ihn zu den Aposteln … brachte«. Das könnte natürlich bedeuten, dass er zu Petrus und Jakobus gebracht wurde, aber auch heißen, dass er alle Apostel traf. Wenn die zweite Möglichkeit zutrifft, dann ist dies ein zweiter Besuch in Jerusalem, der an keiner anderen Stelle erwähnt wird.
Zunächst »fürchteten« sich die Jünger, Saulus aufzunehmen, da sie seine Aufrichtigkeit im Glauben anzweifelten. »Barnabas« machte seinem Namen alle Ehre und wurde zum Sohn des Trostes, indem er mit Saulus Freundschaft schloss und von seiner Bekehrung und seinem furchtlosen Zeugnis für Christus »in Damaskus« berichtete. Die Gläubigen erkannten bald, dass der Glaube des Saulus echt war, als sie sahen, wie er »freimütig im Namen des Herrn« »in Jerusalem« predigte. Er löste dabei vonseiten der »Hellenisten« den heftigsten Widerstand aus. »Als die Brüder« sahen, dass sein Leben durch diese Juden in Gefahr gebracht wurde, begleiteten sie Saulus zum Hafen von »Cäsarea«. Von dort aus fuhr er in seine Heimatstadt »Tarsus« in der Nähe der Südostküste Kleinasiens.
9,31 »Die Gemeinde« in Palästina konnte nun aufatmen. Es war eine Zeit, in der die geistlichen Fortschritte ausgebaut werden konnten und die Gemeinschaft sowohl geistlich als auch zahlenmäßig wuchs.
III. Die Gemeinde bis an die Enden der Erde (9,32 – 28,31)
A. Petrus predigt den Heiden das Evangelium (9,32 – 11,18)
9,32-34 Während sich die Erzählung nun wieder »Petrus« zuwendet, finden wir ihn beim Besuch von Gläubigen in verschiedenen Teilen Judäas. Dabei kam er schließlich nach »Lydda« (heute Lod), das nordwestlich von Jerusalem an der Straße nach Joppe (heute Jaffa oder Yafo) liegt. Hier fand er einen Gelähmten, »der seit acht Jahren zu Bett lag«. Petrus sprach ihn mit seinem Namen an und erklärte, dass »Jesus Christus« ihn heilen würde. »Sogleich« konnte sich Äneas erheben und sein Bett verlassen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Äneas gleichzeitig mit der leiblichen Heilung auch geistliches Leben erhielt.
9,35 Der Geheilte erwies sich in der Stadt »Lydda« und in der gesamten Küstenebene »Scharon« als Zeuge für den Herrn. Als Ergebnis »bekehrten« sich viele »zum Herrn«.
9,36-38 »Joppe« war der Haupthafen von Palästina und lag am Ufer des Mittelmeeres etwa 45 Kilometer nordwestlich von Jerusalem. Unter den dortigen Christen befand sich eine gütige Frau »mit Namen Tabita«47, die dafür bekannt war, dass sie für die Armen Kleider schneiderte. Als sie plötzlich »starb, … sandten die Jünger« eine dringende Botschaft nach »Lydda« und baten »Petrus«, ohne Verzögerung zu kommen.
9,39-41 Als Petrus ankam, fand er »alle Witwen … weinend« vor. Dabei zeigten sie ihm »die Unter- und Oberkleider, die Dorkas« für sie »gemacht hatte«. Er bat sie hinauszugehen, »kniete nieder und betete«. Daraufhin befahl er »Tabita« aufzustehen. Sofort wurde sie wieder zum Leben erweckt und konnte von ihren christlichen Freunden in die Arme geschlossen werden.
9,42 Dieses Auferstehungswunder wurde überall »bekannt«, sodass »viele an den Herrn glaubten«. Wenn man jedoch Vers 42 mit Vers 35 vergleicht, so hat es den Anschein, dass sich bei der Heilung des Äneas mehr bekehrt haben als durch die Auferweckung der Tabita.
9,43 Petrus blieb »viele Tage in Joppe«, und zwar im Hause des »Gerbers Simon«. Die Erwähnung des Berufs von Simon ist hier von Bedeutung. Bei den Juden waren die Gerber verrufen. Der ständige Kontakt mit Tierkadavern ließ diese Berufsgruppe in ihren Augen zeremo niell unrein sein. Die Tatsache, dass Petrus bei »Simon« lebte, beweist, dass er nicht länger seinen jüdischen Vorurteilen anhing.
Es ist oft herausgestellt worden, dass wir hier in drei aufeinanderfolgenden Kapiteln die Bekehrung von Nachkommen aller drei Söhne Noahs finden. Der äthiopische Kämmerer (V. 8) entstammte zweifellos der Linie Hams. Saulus von Tarsus war ein Nachkomme Sems (Kap. 9). Und nun in Kapitel 10 finden wir Kornelius, einen der Nachkommen Jafets. Das ist ein deutlicher Beweis für die Tatsache, dass das Evangelium für alle Rassen und Kulturen gilt und in Christus all diese natürlichen Unterschiede unwichtig sind. So wie Petrus in Kapitel 2 die Schlüssel des Reiches benutzt, um die Tür des Glaubens für die Juden aufzuschließen, so sehen wir, wie er in Kapitel 10 dasselbe für die Heiden tut.
10,1.2 Das Kapitel beginnt »in Cäsarea«, etwa 45 Kilometer nördlich von Joppe. Kornelius war ein Offizier des römischen Militärs. Als »Hauptmann« hatte er etwa hundert Mann unter sich. Er gehörte zur »sogenannten Italischen Schar«. Noch bemerkenswerter als seine militärische Bedeutung war seine Frömmigkeit. Er war »fromm und gottesfürchtig«. Als solcher war er jemand, der dem verarmten jüdischen Volk »viele Almosen gab und allezeit zu Gott betete«. Ryrie ist der Ansicht, dass er wahrscheinlich ein »Proselyt des Tores war, das heißt, dass er an den Gott der Juden und an seine Herrschaft glaubte, aber noch keinen Schritt getan hatte, um ein vollwertiger Proselyt zu werden«.48
Ob er gerettet war, ist eine Streitfrage. Diejenigen, die behaupten, dass er gerettet war, beziehen sich auf Vers 2 und 35. Dort sagt Petrus offensichtlich von »Kornelius«, dass derjenige, der Gott »fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, ihm angenehm« sei. Diejenigen, die lehren, dass Kornelius nicht gerettet war, weisen auf 11,14 hin. Dort wird ein Engel erwähnt, der ihm die Zusicherung gab, dass Petrus ihm Worte erzählen werde, durch die er gerettet werden könne.
Unserer Ansicht nach ist Kornelius ein Beispiel für einen Menschen, der nach dem lebte, was Gott ihm offenbarte. Dieses Licht reichte zwar nicht aus, um ihn zu erretten, aber Gott stellte sicher, dass ihm das zusätzliche Licht des Evangeliums gegeben wurde. Vor dem Besuch des Petrus hatte er nicht die Sicherheit der Errettung, doch er fühlte sich denen verbunden, die den wahren Gott anbeteten.
10,3-8 Eines Tages »ungefähr um« drei Uhr nachmittags hatte »Kornelius« eine deutliche »Erscheinung«, in der ihm »ein Engel Gottes« erschien und ihn mit Namen ansprach. Da er ein Heide war, kannte er den Dienst der Engel nicht so wie ein Jude. Er war daher verängstigt und dachte, der Engel sei der Herr selbst. Der Engel sprach beruhigend davon, dass Gott seine »Gebete und … Almosen« wertschätzte. Dann gab er ihm den Auftrag, »nach Joppe« zu senden. Dort sollten die Boten nach einem Mann namens Simon Petrus fragen, der »bei einem Gerber Simon wohnte, dessen Haus am Meer ist«.49 In bedingungslosem Gehorsam »sandte« er »zwei seiner Hausknechte« und einen Soldaten, der ebenfalls gottesfürchtig war, »nach Joppe«.
10,9-14 »Am folgenden Tag«, etwa gegen Mittag, »stieg Petrus … auf« das Flachdach von Simons Haus in Joppe, »um zu beten«. Zu dieser Zeit »wurde er aber hungrig« und hätte gern etwas gegessen, doch das Essen wurde noch unten im Haus zubereitet. Sein Hunger bot allerdings eine passende Vorbereitung für das Folgende. »Eine Verzückung« kam über ihn, und er »sieht« ein großes, leinenes »Tuch« vom Himmel »herabkommen, an vier Zipfeln auf die Erde herabgelassen«, mit »allerlei vierfüßigen und kriechenden Tieren … und Vögeln« und Reptilien darin, die rein und »unrein« waren. »Eine Stimme« vom Himmel wies den hungrigen Apostel an: »Steh auf, Petrus, schlachte und iss!« Petrus dachte jedoch an das Gesetz des Mose, das einem Juden verbot, irgendetwas »Unreines« zu essen. Deshalb war seine Antwort ein Widerspruch in sich: »Keineswegs, Herr!« Scroggie kommentiert: »Wer sagt: ›Keineswegs‹, der sollte nie ›Herr‹ hinzufügen, und wer ehrlich ›Herr‹ sagt, wird nie ›keineswegs‹ hinzufügen.«
10,15.16 Nachdem Petrus seine bisherige tadellose Lebensweise im Blick auf jüdische Speisegesetze erwähnt hatte, denen zufolge nur Koscheres erlaubt war, sagte die »Stimme« zu ihm: »Was Gott gereinigt hat, mach du nicht gemein!« »Dreimal« geschah dasselbe, und dann wurde das Tuch »in den Himmel« hinaufgezogen.
Es ist eindeutig, dass es bei dieser Vision um mehr geht als um das einfache Verzehren von reinen oder unreinen Speisen. Es stimmt, dass mit dem Anbruch des christlichen Glaubenszeitalters diese Anweisungen bezüglich des Essens nicht mehr galten. Doch die wahre Bedeutung der Vision bestand in Folgendem: Gott wollte nun die Tür des Glaubens für die Heiden aufschließen. Als Jude sah Petrus die Heiden immer noch als unrein, als Fremde, als gottferne Menschen und als gottlos an. Doch nun führte Gott etwas Neues ein. Heiden (hier durch die unreinen Tiere und Vögel dargestellt) sollten genauso wie die Juden (reine Tiere und Vögel) den Heiligen Geist empfangen. Nationale und religiöse Unterschiede sollten nicht mehr gelten, und alle echten Gläubigen an den Herrn Jesus sollten in der christlichen Gemeinde dieselbe Stellung haben.
10,17-23a »Während aber Petrus über die Erscheinung nachsann«, kamen die Diener des »Kornelius« an das »Tor« und fragten nach ihm. Vom »Geist« geleitet, stieg er vom Dach hinab, um sie zu begrüßen. Nachdem er den Grund ihres Besuches erfahren hatte, bat er sie hinein und gab ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit. Die Diener lobten ihren Herrn Kornelius sehr: »Ein Hauptmann, ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, und der ein gutes Zeugnis hat von der ganzen Nation der Juden.«
10,23b-29 »Am folgenden Tag« reiste Petrus mit den drei Dienern des Kornelius und »einigen der Brüder von Joppe … nach Cäsarea«. Sie sind offensichtlich den ganzen Tag gereist, weil sie schon »am folgenden Tag« Cäsarea erreichten. In Erwartung ihrer Ankunft hatte »Kornelius … seine Verwandten und nächsten Freunde zusammengerufen«. Als Petrus ankam, »fiel ihm« der Hauptmann als Ausdruck seiner Verehrung »zu Füßen«. Der Apostel wollte eine solche Ehrung nicht annehmen, da er selbst auch nur »ein Mensch« sei. Es stünde den selbst ernannten »Nachfolgern« des Petrus sehr gut an, wenn sie seine Demut nachahmen und den Menschen verbieten würden, vor ihnen zu knien! »Petrus« sah im Haus eine größere Menschenmenge versammelt und erklärte, dass er als Jude normalerweise nicht in ein heidnisches Haus wie dieses gekommen wäre, »Gott« ihm aber geoffenbart hatte, dass er die Heiden nicht länger als Unberührbare ansehen solle. Dann fragte er, »aus welchem Grund« man ihn habe holen lassen.
10,30-33 »Kornelius« beschrieb bereitwillig die Vision, die er »vor vier Tagen« gehabt hatte, als ein Engel ihm versicherte, dass »sein Gebet … erhört« worden sei und er angewiesen wurde, nach »Petrus« zu schicken. Der Hunger dieses heidnischen Mannes nach dem Wort Gottes ist wirklich lobenswert. Er sagte: »Jetzt sind wir nun alle vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn aufgetragen ist.« Solch ein offener und lernbereiter Geist wird ganz sicherlich durch göttliche Unterweisung belohnt.
10,34.35 »Petrus« beginnt seine Predigt mit einem offenen Eingeständnis. Bisher hatte er geglaubt, dass Gottes Gnade nur Israel gelte. Doch nun hat er erkannt, dass »Gott« einem Menschen nicht deshalb wohlgesonnen ist, weil er zu einem bestimmten Volk gehört. Vielmehr ist er an einem ehrlichen, reuigen Herzen interessiert, ob nun der Betreffende ein Jude oder ein Heide ist. »In jeder Nation ist, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, ihm angenehm.« Es gibt zwei grundsätzliche Auslegungen von Vers 35:
1. Einige sind folgender Ansicht: Wenn jemand wirklich Buße tut und Gott sucht, ist er auch dann gerettet, wenn er noch nie etwas vom Herrn Jesus gehört hat. Die Argumentation lautet, dass der Mensch selbst zwar nicht das stellvertretende Opfer Christi kenne, dass Gott jedoch davon wisse und diesen Menschen aufgrund dieses Opfers errette. Er rechne das Verdienst des Werkes Christi diesem Menschen an, wann immer er echten Glauben findet. 2. Die andere Ansicht lautet, dass auch dann, wenn ein Mensch Gott fürchtet und in Gerechtigkeit lebt, er hierdurch nicht gerettet ist. Die Errettung kommt nur aus dem Glauben an den Herrn Jesus Christus. Doch wenn Gott einen Menschen findet, der nach dem lebt, was ihm von Gott offenbart ist, dann sieht er zu, dass dieser Mensch das Evangelium hört und so die Gelegenheit zur Errettung erhält. Wir sind der Ansicht, dass die zweite Auffassung die richtige ist.
10,36-38 Als Nächstes erinnert Petrus seine Zuhörer daran, dass »Jesus Christus … aller Herr« ist, sowohl der Heiden als auch der Juden, auch wenn das Evangelium zuerst den Juden gesandt worden ist. Seine Zuhörer müssen dasjenige, was man über »Jesus von Nazareth« berichtete, schon gehört haben: All dies hatte in »Galiläa« begonnen (zu der Zeit, als »Johannes« predigte) und sich dann in »ganz Judäa« ausgebreitet. Dieser »Jesus«, der »mit Heiligem Geist … gesalbt« war, hatte ein selbstloses Leben im Dienst für andere geführt, indem er »umherging und wohltat und alle heilte, die von dem Teufel überwältigt waren«.
10,39-41 Die Apostel waren »Zeugen« der Wahrheit alles dessen, was Jesus »getan hat«. Sie waren mit ihm in ganz Judäa und in »Jerusalem« herumgereist. Trotz seines vollkommenen Lebens hatten ihn die Menschen »umgebracht, indem sie ihn an ein Holz hängten«. Gott hatte ihn »am dritten Tag auferweckt« aus den Toten, und er ist von »den von Gott zuvor erwählten Zeugen« gesehen worden. Soweit wir wissen, ist der Herr Jesus nach seiner Auferstehung keinem Ungläubigen erschienen. Doch die Apostel hatten ihn nicht nur gesehen, sondern hatten sogar »mit ihm gegessen und getrunken«. Das zeigt auf jeden Fall, dass der Auferstehungsleib des Heilands betastbar war – ein tatsächlicher Körper aus Fleisch und Bein.
10,42 Nach der Auferstehung gab der Herr den Aposteln den Auftrag, ihn als »Richter der Lebenden und der Toten« zu verkündigen. Dies stimmt mit vielen anderen Schriftstellen überein, wonach der Vater das Gericht dem Sohn übergeben hat (Joh 5,22). Das bedeutet natürlich auch, dass er als Sohn des Menschen sowohl Juden als auch Heiden gleichermaßen richten wird.
10,43 Doch Petrus verweilt nicht lange bei der Gerichtsbotschaft. Stattdessen stellt er in großartiger Weise die Wahrheit des Evangeliums dar und erklärt, wie man dem Gericht entrinnen kann. Wie »alle Propheten« des AT gelehrt haben, wird »jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden … durch seinen Namen« empfangen. Dieses Angebot gilt nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt. Wollen Sie die Vergebung der Sünden erfahren? Dann glauben Sie an ihn!
10,44-48 »Während Petrus noch diese Worte redete, fiel der Heilige Geist auf alle« zuhörenden Heiden. Sie redeten alle »in Sprachen« und lobten »Gott«. Das war das Zeichen für die Anwesenden, dass Kornelius und sein Haus in der Tat »die Gabe des Heiligen Geistes« erhalten hatte. Die jüdisch geborenen Abgesandten von Joppe »gerieten außer sich«, wenn sie daran dachten, dass »die Nationen« auch »die Gabe des Heiligen Geistes« empfangen hatten, ohne zuvor jüdische Proselyten zu werden. Doch »Petrus« war nicht in derselben Weise den jüdischen Vorurteilen verhaftet. Er merkte sofort, dass Gott keinen Unterschied mehr zwischen Heiden und Juden machte. Daher gab er die Anweisung, dass das ganze Haus des Kornelius »getauft werde«. Man beachte den Ausdruck »die den Heiligen Geist empfangen haben wie auch wir«. Diese Heiden wurden auf die gleiche Weise gerettet wie die Juden – durch einfachen Glauben. Es gab hier keine Bedingung: Die Heiden mussten nicht erst das Gesetz halten, sich beschneiden lassen oder sonst eine Anordnung bzw. ein Ritual befolgen. Man beachte auch die Reihenfolge der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Empfang des Heiligen Geistes durch die Heiden:
1.  Sie »hörten das Wort«, d. h. sie glaubten (V. 44).
2. Sie »empfingen die Gabe des Heiligen Geistes« (V. 44.47).
3.  Sie wurden »getauft« (V. 48). Das ist die Reihenfolge der Ereignisse, wie sie in unserem Zeitalter für Juden und Heiden gleichermaßen gilt, wenn Gott sich aus den Nationen ein Volk für seinen Namen beruft.
Es überrascht nicht, dass nach diesem gnadenreichen Werk des Geistes die Gläubigen in Cäsarea Petrus baten, »einige Tage zu bleiben«.
11,1-3 Die Nachricht, dass Petrus vor Angehörigen der »Nationen« gepredigt hatte und sie gerettet worden waren, gelangte schnell nach »Judäa«. Deshalb wurde er von denen »aus der Beschneidung« angegriffen, als er »nach Jerusalem« zurückkam: Er hatte mit Nichtjuden gegessen!
Mit »der Beschneidung« sind hier Christen gemeint, die früher Juden waren und noch immer in ihren alten Denkmustern gefangen waren. Sie glaubten zum Beispiel, dass ein Heide beschnitten werden müsse, um den vollen Segen des Herrn zu empfangen. Sie waren noch immer der Ansicht, dass Petrus falsch gehandelt hatte, als er mit ihnen Tischgemeinschaft pflegte.
11,4-14 Als Petrus seine Handlungsweise verteidigte, erzählte er schlicht, was geschehen war – seine »Verzückung«, in der er das »Tuch … aus dem Himmel« gesehen hatte, die Erscheinung eines »Engels« bei Kornelius, die Ankunft der Boten des Kornelius, den Befehl des Geistes, diese Boten zu begleiten, und dann die Ausgießung des »Heiligen Geistes« auf die anwesenden Heiden. Weil »Gott« auf so vielfältige und eindeutige Art gehandelt hat, wäre es Widerstand gegen den Herrn gewesen, hier nicht entsprechend zu handeln.
In seiner Botschaft fügte »Petrus« einige interessante Details ein, die im vorigen Kapitel nicht erwähnt wurden: 1. Er sagte, dass das »Tuch … aus dem Himmel« bis zu ihm »kam« (V. 5). 2. Er sprach davon, dass er »gespannt hine  inschaute« (V. 6). 3. Petrus erwähnte die Tatsache, dass ihn »sechs Brüder« von Joppe nach Cäsarea begleiteten (V. 12). 4. In Vers 14 wird uns gesagt, dass der Engel Kornelius sagte, dass Pet rus »Worte zu« ihm »reden« würde, »durch die« er und sein »ganzes Haus« »errettet werden« würden. Dies ist einer der Hauptbeweise dafür, dass Kornelius vor der Ankunft des Petrus nicht errettet war.
11,15 Dem Bericht des Petrus zufolge »fiel der Heilige Geist auf« die Heiden, als er »zu reden begann«. In Apostelgeschichte 10,44 scheint es so gewesen zu sein, dass er schon eine Zeit geredet hatte. Offensichtlich hatte er zu sprechen begonnen, doch ehe er allzu weit gekommen war, wurde er unterbrochen.
11,16 Als »der Heilige Geist« auf die Heiden fiel, dachte Petrus sofort zu Pfingsten. Dann gingen seine Gedanken zurück zur Verheißung des Herrn, dass seine Jünger »mit Heiligem Geist getauft werden« würden. Er erkannte, dass diese Verheißung zum Teil zu Pfingsten erfüllt wurde und nun wieder in Erfüllung ging.
11,17 Dann konfrontierte Petrus die »Beschneidungsbefürworter« mit der Frage: »Wenn (es) nun Gott« gefallen hat, den Geist auf die Heiden auszugießen, »wie« vorher auch auf die Juden, die »geglaubt haben, wer war« er, dass er »Gott« hätte »wehren« können?
11,18 Es ehrt diese Judenchristen, dass sie nach dem Bericht des Petrus die Hand Gottes in all dem erkannten und eine völlige Kehrtwendung vollzogen. All ihre Vorbehalte waren zerstreut. Stattdessen erfüllte das Lob Gottes ihre Herzen, dass »Gott also auch den Nationen die Buße … zum Leben« gegeben hat.
B. Die Gründung der Gemeinde in Antiochia (11,19-30)
11,19 Die Erzählung blendet jetzt in die Zeit der »Bedrängnis« zurück, die auf den Märtyrertod des »Stephanus« folgte. Mit anderen Worten, die beschriebenen Ereignisse in den nächsten Versen geschahen vor der Bekehrung des Kornelius. »Die nun zerstreut waren durch die Bedrängnis« brachten das Evangelium in folgende Regionen:
1. »Phönizien«, der schmale Küstenstreifen am nordöstlichen Mittelmeer einschließlich der Häfen von Tyrus und Sidon (heute Libanon).
2. »Zypern«, eine große Insel im nordöstlichen Mittelmeer.
3. »Kyrene«, eine Hafenstadt an der Nordküste Afrikas (heute Libyen). Dennoch predigten sie das Evangelium »niemand … als allein … Juden«.
11,20.21 Doch es gab einige Gläubige aus »Zypern und Kyrene«, die »nach Antiochia« kamen und hier die Gute Nachricht auch »den Griechen« verkündigten.50 Ihre Verkündigung wurde gesegnet, »und eine große Zahl glaubte und bekehrte sich zum Herrn«. F. W. Grant sagt: »Es ist beachtenswert, wie wenig Wert hier auf formelle Abläufe gelegt wird. Wir kennen keinen einzigen Namen der Menschen, die an diesem Werk beteiligt waren.«
Die Einführung des Christentums in Antiochia war ein wichtiger Schritt für die Ausbreitung der Gemeinde. Antiochia lag am Orontes, einem Fluss in Syrien (nördlich von Palästina). Sie wurde als drittwichtigste Stadt des Römischen Reiches angesehen und ist einmal »das Paris des Altertums« genannt worden. Von hier aus gingen Paulus und seine Gefährten später auf ihre Missionsreisen, als sie das Evangelium den Heiden brachten.
11,22-24 Als »die Rede« einer großen geistlichen Erweckung die »Gemeinde in Jerusalem« erreichte, entschied man, dass man den großherzigen, liebevollen »Barnabas« nach »Antiochia« senden sollte. Dieser freundliche Mann sah auf einen Blick, dass der Herr unter diesen Heiden mächtig wirkte, und deshalb »ermahnte« er »alle,« mit großer Entschlossenheit »bei dem Herrn zu verharren«. Wie gut war es doch, dass diese junge Gemeinde von solch einem »guten Mann … voll Heiligen Geistes und Glaubens« besucht wurde! Während er dort war, »wurde eine zahlreiche Menge dem Herrn hinzugetan«. Auch wurde die Einheit mit der Gemeinde in Jerusalem gewahrt.
11,25.26 Dann erinnerte sich Barnabas an »Saulus« aus »Tarsus«! Er selbst hatte doch Saulus den Aposteln in Jerusalem vorgestellt. Dann war Saulus schnell aus der Stadt hinausgebracht worden, um ihn vor den Anschlägen der Juden zu retten. Seit dieser Zeit war er in seiner Heimatstadt »Tarsus« gewesen. Barnabas war sehr daran gelegen, Saulus in seinem Dienst zu ermutigen und der Gemeinde in »Antiochia« die Wohltaten seines Dienstes zukommen zu lassen. Deshalb »zog er aus nach Tarsus … und … brachte ihn nach Antiochia«. »Ein ganzes Jahr« lang arbeitete dieses wunderbare Team in dieser Gemeinde und lehrte »eine zahlreiche Menge«. In Antiochia wurden »die Jünger … zuerst Christen genannt«. Zweifellos war das zu dieser Zeit ein Schimpfname, doch wurde dieser Name seit damals von allen gerne getragen, die ihren Heiland lieben. J. A. Stewart kommentiert: F. B. Meyer hat einmal gesagt: Antiochia wird in den christlichen Annalen immer eine wichtige Stelle einnehmen, weil eine Zahl von nicht ordinierten und ungenannten Jüngern, die vor der Verfolgung durch Saulus aus Jerusalem geflohen waren, es wagte, den Heiden das Evangelium zu predigen und die Bekehrten in einer Gemeinde zu sammeln, ohne die Riten zu beachten, die für den Übertritt zum Judentum notwendig waren. Wenn diese Gläubigen aus einer heutigen Gemeinde gekommen wären, worin der Dienst nur einem einzigen Mann unterstellt ist, hätte dieses siegreiche Kapitel der Kirchengeschichte nie geschrieben werden können. Wie tragisch ist es, dass in den durchschnittlichen Gemeinden die Dienstgaben des Heiligen Geistes zwar vorhanden sind, aber nicht ausgeübt werden, weil der normale Gläubige keine Gelegenheit zur Mitarbeit hat. Solange jede noch so kleine Gruppe von Gläubigen einen bezahlten Pastor hat, der in geistlicher Hinsicht für sie sorgt, ist eines sicher, und zwar, dass die Welt niemals evangelisiert wird. Gott sei gedankt für all die freiwilligen Sonntagschullehrer, all diejenigen, die Bibelstunden halten, und die sogenannten Laien. Wenn sie alle für ihren Dienst bezahlt werden müssten, gäbe es nur wenige Gemeinden, die sich das finanziell leisten könnten.51
11,27-30 Obwohl »Antiochia« das Zentrum wurde, von dem aus das Evangelium zu den Heiden getragen wurde, wurde von dort jedoch immer die volle und herzliche Gemeinschaft mit der Gemeinde in »Jerusalem« aufrechterhalten, die das Zentrum für die Evangelisation der Juden bildete. Der folgende Vorfall ist ein Beispiel für diese Tatsache. Zu dieser Zeit kamen gewisse »Propheten … von Jerusalem nach Antiochia«. Diese Propheten waren Gläubige, die vom Heiligen Geist begabt worden waren, im Namen Gottes zu reden. Sie erhielten Offenb arungen vom Herrn und gaben sie an die Leute weiter. »Einer aber von ihnen, mit Namen Agabus«, sagte vora us, dass »eine große Hungersnot« über die bewohnte Erde kommen sollte. Diese Hungersnot trat »auch unter Klaudius« ein. Die Jünger in Antiochia beschlossen sofort, »den Brüdern, die in Judäa wohnten, eine Gabe« zu senden (LU 1984). Das war sicherlich ein ergreifendes Zeugnis dafür, dass die Zwischenwand der Umzäunung (vgl. Eph 2,14; Anm. d. Übers.) zwischen Juden und Heiden niedergerissen und die alte Feindschaft nun durch das Kreuz Christi beseitigt worden war. Die Gnade Gottes war in diesen Jüngern, die einmütig, spontan und ihren jeweiligen Mitteln angemessen gaben, deutlich erkennbar. Sie gaben »je nach dem, wie einer der Jünger begütert war«. F. W. Grant hat traurig angemerkt: »Heute müsste man wahrscheinlich sagen ›jeder ein wenig von seinem Überfluss und die Reichsten im Verhältnis am wenigsten von allen‹.«
Das Geld wurde »durch die Hand des Barnabas und Saulus an die Ältesten« gesandt. Hier haben wir die erste Erwähnung von Ältesten im Zusammenhang mit der Gemeinde. Der Begriff »Älteste« war den Juden vertraut, weil es in den Syna gogen Älteste gab. Uns wird hier nicht gesagt, auf welche Weise diese Männer in Jerusalem zu Ältesten wurden. In den heidenchristlichen Gemeinden wurden die Ältesten durch Apostel oder ihre Vertreter eingesetzt (Apg 14,23; Tit 1,5). Die notwendigen Eigenschaften eines Ältesten werden in 1. Timotheus 3,1-7 und Titus 1,6-9 angegeben. C. Die Verfolgung durch Herodes und dessen Tod (12,1-23)
12,1.2 Die erbarmungslosen Angriffe Satans auf die Gemeinde gingen weiter. Diesmal ging die Verfolgung von »Herodes«, dem »König«, aus. Das war Herodes Agrippa I., ein Enkel von Herodes dem Großen. Er war vom römischen Kaiser Klaudius zum König von Judäa ernannt worden. Er gehorchte dem Gesetz des Mose und bemühte sich sehr, den Juden zu gefallen. In Verfolgung dieser Politik fügte er »einigen von der Gemeinde« Leid zu. Zunächst »tötete … (er) Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert«.
Dieser »Jakobus« war es, der mit Petrus und Johannes die Verklärung unseres Herrn miterlebt hatte. Seine Mutter war es, die gebeten hatte, dass ihre beiden Söhne in Christi Reich neben ihm sitzen mögen.
Dieses Kapitel bietet eine interessante Studie darüber, wie Gott an seinem Volk handelt. Jakobus wurde vom Feind getötet, doch Petrus wurde durch ein Wunder gerettet. Die menschliche Vernunft würde fragen, warum Petrus so bevorzugt wurde. Der Glaube jedoch verlässt sich auf die Liebe und die Weisheit Gottes, weil er weiß:
Alle Sorgen, alles Leid, wird der Herr dereinst versüßen, so wird alle Bitterkeit
uns zum Segen werden müssen. Ja, der Herr ist Sonn’ und Schild, welcher allen Kummer stillt. Verfasser unbekannt
12,3.4 »Die Juden« reagierten so begeistert auf die Hinrichtung des Jakobus, dass Herodes darin bestärkt wurde, mit Petrus ebenso zu verfahren. Doch da waren schon die »Tage der ungesäuerten Brote« gekommen, und während der religiösen Feiertage waren Hinrichtungen nicht gerade angebracht. Auch waren die Juden zu beschäftigt mit ihren Feiern, um diese Gefälligkeit recht zu würdigen, sodass Herodes anordnete, Petrus in der Zwischenzeit zu inhaftieren. Der Apostel wurde von sechzehn Soldaten in »vier Abteilungen« zu je vier Mann bewacht.
12,5 Die »Gemeinde« in Jerusalem betete ernsthaft für Petrus, insbesondere weil ihnen der Tod des Jakobus noch lebhaft vor Augen stand. G. C. Morgan kommentiert: »Diese Macht des ernsten, anhaltenden Gebetes war größer als Herodes und größer als die Hölle.«
12,6-11 »In jener Nacht«, als Herodes plante, ihn vorzuführen, »schlief Petrus« tief, zwischen zwei Soldaten eingepfercht. Jemand hat seinen Schlaf einen Triumph des Glaubens genannt. Er erinnerte sich sicherlich an die Verheißung des Herrn, dass er alt werden würde (Joh 21,18). Deshalb wusste er, dass Herodes ihn nicht vor der Zeit töten konnte. Plötzlich erschien »ein Engel des Herrn«, und die Zelle war von »Licht« durchflutet. Er stieß »Petrus an die Seite« und befahl ihm, »schnell« aufzustehen. Sofort »fielen« seine Fesseln von ihm. Mit kurzen, knappen Sätzen forderte der Engel Petrus auf, die »Sandalen« unterzubinden, seinen Mantel überzuwerfen und ihm zu »folgen«. Obwohl verwirrt, »folgte« Petrus dem Engel »durch die erste und die zweite Wache« des Gefängnisses. Als sie »an das eiserne Tor« kamen, »tat« es »sich ihnen von selbst auf«, als handelte es sich um eine elektrische Vorrichtung. Erst als sie »eine Straße entlang« gegangen waren und »der Engel« verschwunden war, kam »Petrus zu sich selbst« und erkannte, dass das Ganze kein Traum gewesen war, sondern »dass der Herr« ihn auf wunderbare Weise »gerettet hat aus der Hand des Herodes und … der Juden«.
12,12 Als er lange genug innegehalten hatte, um nachzudenken, erinnerte sich Petrus daran, dass sich die Jünger im »Haus der Maria, der Mutter des Johannes mit dem Beinamen Markus« treffen wollten, um zu »beten«. Es muss eine Gebetszusammenkunft gewesen sein, die eine ganze Nacht dauerte, da die Flucht des Petrus wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden geschah.
12,13-15 Petrus »klopfte an die Tür des Tores« und wartete. Ein Mädchen namens »Rhode« (gr. »Rose«) »kam … herbei«, doch sie war so aufgeregt, dass sie vergaß »das Tor« zu öffnen! Sie »lief« zurück, um den Betenden diese gute Nachricht zu bringen. Sie dachten, sie sei verrückt geworden, und zögerten auch nicht, ihr das zu sagen. Doch sie beteuerte, der Apostel stehe »vor dem Tor«. Sie sagten, es müsse wohl sein Schutzengel sein, aber sie betonte immer wieder, dass es Petrus selbst gewesen sei.
Diese Gläubigen sind oft für ihre ungläubigen Gebete getadelt worden, denn sie waren wirklich überrascht, als ihr Gebet erhört wurde. Doch jede derartige Kritik wird wahrscheinlich von unserer eigenen großen Verlegenheit beeinflusst. Statt andere zu tadeln, sollten wir sehr getröstet darüber sein, dass Gott solche vertrauenslosen Gebete erhört. Wir alle neigen dazu, ungläubige Gläubige zu sein.
12,16.17 »Petrus« hatte in der Zwischenzeit vor der Tür gestanden und »fuhr fort zu klopfen«. Als sie ihm schließlich die Tür »aufgetan hatten« und er hereinkam, wurden all ihre Zweifel zerstreut, und sie brachen in Freudenrufe aus. Er beruhigte sie schnell und erzählte kurz vom Wunder seiner Befreiung. Daraufhin bat er sie, diese Nachricht »Jakobus« (wahrscheinlich der Sohn des Alphäus) »und den Brüdern« zu berichten. Dann verließ er sie. Wir wissen nicht, wohin er diesmal ging.
12,18.19 Als es Morgen wurde und »Petrus« fehlte, wurden die unglückseligen »Soldaten« von panischer Angst erfüllt. Auch für »Herodes« war es ein traumatisches Erlebnis, so überlistet worden zu sein. Nichts, was die Soldaten vorbringen konnten, hörte sich im Geringsten überzeugend an. Ihre wahrscheinlich faulen Ausreden erbosten den König noch mehr. So ließ er sie hinrichten. Dann verließ er Jerusalem »und ging nach Cäsarea«, um darüber hinwegzukommen, dass sein Stolz verletzt worden war.
12,20 Aus einem uns unbekannten Grund war Herodes »sehr erbittert gegen die Tyrer und Sidonier«. Tyrus und Sidon sind zwei Handelshäfen am Mittelmeer. Die Bewohner der beiden Städte nahmen die Gelegenheit wahr, dass er in Cäsarea Ferien machte, um ihn mit sich zu versöhnen, weil sie vom Getreideimport aus Judäa abhängig waren. So suchten sie die Freundschaft von »Blastus«, dem »Kämmerer des Königs«, und erbaten durch ihn die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen.
12,21-23 Eines Tages kam »Herodes« in all seiner »königlichen« Pracht, um vor dem Volk eine Rede zu halten. Das Volk rief: »Eines Gottes Stimme und nicht eines Menschen!« Er versuchte nicht, diese nur Gott zustehende Ehre zurückzuweisen oder »Gott die Ehre« zu geben. Deshalb »schlug ihn ein Engel des Herrn« mit einer schrecklichen Krankheit, sodass er starb. Das geschah im Jahr 44 n. Chr. So wurde derjenige, der versucht hatte, die Juden zufriedenzustellen, indem er Jakobus hinrichtete, von der Hand dessen getötet, der sowohl Leib als auch Seele in die Hölle zu werfen vermag. Herodes erntete, was er gesät hatte. D. Die erste Missionsreise des Paulus: Galatien (12,24 – 14,28)
12,24 In der Zwischenzeit wurde das Evangelium immer weiter verbreitet. Selbst der Grimm des Menschen musste Gott preisen, und mit dem Rest des Grimmes gürtete er sich (Ps 76,11). Er macht den Ratschluss der Nationen zunichte, doch der Ratschluss des Herrn hat ewig Bestand (Ps 33,10.11).
Nachdem »Barnabas aber und Saulus« ihre Aufgaben »in Jerusalem … erfüllt« hatten, indem sie die Gaben von Antiochia überbracht hatten, kehrten sie gemeinsam nach Antiochia52 zurück »und nahmen auch Johannes mit dem Beinamen Markus mit«, den Neffen des Barnabas, der später das zweite Evangelium geschrieben hat.
Wir wissen nicht, wann genau Barnabas und Saulus in Jerusalem waren – ob zu dem Zeitpunkt, da Jakobus getötet wurde, Petrus im Gefängnis war oder Herodes starb.
Viele Bibelausleger sind der Ansicht, dass in Kapitel 13 ein neuer Abschnitt in der Apostelgeschichte beginnt. Einige gehen sogar so weit, diesen Teil »Apostelgeschichte Band II« zu nennen. Der Apostel Paulus steht nun ausdrücklich im Mittelpunkt, und Antiochia in Syrien wird das Zentrum, von dem aus das Evangelium zu den Heiden verbreitet wird.
13,1 In Antiochia war eine »Gemeinde« gegründet worden, wie wir in Kapitel 11 erfahren haben. Statt dass man einen Einzigen als Pastor ernannt hätte, waren in dieser Gemeinde viele Gaben zu finden. Insbesondere gab es dort mindestens fünf »Propheten und Lehrer«. Wie schon zuvor angedeutet, war ein Prophet ein Mann, der vom Heiligen Geist besonders ausgestattet wurde, um direkte Offenbarungen von Gott zu empfangen und sie anderen weiterzugeben. Eigentlich legte Gott den Propheten seine Worte in den Mund, wobei sie oft zukünftige Ereignisse voraussagen konnten. »Lehrer« waren Männer, denen der Heiligen Geist die Fähigkeit gegeben hatte, anderen das Wort Gottes mit einfachen und verständl ichen Worten zu erklären und auszulegen. Die Namen der »Propheten und Lehrer« werden wie folgt angegeben: 1. »Barnabas«. Wir sind diesem wunderbaren Diener Christi und treuen Mitarbeiter des Paulus bereits begegnet. Er wird hier als Erster genannt, weil er vielleicht der Älteste im Glauben oder im Dienst Christi war.
2. »Simeon, genannt Niger«. Daraus schließen wir, dass er von Geburt aus Jude war, vielleicht aus einer afrikanischen Judengemeinde. Oder vielleicht nahm er den Namen Niger (der Schwarze oder Dunkle) an, weil es bei der Arbeit unter den Heiden von Vorteil war. Natürlich kann seine Hautfarbe auch schwarz gewesen sein, wie der Name nahezulegen scheint. Von ihm ist weiter nichts bekannt. 3. »Luzius von Kyrene«. Er war wahrscheinlich einer der kyrenischen Männer, die nach Antiochia kamen, um dort den Herrn Jesus zu verkündigen (11,20). 4. »Manaën« (die griechische Form des alttestamentlichen Namens »Menahem«). Er wird als einer geführt, »der mit Herodes, dem Vierfürsten, auferzogen worden war«. Es ist interessant zu sehen, dass einer, der in solch enger Beziehung zum gottlosen König Herodes Antipas gelebt hatte, einer der ersten Bekehrten der Gemeinde geworden ist. Der Titel »Vierfürst« bedeutet, dass Herodes über ein Viertel des Reiches seines Vaters herrschte. 5. »Saulus«. Obwohl er als Letzter in dieser Liste aufgeführt wird, sollte Saulus ein lebendiges Beispiel für die Wahrheit werden: »Die Letzten werden die Ersten sein.«
Diese fünf Männer zeigen, dass man in den ersten Gemeinden nicht auf die Hautfarbe achtete. »Ein neuer Maßstab ist hier entstanden: Es geht nicht darum, wer du bist, sondern wem du gehörst.«
13,2 Diese Propheten und Lehrer hatten sich für eine Zeit des Gebets und des Fastens versammelt, eventuell zusammen mit der gesamten Gemeinde. Aus dem Textzusammenhang scheint hervorzugehen, dass der Ausdruck »sie dienten dem Herrn« bedeutet, dass sie Zeit im Gebet und in der Fürbitte verbrachten. Durch das Fasten verleugneten sie die natürlichen Bedürfnisse des Leibes, um sich ungehinderter den geistlichen Aktivitäten hingeben zu können.
Warum kamen sie zum Gebet zusammen? Es ist wohl angemessen, davon auszugehen, dass sie sich versammelt hatten, weil ihnen die Weltevangelisation ein Herzensanliegen war. Der Bericht sagt nicht, dass es sich um eine Gebetsnacht handelte, doch sicher fand hier etwas Ernsthafteres und Ausgedehnteres statt als die üblichen »Gebetsversammlungen« der heutigen Zeit. Als sie beteten, wies sie »der Heilige Geist« ausdrücklich an, »Barnabas und Saulus zu dem Werk« auszusondern, das Gott sich vorgenommen hatte. Das ist ein sehr deutlicher Beweis dafür, dass der Heiligen Geist eine Person ist. Wenn er nur ein »Einfluss« wäre, dann wäre es unvorstellbar, mit solchen Worten von ihm zu reden. Wie hat nun der »Heilige Geist« seine Botschaft den Lehrern und Propheten mitgeteilt? Obwohl hier keine eindeutige Antwort gegeben wird, ist es wahrscheinlich, dass er durch einen der Männer sprach, die Propheten waren, entweder Simeon, Luzius oder Manaën. »Barnabas« wird hier vor »Saulus« erwähnt. Doch als sie nach Antiochia zurückkehrten, hatte sich die Reihenfolge umgekehrt.
Dieser Vers ist von enormer praktischer Bedeutung, weil er die Rolle des »Heiligen Geistes« bei der Führung der frühen Gemeinde und die Empfindsamkeit der Jünger zeigt, womit sie sich von ihm leiten ließen.
13,3 Nachdem der Heilige Geist so seinen Willen offenbart hatte, fasteten und beteten sie weiter. Die drei (Simeon, Luzius und Manaën) legten »ihnen die Hände« auf. Das war keine offizielle »Ordination«, wie man sie heute in der Christenheit praktiziert, wo die Kirche einem Untergeordneten von Amts wegen einen besonderen Status einräumt. Hier ging es einfach um den Ausdruck der Gemeinschaft mit diesen beiden Männern in ihrem Dienst, zu dem der Heilige Geist sie berufen hat. Die Vorstellung von der Ordination als Ritus, der die exklusive Berechtigung zur »Spende der Sakramente« und zu anderen kirchlichen Diensten verleiht, ist dem NT unbekannt. Barnhouse kommentiert:
Ein großer Irrtum in unserer heutigen Praxis besteht darin, von einem Mann zu erwarten, dass er alleine alle notwendigen Gaben für die Leitung besitzt. So kann es sein, dass eine Gemeinde mehrere hundert Mitglieder hat, doch nur einen Pastor. Von ihm wird erwartet, dass er predigen kann, dass er ein Seelsorger ist usw. In der Tat werden sieben der acht Gaben, die in unserem Text (Röm 12,6-8) angesprochen werden, als Aufgaben des ordinierten Pastors angesehen, während nur die achte als Aufgabe der Gemeinde gilt. Und welche Gabe ist der Gemeinde überlassen? Sie soll die Rechnungen zahlen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Man mag fragen, ob ich vorschlage, dass Laien predigen sollten. Ohne Frage, wenn sich ein »Laie« in der Schrift auskennt, dann sollte er seine Gabe ausüben und bei jeder Gelegenheit predigen. Das Wachstum der sogenannten Laienbewegungen ist augenfällig und ein Schritt in die richtige Richtung – zurück zu der neutestamentlichen Art und Weise.53
Man sollte sich daran erinnern, dass Barnabas und Saulus bis dahin schon acht Jahre im Werk des Herrn gedient hatten. Sie waren keine Neulinge. Sie hatten schon die »Berufung durch denjenigen« erlebt, »dessen Hände durchgraben waren«. Nun brachten ihre Mitbrüder in Antiochia einfach ihre Verbundenheit mit ihnen hinsichtlich dieses besonderen Auftrags zum Ausdruck, das Evangelium zu den Heiden zu tragen.
Die hier befindlichen Worte (»sie entließen sie«) kann man im Blick auf die ihnen bevorstehende Aufgabe auch folgendermaßen übersetzen: »Sie ließen sie gehen«, oder: »Sie stellten sie frei«.
13,4 Mit diesem Vers beginnt, was uns allgemein als die erste Missionsreise des Paulus bekannt ist. Der Bericht über diese Reise erstreckt sich bis Kapitel 14,26. In erster Linie evangelisierte Paulus auf dieser Reise in Kleinasien. Die zweite Missionsreise brachte das Evangelium nach Griechenland. Die dritte Missionsreise umfasste Besuche bei den Gemeinden in Kleinasien und Griechenland, konzentrierte sich aber in der Hauptsache auf die Provinz Asien und die Stadt Ephesus. Die Missionsreisen des Paulus erstreckten sich über einen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren.
Von Antiochia in Syrien »gingen« die beiden unermüdlichen Diener Christi zunächst »hinab nach Seleuzia«, einem Hafen ungefähr 26 Kilometer von Antiochia entfernt. Von dort aus »segelten sie nach Zypern«.
13,5 Nachdem sie in »Salamis« an der Ostküste Zyperns angelegt hatten, besuchten sie verschiedene »Synagogen« und »verkündigten« dort« das Wort Gottes«. In den jüdischen Synagogen war es Brauch, dass jeder jüdische Mann dort die Möglichkeit hatte, aus der Schrift zu lesen und sie auszulegen. »Johannes« Markus war zu dieser Zeit der »Gehilfe« (LU 1984) von Barnabas und Paulus (und nicht deren »Diener«, wie einige Übersetzungen nahelegen). Dadurch, dass Barnabas und Saulus zunächst in die Synagoge gingen, erfüllten sie die göttliche Anordnung, das Evangelium zuerst den Juden und dann den Heiden zu predigen.
13,6a Von Salamis aus durchquerten sie als Verkündiger die ganze »Insel« »bis Paphos« am Westufer. Salamis war die wichtigste Handelsstadt der Insel, Paphos die Hauptstadt.
13,6b-8 Dort begegneten sie »einem Magier« und »falschen Propheten« mit dem Namen »Barjesus« (das bedeutet »Sohn des Jesus« oder »Sohn des Josua«). Auf irgendeine Weise war es dem »Magier« gelungen, mit »Sergius Paulus«, einem römischen »Prokonsul«54 bzw. dem obersten Verwaltungsbeamten der Insel, eine enge Bekanntschaft zu entwickeln. Dieser wird als »verständiger Mann« bezeichnet. Als dieser Mann »Barnabas und Saulus« herbeirief, dass sie zu ihm kommen und ihn im »Wort Gottes« unterweisen sollten, wollte der Zauberer eingreifen. Wahrscheinlich hat ihn Satan dazu angestiftet, um das Evangelium zu behindern.
In Vers 8 wird sein Name als »Elymas« angegeben, was »Weiser« bedeutet. Dieser Name war in seinem Fall natürlich völlig unzutreffend.
13,9.10 Da »Saulus« sah, dass Sergius Paulus ernsthaft nach der Wahrheit suchte und der Zauberer deren Gegner war, wies ihn Saulus scharf zurecht. Damit man nicht annehmen könnte, dass Saulus hier fleischlich handelt, wird ausdrücklich erwähnt, dass er zu diesem Zeitpunkt »mit Heiligem Geist erfüllt« war. Er sah den Zauberer »fest« an und klagte ihn an, »voll« alles Schlechten und »aller Bosheit« zu sein. Auch ließ sich Saulus nicht von dem Namen Barjesus betrügen, sondern riss ihm diese fromme Maske herunter. Er bezeichnete Elymas als »Sohn des Teufels«. Der Zauberer war ein »Feind aller Gerechtigkeit« und arbeitete unaufhörlich daran, die Wahrheit Gottes zu verkehren.
13,11 Nun sprach Paulus mit der besonderen strafenden Autorität, die ihm als Apostel gegeben war, und verkündete, dass Elymas »eine Zeit lang« mit Blindheit geschlagen werden würde. Weil er versucht hatte, andere (wie zum Beispiel den Prokonsul) in geistlicher Dunkelheit zu halten, wurde er nun mit leiblicher Blindheit bestraft. »Sogleich fiel Dunkel und Finsternis auf ihn«, und er musste sich stolpernd seinen Weg suchen, um jemanden zu finden, der bereit wäre, »ihn an der Hand« zu leiten. Elymas kann als Bild für das Volk Israel gesehen werden, das nicht nur widerstrebte, den Herrn Jesus anzunehmen, sondern auch versuchte, andere Menschen von ihm abzuhalten. Infolgedessen ist Israel von Gott im Gericht mit Blindheit geschlagen worden, doch nur für »eine Zeit lang«. Eines Tages wird ein Überrest des Volkes sich zu Jesus als dem Messias bekehren.
13,12 »Der Prokonsul« war offensichtlich durch diese übernatürliche Strafe Gottes beeindruckt, doch »die Lehre des Herrn«, die er von Barnabas und Saulus hörte, hinterließ auf ihn einen noch größeren Eindruck. Er wurde ein wahrer Gläubiger an den Herrn Jesus, das erste Siegeszeichen der Gnade auf der ersten Missionsreise.
Es ist bemerkenswert, dass Lukas in diesem  Bericht  (V. 9)  immer  öfter  den heidnischen Namen Paulus statt des jüdischen Namens Saulus gebraucht. Die Verwendung des Namens Paulus zeigt die zunehmende Verkündigung des Evangeliums unter Angehörigen der Nationen.
13,13 Nun hat »Paulus« den bedeutenderen Platz innerhalb der Missionarsgemeinschaft eingenommen. Das wird durch die Worte angedeutet: »Paulus und seine Begleiter«. »Von Paphos« aus segelten sie nordwestlich nach »Perge in Pamphylien«. »Pamphylien« war eine römische Provinz an der Südküste Kleinasiens. »Perge« war ihre Hauptstadt und lag etwa zehn Kilometer von der Küste entfernt am Fluss Kestros. Als sie in »Perge« predigten, verließ sie »Johannes« Markus und »kehrte nach Jerusalem zurück«. Vielleicht gefiel ihm der Gedanke nicht, das Evangelium den Heiden zu bringen. »Paulus« war der Ansicht, dass der Ausstieg des Markus ein solches Versagen in seinem Dienst war, dass er sich weigerte, Markus auf die zweite Missionsreise mitzunehmen. Dadurch kam es zu einem scharfen Streit zwischen Paulus und Barnabas, der dazu führte, dass die beiden im Dienst für Christus zukünftig getrennte Wege gingen (vgl. Kap. 15,36-39). Letztendlich erlangte Markus jedoch das Vertrauen des Apostels Paulus wieder (2. Tim 4,11). Über den Besuch in »Perge« werden uns keine weiteren Details mitgeteilt.
13,14.15 Ihr nächster Aufenthalt war in »Antiochia in Pisidien«. Das lag etwa 160 km nördlich von Perge. Und wieder gingen die beiden Gesandten des Kreuzes zuerst »am Tag des Sabbats in die Syna goge«. Nachdem die Schrift gelesen worden war, erkannten die »Vorsteher der Synagoge« diese Besucher als Juden und luden sie ein zu predigen, wenn sie »ein Wort der Ermahnung an das Volk« hätten. Diese Freiheit, in den Synagogen die Wahrheit des Evangeliums zu verkündigen, sollte nicht mehr lange anhalten.
13,16 Da er keine Gelegenheit ausließ, das Evangelium zu verkündigen, »stand Paulus auf« und sprach zu den Besuchern der Synagoge. Seine allgemeine offensive Strategie bestand darin, zunächst auf die jüdische Geschichte einzugehen und den Hörern dann von den Ereignissen im Leben und Dienst Christi zu berichten. Daraufhin verkündigte er mit großem Nachdruck die Auferstehung Christi und die Sündenvergebung durch den Heiland, um seine Hörer abschließend vor der Gefahr zu warnen, Jesus zu verwerfen.
13,17 Die Predigt beginnt mit Gottes Auserwählung des »Volkes Israel« als sein irdisches Volk. Sie geht schnell zu der Zeit über, als dessen Angehörige »in der Fremdlingschaft im Land Ägypten« wohnten, und verherrlicht die Gnade Gottes, der sie aus der Unterdrückung durch den Pharao rettete und sie mit seinem »erhobenen Arm« hinausführte.
13,18 »Etwa vierzig Jahre ertrug er« das Volk Israel »in der Wüste«. Das Verb, das hier mit »ertragen« übersetzt und in dieser Wortbedeutung verwendet wird, leitet sich eigentlich von einer positiveren Wendung ab, die mit »für jemandes Bedürfn isse Sorge tragen« wiedergegeben werden kann. Das tat der Herr zweifellos für die Israeliten trotz all ihres Murrens.
13,19-22 Die »vierhundertfünfzig Jahre«, die Paulus hier erwähnt, umfassen wahrscheinlich die Zeit vom Beginn des Ägyptenaufenthalts der Patriarchen bis hin bis zu den Richtern.55 Nach dem Einmarsch in Kanaan »gab« Gott »ihnen Richter bis« zur Zeit »Samuels, des Propheten«. Als »sie einen König … begehrten« wie alle anderen Völker, »gab Gott ihnen Saul, den Sohn des Kisch, einen Mann aus dem Stamm Benjamin«, der sie »vierzig Jahre lang« regierte. Wegen seines Ungehorsams wurde Saul »verworfen«, sodass »David« »König« wurde und an seine Stelle trat. Gott zollte David hier große Anerkennung. Er war »ein Mann nach meinem Herzen, der meinen ganzen Willen tun wird«. Vers 22 verbindet Zitate aus Psalm 89,21 und 1. Samuel 13,14.
13,23 Von David geht Paulus nun ganz einfach und unkompliziert zu »Jesus«, dem Nachkommen Davids, über. Dazu hat jemand einmal treffend formuliert: »Alle Wege in den Predigten des Paulus führten zu Christus.« Wir können uns vielleicht nur schwer den Mut vorstellen, der notwendig war, den Angehörigen des Volkes Israel zu verkündigen, dass »Jesus« der »Erretter« war, den Gott ihnen nach seiner Verheißung gegeben hatte. Sie waren gewohnt, »Jesus« in einem ganz anderen Licht zu sehen!
13,24 Nach dieser kurzen Einführung wendet sich Paulus zurück zum Dienst von »Johannes« dem Täufer. Vor dem öffentlichen »Auftreten« Jesu verkündigte Johannes »die Taufe der Buße dem ganzen Volk Israel«. Das bedeutet, dass er das »Auftreten« des Messias vorausgesagt hatte und die Menschen aufforderte, in Vorbereitung seiner Ankunft Buße zu tun. Sie sollten ihre »Buße« durch die Taufe im Jordan öffentlich kundtun.
13,25 Nicht eine Minute gestattete es »Johannes«, als der verheißene Messias zu gelten. Bis zu der Zeit, als er »seinen Lauf  erfüllte«,  d. h.  sein  Dienst  zu  Ende ging, bestand er darauf, nicht derjenige zu sein, von dem die Propheten gesprochen hatten. Er hielt sich sogar für »nicht würdig, … die Sandale an« den »Füßen« des einen »zu lösen«, dessen Kommen er verkündigt hatte.
13,26 Paulus sprach seine Zuhörer als »Brüder« und »Söhne des Geschlechts Abrahams« an und erinnerte sie daran, dass »das Wort dieses Heils« zuerst dem Volk Israel gesandt war. Ihnen sollten die Jünger die Botschaft zuerst predigen.
13,27.28 Doch das Volk in »Jerusalem … und ihre Obersten« erkannten nicht, dass Jesus der lang ersehnte Messias war. Sie erkannten nicht, dass er derjenige war, von dem die »Propheten« geschrieben hatten. Als sie an »jedem Sabbat« die Messiasweissagungen hörten, verbanden sie diese Prophetien nicht mit Jesus von Nazareth. Stattdessen wurden sie selbst die Werkzeuge, diese Schriftstellen zu erfüllen, »indem sie über ihn Gericht hielten. Und obschon sie keine todeswürdige Schuld fanden«, übergaben sie ihn Pilatus, »damit er umgebracht werde«.
13,29 Im ersten Teil dieses Verses bezieht sich das Wort »sie« auf die Juden, die die Schrift erfüllten, indem sie den Messias verwarfen. Im zweiten Teil des Verses bezieht »sie« sich auf Josef von Arimathäa und Nikodemus, die liebevoll den Leib des Herrn Jesus bestatteten.
13,30.31 Die Tatsache, dass Jesus aus den Toten auferstand, war gut bezeugt. Diejenigen, »die mit ihm hinaufgezogen waren von Galiläa nach Jerusalem«, waren noch am Leben, und ihr Zeugnis konnte nicht geleugnet werden.
13,32.33 Der Apostel verkündigte als Nächstes, dass die »Verheißung« über den Messias, »die zu den Vätern« im AT »geschehen« war, sich in »Jesus« erfüllt hat. Sie ging zunächst bei seiner Geburt in Bethlehem in Erfüllung. Paulus sah in der Geburt Christi eine Erfüllung von Psalm 2,7. Dort sagt Gott: »Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt.« Dieser Vers bedeutet nicht, dass Christus erst zum Sohn Gottes wurde, als er in Bethlehem geboren geworden war. Er war von aller Ewigkeit her Gottes Sohn, doch er wurde der Welt erst durch seine Menschwerdung als Gottes Sohn bekannt. Psalm 2,7 kann man nicht dazu missbrauchen, die ewige Gottessohnschaft Jesu zu leugnen.
13,34 In Vers 34 steht die Auferstehung des Herrn Jesus im Mittelpunkt. Gott hat ihn »aus den Toten auferweckt … sodass er nicht mehr zur Verwesung zurückkehrte«. Dann zitierte Paulus Jesaja 55,3: »Ich werde euch die zuverlässigen heiligen Güter Davids geben.« Dieses Zitat stellt für uns vielleicht eine Schwierigkeit dar. Welche Verbindung besteht zwischen diesem Vers aus Jesaja und der Auferstehung Christi? In welcher Beziehung steht die Auferstehung des Heilands zu Gottes Bund mit David?
Gott verhieß »David« einen ewigen Thron, ein ewiges Reich und einen Nachkommen, der diesen Thron in alle Ewigkeit innehaben würde. In der Zwischenzeit starb David, und sein Leib wurde zu Staub. Das Reich hatte noch einige Jahrhunderte Bestand, doch dann war Israel über 400 Jahre lang ohne König. Die Linie Davids blieb jedoch in all den Jahrhunderten bis zu Jesus von Nazareth bestehen. Er erbte das Anrecht auf den Thron Davids durch Josef. Josef war nach dem Gesetz sein Vater, auch wenn er nicht sein leiblicher Vater war. Der Herr Jesus war jedoch durch Maria auch ein leiblicher Nachfahre Davids.
Paulus betont hier, dass die »zuverlässigen« Verheißungen an David ihre Erfüllung in Christus finden. Er ist der Nachkomme Davids, der auf seinem Thron sitzen wird. Weil er »aus den Toten« auferstanden ist und ewig lebt, werden die ewigen Aspekte des Bundes, den Gott mit David schloss, hier in Christus festgemacht.
13,35 Das wird weiter durch Vers 35 betont, in dem nun der Apostel Psalm 16,10 zitiert: »Du wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe.« Mit anderen Worten: Seit der Herr Jesus aus den Toten auferstanden ist, hat der Tod keine Macht mehr über ihn. Er wird nie wieder sterben, noch wird sein Leib je der »Verwesung« unterworfen werden.
13,36.37 Obwohl David die Worte von Psalm 16,10 geschrieben hat, kann er hier nicht von sich selbst gesprochen haben. »Nachdem er seinem Geschlecht nach dem Willen Gottes gedient hatte«, starb er und wurde begraben. Sein Leib wurde wieder zu Staub. Doch der Herr Jesus wurde am dritten Tag aus den Toten »auferweckt«, ehe sein Leib »die Verwesung sehen« konnte.
13,38 Auf der Basis des vollendeten Werkes Christi, dessen Auferstehung das göttliche Siegel der Bestätigung war, konnte Paulus nun »die Vergebung der Sünden« als eine gegenwärtige Realität verkündigen. Man beachte seine Worte: »Dass durch diesen euch Vergebung der Sünden verkündigt wird.«
13,39 Doch das war noch nicht alles. Paulus konnte nun die völlige und aus Gnaden erfolgende Rechtfertigung verkündigen, die den Betreffenden von allem freisprach. Das konnte »das Gesetz des Mose« nicht leisten. Rechtfertigung ist die Handlung Gottes, durch die er diejenigen gottlosen Sünder für gerecht erklärt, die seinen Sohn als Herrn und Erlöser annehmen. Es handelt sich hier um einen juristischen Akt, der vor Gott stattfindet und durch den der Sünder von jeder gegen ihn gerichteten Anklage frei gemacht wird. Gott kann den schuldigen Sünder rechtmäßig freisprechen, weil die Strafe für seine Sünden vollständig durch den Herrn Jesus Christus am Kreuz getragen worden ist. Auf den ersten Blick könnte man nach diesem Vers meinen, dass das »Gesetz des Mose« für gewisse Sünden Rechtfertigung erwirken und man durch Christus die Rechtfertigung für viele andere Sünden erlangen kann. Doch das wird in diesem Vers überhaupt nicht ausgesagt und gelehrt. »Das Gesetz« konnte niemanden rechtfertigen, es konnte nur verurteilen. Paulus will hier vielmehr sagen, dass man durch Glauben an Christus von jeder Anklage freigesprochen werden kann, die irgendwie gegen einen vorgebracht werden könnte – eine Reinigung, die man unter dem »Gesetz des Mose« niemals hätte erlangen können.
13,40.41 Der Apostel schließt dann seine Predigt mit einer ernsten Warnung an diejenigen, die versucht sein könnten, Gottes wunderbares Angebot des gegenwärtigen Heils abzulehnen. Er zitiert aus Habakuk 1,5 (und vielleicht einzelne Teile aus Jes 29,14 und Spr 1,24-31). Dort warnt Gott die »Verächter« seines Wortes, er werde seinen Zorn in solch einem Ausmaß über sie ausgießen, dass sie es selbst dann nicht »glauben« würden, wenn er es ihnen vorher ankündigen würde. Zur Zeit des Paulus konnte sich dies auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. beziehen, doch es betrifft auf jeden Fall Gottes ewiges Gericht über diejenigen, die seinen Sohn verwerfen.
13,42.43 Als der Gottesdienst in der »Synagoge« vorbei war, »folgten viele der Juden und der anbetenden Proselyten dem Paulus und Barnabas« mit großem Interesse. Diese beiden Diener des Herrn ermutigten sie mit herzlichen Worten, »beharrlich bei der Gnade Gottes zu bleiben«.
13,44 Eine Woche später kehrten Paulus und Barnabas in die Synagoge zurück, um dort fortzufahren, wo sie aufgehört hatten. »Fast die ganze Stadt« hatte sich versammelt, »um das Wort Gottes zu hören«. Der Dienst dieser beiden hingegebenen Prediger hatte bei vielen Menschen einen tiefen Eindruck hinterlassen.
13,45 Doch die Beliebtheit dieser »fremdartigen Botschaft« erfüllte die Juden mit »Eifersucht« und Zorn. Sie widersprachen offen der Predigt des Paulus und gingen mit Worten gegen sie vor, indem sie sich einer ungehörigen Sprache bedienten und lästerten.
13,46.47 »Paulus und Barnabas« konnte man so leicht nicht einschüchtern. Sie erklärten, dass sie die Pflicht hätten, die Botschaft in erster Linie den Juden zu verkündigen. Doch weil sie nun die Botschaft ablehnten und sich damit als »nicht würdig … des ewigen Lebens« erwiesen hatten, kündigten die Prediger an, dass sie sich nun mit dem Evangelium »zu den Nationen« wenden würden. Wenn es irgendeine Berechtigung für solch einen Bruch mit der jüdischen Tradition gab, dann waren es die Worte in Jesaja 49,6. In diesem Vers spricht Gott eigentlich vom Messias, wenn er sagt: »Ich habe dich zum Licht der Nationen gesetzt, dass du zum Heil seiest bis an das Ende der Erde.« Aber der Geist Gottes erlaubt es den Dienern des Messias, diese Worte auf sich selbst anzuwenden, weil sie seine Werkzeuge waren, den Nationen das »Licht« und das »Heil« zu bringen.
13,48 Während diese Verkündigung des Heils für »die Nationen« die Juden in Wut versetzte, verursachte sie unter den Anwesenden »aus den Nationen« große Freude. Sie »verherrlichten das Wort des Herrn«, das sie gehört hatten. »So viele zum ewigen Leben verordnet waren«, glaubten es. Dieser Vers ist eine einfache Feststellung der souveränen Erwählung durch Gott. Sie sollte ganz wörtlich genommen und geglaubt werden. Die Bibel lehrt ausdrücklich, dass Gott einige Menschen schon vor Grundlegung der Welt erwählte, zu Christus zu gehören. Sie lehrt mit gleichem Nachdruck, dass der Mensch in moralischer Hinsicht frei handeln kann und errettet wird, wenn er Jesus Christus als seinen Herrn und Heiland annimmt. Die göttliche Erw ählung und die menschliche Verantwortung sind beides schriftgemäße Lehren, und keine von beiden sollte auf Kosten der and eren überbetont werden. Zwar scheinen die beiden einander zu wider sprechen, doch dieser Konflikt besteht nur für den menschlichen Geist, nicht jedoch für Gott.
Die Menschen werden durch ihre eigene Wahl verurteilt, nicht durch ein Handeln Gottes. Wenn die ganze Menschheit das erhielte, was ihr mit Recht zusteht, dann wären alle verloren. Doch Gott in seiner Gnade lässt sich dazu herab, einige zu erretten. Hat er nicht das Recht, dies zu tun? Natürlich hat er dieses Recht. Die Lehre von der souveränen Erwählung durch Gott ist eine Lehre, die Gott seinen ihm gebührenden Platz als Herrscher des Universums einräumt, der tun kann, was ihm gefällt, und der niemals etwas tut, das ungerecht oder böse ist. Viele unserer Schwierigkeiten mit diesem Thema würden sich lösen, wenn wir die Worte von Erdman beachteten:
Die Souveränität Gottes ist absolut, doch wird sie nie ausgeübt, um Menschen zu verurteilen, die doch gerettet werden sollen. Vielmehr hat diese Souveränität dazu geführt, dass Menschen gerettet werden, die es eigentlich verdient hätten, verlorenzugehen.56
13,49.50 Trotz des Widerstands der Juden wurde »das Wort des Herrn … ausgebreitet durch die ganze Gegend«. Das rief weiteren Widerstand der Gegner hervor. »Die Juden aber erregten« einige »anbetende … Frauen«, die sich zum Judentum bekehrt hatten und in dem Ort als »vornehm« galten, gegen die Missionare zu hetzen. Auch »die Ersten der Stadt« spannten sie für ihre bösen Absichten ein. Es erhob sich ein solcher Sturm der »Verfolgung gegen Barnabas und Paulus«, dass sie mit Gewalt aus dem Gebiet vertrieben wurden.
13,51.52 Gemäß der Anweisung ihres Herrn (Lk 9,5; 10,11) »schüttelten« sie »den Staub von ihren Füßen gegen sie ab« und zogen »nach Ikonion« weiter. Doch dieser Vorfall wurde von den Christen nicht als Niederlage oder Rückzug gewertet, denn wir lesen, dass sie »mit Freude und Heiligem Geist erfüllt« wurden. »Ikonion« lag südöstlich von Antiochia in Kleinasien und heißt heute Konya.
14,1.2 In »Ikonion« gab es wie an anderen Orten eine »Synagoge«, in der es Paulus und Barnabas erlaubt war zu predigen, weil die oben erwähnte Sitte unter den Juden dieser Zeit allgemein verbreitet war. Der Geist Gottes begleitete das Wort mit solcher Vollmacht, dass »eine große Menge … Juden« und heidnische Proselyten den Herrn Jesus annahmen. Das erregte den Zorn der Juden, die das Evangelium ablehnten, sodass auch sie Angehörige der »Nationen« »gegen die Brüder« reizten. In der Apostelgeschichte haben die ungläubigen Juden häufig die Verfolgung der Apostel angezettelt, auch wenn sie selbst nicht unbedingt Ausführende bei der Bestrafung waren. Sie waren Meister der Überredungskunst, wenn es darum ging, die Heiden (oder Nationen) dazu zu bringen, ihre bösen Absichten zu verwirklichen.
14,3 Obwohl sie wussten, dass sich Schwierigkeiten zusammenbrauten, fuhren die Prediger fort, »freimütig« im Namen des »Herrn« zu reden, der die Göttlichkeit dieser Botschaft durch »Zeichen und Wunder« bestätigte. Mit dem Wort »Zeichen« ist die schlichte Vorstellung verbunden, dass damit eine Lektion vermittelt wird, während »Wunder« eher für Taten steht, die Ehrfurcht vor dem Handeln Gottes bewirken.
14,4-7 Als sich die Spannungen in der Stadt vergrößerten, bildeten sich schnell zwei Parteien. Einige »waren mit den Juden, die anderen mit den Aposteln«. Schließlich beschlossen die Ungläubigen »aus den Nationen« und »von den Juden«, »die Apostel«57 anzugreifen. Um einer Steinigung aus dem Weg zu gehen, flohen sie nach »Lystra und Derbe«, beides »Städte« in »Lykaonien«, einem Bezirk im Zentrum von Kleinasien. Ohne in ihrem Eifer nachzulassen, »verkündigten sie das Evangelium« in der gesamten Region.
Als Paulus und Barnabas die Steinigung drohte, »entflohen sie … in die Städte … Lystra und Derbe«. Zu anderen Zeiten blieben sie trotz Gefahr an einem Ort. Warum flohen sie einmal, während sie ein anderes Mal standhaft blieben? Es scheint keinerlei treffende Erklärung dafür zu geben. Der maßgebliche Grundsatz in der Apostelgeschichte ist die Führung durch den Heiligen Geist. Diese Männer lebten in einer engen, vertrauten Gemeinschaft mit dem Herrn. Da sie in ihm blieben, erfuhren sie durch wunderbare Vermittlung den Willen Gottes. Für sie war diese Geistesleitung das Wichtigere, nicht irgendwelche vorher festgelegten Verhaltensregeln.
14,8.9. »In Lystra« kamen die Missionare in Kontakt zu einem Mann, der »lahm von seiner Mutter Leib an« war. Als er »Paulus reden« hörte, zeigte er ungewöhnliches Interesse. Irgendwie bemerkte »Paulus«, dass er »Glauben hatte, geheilt zu werden«. Obwohl wir nicht wissen, woher Paulus dies wusste, glauben wir, dass ein wahrer Evangelist die Fähigkeit hat, den Seelenzustand von Menschen aus seinem Zuhörerkreis zu erkennen. Er kann sagen, ob sie nur neugierig sind, oder ob ihre Seele wirklich in Nöten ist, weil sie von ihrer Sünde überführt worden sind.
14,10-12 Sobald Paulus dem Mann befahl, sich »auf« die »Füße« zu stellen, »sprang er auf und ging umher«. Weil das Wunder öffentlich geschehen war und Paulus durch sein lautes Reden sicher die Aufmerksamkeit vieler auf sich zog, wurden »die Volksmengen« sehr beeindruckt. Es erhob sich sogar eine Volksbewegung mit dem Ziel, »Barnabas« als »Zeus« und »Paulus« als »Hermes« zu verehren.58 »Die Volksmengen« glaubten wirklich, dass ihre »Götter« sie in Gestalt der beiden Missionare besucht hätten. Aus irgendeinem Grund, der hier nicht genannt ist, sahen sie »Barnabas« als ihren obersten Gott an. Weil »Paulus« gesprochen hatte, nannten sie ihn »Hermes«, den Götterboten des »Zeus«.
14,13 Sogar der »Priester des Zeus« war der Überzeugung, dass sein Gott ihnen erschienen war. Er eilte aus dem Tempel »vor der Stadt« und brachte »Stiere und Kränze« für ein großes Opfer mit. Diese gesamte Bewegung war eine heimtückischere Gefahr für den christlichen Glauben als alle anderen Formen des Widerstands, die uns bisher berichtet wurden. Für einen erfolgreichen christlichen Mitarbeiter gibt es keine größere Gefahr als die Neigung der Menschen, ihre geistliche Aufmerksamkeit auf ihn statt auf Christus zu richten.
14,14.15a Zunächst begriffen »Barnabas und Paulus« nicht, was die Menge vorhatte, weil sie den lykaonischen Dialekt nicht verstanden. Sobald es den Missionaren jedoch klar wurde, dass die Menschen sie als Götter verehren wollten, »zerrissen sie ihre Kleider« als Ausdruck des Protests und der Trauer. Dann »sprangen« sie »hinaus unter die Volksmenge« und warnten sie mit leidenschaftlichen Worten vor solch einer Torheit. Sie waren schließlich keine Götter, sondern »Menschen von gleichen Empfindungen wie« die Lykaonier. Ihr Ziel war doch nur, ihnen die Gute Nachricht zu bringen, dass sich die Menschen »von den nichtigen Götzen … zu dem lebendigen Gott« bekehren sollten.
14,15b-17 Es ist bemerkenswert, dass Paulus und Barnabas bei diesen Heiden nicht das AT zitieren, wie sie es bei den Juden taten. Stattdessen begannen sie mit der Schöpfungsgeschichte, einem interessanten Thema für heidnische Völker in allen Ländern der Welt und in allen Zeitaltern. Die Missionare erklärten, dass Gott »in den vergangenen Geschlechtern alle Nationen in ihren eigenen Wegen gehen« ließ. Sogar zu diesen Zeiten hatten sie den Beweis der Existenz Gottes in seiner Schöpfung und in seiner Fürsorge. Er hat immer voll Liebe »Regen und fruchtbare Zeiten« geschenkt und erfüllte ihre »Herzen mit Speise und Fröhlichkeit«. Dieser letzte Ausdruck ist ein Bild für die Tatsache, dass Gott, indem er ihnen »Speise« für ihren Leib gab, ihre Herzen mit der »Fröhlichkeit« erfüllte, die sich durch den Genuss von Speisen ergibt.
14,18 Die Predigt hatte das gewünschte Ergebnis. Zögernd gaben die Leute ihr Vorhaben auf, diesen Dienern Gottes zu »opfern«.
14,19.20 »Juden … aus Antiochia und Ikonion« hatten nun Barnabas und Paulus in Lystra eingeholt. Sie hatten Erfolg damit, die heidnische Bevölkerung gegen die Missionare aufzubringen. Dieselben Menschen, die sie zuerst als Götter verehren wollten, steinigten »Paulus« und »schleiften … ihn zur Stadt hinaus, da sie meinten«, ihn umgebracht zu haben. Dazu einige sehr treffende Anmerkungen von Kelly:
Und warum? Die Ablehnung der Verehrung, die die Bewohner in Lystra bereit waren zu zollen, reizt den Menschen aufs Äußerste und macht ihn bereit, die dunkelsten Gerüchte über diejenigen zu glauben, die er vorher anbeten wollte. Die Menschen fühlen sich erhoben, wenn sie auf menschliche Weise anbeten. Wenn ihnen das verwehrt wird, dann verwandelt sich die Anbetung in tödlichen Hass auf diejenigen, die nur die Ehre Gottes suchen. Genau das geschah hier. Statt ihre Absicht wie die Malteser zu ändern (die Paulus zuerst als Mörder ansahen und dann als Gott; Apg 28,6), hörten sie auf den jüdischen Mob, den sie sonst verachteten. Dann steinigten sie Paulus als falschen Propheten, dem sie vor Kurzem noch hatten opfern wollen, und schleiften ihn als Toten vor die Stadt.59 War Paulus wirklich nach dieser Steinigung »gestorben«? Wenn es sich hier um den Vorfall handelte, auf den er in 2. Korinther 12,2 anspielt, dann wusste er es selbst nicht. Wir können jedoch sagen, dass seine Wiederherstellung ein Wunder war. »Als aber die Jünger ihn umringten, stand er auf und ging« mit ihnen zurück »in die Stadt hinein; und am folgenden Tag zog er mit Barnabas aus nach Derbe«.
14,21 Es ging den Missionaren nie in erster Linie um ihre persönliche Sicherheit. Das sieht man an der Tatsache, dass sie, nachdem sie in Derbe »das Evangelium verkündigt hatten, … nach Lystra« zurückkehrten, wo Paulus erst kurz zuvor gesteinigt worden war. Das ist ein Beispiel für das, was jemand einmal »die Macht derjenigen« genannt hat, »die befähigt werden, sich schnell zu erholen und an gefährliche Orte zurückzukehren«. Obwohl hier Timotheus nicht erwähnt wird, kann es sein, dass er zu dieser Zeit durch die Predigt des Paulus gerettet wurde. Als die Apostel das nächste Mal nach Lystra kommen, ist Timot heus schon ein Jünger und bei den Brüdern hoch angesehen (Apg 16,1.2). Doch die Tatsache, dass Paulus von ihm als seinem echten Kind im Glauben spricht (1. Tim  1,2),  bedeutet  nicht  notwendigerweise, dass er sich durch Paulus zu Christus bekehrt hat. Er kann Paulus auch ein »echtes Kind im Glauben« geworden sein, indem er dem Beispiel des Paulus in Leben und Dienst folgte. Als ihre Arbeit in »Lystra« beendet war, besuchten die Missionare noch einmal »Ikonion und Antiochia« in Pisidien, wo schon Gemeinden entstanden waren. Diesmal war ihr Ziel die »Nacharbeit«, wie wir es heute ausdrücken würden. Sie waren nie damit zufrieden, einfach nur das Evangelium zu predigen und zu sehen, dass sich Menschen zum Heiland bekehren. Für sie war das nur der Anfang. Sie strebten dann danach, die Gläubigen in ihrem heiligen Glauben aufzuerbauen, insbesondere, indem sie ihnen die Wahrheit der Gemeinde und ihre Bedeutung in Gottes Heilsplan erläuterten. Erdman betont:
Ein gutes missionarisches Programm hat das Ziel, auf dem Missionsfeld Gemeinden zu gründen, die ihre Leitungsaufgaben selbst wahrnehmen, sich selbst tragen und ihrerseits die Botschaft weitergeben. Das war immer das Ziel und die Praxis von Paulus.60
14,22 Bei ihrer Nacharbeit »befestigten sie die Seelen der Jünger« und gründeten die Christen »im Glauben«, indem sie diese im Wort Gottes unterwiesen. Paulus beschreibt diesen Vorgang in Kolosser 1,28.29: »Mit aller geistlichen Weisheit, die Gott mir gegeben hat, ermahne ich die Menschen und unterrichte sie im Glauben, damit jeder Einzelne zu einem reifen, mündigen Christen wird. Das ist das Ziel meiner Arbeit, dafür kämpfe ich und mühe ich mich ab. Christus, der mit seiner Macht in mir wirkt, schenkt mir die Kraft dazu« (vgl. Hfa).
Zweitens »ermahnten sie« die Jünger, »im Glauben zu verharren«, eine Ermahnung, die durch die zu dieser Zeit weitverbreitete Verfolgung besonders angebracht war. Zu dieser Ermahnung gehörte die Erinnerung daran, »dass wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen«. Das bezieht sich auf »das Reich Gottes« in seiner zukünf tigen Form, wenn die Gläubigen an Christi Herrlichkeit Anteil haben werden. Man kommt jedoch durch die Wiedergeburt in das Reich Gottes. Verfolgung und »Trübsale« haben keinen eigenen Heilswert. Doch denjenigen, die jetzt durch Glauben »in das Reich Gottes eingehen«, ist verheißen, dass ihr Weg in die zukünftige Herrlichkeit mit »Trüb salen« gepflastert ist. »Wenn wir wirklich mitleiden, werden wir auch mitverherrlicht« (Röm 8,17b).
14,23 Zu dieser Zeit »wählten« die Missionare »in jeder Gemeinde Älteste«. In diesem Zusammenhang sollen einige Beobachtungen festgehalten werden: 1. Die neutestamentlichen Ältesten (Presbyter) waren gottesfürchtige, reife Männer, die die geistliche Leitung in der Ortsgemeinde innehatten. Oft werden sie auch Bischöfe (im ursprünglichen neutestamentlichen Sinne) oder Aufseher genannt. 2. In der Apostelgeschichte wurden Älteste nicht sofort eingesetzt, wenn die Gemeinde gegründet wurde, sondern erst, wenn der Apostel die Gemeinden nochmals besuchte. Mit anderen Worten: Es lag eine Zeit dazwischen, in der die durch den Geist erwählten Ältesten erkannt werden konnten. 3. Älteste wurden von den Aposteln und ihren Mitarbeitern eingesetzt. Zu dieser Zeit war das NT noch nicht geschrieben, in dem ausdrückliche Anweisungen zur Qualifikation von Ältesten vorliegen. Die Apostel jedoch wussten, worauf es ankommt, und waren damit imstande, Männer auszuwählen, die den schriftgemäßen Anforderungen genügten. 4. Wir haben heute keine Apostel mehr, um Älteste zu ernennen. Allerdings verfügen wir über die aufgezeichneten Anforderungen für den Ältestendienst in 1. Timotheus 3 und Titus 1. Deshalb sollte jede Ortsgemeinde in der Lage sein, diejenigen Männer zu erkennen, die Gottes Anforderungen für diejenigen erfüllen, die als unter Christus Stehende die Hirten der Schafe sind.
Nachdem Paulus und Barnabas »mit Fasten« gebetet hatten, »befahlen sie« die Gläubigen »dem Herrn«. Für uns ist es scheinbar ungewöhnlich, dass Gemeinden gegründet wurden, die nur eine so kurze Zeit von den Aposteln unterwiesen wurden und dennoch ihre Leuchtkraft für den Herrn unter Beweis stellten, indem sie als selbstständige Gemeinden ihr geistliches Leben gestalteten. Die Antwort liegt eindeutig in der Macht des Heiligen Geistes Gottes. Diese Macht zeigte sich im Leben von Männern wie Paulus und Barnabas. Wo immer sie hinkamen, bewirkten sie sehr viel für Gott. Die Menschen sahen, dass ihr Leben durch und durch echt war. Ihre öffentliche Predigt wurde durch das Vorbild ihres eigenen Lebens gestützt, und der Einfluss dieses doppelten Zeugnisses war unermesslich. Die Verse 21 und 23 zeigen uns das apostolische Vorgehen: Predigt des Evangeliums, Lehren der Bekehrten und Gründung sowie Stärkung von Gemeinden.
14,24-26 »Nachdem sie« das Gebiet von »Pisidien durchzogen« hatten, reisten sie südwärts nach »Pamphylien«. Dort besuchten sie nochmals »Perge«, dann »gingen sie hinab« in die Hafenstadt »Attalia«, wo sie ein Schiff bestiegen und nach »Antiochia« in Syrien zurückkehrten. Hier beendeten sie ihre erste Missionsreise. Von hier aus waren sie »der Gnade Gottes befohlen worden … zu dem Werk, das sie« soeben »erfüllt hatten«.
14,27 Welch eine freudige Zeit muss es gewesen sein, als sie die Glieder der »Gemeinde« in Antiochia »zusammenbrachten«, damit diese den Bericht von den missionarischen Bemühungen dieser beiden großen Männer Gottes hören konnten. Mit der gebührenden christlichen Bescheidenheit »erzählten sie alles, was Gott mit ihnen getan und dass er den Nationen eine Tür des Glaubens aufgetan habe«. Es ging nicht um das, was sie für »Gott« getan hatten, sondern um alles, was Gott gefallen hatte, durch seine Diener zu tun.
14,28 »Sie verweilten« in Antiochia »eine nicht geringe Zeit bei den Jüngern«. Man schätzt, dass dabei ein bis zwei Jahre vergingen.
Exkurs zu Vorgehensweisen in der Mission
Es ist überwältigend zu sehen, wie eine kleine Gruppe unauffälliger Jünger aus einem abgelegenen Winkel dieser Welt mit jeder Faser ihres Herzens ein herrl iches Ziel – die Weltevangelisation – verfolgten und wie sie dieses Ziel zu err eichen suchten. Jeder fühlte sich für diese Aufgabe direkt verantwortlich und setzte sich rückhaltlos dafür ein.
Ein Großteil dieser Evangelisationsarbeit geschah im Zusammenhang mit dem alltäglichen Aufgaben der Gläubigen am Ort. Sie erzählten gewissermaßen das Evangelium in ihrer Nachbarschaft herum.
Zusätzlich reisten die Apostel und andere von Region zu Region, verkündigten das Evangelium und gründeten Gemeinden. Sie reisten zu zweit oder in größerer Gesellschaft. Manchmal reiste ein jüngerer Mann mit einem älteren, wie etwa Timotheus mit Paulus. Im Prinzip gab es zwei Methoden – persönliche Evangelisation und Massenevangelisation. In Verbindung mit der letzteren Methode ist es interessant festzuhalten, dass die meisten Predigten spontan gehalten wurden und sich aus irgendeiner Situation oder einer Krise am Ort ergaben.
Fast alle Predigten, die hier (in der Apostelgeschichte) aufgezeichnet sind, wurden unter Umständen gehalten, die die Vorbereitung der Predigt ausschlossen. Jede dieser Situationen kam völlig unerwartet.61 E. M. Bounds hat einmal gesagt, dass der Predigtdienst der Apostel nicht darin bestand, eine einstündige Predigt zu halten, sondern ihrem überfließenden Leben mit Gott entsprang.
Die Apostel und ihre Mitarbeiter wurden durch den Heiligen Geit geleitet, doch wurde diese Leitung häufig durch ihre Ortsgemeinde bestätigt. So lesen wir, dass die Propheten und Lehrer in Antiochia Barnabas und Paulus die Hände auflegten, als sie diese zu ihrer ersten Missionsreise aussandten (Apg 13,2). Später lesen wir, dass Timotheus erst das Vertrauen der Brüder in Lystra und Ikonion genoss, ehe er mit Paulus aufbrach (Kap. 16,2). Und Paulus und Silas wurden zunächst durch die Gemeinde in Antiochia der Gnade Gottes anbefohlen, ehe sie auf die zweite Missionsreise gingen (Kap. 15,40).
Meist wird gelehrt, dass ihre geografische Strategie darin bestand, dass sie zunächst in große Städte gingen und dort Gemeinden gründeten, sodass diese Gemeinden dann das Umland evangelisieren konnten. Das ist wohl eine zu starke Vereinfachung. In erster Linie bestand ihre Vorgehensweise darin, der Führung des Heiligen Geistes zu gehorchen, ob sie nun in eine große oder kleine Stadt kamen. Der Heilige Geist führte Philippus von der Erweckung in Samaria zu einem einzelnen Mann auf der Straße nach Gaza (Apg 8,26-40). Und er führte Paulus nach Beröa (17,10), das Cicero eine »abgelegene Stadt« nannte. Offen gesagt erkennen wir keine feststehende, an starren Regeln orientierte geografische Vor gehens weise in der Apostelgeschichte. Vielmehr sehen wir, wie der souveräne Geist Gottes nach seinem eigenen Willen handelt.
Es wurden überall dort Ortsgemeinden gegründet, wo Menschen an das Evangelium glaubten. Diese Versammlungen verliehen dem Werk Beständigkeit und Stabilität. Sie leiteten sich selbst, finanzierten sich selbst und wurden selbst missionarisch aktiv. Die Apostel besuchten die Versammlungen wiederholt, um die Gläubigen zu stärken und zu ermutigen (14,21.22; 15,41; 20,1.2) und um Älteste zu berufen (14,23). Auf ihren Missionsreisen bestritten die Apostel und ihre Mitarbeiter ihren Unterhalt manchmal selbst (18,3; 20,34); zuweilen wurden sie jedoch auch durch Gaben von Gemeinden oder Einzelnen unterstützt (Phil 4,10.15-18). Paulus arbeitete, um nicht nur sich selbst zu versorgen, sondern auch diejenigen, die bei ihm waren (20,34).
Obwohl sie durch ihre Ortsgemeinde der Gnade Gottes befohlen worden waren und auch von neu gegründeten Ortsgemeinden Unterstützung erhielten, wurden sie doch nicht von den Ortsgemeinden kontrolliert. Sie waren des Herrn freie Verkündiger des gesamten Ratschlusses Gottes und hielten nichts zurück, das irgendwie von Nutzen war (20,20). Am Ende ihrer Missionsreisen kehrten sie in ihre Heimatgemeinde zurück und berichteten, wie Gott durch sie gewirkt hatte (14,26-28; 18,22.23). Das ist für alle Missionare in jedem Gemeindezeitalter ein gutes Vorbild, dem man folgen sollte.
E. Das Apostelkonzil in Jerusalem (15,1-35)
15,1 Die Auseinandersetzung, die sich in der Gemeinde in Antiochia über die Beschneidung erhob, wird auch in Galater 2,1-10 beschrieben. Wenn wir diese beiden Berichte zusammennehmen, erhalten wir folgendes Bild: »Einige« falsche Brüder aus der Gemeinde in Jerusalem reisten nach Antiochia und predigten in der dortigen Gemeinde. Der Kern ihrer Verkündigung war, dass die Heiden »beschnitten« werden mussten, um »errettet« zu werden. Es reichte ihrer Aussage nach nicht aus, an den Herrn Jesus Christus zu glauben. Vielmehr müsse man sich zusätzlich noch dem Gesetz »Moses« unterstellen. Das war natürlich ein frontaler Angriff auf das Evangelium der Gnade Gottes. Das wahre Evangelium der Gnade lehrt, dass Christus alles Notwendige zur Errettung der Menschen am Kreuz vollbracht hat. Alles, was ein Sünder tun muss, besteht darin, Christus im Glauben anzunehmen. Sobald menschliche Werke oder Verdienste eingeführt werden, geschieht die Erlösung nicht mehr aus Gnade. Im Bereich der Gnade hängt alles von Gott und nichts mehr vom Menschen ab. Wenn Bedingungen eingeführt werden, dann ist die Erlösung kein Geschenk mehr, sondern eine Bringschuld Gottes. Doch die Erlösung ist ein Geschenk, sie kann weder verdient noch erarbeitet werden.
15,2.3 »Paulus und Barnabas« widerstanden vehement diesen Judaisten (die Gläubige aus den Nationen erst zum Judentum bekehren wollten), weil sie wussten, dass diese gekommen waren, die Heiden ihrer Freiheit in Jesus Christus zu berauben.
Hier in Apostelgeschichte 15 erfahren wir, dass die Brüder in Antiochia sich entschieden, »Paulus und Barnabas und einige andere … nach Jerusalem … zu den Aposteln und Ältesten« zu schicken. In Galater 2,2 sagt Paulus, dass er einer Offenbarung zufolge nach Jerusalem reiste. Das ist natürlich kein Widerspruch. Der Geist Gottes offenbarte Paulus, dass er gehen solle, und er offenbarte auch der Gemeinde in Antiochia, dass die Brüder ihn senden sollten. Auf dem Weg »nach Jerusalem« machte die Gruppe an verschiedenen Orten in »Phönizien und Samaria« halt. Dort erzählten die Missionare von der »Bekehrung derer aus den Nationen«. »Große Freude« war überall die Reaktion auf diese Berichte.
15,4 »Als« Paulus nach Jerusalem gekommen« war, ging er zunächst zu den Aposteln sowie Ältesten und gab ihnen im kleinen Kreis vollständige Rechenschaft über das Evangelium, das er den Heiden predigte. Sie mussten zugeben, dass es dasselbe Evangelium war, das auch sie den Juden gepredigt hatten.
15,5 Während einer für alle Gemeindeglieder bestimmten Zusammenkunft traten offensichtlich einige »aus der Sekte der Pharisäer, die gläubig waren«, auf und behaupteten, man müsse die Heiden beschneiden. Sie müssten »das Gesetz des Mose … halten«, um wirkliche Jünger sein zu können.
15,6 Aus Vers 6 könnte man entnehmen, dass nur »die Apostel … und die Ältesten« anwesend waren, als die endgültige Entscheidung gefällt wurde. Doch Vers 12 scheint nahezulegen, dass die ganze Gemeinde anwesend war.
15,7-10 Als »Petrus« sich erhob, waren die Vertreter des Judaismus wohl der Meinung, er würde ihre Ansicht unterstützen. Schließlich war doch Petrus der Apostel der Beschneidung. Doch ihre Hoffnungen sollten sich schnell zerstreuen. Petrus erinnerte seine Zuhörer daran, wie Gott einige Jahre zuvor verordnet hatte, dass »die Nationen … das Evangelium« aus seinem Mund vernehmen sollten. Das geschah im Haus des Kornelius. Als »Gott« sah, dass sich die Herzen dieser »Heiden« im Glauben nach ihm ausstreckten, gab er ihnen »den Heiligen Geist, wie dies bei den Juden zu Pfingsten der Fall gewesen war. Gott verlangte von diesen Heiden nicht, beschnitten zu werden. Die Tatsache, dass es sich um Nichtjuden handelte, rechtfertigte keinen Unterschied, er reinigte »ihre Herzen … durch den Glauben«. Weil Gott nun die Heiden aufgrund ihres Glaubens und nicht aufgrund des Haltens eines Gesetzes angenommen hatte, fragte Petrus die Gemeindeglieder, warum sie jetzt auf einmal daran dachten, die Heiden unter das »Joch« zu zwingen, »das weder« ihre »Väter noch« sie »selbst zu tragen vermochten«. Das Gesetz hat noch niemanden gerettet. Seine Aufgabe bestand in der Verurteilung des Menschen, nicht in seiner Rechtfertigung. Das Gesetz bringt Sündenerkenntnis und nicht Errettung von Sünde mit sich.
15,11 Der Schlusssatz der Rede des Petrus ist besonders bemerkenswert. Er drückte seine tiefe Überzeugung aus, dass sie (die Juden) »durch die Gnade des Herrn Jesus« (und nicht durch Befolgung des Gesetzes) »in derselben Weise errettet werden wie auch jene« (die Heiden). Man würde hier erwarten, dass Petrus als Jude es anders formulieren würde, nämlich folgendermaßen: Die Heiden werden in derselben Weise errettet werden wie die Juden. Doch hier sieht man, wie die »Gnade« über volksgruppenbezogene Vorurteile siegt.
15,12 Nachdem Petrus geendet hatte, berichteten »Barnabas und Paulus«, wie Gott die »Nationen« heimgesucht und ihre Predigt durch »Zeichen und Wunder« begleitet hatte.
15,13.14 Petrus hatte erzählt, wie der Herr »zuerst« durch ihn die Tür des Glaubens für die »Nationen« aufgetan hatte. Paulus und Barnabas fügten ihr Zeugnis hinzu, wie der Herr durch sie bei der Evangelisierung der »Heiden« gewirkt hatte. »Jakobus« stellte nun in vollmächtiger Weise fest, dass Gottes Ziel für dieses Zeitalter darin bestehe, »aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen«. Darum ging es im Wesentlichen in der Rede von »Simon« (Petrus).
15,15-19 Dann zitierte Jakobus Amos 9,11.12. Man beachte, dass er nicht sagte, die Berufung »der Nationen« erfülle die Prophezeiung des Amos, sondern sie stimme mit den »Worten der Propheten« überein. Die Gemeinde sollte es nicht für sonderbar halten, dass »Gott« die »Nationen« heimgesucht und ihnen das Heil gebracht hat, weil dies im AT deutlich vorhergesagt worden ist. Gott hatte vorhergesagt, dass die Heiden als solche gesegnet werden sollten – nicht als Gläubige, die zum Judentum übergetreten waren. Das Zitat aus Amos bezieht sich auf das Tausendjährige Reich, in dem Christus auf dem Thron »Davids« sitzen wird und die »übrigen der Menschen den Herrn suchen« werden. Jakobus meinte hier nicht, dass zu der Zeit, zu der er dies sagte, diese Verheißung schon in Erfüllung gegangen sei. Er wollte vielmehr sagen, dass die Errettung von Heiden, die zu seiner Zeit stattfand, in Übereinstimmung mit dem stand, was Amos für einen späteren Zeitpunkt vorhergesagt hatte. Die Argumentation des Jakobus lautete folgendermaßen: Zunächst würde Gott die Heiden heimsuchen, um »aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen«. Das geschah zur Zeit des Jakobus und geschieht auch heute noch. Bekehrte Heiden wurden in die Gemeinde zusammen mit bekehrten Juden aufgenommen. Was zu dieser Zeit im Kleinen geschah (die Errettung von Heiden), sollte später in größerem Maße stattfinden. Christus würde wiederkommen, Israel als Volk wiederherstellen und »alle Nationen, über die« sein »Name ausgerufen ist«, erlösen.
Jakobus sah in den zu seiner Zeit stattfindenden Ereignissen eine erste Heimsuchung der Heiden durch Gott. Für ihn stimmte diese erste Heimsuchung mit den Voraussagen des Amos völlig überein: Es ging nämlich darum, dass die Heiden in Zukunft noch einmal heimgesucht werden, wenn Christus als König wiederkehrt. Die beiden Ereignisse stimmen überein, sind aber nicht identisch. Wir sollten uns nun noch die Reihenfolge der Ereignisse ansehen: 1. Das Herausnehmen eines Volkes aus den »Nationen« »für seinen Namen« (V. 14) während dieses gegenwärtigen Gnadenzeitalters.
2. Die Wiederherstellung des gläubigen Überrests des Volkes Israel zur Zeit der Wiederkunft Christi (V. 16). 3. Die Erlösung von Angehörigen der Nationen nach der Wiederherstellung Israels  (V. 17).  Diese  Heiden  werden »alle Nationen, über die mein Name angerufen ist«, genannt. Jakobus zitiert Amos 9,11.12 so, dass sich der Wortlaut vom Originaltext im AT stark unterscheidet. Ein Teil dieser Unterschiede erklärt sich dadurch, dass Jakobus offensichtlich die griechische Bibelübersetzung des AT zitiert. Dennoch bestehen in dem Zitat auch noch Unterschiede zur Septuaginta. Eine Erklärung ist, dass derselbe Heilige Geist, der zunächst die Worte inspiriert hat, nun ihre Veränderung erlaubt, um damit ein vorliegendes Problem zu lösen. Eine andere Erklärung lautet, dass die hebräischen Handschriften Amos 9 recht unterschiedlich wiedergeben. Alford ist der Ansicht, Jakobus habe eine Übersetzung benutzt, die einem anerkannten hebräischen Text sehr nahegekommen sein muss, sonst hätten die einstigen Pharisäer diese Stelle niemals als Begründung akzeptiert. »Nach diesem will ich zurückkehren« (V. 16). Jakobus hatte schon erklärt, dass Gottes Heilsplan für dieses Zeitalter lautete, die Tür des Glaubens für die »Nationen« zu öffnen. Nicht alle würden erlöst werden, sondern er würde aus ihnen »ein Volk … nehmen für seinen Namen«. Nun fügte Jakobus hinzu, dass Gott »nach diesem … zurückkehren und … die Hütte Davids … wiederaufbauen« werde, »die verfallen ist«. »Die Hütte Davids« ist ein bildlicher Ausdruck, der für sein Haus oder seine Familie steht. Ihre Wiederherstellung ist ein Typus, der auf die zukünftige Wiederherstellung der königlichen Familie und ihre Wiedereinsetzung auf den Thron Davids verweist, den dann Christus als König einnehmen wird. Israel wird dann zur Segensquelle für die ganze Welt werden. »Die übrigen Menschen« werden »den Herrn suchen«. Ja, es werden »alle Nationen [sein], über die« sein »Name angerufen ist«. Das Zitat bei Amos schließt mit der Feststellung, dass dies die Worte des Herrn sind, »der dieses tut«. Weil es nun Gottes gegenwärtiges Ziel ist, »aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen«, warnte Jakobus davor, die Heiden zu »beunruhigen«, indem man sie wieder unter das Gesetz des Mose stellte. Für ihre Errettung ist nur der Glaube notwendig.
15,20 Doch er schlug vor, man solle in einem Schreiben an die Gemeinde in Antiochia die Heiligen anweisen, »dass sie sich enthalten von den Verunreinigungen der Götzen und von der Unzucht und vom Erstickten und vom Blut«. Das scheint zunächst so, als ob sich Jakobus hier selbst widersprechen würde. War das nicht eine Form von Gesetzlichkeit? Wollte er die Heidenchristen nicht doch wieder unter das Gesetz stellen? Die Antwort lautet, dass dieser Rat nichts mit der Errettung zu tun hatte. Dieses Thema hatte er schon behandelt. Doch dieser Rat hatte mit der Gemeinschaft zwischen jüdischen und heidnischen Gläubigen zu tun. Der Gehorsam gegenüber diesen Anweisungen war zwar keine Bedingung für die Erlösung, aber doch von großer Bedeutung, um scharfe Trennungen in der Gemeinde der Frühzeit zu verhindern. Wovon sie sich fernhalten sollten: 1. »Von Verunreinigungen der Götzen«. In Vers 29 wird dies erklärt: Es handelt sich um Speisen, die zuvor den Götzen geopfert worden sind. Wenn heidnische Gläubige weiterhin diese Speisen essen würden, dann könnten sich die jüdischen Geschwister ernsthaft fragen, ob sie denn ihren Götzendienst aufgegeben haben. Obwohl heidnische Christen die Freiheit hatten, solche Speisen zu essen, hätte sich dieses Verhalten als Stolperstein für schwächere jüdische Geschwister erweisen können. Aus diesem Grund war es falsch.
2. »Von der Unzucht«.62 Das war die Hauptsünde der Heiden. Es war deshalb besonders wichtig, dass Jakobus diese Sünde mit den anderen Themen erwähnt. Nirgends in der Bibel wird das Gebot, sich »von der Unzucht« zu enthalten, aufgehoben. Es ist in allen Zeitaltern gültig.
3. »Vom Erstickten«. Dieses Verbot geht auf den Bund Gottes mit Noah nach der Flut zurück (1. Mose 9,4). Deshalb ist es eine Anordnung für alle Menschen und nicht nur für Israel. 4. »Vom Blut«. Das bezieht sich auf 1. Mo  se  9,4  und  steht  demnach  vor dem mosaischen Gesetz. Weil der Bund mit Noah nie aufgehoben wurde, sind wir der Überzeugung, dass diese Anordnungen auch noch heute gelten.
15,21 Dies erklärt, warum der Rat von Vers 20 gegeben wurde. »In jeder Stadt« gab es Juden, die immer gelehrt worden waren, dass es falsch war, die Dinge zu tun, die Jakobus verboten hatte. Es war nicht nur falsch, unzüchtig zu leben. Vielmehr war es auch falsch, den Götzen geopferte Speisen und Fleisch von erstickten Tieren zu essen sowie Blut zu genießen. Warum sollten die Heiden Gott erzürnen, weil sie Unzucht trieben und bei Menschen Anstoß erregten, indem sie die anderen erwähnten Dinge taten?
15,22 Damit war eindeutig entschieden, dass Heiden sich nicht beschneiden lassen mussten, um errettet zu werden. Der nächste Schritt bestand darin, einen offiziellen Brief an die Gemeinde »nach Antiochia zu senden«. Den »Aposteln« und »Ältesten« in Jerusalem erschien es »samt der ganzen Gemeinde gut, … Judas mit den Beinamen Barsabbas und Silas, führende Männer unter den Brüdern«, zu bestimmen, um »mit Paulus und Barnabas nach Antiochia« zu reisen. Dieser »Silas« ist derselbe, der später ein Reisebegleiter des Paulus wurde und in den Briefen als Silvanus erwähnt wird.
15,23-29 Hier wird nun der Inhalt des Briefes wiedergegeben. Man beachte, dass die falschen Brüder, die von Jerusalem nach Antiochia gekommen waren, nie in der Vollmacht oder mit Zustimmung der Gemeinde in Jerusalem gehandelt hatten (V. 24).
Die beständige Abhängigkeit der Jünger vom »Heiligen Geist« wird in Vers 28 vorausgesetzt: »Denn es hat dem Heiligen Geist und uns gut geschienen …« Jemand hat hier einmal von der »Vorrangstellung des Heiligen Geistes« gesprochen.
15,30.31 Als der »Brief« aus Jerusalem in der Gemeinde in »Antiochia … gelesen« worden war, war er für sie ein großer »Trost«. Die Jünger dort wussten nun, dass Gott sie als Heiden erlöst hatte, und nicht deshalb, weil sie zunächst Juden wurden.
15,32.33 »Judas und Silas« blieben noch da, um in einigen Zusammenkünften den Brüdern zu dienen, indem sie diese »ermunterten« und im Glauben »stärkt en«. Nach einer längeren Zeit der frohen Gemeinschaft und des Dienstes in Antiochia kehrten sie nach Jerusalem zurück.
15,34 Vers 34 erscheint weder in den ältesten Manuskripten noch in denen des Mehrheitstextes (s. Fußnote revidierte Elberfelder Bibel). Offensichtlich waren einige Abschreiber der Überzeugung, dass es hilfreich sein könnte, den scheinbaren Widerspruch zwischen den Versen 33 und 40 zu erklären. In Vers 33 sieht es so aus, als ob Silas nach Jerusalem zurückkehrte. Doch dann sehen wir in Vers 40, wie er Paulus auf seiner zweiten Missionsreise begleitete. Die offensichtliche Lösung ist jedoch, dass Silas zwar nach Jerusalem zurückkehrte, aber Paulus dann mit ihm wieder Kontakt aufnahm und ihn bat, ihn auf seiner Reise zu begleiten.
15,35 »Paulus … und Barnabas« blieben zu diesem Zeitpunkt »in Antiochia und lehrten und verkündigten … das Wort des Herrn«. Es gab »viele andere« Knechte des Herrn, die der Gemeinde dienten. Die Ereignisse, die in Galater 2,11-14 beschrieben werden, fallen wahrscheinlich in diese Zeit. F. Die zweite Missionsreise des Paulus: Kleinasien und Griechenland (15,36 – 18,22)
15,36-41 Nun war die Zeit reif für die zweite Missionsreise. »Paulus« schnitt das Thema bei »Barnabas« an und schlug vor, dass sie nochmals die Städte besuchen sollten, in denen sie »das Wort des Herrn verkündigt« hatten. Als »Barnabas« darauf bestand, dass »Markus«, sein Neffe, sie begleiten solle, war »Paulus« ganz energisch dagegen. Er erinnerte sich nur zu genau daran, wie Markus »aus Pamphylien von ihnen gewichen« war, und zweifellos fürchtete er eine Wiederholung. Die »Erbitterung« zwischen Paulus und Barnabas wurde so schlimm, dass diese beiden ehrenhaften Diener des Herrn »sich voneinander trennten und Barnabas den Markus mitnahm und nach Zypern segelte«. Dort war er geboren, und das war auch die erste Station auf der ersten Missionsreise gewesen. »Paulus aber wählte sich Silas und … durchzog … Syrien und Zilizien und befestigte die Gemeinden«.
Die Verse 36 und 41 geben uns zusätzlichen Einblick in den wahren Hirtengeist des »Paulus«. Seine liebevolle Sorge für das Volk Gottes wurde einmal von einem bekannten Lehrer wiedergegeben, der sagte, dass er wohl eher einen Heiligen im Werk des Dienstes vervollkommnen als Hunderte von Menschen zu einem Leben mit Jesus Christus rufen wollte.
An diesem Punkt erhebt sich unausweichlich die Frage: »Wer hat hier recht, Paulus oder Barnabas?« Sicherlich lagen die Fehler auf beiden Seiten. Vielleicht ließ es Barnabas zu, dass seine Urteilskraft durch seine natürliche Verbindung mit Markus getrübt wurde. In Vers 39 heißt es, dass »eine Erbitterung« zwischen Paulus und Barnabas entstanden war. »Unter den Stolzen ist immer Hader« (Spr 13,10; LU 1912). Deshalb waren sie wohl beide in dieser Angelegenheit des Stolzes schuldig. Diejenigen, die meinen, Paulus hatte recht, stellen heraus, dass Barnabas an diesem Punkt aus dem Blickfeld der Apostelgeschichte entschwindet. Auch wurden »Paulus« und »Silas … von den Brüdern der Gnade Gottes befohlen«, doch von Barnabas und Johannes Markus wird dies nicht ausgesagt. Jedenfalls ist es ermutigend zu sehen, dass Markus sich schließlich doch noch bewährte und das Vertrauen des Paulus auch völlig wiedergewann (2. Tim 4,11).
Exkurs zur Eigenständigkeit der Ortsgemeinde
Das Apostelkonzil in Jerusalem scheint auf den ersten Blick eine Art konfessionelles höchstes Gericht gewesen zu sein. Doch die Tatsachen lagen anders. Jede Ortsgemeinde in der ersten Christenheit war eigenständig, das heißt, sie nahm ihre Leitungsaufgaben selbst wahr. Es gab keinen Gemeindebund, dessen Zentrale gegenüber den Ortsgemeinden weisungsbefugt gewesen wäre. Es gab keine Denominationen und daher auch keine Zentralen der jeweiligen Glaubensgemeinschaften. Jede Ortsgemeinde war direkt dem Herrn verantwortlich. Dies wird in Offenbarung 1,13 dargestellt, wo man den Herrn inmitten von sieben goldenen Leuchtern stehen sieht. Diese stellen die sieben Gemeinden Kleinasiens dar. Wichtig ist hier, dass es keine irdische Leitung zwischen den einzelnen Gemeinden und dem himmlischen Haupt der Gemeinde, dem Herrn Jesus, gab. Jede Gemeinde wurde unmittelbar von ihm geleitet. Warum ist das so wichtig? Erstens wird so die Ausbreitung von Irrtümern verhindert. Wenn Gemeinden unter einer gemeinsamen Kontrollinstanz stehen, dann können die Kräfte des Liberalismus, des Rationalismus und anderer Irrlehren die gesamte Gruppe dadurch erobern, indem sie einfach die entscheidenden Stellen in der Zentrale der jeweiligen Denomination und deren Bildungseinrichtungen besetzen. Wo die Gemeinden jedoch keinem übergeordneten Verband angehören, muss der Feind den Kampf gegen eine große Anzahl kleiner Gruppen führen, die eigenständig sind. Zweitens ist die Eigenständigkeit der Ortsgemeinde ein wichtiger Schutz, wenn eine feindlich eingestellte Obrigkeit die Macht ausübt. Wenn die Gemeinden einem Bund angehören, kann eine tot alitäre Obrigkeit sie leicht beherrschen, indem sie die wenigen Leiter in der Zentrale kontrolliert. Wenn die Gemeinden sich jedoch weigern, irgendeine zentrale menschliche Autorität anzuerkennen, dann können sie in Zeiten der Unterd rückung einfacher untertauchen.
Viele heutige Regierungen, ob sie nun in Demokratien oder Diktaturen an der Macht sind, versuchen, die Vereinigung von kleinen, eigenständigen Gemeinden zu erwirken. Sie wollen ihren Worten zufolge nicht mit vielen kleinen Ortsgemeinden Kontakte unterhalten, sondern einen Dachverband als Ansprechpartner haben, der sie alle vertritt. Regierungen freier Staaten versuchen, auf diese Vereinigungen hinzuwirken, indem sie ihnen gewisse Vorrechte anbieten. Andere Regierungen versuchen, die Vere inigung durch Gesetze zu erzwingen, wie Hitler dies im Dritten Reich getan hat. In jedem Fall verlieren die Gemeinden, die dem Druck nachgeben, ihren schriftgemäßen Charakter sowie ihre Fähigkeit, dem Modernismus (eine generelle Strömung des 19. und 20. Jahrhunderts, die das hist orische Christentum mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft und Philosophie zu verbinden suchte; Anm. d. Übers.) zu widerstehen und in Zeiten der Verfolgung die Gemeinde im Geheimen weiterzuführen. Einige könnten einwenden, dass die Gemeinden in der Apostelgeschichte eben doch einer Zentralautorität unterstanden, nämlich dem Rat in Jerusalem, über den wir soeben nachgedacht haben. Doch eine sorgfältige Analyse des Abschnitts wird zeigen, dass dies keine offizielle Einrichtung war, der bestimmende Funktionen zukamen. Es war einfach eine Versammlung von Aposteln und Ältesten, um einen Rat zu erteilen. Der Rat forderte die Männer von Antiochia nicht auf zu kommen, sondern diese hatten sich entschieden, die Männer in Jerusalem um Rat zu fragen. Die Entscheidung des Rates war für die Gemeinden nicht bindend, sondern einfach eine erklärte Einsicht, zu dem die gesamte Gruppe gekommen war.
Die Geschichte der Kirche spricht für sich selbst. Wo immer Gemeinden unter eine Zentralverwaltung gestellt wurden, wurde ihr Niedergang beschleunigt. Das reinste Zeugnis für Gott ist von den Gemeinden aufrechterhalten worden, die sich außerhalb menschlicher Herrschaft bewegen.
16,1.2 Die Erinnerungen müssen Paulus regelrecht überfallen haben, als er »nach Derbe und Lystra« kam. Die Erinnerung an seine Steinigung in »Lystra« hätte natürlich Bedenken hervorrufen können, überhaupt dorthin zurückzukehren. Doch der Apostel wusste, dass Gott sein Volk in diesem Gebiet hatte, und die Gefahr für seine persönliche Sicherheit durfte ihn nicht hindern. Wie schon weiter oben erwähnt könnte »Timotheus« sich während des ersten Besuches des Apostels in »Lystra« (offensichtlich die Heimatstadt des Timotheus) bekehrt haben. Seine Mutter Eunike und seine Großmutter Lois waren beide  »jüdische«  Gläubige  (2. Tim  1,5). Sein Vater war »griechisch«, und es kann sein, dass er zu dieser Zeit schon verstorben war.
Es erfreute das Herz des Paulus, »von den Brüdern in Lystra und Ikonion« zu hören, dass Timotheus im Glauben gute Fortschritte machte. Paulus lud ihn ein, ihn auf seiner Missionsreise zu begleiten. Wir tun gut daran festzuhalten, dass die ersten Apostel nicht nur zu zweit arbeiteten, sondern auch noch jüngere Brüder (Markus und Timotheus) mitnahmen, um sie im praktischen Dienst auszubilden. Welch ein Vorrecht war es für diese jungen Männer, mit solch reifen, langjährigen Mitarbeitern als christliche Missionare in einer Jochgemeinschaft stehen zu dürfen!
16,3 Ehe Paulus abreiste, »beschnitt« er Timotheus. Warum tat er das, wo er sich doch einige Zeit vorher standhaft geweigert hatte, Titus beschneiden zu lassen (Gal 2,1-5)? Die Antwort lautet einfach, dass es im Falle des Titus um grundsätzliche christliche Lehren ging, während das hier nicht der Fall war. Die falschen Lehrer hatten in Galatien darauf bestanden, dass Männer mit einer vollständig heidnischen Abstammung wie Titus beschnitten werden müssten, um gerettet zu werden. Paulus erkannte dar in eine Leugnung der Vollkommenheit des Erlösungswerkes Christi und wollte darum nicht nachgeben. Hier nun lag der Fall völlig anders. Die Menschen dieses Gebietes wussten, dass Timotheus von einer jüdischen Mutter abstammte. »Paulus«, Silas und Timotheus wollten auf eine Evangelisationsreise gehen. Sie würden zunächst immer zuerst den Kontakt zu Juden suchen. Wenn diese »Juden« nun erfahren würden, dass Timotheus unbeschnitten sei, könnte das dazu führen, dass sie sich weigerten, weiter zuzuhören. Wenn er jedoch beschnitten war, dann konnten sie in diesem Punkt keinen Anstoß nehmen. Da es bloß um etwas moralisches Belangloses und nicht um Lehrmäßiges ging, unterzog Paulus Timotheus dieser jüdischen Vorschrift. Er wurde allen alles, damit er auf etliche Weise einige erretten könnte (s. 1. Kor 9,19-23). Die Auslegung, dass Paulus Timotheus beschnitt, damit er bei den Juden Zuhörer für das Evangelium gewinnen könnte, wird durch die Worte angedeutet: »… und beschnitt ihn um der Juden willen, … denn sie kannten alle seinen Vater, dass er ein Grieche war.«
16,4.5 Als die drei Missionare »die Städte« Lykaoniens »durchzogen, teilten sie« den Gemeinden »die Beschlüsse mit, die von den Aposteln und Ältesten in Jerusalem festgesetzt worden waren«. Diese »Beschlüsse« lauteten in Kurzform folgendermaßen:
1. Zur Erlösung ist nur der Glaube notwendig. Beschneidung oder das Halten des Gesetzes sollte dem Glauben nicht als Bedingung für die Erlösung hinzugefügt werden.
2. Sexuelle Sünden waren für alle Zeiten und für alle Gläubigen verboten, doch war diese Mahnung wahrscheinlich in besonderer Weise an bekehrte Heiden gerichtet, weil darin ihre Hauptsünde bestand (und auch heute noch besteht).
3. Fleisch, das Götzen geopfert worden war, Fleisch von erstickten Tieren und Blut waren als Speisen verboten. «Dabei ging es nicht darum, dass es heilsnotwendig gewesen wäre, sich davon zu enthalten, sondern darum, die Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen zu erleichtern. Einige dieser Anweisungen wurden in der Folge widerrufen (s. 1. Kor 8 – 10; 1. Tim 4,4.5). Als Ergebnis des Dienstes dieser Männer wurden »die Gemeinden … im Glauben befestigt und nahmen täglich an Zahl zu«.
16,6-8 Diese Verse sind sehr wichtig, weil sie die Oberaufsicht und Leitung des Heiligen Geistes hinsichtlich der Missionsstrategie der Apostel zeigen. Nach ihrem Besuch in den Gemeinden von Phrygien und Galatien hatten sie daran gedacht, in die Provinz Asien im westlichen Teil Kleinasiens zu reisen, doch »der Heilige Geist« verbot es ihnen. Uns wird dafür kein Grund genannt, einige haben als Erklärung vorgeschlagen, dass diese Region vielleicht im göttlichen Ratschluss Petrus vorbehalten war (s. 1. Petr 1,1). Jedenfalls reisten sie nun nordwestlich in den Bezirk von »Mysien«. Das gehörte zwar zur Provinz Asien, doch offensichtlich predigten sie dort nicht. Als sie in einem nächsten Schritt versuchten, nordöstlich »nach Bithynien zu reisen, … erlaubte es ihnen … der Geist Jesu … nicht«. Deshalb reisten sie direkt nach Westen in die Küstenstadt »Troas«. Von dort aus konnten die Missionare über die Ägäis bis nach Griechenland, bis zur Schwelle des antiken Europa, sehen. Ryrie schreibt: Asien brauchte das Evangelium, doch dies war nicht Gottes Zeitpunkt. Not begründete nicht den Ruf dieser Missionare. Sie waren gerade aus dem Osten gekommen, sie durften weder südlich noch nördlich reisen, doch sie nahmen nicht an, dass der Herr sie nach Westen führen wollte. Sie warteten auf seine ausdrücklichen Anweisungen. Logik allein ist nie die Grundlage für einen Ruf.63
16,9 In einem nächtlichen »Gesicht« sah Paulus einen »mazedonischen Mann«, der ihn rief, hinüberzukommen und zu helfen. »Mazedonien« war der Nordteil Griechenlands, genau westlich von Troas gelegen. Ob ihm dies bewusst war oder nicht, »Mazedonien« (letztlich ganz Europa!) brauchte das Evangelium der erlösenden Gnade. Der Herr hatte die Türen in Asien geschlossen, damit seine Diener die Gute Nachricht nach Europa tragen sollten. Stalker zeichnet hier folgendes Bild:
[Der Mann aus Mazedonien] steht für Europa, und sein Hilferuf dafür, wie nötig Europa Christus brauchte. Paulus erkannte in der Vision eine göttliche Führung, und schon beim nächsten Sonnenuntergang, der den Hellespont in sein goldenes Licht tauchte, war die Gestalt des Paulus an Deck eines Schiffes zu sehen, dessen Bug sich auf die Küste Mazedoniens zubewegte.64
16,10 Wir haben hier nun einen auffälligen Wechsel bei der Wahl des Personalpronomens von er zu wir. Man nimmt allgemein an, dass Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, zu dieser Zeit zu Paulus, Silas und Timotheus gestoßen ist. Von hier an zeichnet er die Ereignisse als Augenzeuge auf.
Exkurs zum Thema göttliche Führung
Um auf Erden effektiv arbeiten zu können, war die frühe Gemeinde abhängig von der Leitung durch ihr Haupt im Himmel. Doch wie machte der Herr Jesus seinen Willen seinen Dienern bekannt? Er hatte ihnen seine allgemeine Vorgehensweise mitgeteilt, bevor er in den Himmel aufgenommen wurde, indem er sagte: »Ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde« (1,8).
Nach seiner Himmelfahrt machte er ihnen seinen Willen auf verschiedene Weise bekannt.
Petrus und die anderen Jünger wurden durch die alttestamentlichen Schriften (Ps 69,26) dazu geführt, einen Nachfolger für Judas zu wählen (1,15-26). Mindestens fünfmal führte der Herr Menschen durch Gesichte – Hananias (9,10-16), Kornelius (10,3), Petrus bas nach Jerusalem (15,2). Judas und Silas wurden zusammen mit Barnabas und Paulus von der Gemeinde in Jerusalem ausgesandt (15,25-27). Paulus und Silas wurden durch die Brüder der Gnade Gottes anbefohlen, als sie auf ihre zweite Missionsreise gingen (15,40). Paulus nahm Timotheus mit, als er Lystra verließ (16,3). Die Brüder in Thessalonich sandten Paulus und Silas nach Beröa, weil ihnen Gewaltanwendung drohte (17,10). Die Brüder in Beröa wiederum sandten Paulus aus demselben Grund weg (17,14.15). Schließlich sandte Paulus Timotheus und Erastus nach Mazedonien (19,22). Zusätzlich zu den oben erwähnten Möglichkeiten der Leitung gibt es einige Berichte, in denen die Menschen offensichtlich direkt Informationen von Gott über seinen Willen erhielten. Ein Engel des Herrn führte Philippus zum Kämmerer aus Äthiopien (8,26). Der Heilige Geist sprach zu den Propheten und Lehrern in Antiochia, als sie fasteten und beteten (13,1.2). Paulus und Timotheus durften auf Weisung des Heiligen Geistes das Wort nicht in Asien predigen (16,6). Später versuchten sie, nach Bithynien zu reisen, doch der Heilige Geist erlaubte es ihnen nicht (16,7).
Zusammenfassend kann man also sagen: Die ersten Christen wurden geführt durch:
1. die Heilige Schrift, 2. Gesichte und Prophezeiungen, 3. Umstände,
4. den Rat und die Anregung anderer Christen,
5. durch direkte Mitteilung des Willens Gottes, vielleicht auf eine innere, subjektive Art.
16,11.12 Als sie »von Troas« in Richtung Nordwesten fuhren, ankerten die un ermüdlichen Botschafter Christi zunächst für eine Nacht vor der Insel »Samothrake«. Am nächsten Tag erreichten sie das Festland im Hafen von »Neapolis«, etwa 200 Kilometer von Troas entfernt. Dann reisten sie wenige Kilometer landeinwärts bis nach »Philippi, das die erste Stadt jenes Teiles von Mazedonien« war, »eine Kolonie«.
16,13-15 Offensichtlich gab es in Philippi keine Synagoge, doch Paulus und seine Begleiter hörten, dass sich einige Juden »am Tag des Sabbats« vor der Stadt »an einem Fluss« versammelten. Als sie die Stelle erreichten, fanden sie einige »Frauen« beim Beten, davon »eine Frau mit Namen Lydia«. Sie war wahrscheinlich zum Judentum übergetreten. Ursprünglich stammte sie »aus der Stadt Thyatira« in Lydien im Westen Kleinasiens. Sie war nach Philippi gezogen, wo sie purpurgefärbten Stoff verkaufte. Thyatira war für seine Färbereien bekannt. Sie öffnete nicht nur ihre Ohren für das Evangelium, sondern auch ihr »Herz«. Nachdem sie den Herrn Jesus angenommen hatte, wurden »sie … und ihr Haus … getauft«. Die Mitglieder ihres Hauses hatten sich natürlich auch bekehrt, ehe sie getauft wurden. Es wird nicht erwähnt, dass Lydia verheiratet gewesen wäre, doch ihr »Haus« könnte aus den Bediensteten bestanden haben. »Lydia« wurde nicht durch ihre guten Werke gerettet, sondern sie wurde gerettet, um sie tun zu können. Sie bewies die Echtheit ihres Glaubens, indem sie Paulus, Silas, Lukas und Timotheus ihr Haus öffnete.
16,16-18 Als Paulus und seine Begleiter an einem anderen Tag zu der Gebetsstätte gingen, begegnete ihnen »eine Magd … die einen Wahrsagegeist hatte«. Sie war in der Lage, die Zukunft vorherzusehen und andere erstaunliche Offenbarungen weiterzugeben, weil sie dämonisch besessen war. Auf diese Art und Weise »brachte« sie »ihren Herren« ein beträchtliches Einkommen. Als ihr die christlichen Missionare begegneten, »folgte« sie ihnen an diesem und an den kommenden Tagen und schrie: »Diese Menschen sind Knechte Gottes, des Höchsten, die euch den Weg des Heils verkündigen.« Was sie sagte, war wahr, doch Paulus hätte nie das Zeugnis eines Dämons angenommen. Er war auch betrübt über den schlimmen Zustand der Magd, die so versklavt war. Deshalb befahl er dem Dämon im allmächtigen »Namen Christi, von ihr auszufahren«. Sofort war sie von dieser schrecklichen Gebundenheit befreit und wurde zu einem geistig gesunden Menschen.
Exkurs zum Thema Wunder
Viele Wunder sind in den Bericht der Apostelgeschichte eingewoben. Nachfolgend sind einige der bedeutenderen aufgeführt:
Die wunderbare Gabe der Sprachen (2,4; 10,46; 19,6). Die Heilung des Lahmen an der Tempelpforte (3,7). Der plötzliche Tod von Hananias und Saphira als Form göttlichen Gerichts (5,5.10). – Die Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis (5,19). Sauls Begegnung mit dem verherrlichten Christus (9,3-6). – Die Heilung des Äneas durch Petrus (9,34). – Die Auferweckung der Tabita (9,40). – Das Gesicht des Petrus von dem Tuch aus dem Himmel (10,11). Die Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis (12,7-10). Die Tötung des Herodes durch einen Engel (12,23). Das Gericht der Blindheit über Elymas, den Zauberer (13,11). – Die Heilung des Lahmen durch Paulus in Lystra (14,10). Die Wiederherstellung des Paulus nach seiner Steinigung in Lystra (14,19.20). – Das Gesicht des Paulus, in dem ein mazedonischer Mann um Hilfe ruft (16,9). – Die Austreibung des Wahrsagegeistes aus der Magd in Philippi (16,18). – Die Befreiung von Paulus und Silas aus dem Gefängnis in Philippi (16,26). – Die Auferweckung des Eutychus durch Paulus (20,10.11). – Die Prophezeiung des Agabus (21,10.11). – Die Tatsache, dass Paulus trotz eines Giftschlangenbisses auf Malta am Leben blieb (28,3-6). Die Heilung des fieberkranken Vaters des Publius (28,8). Weitere Krankenheilungen (28,9).
Zusätzlich zu diesen Wundern wird erwähnt, dass die Apostel Zeichen und Wunder vollbrachten (2,43), dass Stephanus große Wunder und Zeichen unter dem Volk tat (6,8), dass Philippus Wunder und Zeichen tat (8,6.13), dass Barnabas und Paulus Zeichen und Wunder taten (15,12) und dass Gott durch die Hand des Paulus Wunder tat (19,11). Wenn wir die Apostelgeschichte lesen, dann erhebt sich natürlich die Frage: »Können auch wir heute noch solche Wunder erwarten?« Wenn wir diese Frage beantworten, müssen wir zwei Extremhaltungen vermeiden. Das erste Extrem lautet, dass wir heute, weil Jesus gestern, heute und in Ewigkeit derselbe ist, dieselben Wunder erwarten sollten, wie sie in der Zeit der frühen Gemeinde vorkamen.
Das gegenteilige Extrem lautet, dass Wunder nur in dieser Anfangszeit stattfanden und wir kein Recht haben, sie auch heute noch zu erwarten. Es gilt natürlich, dass Jesus Christus gestern, heute und in Ewigkeit derselbe ist (Hebr 13,8). Doch das heißt nicht, dass sich das göttliche Vorgehen niemals ändern würde. Die Plagen, die Gott in Ägypten benutzte, wurden z. B. nie wiederholt. Seine Macht ist noch immer dieselbe. Er kann noch immer jede Art von Wunder vollbringen. Doch das bedeutet nicht, dass er in jedem Zeitalter dieselben Wunder tun muss. Er ist ein Gott der unendlich großen Vielfalt. Andererseits sollten wir Wunder nicht einfach abtun, indem wir sagen, sie wären nicht für das Zeitalter der Gemeinde bestimmt. Man macht es sich zu einfach, wenn man Wunder einfach in haushaltungsgemäße Schubladen steckt und sich mit einem Leben begnügt, das sich nie über das erhebt, was Menschen von Fleisch und Blut tun können. Unser Leben sollte von übernatürlicher Kraft bestimmt sein. Wir sollten ständig Gottes Hand im wunderbaren Zusammenspiel der Umstände erkennen. Wir sollten seine Führung auf wunderbare Weise erleben. In unserem Leben sollten Ereignisse zu finden sein, die jenseits der Wahrscheinlichkeitsgesetze liegen. Wir sollten uns bewusst sein, dass Gott Kontakte herstellt, Türen öffnet und über Widerstände siegt. Unser Dienst sollte vom Übernatürlichen geprägt sein. Wir sollten direkte Gebetserhörungen erkennen. Wenn wir anderen begegnen, dann sollten wir darin etwas sehen, das sich vor Gott ereignet. Wir sollten seine Hand bei Pannen, Verspätungen, Unfällen, Verlusten und scheinbaren Tragödien erkennen. Wir sollten außerordentliche Hilfe erfahren und uns der Kraft, des Mutes, des Friedens und der Weisheit bewusst sein, was alles jenseits unserer natürlichen Grenzen liegt. Wenn unser Leben nur auf der natürlichen Ebene stattfindet, stellt sich die Frage: Wie unterscheiden wir uns dann von Nichtchristen? Gottes Wille ist es, dass unser Leben vom Übernatürlichen gekennzeichnet ist und das Leben Jesu Christi durch uns fließt. Wenn das stattfindet, verschwinden Unmöglichkeiten. Geschlossene Türen öffnen sich, und uns wird ein überreiches Maß an Kraft zugeeignet werden. Dann werden wir mit dem Heiligen Geist erfüllt, und wenn Menschen in unsere Nähe kommen, dann werden sie die Funken dieses Geistes spüren.
16,19-24 Statt dankbar zu sein, dass diese junge Frau nicht mehr von Dämonen besessen war, ärgerten sich »ihre Herren« nur darüber, dass ihr »Gewinn« verl oren war. Deshalb »schleppten sie … Paulus und Silas … zu den Vorstehern« (den Prätoren) und erfanden Anklagen gegen sie. Im Grunde klagten sie diese an, aufrührerische »Juden« zu sein, die versuchten, die römische Lebensweise zu verändern. Der Mob reagierte aufgebracht, »und die Hauptleute rissen« Paulus und Silas »die Kleider ab und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen«. Nachdem sie auf diese Weise misshandelt worden waren, wurden die Missionare ins Gefängnis geworfen. Der »Kerkermeister« wurde noch einmal gesondert angewiesen, »sie sicher zu verwahren«. Er gehorchte sofort, indem er sie »in das innere Gefängnis« warf und »ihre Füße im Block« befestigte.
In diesem Abschnitt sehen wir zwei von Satans wichtigsten Methoden. Zuerst versuchte er, aus unlauteren Motiven heraus Freundschaft zu schließen, indem er die besessene Magd als Werkzeug gebrauchte. Als dies fehlschlug, ging er zu offener Verfolgung über. Grant sagt: »Vorgetäuschte Gemeinschaft oder Verfolgung – das sind die Alternativen: entweder unlauter motivierte Freundschaft oder offener Krieg.« A. J. Pollock kommentiert:
Wie muss der Teufel triumphiert haben, als er die Dienstlaufbahn dieser hingegebenen Knechte Christi so abrupt beendete. Doch er hat sich wie immer zu früh gefreut. In diesem Fall schlug das Ganze zu seinem Nachteil aus und förderte nur das Werk des Herrn.65
16,25 »Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobsangen Gott.« Ihre Freude war völlig unabhängig von ihren irdischen Umständen. Die Ursache ihres Singens war im Himmel droben zu finden. Morgan räumt ein: Jeder kann singen, wenn die Gefängnistüren offen stehen und er freigelassen wird. Der Christ jedoch kann auch im Gefängnis noch singen. Ich glaube, dass Paulus wahrscheinlich ein Solo hätte singen müssen, wenn ich an Silas’ Stelle gewesen wäre: Aber trotzdem erkenne ich die Herrlichkeit und Größe des Geistes, der sich über alle Schwierigkeiten und Begrenzungen erhebt.66
16,26 Als die anderen Gefangenen ihren Gebeten und Liedern zum Lob Gottes zuhörten, wurde das Gefängnis durch ein ungewöhnliches »Erdbeben« erschüttert. Es öffnete »alle Türen« und löste die »Fesseln« und Ketten, doch das Gebäude selbst wurde nicht beschädigt.
16,27.28 Als der »Kerkermeister« erwachte und sah, dass »die Türen des Gefängnisses geöffnet« waren, nahm er an, »die Gefangenen seien entflohen«. Da er sich bewusst war, dass dadurch sein Leben verwirkt war, »zog er das Schwert«, um Selbstmord zu begehen. »Paulus aber« versicherte ihm, dass das nicht nötig sei, da »alle« Gefangenen noch in ihren Zellen seien.
16,29.30 Nun erfasste den Kerkermeister eine neue Gemütsregung. Seine Angst, sein Amt und wahrscheinlich auch das Leben zu verlieren, bewirkte in ihm die tiefe Überzeugung seiner Sündhaftigkeit. Er fürchtete sich nun, Gott in seinen Sünden begegnen zu müssen. Er rief: »Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich errettet werde?«
Diese Frage muss jeder echten Bekehrung vorausgehen. Der Mensch muss wissen, dass er verloren ist, bevor er gerettet werden kann. Es ist verfrüht, wenn man einem Menschen den Weg zur Erlösung zeigt, ehe er aus tiefstem Herzen von sich sagen kann: »Ich verdiene wahrlich nichts anderes als die Hölle.«
16,31 Die einzigen Menschen, die im NT aufgefordert werden, an den Herrn Jesus Christus zu glauben, sind überführte Sünder. Nun, da der Kerkermeister wegen seiner Sünden innerlich völlig zerbrochen war, sagten ihm die Missionare: »Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus.« Nirgendwo wird angedeutet, dass seine Familie automatisch errettet werden würde, wenn er sich Christus anvertrauen würde. Gemeint ist, wenn er »an den Herrn Jesus« glaubte, würde er gerettet werden, und auch sein »Haus« würde auf die gleiche Weise »errettet« werden. »Glaube … und du wirst errettet, und dein Haus soll dasselbe tun.« Viele Menschen können heute scheinbar nur schwer verstehen, was glauben bedeutet. Doch wenn ein Sünder entdeckt, dass er verloren, hilflos, hoffnungslos und für die Hölle bestimmt ist, und wenn ihm dann gesagt wird, er solle an Christus als seinen Herrn und Heiland glauben, dann weiß er ganz genau, was das bedeutet. Es ist das Einzige, das er noch tun kann!
16,32-34 Nachdem Paulus und Silas auch die anderen Angehörigen seiner Hausgemeinschaft belehrt hatten, erwies der Kerkermeister die Echtheit seiner Bekehrung, indem er ihre Wunden »wusch« und sich ohne Zögern »taufen« ließ. Und er brachte »sie hinauf in sein Haus«, gab ihnen zu essen, und freute sich fortwährend »mit seinem Haus«, dass sie alle den Herrn kennengelernt hatten. Und wieder müssen wir erwähnen, dass uns an dieser Stelle kein Anlass gegeben wird zu glauben, hier wären Säuglinge oder Kleinkinder getauft worden. Alle waren alt genug, um »an Gott gläubig« zu werden.
16,35 Offensichtlich hatten sich »die Hauptleute« während der Nacht anders entschieden, weil sie am Morgen »die Rutenträger« (Liktoren) mit der Anweisung sandten, die beiden Gefangen freizulassen.
16,36.37 Als der Kerkermeister »Paulus« die gute Nachricht verkündete, weigerte sich der Apostel, das Gefängnis unter diesen Umständen zu verlassen. Obwohl Silas und er von Geburt Juden waren, besaßen sie beide auch das römische Bürgerrecht. Sie waren ungerechtfertigterweise vor Gericht gestellt und »geschlagen« worden. Dachten die Hauptleute wirklich, dass sie sich nun einfach wegschleichen würden, als ob sie schuldig wären und Schande auf sich geladen hätten? »Nicht doch!« Die Hauptleute sollten schon »selbst kommen« und die Gefangenen freilassen.
16,38-40 Die Hauptleute kamen und entschuldigten sich sogar. Sie baten Paulus und Silas inständig, »dass sie aus der Stadt gehen« sollten, ohne weiteres Aufsehen zu erregen. Mit der Würde von Königskindern gingen die Knechte des Herrn »aus dem Gefängnis heraus«, doch verließen sie die Stadt nicht sofort. Zunächst gingen sie in das Haus der »Lydia«, besprachen sich mit den »Brüdern« und »trösteten sie« (LU 1984). Wie wundervoll! Diejenigen, die Trost hätten brauchen können, trösteten nun selbst andere. Als ihr Auftrag in Philippi beendet war, »zogen« sie als voll Rehabilitierte aus der Stadt.
17,1 Nachdem sie Philippi verlassen hatten, reisten Paulus und Silas 53 Kilometer südwestlich nach »Amphipolis«. Ihr nächster Aufenthalt war »Apollonia«, das nochmals knapp 50 km südwestlich lag. Von dort aus reisten sie weitere 60 km westwärts bis »nach Thessalonich«. Diese Stadt befand sich in strategisch günstiger Lage an mindestens zwei Handelsstraßen, sodass sie sich zu einem hervorragenden Geschäftszentrum entwickelt hatte. Der Heilige Geist wählte sie als Basis, von der aus sich das Evangelium in viele Richtungen ausbreiten konnte. Heute heißt die Stadt Thessaloniki. Lukas könnte in Philippi geblieben sein, als Paulus und Silas dort weggingen, um neues Gebiet für den Herrn einzunehmen. Das liegt nahe, weil wir hier im Bericht wieder einen Wechsel von der ersten Person Plural (wir) zur dritten Person (sie) haben.
17,2.3 Wie es ihre »Gewohnheit« war, suchten die Missionare zunächst eine jüdische Synagoge auf und predigten dort das Evangelium. »An drei Sabbaten«67 erklärte Paulus das AT und legte überzeugend dessen Vorhersage dar, »dass der Christus leiden und aus den Toten auferstehen musste«. Als er dies »aus den Schriften« bewiesen hatte, fuhr Paulus fort, indem er erklärte, dass »Jesus« von Nazareth dieser lang erwartete Messias war. Schließlich hatte er gelitten, war gestorben und aus den Toten auferstanden. Bewies das nicht, dass er »der Christus« Gottes ist?
17,4-7 »Einige« Juden »ließen sich überzeugen«, und schlossen sich Paulus und Silas als christliche Gläubige an. Auch viele der griechischen Proselyten »und nicht wenige der vornehmsten Frauen« der Stadt bekehrten sich. Das ließ die ungläubigen »Juden« zu entschiedenen Maßnahmen schreiten. Sie wiegelten »Männer vom Gassenpöbel« auf, »brachten die Stadt in Aufruhr« und belagerten »das Haus Jasons«, in dem »Paulus und Silas« zu Gast gewesen waren. »Als sie« die beiden dort nicht fanden, »schleppten sie Jason und einige« gläubige »Brüder vor die Obersten der Stadt« (Politarchen). Ohne es zu wollen, zollten sie Paulus und Silas einen großen Tribut, indem sie diese als Männer beschrieben, »die den Erdkreis aufgewiegelt haben«. Dann klagten sie diese an, die Herrschaft »des Kaisers« zu bedrohen, weil sie predigten, »dass ein anderer König sei: Jesus«. Dass die Juden so eifrige Verfechter der Herrschaft »des Kaisers« waren, erweckte – gelinde gesagt – einen seltsamen Eindruck. Normalerweise hatten sie nämlich nur wenig oder gar nichts für das Römische Reich übrig.
Aber stimmte ihre Anklage? Zweifellos hatten sie gehört, wie Paulus von der Wiederkunft Jesu geredet hatte, um über die ganze Erde zu herrschen. Doch dies stellte keine unmittelbare Gefahr für den Kaiser dar, weil Christus erst wiederkommen würde, um sein Reich aufzurichten, wenn Israel als Volk Buße getan hätte.
17,8.9 Die Politarchen waren durch diese Berichte »beunruhigt«. Sie verlangten »von Jason« und den Seinen eine Bürgschaft. Sie fügten wahrscheinlich noch die Anweisung hinzu, dass die Gäste die Stadt zu verlassen hätten. Dann »ließen sie sie frei«.
17,10-12 »Die Brüder« in Thessalonich entschieden sich, dass es wohl besser wäre, wenn die Prediger nun die Stadt verlassen würden, und so »sandten« sie diese »sogleich in der Nacht … nach Beröa«. Diese unermüdlichen und unerschütterlichen Evangelisten »gingen« geradewegs wieder »in die Synagoge der Juden«. Als sie dort das Evangelium predigten, zeigten die Juden ihre Offenheit, indem sie in den »Schriften« des AT alles überprüften, untersuchten und verglichen. Sie zeichneten sich durch eine schlichte und belehrbare Haltung aus und waren entschlossen, alle Lehren anhand der Heiligen »Schriften« zu hinterfragen. »Viele« dieser Juden »glaubten«. Und es gab auch eine größere Anzahl an Bekehrungen bei den heidnischen »vornehmen Frauen und Männern«.
17,13.14. Als die Nachricht nach Thessalonich gelangte, dass »Paulus« und Silas in »Beröa« ihren Dienst weiterführten, machten sich »die Juden von Thessalonich« auf den Weg »dorthin und beunruhigten und erregten die Volksmengen«. »Die Brüder« sandten daraufhin »Paulus« an die Küste, wobei ihn eine Abordnung der Gläubigen geleitete. Sie reisten wahrscheinlich bis nach Dion und segelten von dort aus nach Piräus, der Hafenstadt von Athen. »Silas und Timotheus« blieben in Beröa.
17,15 Von Beröa bis »Athen« war es eine lange Reise. Es zeigte die wahre Hingabe der Christen aus Beröa, dass einige der Brüder bereit waren, »Paulus« auf dem ganzen Weg zu begleiten. Als nun die Zeit gekommen war, ihn in »Athen« zu verlassen, sandte er durch sie an »Silas und Timotheus Befehl …, dass sie sobald wie möglich zu ihm kommen sollten«.
17,16 »Während aber Paulus sie in Athen erwartete«, bedrückte ihn der Götzendienst der »Stadt« sehr. Obwohl Athen als Zentrum der Kultur, der Bildung und der Kunst galt, war Paulus nicht im Geringsten daran interessiert. Er verschwendete keine Zeit mit Besichtigungstouren. Arnot kommentiert:
Es ging nicht darum, dass er Marmorstatuen weniger geschätzt hätte, lebende Menschen aber mehr … Er ist nicht der schwache, sondern der starke Mensch, der unsterblichen Seelen mehr Ewigkeitswert beimisst als den Kunstwerken … In den Augen des Paulus war Götzendienst nicht bewunderungswürdig und harmlos, sondern äußerst schlimm.68
17,17.18 »Er unterredete sich nun in der Synagoge mit den Juden und mit den Anbetern«, während er »auf dem Markt« allen predigte, die gerade zuhören wollten. Auf diese Weise kam er mit einigen »epikureischen und stoischen Philosophen« in Kontakt. Die Epikureer waren Anhänger eines Philosophen namens Epikur, der lehrte, dass sinnliches Vergnügen und nicht das Streben nach Erkenntnis das Ziel des Lebens ist. Die Stoiker waren Pantheisten, die glaubten, Weisheit sei darin zu finden, dass man sich aller extremen Gefühle enthalte und unbewegt von Freude oder Trauer sich willentlich dem Naturgesetz unterordne. Als die Anhänger dieser beiden Philosophenschulen Paulus hörten, meinten sie, er sein ein »Schwätzer« (im Gr. ein körnerpickender Vogel wie die Saatkrähe) und »ein Verkündiger fremder Götter … weil er das Evangelium von Jesus und der Auferstehung« verkündigte.
17,19-21 »Sie ergriffen ihn« und »führten ihn zum Areopag«, einer juristischen Instanz (ähnlich einem obersten Gerichtshof), die sich auf dem Areshügel (Areopag) versammelte. In diesem besonderen Fall ging es jedoch nicht um eine Verhandlung, sondern um eine Anhörung, in der Paulus die Gelegenheit gegeben werden sollte, seine Lehre vor den Mitgliedern des Gerichts und der Volksmenge darzulegen. Das wird in Vers 21 ein wenig erläutert. »Alle Athener« standen gern umher und führten Gespräche, um andererseits auch gern zuzuhören. Sie schienen unbegrenzte Zeit dafür zu haben.
17,22 Als »Paulus« nun »mitten auf dem Areopag … stand«, hielt er seine berühmte Predigt. Bei deren Betrachtung muss man sich daran erinnern, dass er zu Heiden sprach, nicht zu Juden. Sie hatten keinerlei Kenntnisse des AT, deshalb musste er ein für alle interessantes Thema finden, womit er seine Predigt beginnen konnte. Er begann mit der Beobachtung, dass die Athener »in jeder Beziehung den Göttern sehr ergeben« waren. Wie sehr die Athener ihre Götter verehrten, kann man gut anhand der Aussage erkennen, wonach es in dieser Stadt mehr Götzenbilder gebe als Menschen!
17,23 Als Paulus an die Götzen dachte, die er gesehen hatte, erinnerte er sich an »einen Altar«, »an dem die Aufschrift war: Einem unbekannten Gott«. Er nahm diese Inschrift als Ausgangspunkt für seine Rede. Der Apostel sah in der Inschrift die Bestätigung zweier wichtiger Tatsachen: erstens die Tatsache der Existenz Gottes und zweitens die Tatsache, dass die Athener ihn nicht kannten. Nichts lag daher für Paulus näher, als nun dazu überzugehen, sie über diesen »Gott« aufzuklären. Dazu hat jemand einmal gesagt, dass er die verirrten Wasser ihrer Religiosität nun in richtige Bahnen lenkte.
17,24.25 Missionare erzählen uns immer wieder, dass man am besten mit der Schöpfungsgeschichte beginnt, wenn man Heiden Wahrheiten über Gott weitergeben will. Genau hier beginnt auch Paulus, als er zu den Athenern spricht. Er beschreibt »Gott« als den Einen, »der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist«. Als er auf die vielen Götzentempel in der Nähe schaute, erinnerte der Apostel seine Hörer daran, dass der wahre Gott »nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind«, wohnt. Auch ist er nicht darauf angewiesen, von »Menschenhänden« bedient zu werden. In Götzentempeln bringen die Priester den Göttern oft Speisen und andere »notwendige Güter« dar. Doch der wahre Gott hat es nicht »nötig«, dass der Mensch ihm etwas gibt, weil er der Ursprung von »Leben und Odem« und allem anderen ist.
17,26-28a Paulus geht nun als Nächstes auf die Herkunft des Menschen ein. Alle Völker entstammen einem gemeinsamen Stammvater, Adam. Die Völker wurden von Gott nicht nur geschaffen, sondern er legte auch fest, wie lange sie bestehen sollten. Außerdem »bestimmte« er die Länder, in denen die verschiedenen Völker leben sollten. Er erzeigte ihnen unzählige Gnadenerweise, um sie dazu zu bringen, ihn zu »suchen«. Er wollte, dass sie »ihn … tastend fühlen und finden möchten«, obwohl er in Wirklichkeit »nicht fern ist von jedem von uns«. In dem wahren Gott »leben und weben und sind wir«. Er ist nicht nur unser Schöpfer, sondern er umgibt uns auch.
17,28b Um die Beziehung des Geschöpfes zum Schöpfer noch weiter zu verdeutlichen, zitierte Paulus einige ihrer »Dichter«, die »gesagt« haben: »Denn wir sind auch sein Geschlecht.« Das darf man nicht als Lehre auslegen, wonach alle Menschen Brüder seien und Gott ihr Vater sei. Wir sind in dem Sinne von Gottes »Geschlecht«, als dass er uns geschaffen hat. Wir werden erst dann Kinder Gottes, wenn wir an den Herrn Jesus Christus glauben.
17,29 Doch die Beweisführung des Paulus geht noch weiter. Wenn die Menschen »Gottes Geschlecht« sind, dann ist es unmöglich, dass Gott aus »Gold und Silber oder Stein« ist. Diese Götzen sind »Gebilde der Kunst und der Erfindung des Menschen« und deshalb nicht so herrlich wie der Mensch. Diese Götzen sind in einer bestimmten Beziehung aus der Hand des Menschen hervorgegangen, während Menschen aus der Schöpferhand Gottes hervorgingen.
17,30 Nachdem Paulus so die Torheit des Götzendienstes herausgestellt hat, führt er weiter an, dass »Gott« viele Jahrhunderte lang die »Unwissenheit« der Heiden übersehen hat. Doch nun, da den Menschen das Evangelium geoffenbart worden ist, »gebietet er … den Menschen, dass sie alle überall Buße tun sollen«, d. h. eine völlige Umkehr vollziehen sollen.
17,31 Das ist eine sehr dringliche Botschaft, weil Gott »einen Tag festgesetzt hat, an dem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch« den Herrn Jesus Christus, den »Mann, den er dazu bestimmt hat«. Das Gericht, das hier erwähnt ist, wird stattfinden, wenn Christus wiederkehrt, um seine Feinde zu besiegen und sein Tausendjähriges Reich aufzurichten. Dies wird dadurch eindeutig bestätigt, dass Gott den Herrn Jesus »aus den Toten … auferweckt« hat. So leitet Paulus nun zu seinem Lieblingsthema, der Auferstehung Christi, über.
17,32 Wahrscheinlich konnte Paulus seine Predigt nicht beenden. Es mag sein, dass er durch den Hohn derer, die über die »Toten-Auferstehung« spotteten, unterbrochen wurde. Andere jedoch spotteten nicht, sondern zögerten. Sie schoben jede eindeutige Reaktion hinaus, indem sie sagten: »Wir wollen dich darüber auch nochmals hören.« »In ihren Augen riskierten sie zu viel, wenn sie Christus sofort angenommen hätten. Sie konnten nicht ›nie‹, sondern nur ›nicht jetzt‹ sagen.«
17,33.34 »Aber« es wäre unzutreffend, würde man sagen, dass die Botschaft des Paulus vergeblich gewesen wäre. Denn schließlich glaubte »Dionysius«, ein »Areopagit«, ein Mitglied des Gerichtshofes. »Eine Frau mit Namen Damaris« glaubte ebenso wie »andere«, deren Namen hier nicht genannt sind. »So ging Paulus aus ihrer Mitte fort.« »Von Athen hören wir nichts mehr. In die Zentren der Verfolgung kehrt Paulus zurück, doch zu diesem intellektuellen Hochmut war weiter nichts zu sagen« (ohne Quellenangabe).
Einige kritisieren diese Predigt, weil sie die Athener scheinbar für ihre Frömmigkeit lobt, obwohl sie die größten Götzendiener waren. Sie monieren, dass sie die Erkenntnis des wahren Gottes aus einer Inschrift herausliest, die doch nur für einen weiteren Götzen gedacht war. Außerdem habe sich Paulus darin zu sehr an die Gebräuche und Gewohnheiten der Athener angepasst. Und schließlich habe der Apostel das Evangelium nicht so deutlich und eindringlich wie in and eren Reden verkündigt. Doch diese Kritik ist ungerechtfertigt. Wir haben schon versucht zu erklären, dass Paulus einen Anknüpfungspunkt suchte und dann seine Zuhörer durch einfache Schritte zuerst zur Erkenntnis des wahren Gottes und dann zu der Notwendigkeit der Bekehrung angesichts des als Richter wiederkommenden Christus führte. Außerdem ist es eine ausreichende Rechtfertigung für diese Botschaft des Paulus, dass sich wirklich Menschen dadurch bekehrt haben.
Exkurs zum Thema ungewöhnliche Kanzeln
Die Predigt des Paulus auf dem Areopag ist ein Beispiel für die ungewöhnlichen Orte, an denen die ersten Gläubigen das Wort verkündigten.
Am liebsten predigten sie im Freien. Zu Pfingsten erfolgte die Verkündigung wahrscheinlich unter freiem Himmel, wenn man von der Zahl derer ausgeht, die zuhörten und gerettet wurden69 (Apg 2,6.41). Andere Beispiele für Reden im Freien finden wir in Apostelgeschichte 8,5.25. 40; 13,44; 14,8-18. Rund um den Tempel erklang mindestens dreimal die Botschaft (3,1-11; 5,21.42). Paulus und seine Mitarbeiter predigten das Wort in Philippi an einem Flussufer (Apg 16,13). Hier in Athen predigte Paulus auf dem Marktplatz (17,17), ehe er eingeladen wurde, auf dem Areopag zu sprechen. In Jerusalem sprach er die aufgebrachte Menge von den Stufen der Burg Antonia aus an (21,40-22,21). Mindestens viermal wurde die Botschaft vor dem jüdischen Hohen Rat verkündigt: durch Petrus und Johannes gen und anderen Herrschern zu predigen, die sie auf andere Art nie hätten erreichen können. Wahrscheinlich ermöglicht Gott es allen Menschen, unsere Pfade zu kreuzen, damit wir die Gelegenheit haben, eine Segensspur in ihrem Leben zu ziehen. Auf ihr Herz und Leben sollen wir einen Einfluss hinterlassen, der sie näher zu Gott bringt.70 Der Herr Jesus hatte den Jüngern befohlen: »Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung« (Mk 16,15). Die Apostelgeschichte zeigt, wie sie diesen Auftrag ausführten.
Wir könnten hinzufügen, dass die meisten Predigten in der Apostelgeschichte spontan und aus dem Stegreif gehalten wurden. Normalerweise hatten die Jünger keine Zeit, um ihre Botschaft vorzubereiten. »Sie hielten keine eins tündige Predigt, sondern bereiteten sich ein Leben lang auf Verkündigungen vor.« Es ging um die Zubereitung der Prediger, nicht um die Vorbereitung der Predigten.
18,1 Einige Ausleger sind der Ansicht, dass Paulus »von Athen … schied«, weil er dort so wenig positive Reaktionen auf seine Verkündigung erhalten hat. Wir nehmen jedoch eher an, dass er vom Heiligen Geist geführt wurde, westwärts zu reisen, und zwar »nach Korinth«, in die Hauptstadt von Achaja. Hier – in dieser Stadt, die für ihre Ausschweifungen bekannt war – musste das Evangelium gepredigt und eine Gemeinde gegründet werden.
18,2.3 In Korinth freundete sich Paulus mit einem Ehepaar namens »Aquila« und »Priszilla« an. Diese Freundschaft sollte sein ganzes Leben lang halten. »Aquila« war ein »Jude … aus Pontus«, der nordöstlichen Provinz Kleinasiens. Er hatte mit seiner Frau in »Rom« gelebt, war dort jedoch durch eine antisemitische Verordnung des Kaisers Klaudius vertrieben worden. Weil Korinth an der Hauptroute von Rom in Richtung Osten lag, hatten sie hier Halt gemacht und ein Geschäft als »Zeltmacher« begonnen. Weil Paulus ebenfalls »Zeltmacher« war, lernte er sie kennen.
Die besten Offenbarungen unseres Lebens erhalten wir oft, wenn wir unserem Aufgabenbereich treu bleiben. Widme dich weiterhin deinem täglichen Broterwerb, und mitten in deiner Mühe wirst du großen Segen erleben und freudige Gotteserfahrungen haben … Der Betrieb, das Büro oder der Laden, in dem du arbeitest, kann zum Haus Gottes werden. Erledige deine Arbeit, und zwar sorgfältig, vielleicht findest du gerade dort eine der seltenen tiefen Freundschaften, wie es auch Aquila und Priszilla erfuhren.71 Es wird aus dem Bericht nicht deutlich, ob »Aquila« und »Priszilla« schon Christen waren, als Paulus ihnen begegnete, oder ob sie durch seinen Dienst gerettet wurden. Doch wahrscheinlich spricht mehr dafür, dass sie schon geglaubt haben, als sie nach Korinth kamen.
18,4 Paulus »unterredete sich aber in der Synagoge an jedem Sabbat und überzeugte Juden und« heidnische Proselyten, dass Jesus wahrhaftig der Christus Gottes war.
18,5 »Paulus« hatte »Silas« und »Timotheus« in Beröa verlassen, als er nach Athen reiste. Von dort hatte er ihnen eine Nachricht geschickt, dass sie zu ihm kommen sollten. Daraufhin stießen sie in Korinth zu ihm.
Nach ihrer Ankunft »wurde Paulus durch das Wort gedrängt«. Das kann heißen, er fühlte eine Last, dass er das Wort mit großen Eifer predigen sollte, indem er »den Juden … bezeugte …, dass Jesus der Christus sei«. Es könnte sich auch um die Andeutung handeln, dass der Apostel nicht weiter der Zeltmacherei nachging, sondern nur noch das Evangelium predigte.
Etwa zu dieser Zeit muss Paulus auch den 1. Brief an die Thessalonicher geschrieben haben (etwa 52 n. Chr.).
18,6 Die ungläubigen Juden »widerstrebten« Paulus und »lästerten«. Wer dem Evangelium Widerstand leistet, der stellt sich letztlich gegen sich selbst. Der Ungläubige schadet niemandem so sehr wie sich selbst.
Paulus »schüttelte … die Kleider aus und sprach zu ihnen: Euer Blut komme auf euren Kopf! Ich bin rein; von jetzt an werde ich zu den Nationen gehen.« Das Ausschütteln der Kleider war eine ausdrucksvolle Handlung. Damit war gemeint, dass er sich von ihnen abgrenzte. Doch das hielt ihn nicht davon ab, in einer weiteren Stadt in die Synagoge zu gehen, nämlich in Ephesus (19,8). Die Worte des Apostels sind für jeden Gläubigen eine ernste Erinnerung daran, dass es so etwas wie eine Blutschuld gibt. Der Christ ist ein Schuldner gegenüber allen Menschen. Wenn er der daraus erwachsenden Verpflichtung zur Predigt des Evangeliums nicht nachkommt, dann wird Gott ihn zur Verantwortung ziehen. Wenn er jedoch andererseits treu für Christus Zeugnis ablegt und auf hartn äckige Ablehnung trifft, dann ist er selbst frei von der Schuld und die Vera ntwortung liegt bei demjenigen, der Christus ablehnt.
Dieser Vers beinhaltet einen weiteren Schritt der Beiseitesetzung des Volkes Israel, die mit der Tatsache einherging, dass den Heiden das Evangelium verkündigt wurde. Gott hatte bestimmt, dass die Gute Nachricht zuerst den Juden gepredigt werden soll, doch im Verlauf der Apostelgeschichte wendet sich der Geist in seiner Betrübnis immer mehr von diesem Volk ab, und zwar in dem Maße, wie die Ablehnung zunimmt.
18,7.8 Auf die Verwerfung der Juden hin ging der Apostel in das Haus des »Justus«, eines Proselyten, »dessen Haus an die Synagoge stieß«. Als er seinen Dienst von diesem Haus aus tat, hatte der Apostel Paulus die Freude zu sehen, wie »Krispus …, der Vorsteher der Synagoge … mit seinem ganzen Haus« zum Herrn kam. Auch »viele« andere »Korinther« vertrauten ihr Leben dem Herrn an »und ließen sich taufen«. Paulus taufte Krispus und  einige  andere  (1. Kor  1,14-16),  doch es war normalerweise seine Gewohnheit, das einen anderen Gläubigen ausführen zu lassen. Paulus fürchtete, dass die Menschen um ihn herum Parteiungen aufbauten, statt ihre Liebe und Hingabe ganz dem Herrn Jesus zu widmen.
18,9.10 »Der Herr« in seiner Gnade »sprach durch eine Erscheinung in der Nacht zu Paulus«, in der er ihm die Zusicherung gab, dass er sich vor nichts zu fürchten brauche. Der Apostel sollte fortfahren, das Wort zu predigen, und sich dabei der Gegenwart und des Schutzes Gottes gewiss sein. »In dieser Stadt« gab es viele, die dem Herrn in dem Sinne gehörten, dass er an ihrem Leben arbeitete und sie schließlich gerettet werden würden.
18,11 Paulus blieb achtzehn Monate lang unter den Bewohnern von Korinth »und lehrte unter ihnen das Wort Gottes«. Im ersten und zweiten Korintherbrief finden sich zu dieser Zeit viele wertvolle Hintergrundinformationen.
18,12-16 Wahrscheinlich zu der Zeit, da der Aufenthalt des Paulus in Korinth zu Ende ging, wurde »Gallio« zum »Prokonsul von Achaja« ernannt (um 51 n. Chr.). »Die Juden«, die der Ansicht waren, dass der neue »Prokonsul« ihnen wohlgesonnen sei, brachten Paulus »vor den Richterstuhl« (bēma) auf dem Marktplatz in Korinth. Die Anklage lautete, dass »Paulus« sie »überredet« hatte, »entgegen dem« jüdischen »Gesetz Gott anzubeten«. Ehe der Apostel eine Gelegenheit zum Zeugnis erhalten hatte, schlug Gallio diese Anklage mit ausgesprochenem Missfallen nieder. Er sagte den Juden, dass es hier um »das Gesetz, das ihr habt«, gehe und nicht um eine Angelegenheit, die in seinen Zuständigkeitsbereich falle. »Wenn es ein Unrecht oder eine böse Handlung wäre«, dann wäre es für Gallio geboten gewesen, die »Juden … vernünftigerweise« zu »ertragen«, doch in Wirklichkeit ging es nur um »Worte und Namen und das« jüdische »Gesetz«. Der »Prokonsul« war nicht daran interessiert, »über diese Dinge … Richter« zu sein, deshalb schlug er die Anklage sofort nieder.
18,17 Einige Ausleger sind der Auffassung, die Griechen bestraften Sosthenes deshalb, weil er Paulus wegen solch einer Lappalie vor Gallio gebracht habe. Wenn es heißt: »Gallio bekümmerte sich nicht um dies alles«, so ist damit nicht gemeint, dass er am Evangelium kein Interesse zeigte, obwohl das wahrscheinlich zutraf. Er wollte sich einfach nicht in die jüdischen Gesetze und Gebräuche einmischen.
18,18 Nach diesen Vorfällen »blieb … Paulus noch viele Tage« in Korinth. Vermutlich schrieb er während dieser Zeit den 2. Thessalonicherbrief. Als er schließlich »Abschied von den Brüdern« nahm und mit »Aquila und Priszilla« Korinth verließ, segelte er nach Syrien, weil er beabsichtigte, nach Antiochia zurückzukehren. Die Exegeten sind sich nicht einig, ob es »Paulus« oder »Aquila« war, der »sich in Kenchreä das Haupt hatte scheren lassen.«72 (Kenchreä ist der östliche Hafen von Korinth.) Einige Ausleger sind der Ansicht, dass das hier erwähnte »Gelübde« von einer ausgeprägten jüdischen Einstellung zeugte und nicht zu einem Mann von Paulus’ geistlicher Reife passte. Es ist jedoch wahrscheinlich nicht möglich, in diesem Punkt eine Entscheidung zu treffen.
18,19.20 Nachdem das Schiff in Ephesus angelegt hatte, gingen Aquila und Priszilla von Bord, um eine Weile dort zu bleiben. Paulus nahm die Gelegenheit des kurzen Aufenthalts des Schiffes wahr, um »in die Synagoge« zu gehen und sich »mit den Juden« zu »unterreden«. Erstaunlicherweise wollten sie, dass er länger bliebe, doch das konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht.
18,21 Das Schiff fuhr ab, doch er versprach, nach Ephesus »zurückzukehren, … wenn Gott will«, nachdem er »das zukünftige Fest in Jerusalem« (Elb; vgl. Schl) gefeiert habe.
18,22 Der nächste Halt des Schiffes war Cäsarea. Von dort aus ging der Apostel »hinauf und begrüßte die Gemeinde« in Jerusalem. Dann »zog« er wieder nach »Antiochia«, wo er sich nun letztmalig aufhielt. So endet die zweite Missionsreise des Paulus.
G. Die dritte Missionsreise des Paulus: Kleinasien und Griechenland kehren würde, wenn es Gottes Wille sei. Zur Erfüllung seines Versprechens reiste er aus Galatien und Phrygien nun über das Gebirge »nach Ephesus« an der Westküste von Kleinasien. Als er dort ankam, traf er auf zwölf Männer, die behaupteten, »Jünger« zu sein. Als er mit ihnen redete, erkannte er, dass ihre Kenntnisse des christlichen Glaubens sehr mangelhaft waren. Er fragte sich sogar, ob sie überhaupt den Heiligen Geist empfangen hatten.
19,2 Deshalb fragte er sie: »Habt ihr den Heiligen Geist empfangen, als ihr gläubig wurdet?« (Schl 2000). In der unrevidierten Elberfelder Bibel lautet dieser Vers folgendermaßen: »Habt ihr den Heiligen Geist empfangen, nachdem ihr gläubig geworden seid?« Diese Formulierung legt fälschlicherweise nahe, dass man den Heiligen Geist erst nach der Errettung empfängt.
Es geht in dem Vers nicht darum, dass der Empfang des Heiligen Geistes ein Gnadenwerk ist, das auf die Errettung folgt. Sobald ein Sünder dem Heiland vertraut, empfängt er den Heiligen Geist. Die Antwort der Jünger lautete: »Wir haben nicht einmal gehört, ob der Heilige Geist überhaupt da ist.« In der NGÜ lautet die Antwort: »Wir haben nicht einmal gehört, dass der Heilige Geist schon gekommen ist.« Weil diese Männer Jünger von Johannes dem Täufer waren, wie wir im nächsten Vers erfahren, hätten sie anhand des AT von der Existenz des Heiligen Geistes wissen müssen. Und nicht nur das, sondern Johannes hatte seine Jünger gelehrt, dass der Eine, der nach ihm kommen würde, sie mit Heiligem Geist taufen würde. Diese Jünger wussten nicht, dass der Heilige Geist bereits zu Pfingsten auf die Erde gekommen war.
19,3.4 Als der Apostel die Tauffrage anschnitt, fand er heraus, dass diese Männer nur »die Taufe des Johannes« kannten. Mit anderen Worten, ihr Wissen beschränkte sich darauf, dass der Messias bald kommen musste. Sie hatten ihrer »Buße« dadurch Ausdruck gegeben, indem sie sich taufen ließen. Das war die notwendige Vorbereitung dafür, den Messias als König aufzunehmen. Sie wussten nicht, dass »Jesus« gestorben, begraben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren war. Sie wussten auch nicht, dass er bereits seinen Heiligen Geist geschickt hatte. Das alles erklärte »Paulus« ihnen. Er erinnerte sie daran, dass »Johannes«, als er »mit der Taufe der Buße« taufte, sie schon aufgefordert hatte, an »Christus Jesus« (Schl 2000) zu glauben.
19,5 »Als sie es aber gehört hatten, ließen sie sich auf den Namen des Herrn Jesus taufen.« Im gesamten Buch der Apostelgeschichte liegt die Betonung auf der Herrschaft Jesu. Deshalb wurden die Johannesjünger hier in der Vollmacht »des Herrn Jesus« getauft und bekundeten so öffentlich, dass sie Jesus Christus in ihrem Leben als Herrn (Jahwe) anerkannten.
19,6.7 »Paulus« legte ihnen dann noch »die Hände auf«, und sie empfingen den »Heiligen Geist«. Dies ist das vierte Mal in der Apostelgeschichte, dass der »Heilige Geist« gegeben wird. Zuerst geschah das zu Pfingsten in Kapitel 2, wo es in erster Linie um die Juden ging. Das nächste Mal wird dies in Apostelgeschichte 8 erwähnt, wo der Heilige Geist den Samaritern durch Petrus und Johannes unter Handauflegung gegeben wird. Zum dritten Mal wird der Heilige Geist in Apostelgeschichte 10 zugeeignet, wo ihn die im Haus des Kornelius in Cäsarea Versammelten empfangen. Wir haben schon weiter oben darauf hingewiesen, dass die Reihenfolge der Ereignisse bis zum Empfang des Heiligen Geistes in jedem Fall unterschiedlich ist.
Hier in Apostelgeschichte 19 sieht die Reihenfolge so aus:
1. Glaube
2. Erneute Taufe
3. Handauflegung durch die Apostel 4. Empfang des Heiligen Geistes. Gott kam einer möglichen späteren Anschuldigung zuvor: Indem die Johannesjünger durch die Handauflegung des Paulus den Heiligen Geist empfingen, würde fortan niemand mehr sagen können, Paulus stehe Petrus, Johannes oder den anderen Aposteln nach. Als die Johannesjünger den »Heiligen Geist« empfangen hatten, »redeten sie in Sprachen und weissagten«. Solche übernatürlichen Zeichen benutzte Gott, ehe das NT vollständig war. Heute wissen wir, dass wir den »Heiligen Geist« bei der Bekehrung empfangen. Diese Erkenntnis entspringt nicht Zeichen bzw. Wundern oder sogar Gefühlen, sondern wird in den neutestamentlichen Schriften bezeugt. In dem Augenblick, in dem ein Mensch an den Herrn Jesus Christus glaubt, empfängt er den Heiligen Geist, der ihm fortan innewohnt. Er wird mit ihm versiegelt, er empfängt das Unterpfand des Heiligen Geistes sowie die Salbung des Geistes, und er wird durch den Geist in den Leib Christi hineingetauft. Allerdings wird dadurch nicht geleugnet, dass es im Leben des Gläubigen auch entscheidende Augenblicke des Geisteswirkens geben kann. Man kann nicht bestreiten, dass der Heilige Geist einzelne Menschen auf seine souveräne Art heimsucht und sie für besondere Dienste ausrüstet, ihnen großen Glaubensmut schenkt und ihnen eine glühende Retterliebe zu bisher Verlorenen gibt.
19,8 »Drei Monate lang« besuchte Paulus »die Synagoge« in Ephesus, »indem er sich unterredete und sie von den Dingen des Reiches Gottes überzeugte«. Mit dem Begriff »unterreden« ist gemeint, dass er den Verstand der Menschen ansprach. Durch sein »Überzeugen« versuchte er, ihren Willen anzusprechen, insbesondere in Bezug auf den Glauben an Jesus als den Christus. Sein Thema waren die »Dinge des Reiches Gottes«. C. E. Stuart verdeutlicht Folgendes: Es muss hier festgehalten werden, dass er nicht das Evangelium des Reiches Gottes predigte: Das wäre haushaltungsgemäß nicht angemessen gewesen. Dieses Evangelium wurde vielmehr von unserem Herrn verkündigt. Es wurde jedoch mit seinem Tod beiseitegesetzt, um in der Zukunft wiedereingesetzt zu werden (Matth 24,14; Offb 14,6.7). Doch Paulus sprach über das Reich Gottes, denn dieses Reich existiert heute hier auf dieser Erde.73
19,9.10 Als einige der Juden »sich verhärteten« (mit ihrem Verstand) und »ungehorsam blieben« (mit ihrem Willen), und als sie begannen, die »Menge« gegen den »Weg« aufzubringen, verließ Paulus die Synagoge und »sonderte die Jünger« von den Juden dort »ab«. Er nahm sie mit in die »Schule des Tyrannus«, wo er die Freiheit hatte, »täglich« zu lehren. Man nimmt im Allgemeinen an, dass »Tyrannus« ein Grieche war, der Kurse in Philosophie und Rhetorik abhielt. »Zwei Jahre lang« machte der Apostel seine Zuhörer zu Jüngern und sandte sie dann aus, damit sie ihrerseits andere lehren konnten. Das Ergebnis dieser Lehrtätigkeit war, dass die ganze Provinz »Asien … das Wort des Herrn hörte, … sowohl Juden als Griechen«. So wurde Paulus eine große und wirksame Tür geöffnet, obwohl es dort viel Widerstand gab (1. Kor 16,9).
19,11.12 Als Apostel Jesu Christi hatte Paulus die Macht, Zeichen und Wunder zu tun. Diese waren Beweise seiner Apos telschaft und bestätigten die Wahrheit seiner Botschaft. Die Macht, die ihn durchströmte, war so groß, »dass man sogar Schweißtücher oder Schurze«, die er berührt hatte, zu den »Kranken« oder Besessenen brachte und diese geheilt wurden. Es erhebt sich die Frage, ob man diese »Wunder« auch heute noch tun kann. Der Heilige Geist Gottes ist souverän, und er kann tun, was ihm gefällt. Doch wir müssen zugeben, dass die Apostel und ihre Mitarbeiter übernatürliche Kraft besaßen, die ihnen übert ragen wurde. Weil wir heute keine Apostel mehr im vollen Sinne des Wortes haben, ist es müßig, darauf zu bestehen, dass wir auch noch ihre Wunder erleben müssten.
19,13.14 Wann immer Gott in seiner Macht wirkt, steht Satan stets bereit, um diesem Wirken zu widerstehen und es zu behindern. Während Paulus predigte und Wunder tat, gab es bestimmte umherziehende Juden in Ephesus, die »Beschwörer« waren. Diese Männer befahlen »bösen Geistern« (indem sie »den Namen des Herrn Jesus« als magische Formel gebrauchten), die Besessenen zu verlassen. Dass gewisse Juden wirklich die Macht hatten, Dämonen auszutreiben, wird vom Herrn Jesus anerkannt (Lk 11,19). Unter den jüdischen Zauberern, die dies praktizierten, waren sieben Söhne Skevas. Dieser Mann war »Hoherpriester« bzw. derjenige Priester, dem die 24 Abteilungen unterstanden. Eines Tages versuchten seine Söhne, einen bösen Geist von einem Besessenen auszutreiben. Sie sagten zu dem Dämon: »Ich beschwöre euch bei dem Jesus, den Paulus predigt!«
19,15.16 Sie sagten zwar diese Worte, doch hatten sie nicht die entsprechende Vollmacht, und die Dämonen gehorchten nicht. Die Antwort des »bösen Geistes« war jedoch äußerst aufschlussreich. Er sagte: »Jesus kenne ich, und von Paulus weiß ich. Aber ihr, wer seid ihr?« Ein Kommentar von F. B. Meyer, der ironische Untertöne enthält, ist es wert, hier zitiert zu werden:
Als die Söhne des Skevas auf den Dämon losgehen wollten, schlug er zurück, indem er sagte: »Ihr Zwerglein, ihr Winzlinge, wer seid denn ihr schon? Ich kenne Paulus! Euch kenne ich aber nicht, ich habe noch nie von euch gehört, denn euer Name ist in der Hölle nie erwähnt worden. Niemand kennt euch, außer in dieser winzigen Stadt Ephesus.« Ja, und da ist dann noch die Frage, die mir heute jemand gestellt hat: »Kennt man mich in der Hölle?« Kennen die Dämonen uns? Haben sie Angst vor uns? Oder können sie uns angreifen? Wenn wir am Sonntag predigen, wenn wir Straßeneinsätze durchführen oder wenn wir das Wort in unseren Sonntagsschulklassen weitergeben, sagt der Teufel dann: »Ich kenne dich nicht, du bist keinen Schuss Pulver wert. Du kannst mit deiner Beschäftigung ruhig fortfahren. Ich werde die Hölle nicht in Unruhe bringen, um dich daran zu hindern.«74 Es ist interessant zu beobachten, wie die Schrift zwischen dem »bösen Geist« und dem »Mensch, in dem der böse Geist war«,  unterscheidet  (V. 16).  In  Vers  15 spricht der Dämon. Doch in Vers 16 sprang der Mensch selbst »auf« die Söhne des Skevas »los und bezwang sie«. Daraufhin beraubte er sie ihrer Kleider und verwundete sie.
19,17 Als die Nachricht dieser Niederlage in der Gegend bekannt wurde, »fiel« eine tiefe Ehrfurcht auf die Menschen, »und der Name des Herrn Jesus wurde erhoben«. Nicht Paulus bekam die Ehre, sondern »der Name« seines Erlösers.
19,18.19 Der Geist Gottes wirkte so mächtig an denen, die verschiedene Formen des Okkultismus ausgeübt hatten, dass sich eine große Anzahl von ihnen zu Christus bekehrte. Sie »bekannten und gestanden ihre Taten«. Danach bekundeten sie öffentlich ihren Glauben, indem sie ihre »Bücher … zusammentrugen«, die sich mit Magie beschäftigten, und sie im Feuer verbrannten. Der Wert dieser Bücher machte zusammengerechnet etwa »fünfzigtausend Silberdrachmen« aus. Es ist schwierig, genau zu bestimmen, wie viel dem in unserer Währung entspräche – vielleicht zwischen 8000 und 10 000 Euro.
19,20 Dadurch, dass hier Menschen öffentlich heidnischen Praktiken entsagten, wuchs »das Wort des Herrn mit Macht« und erwies sich als kräftig. Wenn wir als heutige Christen unsere schmutzigen und okkulten Bücher und Zeitschriften verbrennen würden, dann wären die Wirkungen des Wortes auch heute viel deutlicher zu spüren.
19,21 Als sich seine Zeit in Ephesus ihrem Ende zuneigte, beschloss Paulus, über »Mazedonien und Achaja … nach Jerusalem zu reisen« und danach auch »Rom« zu besuchen. Sein liebevolles und mitfühlendes Herz sehnte sich immer nach den Zentren, in denen das Wort ausgesät und von denen aus es verbreitet werden konnte.
19,22 »Er sandte … Timotheus und Erastus« voraus »nach Mazedonien«, doch er blieb noch »eine Zeit lang in Asien«. Wahrscheinlich schrieb er in dieser Zeit den ersten Korintherbrief (um 56 n. Chr.).
19,23-27 Infolge der Predigt des Paulus hatten sich viele Epheser von ihren Götzen dem Herrn zugewandt. Die geistliche Erweckung in der Stadt war so umfassend, dass sie bei den Herstellern der Götzenbilder eine große Geschäftseinbuße verursachte. »Demetrius, ein Silberschmied«, war einer von den Betroffenen. Er fertigte »silberne Tempel der Artemis«75. Er machte sich zum Sprecher dieses Gewerbes, sammelte all seine Handwerkskollegen und wollte sie dazu bringen, einige einschneidende Maßnahmen zu ergreifen. Er erinnerte sie daran, wie Paulus viele Menschen erfolgreich davon überzeugt hatte, dass es keine »Götter« gibt, »die mit« menschlichen »Händen gemacht werden«. Er legte jedoch sein eigentliches Motiv dar, als er sagte, dass sein »Erwerb« damit in »Gefahr« geriete. Trotzdem versuchte er, dem Ganzen einen religiösen Anstrich zu geben, indem er große Ehrfurcht gegenüber der »Artemis« und ihrem »Tempel« heuchelte.
19,28-31 Die Versammlung der Silberschmiede geriet bald zu einem Aufruhr, in den die ganze »Stadt« hineingezogen wurde. Die Bewohner schrien im Chor: »Groß ist die Artemis der Epheser!«, und »stürmten einmütig« ins »Theater« (die Arena oder das Kolosseum). Dabei »rissen sie die Mazedonier Gajus und Aristarch«, zwei »Reisegefährten des Paulus«, mit fort, die sie zweifellos töten wollten. »Paulus« selbst wollte einschreiten und den Mob beruhigen, doch wurde er von den »Jüngern« abgehalten, ebenso »von den Asiarchen« (Beamte, die von den Städten gewählt wurden und auf eigene Kosten Feste zu Ehren der Götter gaben). Diese in der ganzen Stadt bekannten Wohltäter, die mit Paulus Freundschaft geschlossen hatten, sagten ihm, dass es äußerst unklug sei, wenn er sich in die Arena begeben würde.
19,32 Zu diesem Zeitpunkt war der Mob völlig außer Kontrolle geraten. Viele wussten nicht einmal, warum sie ins Theater gekommen waren. Überall hörte man einander widersprechende Aussagen.
19,33.34 Ein Jude namens »Alexander« wollte vortreten und zu der Menge sprechen. Zweifellos wollte er beweisen, dass die Juden in dieser Sache völlig unschuldig waren. Doch als die Menge »erkannte, dass er ein Jude war«, wurde sie nur noch aufgebrachter. »Sie schrie etwa zwei Stunden lang: »Groß ist die Diana der Epheser!«
19,35 An diesem kritischen Punkt gelang es dem »Stadtschreiber, die Volksmenge« zu beruhigen. Seine Rede war durch zweierlei gekennzeichnet: Sie war auf Beschwichtigung bedacht, und sie war erfolgreich. Im Grunde betonte er, dass die Epheser nichts zu befürchten hätten. Schließlich wusste jeder, dass Ephesus »die Stadt« war, die zur »Tempelpflegerin der großen Artemis« ernannt worden war. Obwohl dreizehn Städte in Kleinasien an dem entsprechenden Tempelkult beteiligt waren, stand das heilige Gebäude unter der Verwaltung der Epheser. Auch fiel ihnen das Vorrecht zu, Hüterin eines »Bildes« der »Artemis« zu sein, das angeblich vom Himmel gefallen war.
19,36-40 Indem er darauf hinwies, dass ihre religiösen Grundwerte sicher waren und nichts die Verehrung der Diana jemals in Wanken bringen könnte, sagte der Stadtschreiber den Menschen, dass es töricht sei, so viel Aufhebens darum zu machen. Schließlich waren die Männer, gegen die sie sich erhoben hatten, »weder Tempelräuber« noch Lästerer. »Wenn nun Demetrius und die Kunsthandwerker mit ihm« eine berechtigte Klage hatten, so gab es reguläre »Gerichtstage«, an die sie sich wenden konnten. Dort würden die »Statthalter« ihre Klagen anhören. Wenn sie irgendetwas anderes zu sagen hatten, gab es immer noch die Möglichkeit, eine »gesetzliche Versammlung« einzuberufen. Doch sie hatten hier einen Aufruhr veranstaltet. Davon würden die Römer nicht gerade begeistert sein. Wenn sie je »wegen des heutigen Aufruhrs angeklagt« würden, hätten sie keinerlei Entschuldigung. Auch wusste der Stadtschreiber, dass seine Stellung und vielleicht sogar sein Leben in Gefahr gerieten, wenn die Nachricht über einen Aufstand nach Rom gelangen sollte. Inzwischen hatte sich die Menge beruhigt. Bald eilten alle nach Hause. Es ist schon seltsam, dass der Dienst des Paulus in dieser Stadt durch einen Stadtschreiber beendet wurde, der im Sinne der öffentlichen Ordnung handelte, und nicht durch den Aufruhr selbst. Solange es noch eine gesunde Opposition gab, war Paulus der Ansicht, dass die Tür für ihn in Ephesus weit offen stand (1. Kor 16,8.9). Doch es scheint so, dass er weiterzog, als er von öffentlicher Seite beschützt wurde (ohne Quellenangabe). Das  Wort  »Versammlung«  (V. 32.39. 40) ist eine Übersetzung des griechischen Wortes ekklesia. Das bedeutet eine herausgerufene Gemeinschaft von Menschen. Es ist dasselbe Wort, das an anderen Stellen des Neuen Testaments mit Gemeinde übersetzt wird. Ob sich das Wort wie hier auf einen heidnischen Mob, auf eine Zusammenkunft der Israeliten wie in Apostelgeschichte 7,38 oder auf die neutestamentliche Gemeinde bezieht, muss aus dem Kontext erschlossen werden. Das Wort Versammlung (vgl. Elb; Anm. d. Übers.) ist eine bessere Übersetzung als das Wort Gemeinde bzw. Kirche. Das Wort Kirche kommt von einem griechischen Wort, das »dem Herrn zugehörig« bedeutet (kyriake; unser Wort Kirche ist aus diesem Wort entstanden). Im modernen Sprachgebrauch bezeichnen wir damit normalerweise ein Gebäude, das religiösen Zwecken dient. Deshalb bevorzugen viele Christen das Wort Versammlung, weil es die Tatsache betont, dass die Gemeinde eine herausgerufene Gemeinschaft von Menschen ist, nicht jedoch ein Gebäude und noch nicht einmal eine Denomination.
20,1 Aus diesem Vers scheint hervorzugehen, dass der Apostel direkt von Ephesus »nach Mazedonien« gereist sei. Doch aus dem 2. Korintherbrief erfahren wir, dass er zunächst noch Troas besuchte. Dort fand er eine offene Tür für das Evangelium vor, aber er wartete ungeduldig auf Titus. Er wollte von ihm unbedingt erfahren, wie die Korinther seinen ersten Brief aufgenommen hatten. Als er Titus in Troas nicht fand, fuhr er über die nordöstliche Ägäis »nach Mazedonien«. Zweifellos legte er in Neapolis an und reiste dann weiter landeinwärts nach Philippi. Während er in »Mazedonien« war, traf er, wahrscheinlich in Philippi, Titus und wurde durch die Nachrichten aus Korinth sehr erm utigt. Wahrscheinlich schrieb er um diese Zeit den 2. Korintherbrief (56 n. Chr.?). (S. 2. Kor 1,8.9; 2,12-14; 7,5-7.)
20,2.3a Nachdem er einige Zeit in Mazedonien gedient hatte, reiste er südwärts »nach Griechenland« (womit im Grunde der unter dem Namen Achaja bekannte Südteil gemeint ist). Den größten Teil der drei Monate verbrachte er zweifellos in Korinth, und während dieser Zeit schrieb er den Römerbrief. Einige Ausleger sind der Meinung, dass zu dieser Zeit auch der Galaterbrief geschrieben wurde.
20,3b Ursprünglich hatte Paulus geplant, von Korinth aus direkt über die Ägäis »nach Syrien« zu reisen. Doch als er erfuhr, dass die »Juden« ihn irgendwo auf diesem Weg umbringen wollten, änderte er seine Pläne und zog wieder nordwärts »durch Mazedonien«.
20,4 Zu dieser Zeit lernen wir einige der Reisegefährten des Paulus kennen. Es wird berichtet, dass sie ihn »bis nach Asien« begleiteten, doch wir wissen, dass einige von ihnen bis nach Rom mit ihm reisten:
»Sopater, … ein Beröer,« war vielleicht der Verwandte des Paulus, der in Römer 16,21 als Sosipater erwähnt wird. »Aristarch« aus Thessalonich verlor beinahe sein Leben bei dem Aufstand in Ephesus (Kap. 19,29). Später lesen wir von ihm als einem Mitgefangenen des Paulus in Rom (Philem 24; Kol 4,10). »Sekundus«, ebenfalls aus Thessalonich, begleitete Paulus bis nach Asien, wahrscheinlich bis Troas oder Milet. »Gajus von Derbe« darf nicht mit dem Mazedonier verwechselt werden, der von der Menge in Ephesus ergriffen wurde (Kap. 19,29). Von einem anderen Gajus wird erwähnt, dass er in Korinth wohnte und dort Gastgeber des Paulus war (Röm 16,23). Der dritte Brief des Johannes ist an einen Mann namens Gajus gerichtet, der wahrscheinlich in einer Stadt bei Ephesus wohnte. Gajus war ein sehr verbreiteter Name.
»Timotheus« »begleitete« Paulus nicht nur »bis nach Asien«, sondern war auch während seiner ersten Gefangenschaft in Rom bei ihm. Später reiste er mit Paulus durch Asien. In seinem zweiten Brief an Timotheus gab Paulus seinem Verlangen Ausdruck, ihn wiederzusehen, doch wissen wir nicht, ob sich dieser Wunsch je erfüllte.
»Tychikus« aus Kleinasien reiste mit dem Apostel wahrscheinlich bis Milet. Später traf er Paulus in Rom wieder. Es wird erwähnt, dass er mit ihm bis zu seiner zweiten Gefangenschaft und während dieser Zeit arbeitete. »Trophimus« war offensichtlich ein Heide, der aus Ephesus in Kleinasien stammte. Er reiste mit Paulus bis nach Jerusalem und war unbeabsichtigt die Ursache für dessen Gefangennahme. Er wird auch in 2. Timotheus 4,20 erwähnt.
20,5.6 Es hat den Anschein, dass die sieben oben erwähnten Brüder schon nach Troas reisten, während Paulus und Lukas »Philippi« besuchten. (Wir sind der Ansicht, dass Lukas den Apostel begleitete, weil hier wieder Personalpronomen der ersten Person Plural verwendet werden, »uns« in Vers 5 und »wir« in Vers 6 etc.) »Nach den Tagen der ungesäuerten Brote« bzw. dem Passah segelten Paulus und Lukas von Mazedonien nach »Troas«. Die Reise hätte normalerweise keine »fünf Tage« gedauert. Für die Verzögerung wird hier keine Erklärung gegeben.
20,7-9 Wenn wir die Verse 6 und 7 miteinander vergleichen, dann scheint es so zu sein, dass der Apostel absichtlich sieben Tage in Troas wartete, um am Brotbrechen am Tag des Herrn teilzunehmen. Aus Vers 7 geht eindeutig hervor, dass die ersten Christen sich »am ersten Tag der Woche« versammelten, um das Mahl des Herrn zu feiern.
Dass Paulus »bis Mitternacht« gesprochen hat, sollte uns nicht verwundern. Wenn die geistliche Hingabe einer Gemeinde groß ist, dann kann der Geist Gottes frei wirken, ohne durch Uhren gebunden zu sein. Als die Zeit fortschritt, wurde es immer heißer und stickiger »in dem Obersaal«. Vielleicht trugen die »vielen Lampen« ebenso dazu bei wie die vielen versammelten Menschen. »Ein junger Mann aber mit dem Namen Eutychus«, der in einem offenen »Fenster« saß, schlief ein. Er stürzte drei Stockwerke tief und starb.
20,10 »Paulus aber ging hinab« und legte sich auf den jungen Mann, wie die Propheten in alter Zeit es ebenfalls getan hatten. Dann sagte er den Menschen, dass kein Aufhebens darum machen sollten, da Eutychus wieder lebte. Es mag scheinen, dass ihre Besorgnis unbegründet gewesen war, weil der junge Mann vielleicht nicht gestorben war, denn »seine Seele« war noch »in ihm«. Doch aus Vers 9 geht hervor, dass er wirklich tot war. In seiner Vollmacht als Apostel hatte Paulus ihn auf wunderbare Weise wieder zum Leben erweckt.
20,11.12 Als Paulus wieder nach oben kam, brachen sie »das Brot« (V. 11), d. h. sie hielten das Herrenmahl, zu dem sie zusammengekommen waren (V. 7). Dann gab es eine normale Mahlzeit, wahrscheinlich ein Agape- oder Liebesmahl. Dieses Gemeinschaftsmahl wurde in der ersten Gemeinde zusammen mit dem Mahl des Herrn gefeiert, doch als sich Missbräuche einschlichen  (1. Kor  11,20-22),  sah  man immer mehr davon ab, es zu halten. Nach dieser unvergesslichen Zusammenkunft, die sich über die ganze Nacht erstreckte, verabschiedete sich der Apostel von den Gläubigen in Troas.
20,13-15 Paulus verließ Troas »zu Fuß« und legte 32 Kilometer zurück, indem er den Rücken eines Vorgebirges überquerte und »nach Assos« kam. Seine Reisegefährten fuhren mit dem »Schiff« um das Vorgebirge herum und nahmen ihn dann auf der Südseite an Bord. Vielleicht wollte der Apostel einige Zeit allein sein, um über das Wort Gottes nachzusinnen.
Als sie die Westküste Kleinasiens entlangsegelten, kamen sie zunächst nach »Mitylene«, der Hauptstadt der Insel Lesbos. Am folgenden Abend ankerten sie offensichtlich vor der Insel »Chios«. Nach einer weiteren Tagesreise kamen sie zur Insel »Samos« und »blieben … in Trogyllion« (Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel). Schließlich kamen die Reisenden »nach Milet«, einem Hafen an der Südwestküste Kleinasiens, der etwa 60 Kilometer südlich von Ephesus liegt.
20,16 »Paulus« war absichtlich an »Ephesus« vorbeigereist, weil er fürchtete, dass ihn ein Besuch dort zu viel Zeit kosten würde. Er »eilte« nämlich, »um … am Pfingsttag in Jerusalem« zu sein.
20,17 Nach dem Anlegen in Milet sandte Paulus den »Ältesten« in »Ephesus« eine Nachricht, dass sie doch zu ihm kommen möchten. Zweifellos dauerte es einige Zeit, bis die Nachricht sie erreichte und sie in Milet ankamen. Aber sie wurden durch die wunderbare Predigt belohnt, die sie aus dem Munde des Apostels nun hörten. Darin finden wir ein wertvolles Porträt des idealen Dieners Jesu Christi. Wir sehen hier einen Mann, der ganz dem Herrn hingegeben war. Er wirkte zur gelegenen und ungelegenen Zeit. Er war unermüdlich in jeder Hinsicht. Er zeichnete sich durch echte Demut aus. Ihm war kein Preis zu hoch. Sein Dienst war das Ergebnis tiefer Herzensbewegungen. Er hatte heiligen Mut und heilige Furchtlosigkeit. Ob er lebte oder sterben musste, war ihm unwichtig, wichtig war ihm allein, dass der Wille Gottes erfüllt wurde und Menschen das Evangelium hörten. Er war selbstlos in all seinem Handeln. Er wollte lieber geben als nehmen. Er wurde von Hindernissen nicht entmutigt. Er lebte, was er predigte.
20,18.19 Der Apostel erinnerte die Ältesten in Ephesus, »wie« er unter ihnen gelebt hatte. »Vom ersten Tag an«, an dem er seinen Fuß auf den Boden Kleinasiens gesetzt hatte, und die ganze Zeit, die er dort verbracht hatte, diente er »dem Herrn mit aller Demut« und Selbstverleugnung. In Zusammenhang mit seinem Dienst war sein Gefühlsleben ständigen Belastungen unterworfen, er vergoss Tränen der Trauer und ertrug »Versuchungen«. Er wurde ständig durch »die Nachstellungen der Juden« verfolgt. Trotz all dieser widrigen Umstände tat er mutig und furchtlos seinen Dienst.
20,20.21 Paulus hielt vor den Ephesern »nichts zurück«, das ihrem geistlichen Wohlergehen dienen würde. Er lehrte sie »öffentlich und in den Häusern«, weil er von der Liebe Christi getrieben wurde. Für ihn ging es nicht darum, in festen Abständen Versammlungen zu halten, sondern jede Gelegenheit zu nutzen, die Gläubigen zum Wachstum zu ermutigen. Ohne Rücksicht auf den nationalen oder religiösen Hintergrund predigte er die Notwendigkeit der »Buße zu Gott und« des »Glaubens an unseren Herrn Jesus Christus«. Es gibt zwei fundamentale Wahrheiten des Evangeliums. Bei jeder echten Bekehrung spielen sie eine Rolle: nämlich sowohl »Buße« als auch »Glauben«. Dies sind die beiden Seiten der Medaille, wenn es um das Evangelium geht. Solange ein Mensch nicht Buße tut, ist der erlösende Glaube unmöglich. Andererseits wäre Buße sinnlos, wenn auf sie nicht der Glaube an den Sohn Gottes folgen würde. »Buße« ist eine Umkehr, wodurch der Sünder seine Verlorenheit erkennt und sich dem Urteil Gottes über seine Schuld beugt. »Glaube« ist die Hingabe des Lebens an Jesus Christus als Herrn und Heiland.
In vielen neutestamentlichen Textstellen wird der Glaube allein als Bedingung für die Erlösung genannt. Doch Glaube setzt Buße voraus. Wie kann jemand wirklich Jesus Christus als seinen Heiland annehmen, wenn er nicht erkannt hat, dass er einen Heiland nötig hat? Diese Erkenntnis, die durch das überführende Wirken des Heiligen Geistes herbeigeführt wird, ist Buße.
20,22.23 Nachdem er auf sein früheres Verhalten unter den Ephesern zurückgeblickt hat, schaut der Apostel nun in die Zukunft auf die Leiden, die ihn erwarteten. Er wurde durch den Heiligen Geist bewegt, »nach Jerusalem« zu gehen. Es war ein innerer Zwang, gegen den er sich offensichtlich nicht wehren konnte. Obwohl er nicht wusste, wie sich die Ereignisse in Jerusalem entwickeln würden, wusste er doch, »dass Fesseln und Drangsale« ein normaler Bestandteil seines Lebens werden würden. »Der Heilige Geist« hatte ihm diese Tatsache in jeder »Stadt« bezeugt, vielleicht durch den Dienst von Propheten, möglicherweise aber auch durch die unergründliche innere Vermittlung göttlicher Weisheit.
20,24 Als der Apostel diese Aussichten in seinem Geist abwog, dachte er nicht daran, dass sein Leben von großer Bedeutung sei. Sein Ziel war es, Gott zu gehorchen und ihm zu gefallen. Wenn er dabei sein Leben opfern müsste, dann war er dazu bereit. Kein Opfer konnte zu groß sein für denjenigen, der für ihn gestorben war. Es zählte für ihn einzig, seinen »Lauf« zu vollenden und den »Dienst« abzuschließen, den er »von dem Herrn Jesus empfangen« hatte: Es ging darum, »das Evangelium der Gnade Gottes zu bezeugen«. Keine andere Bezeichnung konnte das Evangelium besser beschreiben, das Paulus predigte – »das Evangelium der Gnade Gottes«. Es ist die überwältigende Botschaft von Gottes unverdienter Gnade gegenüber schuldigen, gottlosen Sündern, die nichts als die ewige Hölle verdient haben. Es berichtet, wie der Sohn der Liebe Gottes aus der höchsten Herrlichkeit des Himmels herabstieg, um zu leiden, sein Blut zu vergießen und auf Golgatha zu sterben, damit diejenigen, die an ihn glauben, die Vergebung der Sünde und ewiges Leben erhalten können.
20,25-27 Paulus war sich sicher, dass er seine geliebten Brüder aus Ephesus niemals wiedersehen würde. Doch sein Gewissen war rein, als er sie zurückließ, da er wusste, dass er ihnen »den ganzen Ratschluss Gottes« verkündigt hatte. Er hatte sie nicht nur in den Grundlagen des Glaubens unterwiesen, sondern sie auch alle Wahrheiten gelehrt, die für ein gottesfürchtiges Leben wichtig sind.
20,28 Weil er sie auf Erden nie mehr wiedersehen würde, ermahnte er die Ältesten ernstlich, dass sie in erster Linie auf ihren eigenen geistlichen Zustand »achthaben« sollten. Wenn sie nicht in enger Gemeinschaft mit dem Herrn leben würden, dann konnten sie nicht erwarten, geistliche Leiter der »Gemeinde« zu sein. Ihre Aufgabe als Älteste war es, »auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist« sie »als Aufseher« eingesetzt hatte, achtzugeben. Wie schon weiter oben erwähnt, werden die »Aufseher« im NT auch Bischöfe, Älteste oder Presbyter genannt. Dieser Vers betont, dass Älteste nicht von der Gemeinde ernannt oder gewählt werden. Sie sind vom »Heiligen Geist« zu »Aufsehern gesetzt« worden, und sollten von den Gläubigen anerkannt werden, unter denen sie arbeiten. Unter anderem waren sie verantwortlich, »die Gemeinde Gottes zu hüten«. Die Bedeutung eines solchen Auftrags zeigt sich in den folgenden Worten: »die er durch sein eigenes Blut erworben hat« (LU 1984). Dieser letzte Satz ist die Ursache für viele Diskussionen und Streitigkeiten zwischen den Bibelgelehrten geworden. Die Schwierigkeit liegt darin, dass hier Gott dargestellt wird, als habe er »sein Blut« vergossen, obwohl Gott doch Geist ist. Es war der Herr Jesus, der sein Blut vergossen hat, und obwohl Jesus Gott ist, wird an keiner anderen Stelle der Bibel ausgesagt, dass Gott gelitten hat oder gestorben ist.
Einige Manuskripte lesen: »… die Gemeinde des Herrn und Gottes, die er sich erworben hat durch sein eigenes Blut.« Damit wird ausgesagt, dass es die zweite Person der Gottheit ist, die ihr Blut vergossen hat (nämlich der Herr Jesus). Die unrevidierte Elberfelder Bibel kommt wohl dem wahren Sinn dieses Abschnittes am nächsten, wenn sie übersetzt: »… die Versammlung Gottes …, welche er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen.« Hier ist Gott derjenige, der die Gemeinde erkauft hat, doch er tat es mit dem Blut seines Sohnes, dem wunderbaren Herrn Jesus.
20,29.30 Paulus war sich wohl bewusst, »dass nach« seinem »Abschied« die Gemeinde von außen und innen angegriffen werden würde. Irrlehrer, »Wölfe« im Schafspelz, würden sich auf die Herde stürzen und keine Gnade kennen. Aus den Reihen der Gemeinde selbst würden Männer kommen, die angesehene Stellungen anstreben. Sie würden die Wahrheit verdrehen und versuchen, »die Jünger abzuziehen hinter sich her«.
20,31 Angesichts dieser bevorstehenden Bedrohungen sollten die Ältesten sich vorsehen und ständig daran »denken, dass« der Apostel »drei Jahre lang Nacht und Tag … einen jeden unter Tränen« vorgewarnt hatte.
20,32 Paulus wusste, wohin sie sich angesichts dessen flüchten mussten: Er befahl die Ältesten »Gott und dem Wort seiner Gnade« an. Man beachte, dass er sie nicht anderen menschlichen Führern oder etwa sogenannten Nachfolgern der Apostel anbefahl. Stattdessen vertraute er sie »Gott und« der Bibel an. Das ist ein beredtes Zeugnis von der Allgenügsamkeit der inspirierten Schrift. Sie ist allein fähig, die Gläubigen »aufzuerbauen« und ihnen »ein Erbe unter allen Geheiligten zu geben«.
20,33-35 Zum Schluss seiner Predigt stellte der Apostel Paulus den Ältesten noch einmal das Beispiel seines eigenen Lebens und Dienstes vor Augen. Er konnte ehrlich von sich sagen, dass er »von niemandem Silber oder Gold oder Kleidung begehrt« hatte. Es war nicht die Hoffnung auf finanziellen Gewinn, die ihn motivierte, das Werk des Herrn zu tun. Im Grunde war er ein armer Mann, was materiellen Besitz anging, doch vor Gott war er reich. Er streckte vor den Ältesten seine Hände aus und konnte sie daran erinnern, dass »diese Hände« dafür gearbeitet hatten, um die alltäglichen »Bedürfnisse« des Lebens zu befriedigen, und zwar für sich selbst und für die, »die bei« ihm »waren«. Doch er war sogar noch über das hinausgegangen. Er arbeitete als Zeltmacher, damit er genug Mittel hatte, um den »Schwachen« zu helfen – den körperlich Kranken, den »Schwachen«, die Zweifel in moralischen Fragen hatten, oder den »Schwachen« hinsichtlich geistlicher Angelegenheiten. Die Ältesten sollten sich daran erinnern und in allem das Beste der anderen zu erreichen suchen. Dabei sollten sie »die Worte des Herrn Jesus« im Gedächtnis behalten: »Geben ist seliger als Nehmen.« Interessanterweise finden sich diese Worte unseres Herrn in keinem der Evangelien. Sie stellen die Summe einer ganzen Reihe seiner Lehre dar, doch hier sind sie als inspirierte Ergänzung zu seinen Reden aus den Evangelien wiedergegeben.
20,36-38 Zum Schluss seiner Predigt »kniete« Paulus nieder »und betete mit« den Ältesten. Für sie war das eine Zeit der Trauer. Sie zeigten dem geliebten Apostel ihre Liebe, indem sie ihm »um den Hals fielen« und ihn küssten. Besonders traurig machte sie seine Aussage, »sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen«. Schweren Herzens begleiteten sie ihn »zu dem Schiff«, das ihn nach Jerusalem bringen sollte.
21,1-4a Nach dem bewegenden und herzlichen Abschied von Milet segelten Paulus und seine Begleiter zur Insel »Kos«, wo sie die Nacht verbrachten. »Am folgenden Tag« fuhren sie in südöstlicher Richtung zur Insel »Rhodos«. Sie verließen dann die Nordspitze der Insel und segelten östlich weiter nach »Patara«, einem Hafen in Lyzien an der Südküste Kleinasiens. In »Patara« stiegen sie in »ein Schiff« um, »das nach Phönizien übersetzte«, dem »Syrien« vorgelagerten Küstenstreifen. Eine der wichtigsten Städte Phöniziens ist »Tyrus«. Als sie das Mittelmeer in südöstlicher Richtung überquerten, führte ihr Weg am südlichen Teil der Insel Zypern vorbei, die sie »links hatten liegen lassen«. Der erste Hafen an der östlichen Mittelmeerküste war »Tyrus«. Weil das Schiff dort »die Ladung abzuliefern« hatte, suchten Paulus und die anderen die christlichen Gläubigen auf und »blieben … sieben Tage« bei ihnen.
21,4b Während dieser Zeit »sagten« diese Jünger »dem Paulus durch den Geist«, dass er nicht nach »Jerusalem« hinaufziehen solle. Das wirft die alte Frage auf, ob Paulus bewusst ungehorsam war, als er »nach Jerusalem« ging, ob er unbewusst den Willen des Herrn verkannte, oder ob er tatsächlich im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes dorthin reiste. Ein oberflächliches Lesen von Vers 4b scheint nahezulegen, dass der Apostel störrisch und eigensinnig handelte und absichtlich gegen den Rat des Heiligen Geistes nach Jerusalem zog. Doch wer etwas genauer hinsieht, entdeckt womöglich, dass Paulus nicht wirklich wusste, ob diese Warnungen »durch den Geist« gegeben wurden. Lukas, der Geschichtsschreiber, sagt seinen Lesern, dass der Rat der Tyrer vom Geist inspiriert war, doch er sagt nicht, dass dem Apostel dies tatsächlich bekannt war. Es scheint wahrscheinlicher, dass Paulus den Rat seiner Freunde so beurteilte, dass sie ihn vor körperlichen Leiden und sogar vor dem Tod bewahren wollten. In seiner Liebe zu seinen jüdischen Landsleuten war er jedoch nicht der Ansicht, dass sein leibliches Wohlergehen bei diesen Überlegungen eine Rolle spielen sollte.
21,5.6 »Als« die sieben »Tage« vorü ber waren, begleiteten die Jünger die Missionare als große Schar zum Strand. Das war eine beredte Bekundung ihrer Liebe als Christen. Nach einer Gebetszeit und herzlichen Abschiedsworten legte »das Schiff« ab, und die Zurückgebliebenen »kehrten heim«.
21,7 Der nächste Halt war »Ptolemais«, ein Hafen etwa 40 Kilometer südlich von Tyrus, der heute Akko heißt und in der Nähe von Haifa liegt. Er war nach dem ägyptischen Herrscher Ptolemäus benannt. Ein eintägiger Aufenthalt ermöglichte es den Dienern des Herrn, die »Brüder« am Ort zu begrüßen.
21,8 »Am folgenden Tag« kam der letzte Teil ihrer Reise. Sie segelten 48 Kilometer südwärts »nach Cäsarea«, das in der Scharon-Ebene liegt. Sie übernachteten im »Haus des Philippus, des Evangelisten« (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Apostel). Dieser »Philippus« war von der Gemeinde in Jerusalem zum Diakon ernannt worden und hatte das Evangelium nach Samaria gebracht. Durch seine Unterweisung war der Kämmerer aus Äthiopien gerettet worden.
21,9 Philippus »hatte vier Töchter, Jungfrauen, die weissagten«. Das bedeutet hier, dass sie vom Heiligen Geist begabt waren, direkt Botschaften vom Herrn zu empfangen und sie anderen weiterzugeben. Einige haben aus diesem Vers geschlossen, dass es Frauen erlaubt sei, in der Gemeinde zu predigen und zu lehren. Da es aber der Frau ausdrücklich verboten ist, in der Gemeinde zu lehren bzw. zu sprechen oder über den Mann zu herrschen (1. Kor 14,34.35; 1. Tim 2,11.12), kann hieraus nur geschlossen werden, dass der prophetische Dienst dieser vier jungfräulichen Töchter zu Hause oder in anderen nichtgemeindlichen Zusammenkünften ausgeübt wurde.
21,10.11 Während des Aufenthaltes des Paulus in Cäsarea »kam ein Prophet mit Namen Agabus von Judäa herab«. Das war derselbe Prophet, der auch von Antiochia nach Jerusalem gekommen war und eine Hungersnot unter Kaiser Klaudius vorhergesagt hatte (Kap. 11,28). Nun »nahm« er »den Gürtel des Paulus und band sich die Füße und die Hände« damit. Durch diese dramatische Handlung bezeugte er seine Botschaft, wie schon viele Propheten vor ihm. Dann erklärte er die Bedeutung dieser Gegenstandspredigt. So wie er sich selbst »die Füße und die Hände« gebunden hatte, würden »die Juden in Jerusalem« die Hände und Füße des Paulus binden und ihn den heidnischen Behörden »überliefern«. Der Dienst des Paulus an den Juden (durch den Gürtel versinnbildlicht) sollte dazu führen, dass er von ihnen festgenommen wurde.
21,12-14 Als die Gefährten des Apostels und die Christen in Cäsarea dies hörten, baten sie ihn, »dass er nicht nach Jerusalem hinaufgehen möchte«. Doch er konnte ihre Besorgnis nicht verstehen. Ihre Tränen brachen ihm nur »das Herz«. Sollte die Furcht vor Ketten und Gefängnis ihn davon abhalten, das zu tun, was er für den Willen Gottes hielt? Sie sollten wissen, dass er »bereit« war, »nicht allein gebunden zu werden, sondern auch in Jerusalem für den Namen des Herrn Jesus zu sterben«. Alle ihre Argumente erwiesen sich als nutzlos. Er war entschlossen zu gehen, und so sagten sie schlicht: »Der Wille des Herrn geschehe!« Man kann nur schwer glauben, dass die Abschiedsworte des Paulus von einem Mann gesprochen wurden, der wissentlich gegenüber der Führung des Heiligen Geistes ungehorsam war. Wir wissen, dass die Jünger in Tyrus ihm durch den Geist gesagt hatten, er solle nicht  nach  Jerusalem  gehen  (V. 4).  Doch wusste Paulus, dass sie durch den Heiligen Geist sprachen? Und scheint der Herr nicht später seine Reise nach Jerusalem gutzuheißen, wenn er sagt: »Sei guten Mutes! Denn wie du meine Sache in Jerusalem bezeugt hast, so musst du auch in Rom zeugen« (Kap. 23,1)? Zweierlei ist eindeutig: Erstens war Paulus nicht der Ansicht, dass seine eigene Sicherheit die wichtigste Überlegung im Dienst für den Herrn war. Zweitens gebrauchte der Herr alle diese Umstände zu seiner Ehre.
21,15.16 Von Cäsarea »nach Jerusalem« ging die Reise mehr als 80 Kilometer weit über Land – eine lange Strecke zu dieser Zeit, in der man als Reisender noch nicht so schnell vorankam. Die Reiseg esellschaft des Apostels war durch »einige der Jünger aus Cäsarea« größer geworden. Auch ein Christ namens »Mnason« war zu der Gruppe hinzugestoßen. Er war ursprünglich ein »Zyprer« und war einer der ersten Gläubigen auf dieser Insel. Er lebte nun in »Jerusalem« und hatte das Vorrecht, Gastgeber des Apostels und seiner Gefährten zu sein, als Paulus zum letzten Mal nach »Jerusalem« reiste.
Die Missionsreisen des Paulus enden mit seiner Ankunft in Jerusalem. Der Rest der Apostelgeschichte beschäftigt sich mit seiner Gefangennahme, den Gerichtsverhandlungen, der Reise nach Rom, der dortigen Gerichtsverhandlung und seiner Gefangenschaft.
21,17.18 Nach der Ankunft in »Jerusalem« wurden der Apostel und seine Freunde von den »Brüdern« herzlich empfangen. Am nächsten Tag gab es eine Zusammenkunft mit »Jakobus und allen Ältesten«. Wir können nicht genau wissen, welcher »Jakobus« hier gemeint ist. Es könnte sich um Jakobus, den Bruder des Herrn, Jakobus, den Sohn des Alphäus, oder um eine andere Person dieses Namens handeln. Doch ist hier am wahrscheinlichsten der Erstgenannte gemeint.
21,19.20a Paulus übernahm die Führung und erzählte »eines nach dem anderen, was Gott unter den Nationen durch seinen Dienst getan hatte«. Das war Ursache zu großer Freude.
21,20b-22 Doch die jüdischen Brüder waren sehr besorgt. Es war die Nachricht verbreitet worden, dass der Apostel Paulus gegen Mose und das Gesetz gepredigt hatte. Das konnte in Jerusalem arge Schwierigkeiten mit sich bringen. Man warf Paulus insbesondere vor, dass er »alle Juden« im Ausland gelehrt hatte, »von Mose« abzufallen, indem er ihnen erklärte, »sie sollen weder die Kinder beschneiden noch nach den« jüdischen »Gebräuchen wandeln«. Lehrte Paulus das wirklich oder nicht? Er lehrte auf jeden Fall, dass Christus das Ende des Gesetzes und die Gerechtigkeit derjenigen ist, die glauben. Er lehrte, dass die gläubig gewordenen Juden, sobald das Zeitalter des christlichen Glaubens angebrochen war, nicht länger unter dem Gesetz standen. Er lehrte weiter, dass sich ein Mann, der die Beschneidung als Mittel der Rechtfertigung empfing, sich selbst vom Heil in Christus Jesus trennte. Er lehrte, dass die Rückkehr zu den Vorbildern und Schatten des Gesetzes eine Verunehrung Christi war, weil er nun gekommen war. Angesichts dieser Lehren kann man ziemlich leicht erkennen, warum die Juden ein solches Bild von ihm hatten.
21,23.24 Doch die jüdischen Brüder in Jerusalem hatten einen Plan, mit dem sie ihre Landsleute zu beruhigen hofften, und zwar die geretteten wie die unerretteten. Sie schlugen vor, dass Paulus ein jüdisches »Gelübde« ablegen solle. »Vier Männer« hatten das schon getan. Paulus sollte sich mit ihnen zusammentun, sich mit ihnen reinigen und »die Kosten für sie« tragen.
F. W. Grant erklärt dazu: Er sollte diese vier Männer nehmen, die, obwohl sie Gläubige wie er selbst waren, doch noch das Nasiräergelübde ablegen konnten. Er sollte sich mit ihnen gereinigt im Tempel vorstellen, die für diese Reinigung notwendigen Kosten auf sich nehmen und das Ganze öffentlich tun, damit alle seine Stellung zum Gesetz eindeutig erkennen konnten.76 Wir wissen nicht viel darüber, was dieses »Gelübde« beinhaltete. Die Einzelheiten darüber bleiben verhüllt und unklar. Wir müssen lediglich wissen, dass es sich um ein jüdisches Gelübde handelte. Dadurch würden die Juden »erkennen«, dass Paulus nicht andere Menschen vom Gesetz abwenden wollte, wenn er sich dem damit verbundenen Ritus unterziehen würde. Es wäre ein Zeichen für die Juden gewesen, dass der Apostel selbst das »Gesetz« hielt.
Dass der Apostel entsprechend handelte und dieses jüdische »Gelübde« auf sich nahm, ist verteidigt und kritisiert worden. Als Verteidigung hat man angeführt, dass er nach seinen eigenen Prinzipien handelte, nämlich allen alles zu werden, um dadurch einige zu erretten (1. Kor 9,19-23), d. h. für Christus zu gewinnen. Andererseits ist Paulus dafür kritisiert worden, dass er bei der Beschwichtigung der Juden zu weit gegangen sei und so den Eindruck erweckt habe, dass er noch unter dem Gesetz stehe. Mit anderen Worten: Man hat Paulus vorgeworfen, seinen eigenen Überzeugungen untreu geworden zu sein, wonach der Gläubige nicht unter dem Gesetz steht – weder als Grundlage der Rechtfertigung noch als Anleitung zur Lebensführung (Gal 1 und 2). Wir tendieren dazu, dieser Kritik zuzustimmen, doch sind wir auch der Meinung, dass wir sehr vorsichtig sein sollten, wenn wir die Motive des Apostels für sein Handeln beurteilen.
21,25 Die Brüder in Jerusalem traten wie Paulus dafür ein, dass den »Gläubigen aus den Nationen« nur die vom Apostelkonzil in Jerusalem beschlossenen Bestimmungen auferlegt wurden. Ihnen war lediglich die Anweisung gegeben worden, »dass sie sich sowohl vor dem Götzenopfer als auch vor Blut und Ersticktem und Unzucht« enthalten »sollen«.
21,26 Die Maßnahmen, die Paulus ergriffen hat, leuchten uns heute nicht mehr ein. Viele Ausleger gehen davon aus, dass es sich hier um das Nasiräergelübde gehandelt hat. Doch auch wenn das der Fall sein sollte, verstehen wir nicht die verschiedenen Schritte des Zeremoniells, wie sie im folgenden Abschnitt beschrieben werden.
H. Die Gefangennahme des Paulus und die Gerichtsverhandlungen gegen ihn (21,27 – 26,32)
21,27-29 »Als aber die sieben Tage« des Gelübdes »beinahe vollendet waren«, erwies sich der Versuch des Paulus, »die Juden« zu beruhigen, als vergeblich. Als einige der ungläubigen »Juden aus« der Provinz Asien ihn »im Tempel … sahen«, zettelten sie einen Aufruhr gegen ihn an. Sie klagten ihn nicht nur der Lehren an, die ihrer Ansicht nach dem jüdischen »Volk« und dem »Gesetz« zuwider waren, sondern sie beschuldigten ihn außerdem, »den Tempel« verunreinigt zu haben, indem er Heiden in den inneren Vorhof geführt habe. Wirklich geschehen war Folgendes: »Sie hatten Trophimus, den Epheser, mit« Paulus »in der Stadt« Jerusalem »gesehen«. »Trophimus« war ein bekehrter Heide aus Ephesus. Weil sie beide zusammen sahen, »meinten … sie, dass Paulus« diesen heidnischen Freund in den inneren Hof des Tempels geführt hatte.
21,30-35 Obwohl diese Anklage offensichtlich falsch war, diente sie doch ihrem Zweck. »Die ganze Stadt« war in Aufruhr. Die Menschen »ergriffen Paulus und schleppten ihn aus dem Tempel«. Schnell schlossen sie »die Türen« des inneren Vorhofs hinter ihm. Als sie ihn nun »töten« wollten, erreichte die Nachricht den Befehlshaber (Chiliarchen), einen »Obersten der Schar« bzw. der Garnison in der Burg Antonia. Er eilte mit einigen seiner »Soldaten …, ergriff« Paulus und holte ihn aus der in Wut geratenen Menge heraus. Dann ließ er ihn »mit zwei Ketten … fesseln« und fragte, »wer er denn sei und was er getan habe«. Die Angehörigen des Mobs riefen natürlich wild durcheinander und befanden sich in Aufruhr. »Die einen aber riefen dies, die anderen jenes.« Der frustrierte Offizier »befahl« den Soldaten, den Gefangenen »in das Lager« zu bringen, damit er herausfinden konnte, was eigentlich vorging. Doch selbst bei diesem Versuch drängte die Menge noch mit solcher Entschlossenheit gegen Paulus an, dass er »wegen der Gewalt des Volkes von den Soldaten« die Treppe hinauf »getragen« werden musste.
21,36 Als sie das taten, vernahmen sie aus der Menge die Worte, die vielleicht einige von ihnen schon einmal gehört hatten: »Weg mit ihm!«
21,37-39 Als sie gerade dabei waren, »Paulus … in das Lager« hineinzubringen, bat er den Offizier, etwas sagen zu dürfen. Der Offizier erschrak, als er Paulus »Griechisch« sprechen hörte. Offensichtlich hatte er gedacht, den »Ägypter« gefangen genommen zu haben, der »eine Empörung gemacht und die viertausend Mann«, die man »Sikarier« nannte, »in die Wüste geführt hatte«. »Paulus« versicherte ihm schnell, dass er »ein jüdischer Mann aus Tarsus, … einer … Stadt in Zilizien«, sei. Als solcher war er »Bürger einer nicht unberühmten Stadt«. Sie war für ihre Kultur, ihre Bildung und ihren Handel bekannt, wobei Augustus sie zur »freien Stadt« erklärt hatte. Mit seiner üblichen Furchtlosigkeit bat der Apostel um die Erlaubnis, »zu dem Volk zu reden«.
21,40 Die Erlaubnis wurde erteilt, und als Paulus »auf den Stufen stehend … winkte«, beruhigte er damit die Volksmenge. Die »Stille« war »groß«. Welch ein Gegensatz zum vorherigen Aufruhr! Paulus war nun bereit, sein Zeugnis vor den Jerusalemer Juden abzulegen. Mit dem Ausdruck »hebräische Mundart« ist hier wahrscheinlich Aramäisch (eine eng mit dem Hebräischen verwandte Sprache) gemeint, wie es von den Hebräern dieser Zeit gesprochen wurde.
22,1.2 Die Entscheidung des Paulus, die jüdische Volksmenge auf Aramäisch statt auf Griechisch anzusprechen, zeugte von Klugheit. Sobald »sie … hörten«, dass er in ihrer Muttersprache redete, waren sie angenehm überrascht. Daraufhin verstummte ihr Geschrei, wenigstens für einen Moment.
22,3-5 Paulus begann bei seiner Herkunft. Er war ein »jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Zilizien«. Dann erwähnte er seine Ausbildung »zu den Füßen« des bekannten jüdischen Lehrers »Gamaliel« und seine Unterweisung im jüdischen Glauben. Dabei betonte er seinen Eifer als Jude. Er hatte die Christen »verfolgt« und damit »die Gefängnisse« mit Menschen gefüllt, die an den Herrn Jesus glaubten. »Der Hohepriester« und andere Mitglieder des Synedriums konnten ihm »Zeugnis« von seinen rigorosen Maßnahmen geben. »Von ihnen« hatte er »auch Briefe« erhalten, die ihn bevollmächtigen, »nach Damaskus« zu reisen und von »dort« die Christen »nach Jerusalem« zurückzuführen, »dass sie gestraft würden«.
22,6-8 Bis zu diesem Punkt konnten die Juden der Predigt des Paulus ohne Probleme folgen, und wenn sie ehrlich waren, mussten sie zugeben, dass das Gesagte der Wahrheit entsprach. Nun will der Apostel ihnen von einem Vorfall berichten, der die Richtung seines ganzen Lebens änderte. Es ist nun an ihnen zu entscheiden, ob dieses Ereignis von Gott kam.
Als Paulus »nach Damaskus … reiste, … umstrahlte« ihn »plötzlich aus dem Himmel ein helles Licht«. Die Tatsache, dass das »um Mittag« geschah, was hier zum ersten Mal berichtet wird, unterstreicht, dass das Licht heller und herrlicher als das volle Mittagslicht der Sonne gewesen sein musste. Der Christenverfolger wurde von der Helligkeit »zu Boden« geworfen und hörte »eine Stimme« vom Himmel, die zu ihm »sprach: ›Saul, Saul, was verfolgst du mich?‹« Auf Nachfragen erfuhr er, dass hier »Jesus, der Nazoräer«, sprach. Jesus von Nazareth war also aus den Toten auferstanden und im Himmel verherrlicht.
22,9 Die Männer, die mit ihm reisten, »sahen zwar das Licht« und hörten den Klang »der Stimme« (9,7), doch sie »hörten nicht« die Worte, die gesprochen wurden. Mit anderen Worten, sie waren sich eines Geräusches bewusst, hörten aber keine verständliche Rede.
22,10.11 Nachdem der Herr des Lebens und der Herrlichkeit Paulus auf diese Weise persönlich erschienen war, vollzog dieser eine völlige Lebenshingabe an den Heiland mit Geist, Seele und Leib. Das fand in der Frage seinen Ausdruck: »Was soll ich tun, Herr?« Der Herr Jesus wies ihn an, »nach Damaskus« zu gehen »und dort« weitere Anweisungen abzuwarten. Vom »Licht« der Herrlichkeit Christi geblendet, wurde er »an der Hand« in diese Stadt »geleitet«.
22,12 In Damaskus suchte ihn Hananias auf. Paulus beschreibt ihn den jüdischen Zuhörern als »frommen Mann nach dem Gesetz, der ein gutes Zeugnis hatte von allen dort wohnenden Juden«. Das »Zeugnis« eines solchen Mannes war wichtig, um den Bericht der Bekehrung des Paulus zu bestätigen.
22,13 Hananias sprach Paulus als »Bruder Saul« an und sagte ihm, dass er wieder »sehend« würde. Als Paulus sehend geworden war, blickte er zuerst zu Hananias auf.
22,14-16 In den Versen 14-16 erfahren wir auch zum ersten Mal, dass Hananias zu Paulus Folgendes sagte: Der Gott unserer Väter hat dich dazu bestimmt, seinen Willen zu erkennen und den Gerechten zu sehen und eine Stimme aus seinem Mund zu hören. Denn du wirst ihm an alle Menschen ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast. Und nun, was zögerst du? Steh auf, lass dich taufen und deine Sünden abwaschen, indem du seinen Namen anrufst.
Einige interessante und wichtige Punkte sollten bei diesen Versen angemerkt werden. Erstens stellte Hananias fest, dass es »der Gott unserer Väter« war, der hinter den Ereignissen auf der Straße nach Damaskus stand. Wenn die Juden dem, was geschehen war, wirklich widerstehen wollten, dann kämpften sie in Wahrheit gegen Gott. Zweitens erfuhr Paulus von Hananias, dass er »ein Zeuge« für den Herrn »an alle Menschen« sein würde. Das hätte die jüdische Menge auf die Ankündigung des Paulus vorbereiten sollen, dass er zu den Heiden gesandt war. Schließlich wurde Paulus aufgefordert, aufzustehen, sich »taufen« und seine »Sünden abwaschen« zu lassen.
Vers 16 ist missbraucht worden, um eine Taufwiedergeburt zu lehren. Es ist möglich, dass der Vers sich nur auf Paulus als Juden bezieht, der sich von seinem Volk abwenden musste, das Jesus Christus verworfen hatte, indem er sich taufen ließ (siehe Kommentar zu 2,38). Eine einfachere Lösung beruht auf der grammatischen Konstruktion des Originaltextes: In manchen Übersetzungen klingt an, dass es vier Aufträge an Paulus gibt, die gleichwertig zu behandeln sind. Die Elberfelder Bibel folgt jedoch dem Original und sieht jeweils die ersten beiden und die anderen beiden Aufträge als Einheit. Im Griechischen steht in jeder der beiden Satzhälften eine finite Verbform, die jeweils von einem Partizip näher bestimmt wird. Eine wörtliche Übersetzung würde etwa so lauten: »… indem du dich erhebst, lass dich taufen; und lass deine Sünden abwaschen, indem du den Namen des Herrn anrufst.«77 Diese letzte Konstruktion stimmt am ehesten mit der allgemeinen biblischen Lehre zu dem Thema überein (vgl. Joel 3,5; Apg 2,21; Röm 10,13).
22,17-21 Nun erfahren wir zum ersten Mal von einer Erfahrung des Paulus, die er gegen Ende seines ersten Besuches in »Jerusalem« nach seiner Bekehrung hatte. Während er »im Tempel betete«, fiel er »in Verzückung« und hörte, wie der Herr ihm befahl, »schnell aus Jerusalem« hinauszugehen, weil die Menschen dort sein »Zeugnis« über Christus »nicht annehmen« würden. Es schien dem Apostel unglaublich, dass die Angehörigen seines eigenen Volkes sich weigern würden, auf ihn zu hören. Schließlich wussten sie doch, was für ein eifernder Jude er gewesen war. Ihnen war bekannt, wie er die Jünger Jesu »ins Gefängnis werfen und … schlagen ließ« und wie er sogar Komplize der Mörder des »Stephanus« geworden war. Doch der Herr wiederholte seinen Befehl: »Geh hin, denn ich werde dich weit weg zu den Nationen senden.«
22,22.23 Bis zu diesem Punkt hatten die Juden Paulus ruhig zugehört. Doch als er erwähnte, dass er das Evangelium zu den Heiden bringen sollte, rief dies einen Hass und eine Eifersucht hervor, die jenseits jeder Vernunft lagen. In wildem Durcheinander schrien sie und forderten den Tod des Paulus.
22,24.25 Als der« Oberste« ihre sinnlose Raserei sah, schloss er daraus, dass Paulus sich eines schlimmen Verbrechens schuldig gemacht haben musste. Offensichtlich hatte er die Verteidigungsrede des Paulus nicht verstehen können, weil sie auf Aramäisch gehalten wurde, und beschloss daher, durch Folter ein Geständnis von Paulus zu erzwingen. Er »befahl« deshalb, den Gefangenen »ins Lager zu bringen« und mit Riemen für die Geißelung zu binden. Als diese Vorbereitungen für die Geißelung fortschritten, fragte Paulus ruhig den Hauptmann, ob es rechtmäßig sei, »einen Menschen, der Römer ist, zu geißeln«, und zwar einen Unverurteilten. Ja, es war sogar ungesetzlich, einen »Römer« auch nur zu fesseln, solange seine Schuld nicht erwiesen war! Ihn jedoch zu »geißeln«, war ein schlimmer Verstoß gegen das Gesetz.
22,26 »Der Hauptmann … ging« schnell zu »dem Obersten« und riet ihm, vorsichtig zu sein, was er mit Paulus mache, weil »dieser Mensch … ein Römer« war.
22,27.28 Aufgrund dessen eilte der »Oberst« zu Paulus. Auf seine Nachfrage erfuhr er, dass der Apostel wirklich »ein Römer« war. Zu dieser Zeit gab es drei Möglichkeiten, die römische Bürgerschaft zu erlangen. Erstens wurde die Bürgerschaft manchmal durch kaiserliche Erlässe für bestimmte geleistete Dienste zugeeignet. Zweitens konnte man durch Geburt römischer Bürger werden. Dies war bei Paulus der Fall, der in Tarsus geboren worden war, einer freien Stadt des Römischen Reiches. Schon sein Vater vor ihm war römischer Bürger gewesen. Und schließlich war es noch möglich, das »Bürgerrecht« zu erwerben, meistens für viel Geld. So hatte »der Oberste … dieses Bürgerrecht … für eine große Summe« erlangt.
22,29 Als herauskam, dass Paulus ein »Römer« war, sah der Oberste sogleich davon ab, ihn geißeln zu lassen. Die Angehörigen der Garnison waren äußerst besorgt.
22,30 Der Oberste war offensichtlich bestrebt, »mit Gewissheit« zu »erfahren … weshalb er von den Juden angeklagt« worden war. Gleichzeitig war er entschlossen, gesetzes- und ordnungsgemäß vorzugehen. Deshalb ließ er Paulus am Tag nach dem Aufruhr in Jerusalem aus dem Gefängnis holen und vor »die Hohenpriester und« das Synedrium führen.
23,1.2 Vor dem Synedrium (Hohen Rat) begann Paulus seine Verteidigungsrede mit der Feststellung, dass er sein ganzes Leben lang »mit allem guten Gewissen vor Gott gewandelt« ist. »Der Hohepriester Hananias« wurde durch diese Bemerkung aufgebracht. Er sah Paulus zweifellos als einen vom Judentum Abgefallenen, als einen Abtrünnigen und Überläufer an. Wie konnte jemand, der vom Judentum zum Christentum übergetreten war, solche Unschuld für sich beanspruchen? Entsprechend befahl »der Hohepriester«, den Gefangenen »auf den Mund zu schlagen«. Diese Anweisung war äußerst ungerecht, weil der Fall ja bisher kaum verhandelt worden war.
23,3 Paulus blieb die Antwort nicht schuldig und sagte, dass Hananias von »Gott« geschlagen werden würde, weil er wie eine »getünchte Wand« sei. Äußerlich schien der Hohepriester gerecht zu sein, doch innerlich war er korrupt. Er gab vor, andere »nach dem Gesetz zu richten«. Hier jedoch befahl er, »gegen das Gesetz handelnd«, Paulus »zu schlagen«.
23,4 Die Zuhörer waren schockiert, als Paulus Hananias so scharf zurechtwies. Wusste er denn nicht, dass er mit dem »Hohenpriester« redete?
23,5 Aus einem uns unbekannten Grund hatte Paulus wirklich nicht bemerkt, dass Hananias »der Hohepriester ist«. Der Hohe Rat war plötzlich einberufen worden, und vielleicht trug Hananias keine Amtsgewänder. Es kann sogar sein, dass er nicht auf dem Platz saß, den der »Hohepriester« normalerweise innehatte. Vielleicht waren aber auch die schlechten Augen des Paulus schuld. Aus welchem Grund auch immer, Paulus hatte nicht absichtlich »schlecht« vom ordentlich eingesetzten »Obersten« geredet. Er entschuldigte sich schnell für seine Reaktion und zitierte dabei 2. Mose 22,27. Der Wortlaut dieser Stelle wird hier folgendermaßen wiedergegeben: »Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht schlecht reden.«
23,6 Der Unterhaltung im Gerichtssaal entnahm Paulus, dass zwischen »den Sadduzäern« und »den Pharisäern« Uneinigkeit herrschte. Daher beschloss der Apostel, in diesem Zwiespalt Partei zu ergreifen, indem er erklärte, dass er selbst »ein Pharisäer« sei, der angeklagt würde, weil er an die »Auferstehung der Toten« glaube. »Die Sadduzäer« leugneten natürlich die »Auferstehung« wie auch die Existenz von Dämonen oder Engeln. »Die Pharisäer«, die sehr stark der herkömmlichen Lehre verhaftet waren, glaubten an beides (s. V. 8).
Paulus wird kritisiert, hier fleischliche Mittel eingesetzt zu haben, um seine Zuhörer zu spalten. »Wir können uns hier des Gefühls nicht erwehren,« schreibt A. J. Pollock, »dass Paulus hier zu Unrecht beanspruchte, Pharisäer zu sein. Er suchte also einen strategischen Vorteil, indem er die einander widerstreitenden Sadduzäer und Pharisäer entzweite«.
23,7-9 Ob es nun gerechtfertigt war oder nicht, seine Bemerkung provozierte einen »Zwiespalt unter den Pharisäern und den Sadduzäern« und außerdem »ein großes Geschrei«. Einige der »Schriftgelehrten von der Partei der Pharisäer« verteidigten Paulus und sagten im Grunde: »Was macht das schon, ›wenn … ein Geist oder ein Engel zu ihm geredet hat …‹«
23,10 Die Auseinandersetzung der gegeneinander opponierenden Gruppen wurde so hitzig, dass »der Oberste« den »Truppen« befahl, den Gefangenen aus dem Gerichtssaal zurück »in das Lager« zu führen.
23,11 »In der folgenden Nacht« erschien »der Herr« persönlich dem Paulus im Gefängnis und sagte: »Sei guten Mutes! Denn wie du meine Sache in Jerusalem bezeugt hast, so musst du sie auch in Rom bezeugen.« Es ist bemerkenswert, dass in einem Abschnitt, worin die Handlungen des Apostels so häufig kritisiert werden, ihn »der Herr« selbst für das treue Zeugnis lobte, das er »in Jerusalem« gegeben hatte. Kein Wort des Tadels oder der Kritik hören wir aus dem Mund unseres Heilands. Stattdessen wurde Paulus nur gelobt und erhielt Verheißungen. Der Dienst des Paulus war noch nicht zu Ende. So wie er »in Jerusalem« treu gedient hatte, würde er auch »in Rom« Christus »bezeugen«.
23,12-15 Am nächsten »Tag … rotteten sich die Juden zusammen«, um den Apostel Paulus zu töten. »Vierzig« von ihnen »verschworen sich« sogar »mit einem Fluch, dass sie weder essen noch trinken würden,« ehe sie »diesen Hochstapler« »getötet« hätten. Ihr Plan war folgender: Sie wollten zu »den Hohenpriestern und den Ältesten gehen« und vorschlagen, dass eine Versammlung des Hohen Rats angesetzt würde, um den Fall des Paulus noch einmal genauer zu verhandeln. Der Hohe Rat würde den »Obersten« bitten, den Gefangenen zu ihm zu bringen. Die »vierzig« Attentäter würden irgendwo zwischen Gefängnis und Gerichtssaal im Hinterhalt liegen. Wenn Paulus ihnen dann »nahe« käme, könnten sie ihn »umbringen«.
23,16-19 Die Vorsehung Gottes fügte es jedoch so, dass »der Neffe des Paulus« diesen Plan mit anhörte und ihm davon berichtete. Paulus glaubte, dass es gerechtfertigt wäre, Maßnahmen zur Wahrung der eigenen Sicherheit zu ergreifen. Deshalb berichtete er die Angelegenheit einem »von den Hauptleuten«. Daraufhin begleitete der Zenturio selbst »diesen jungen Mann zu dem Obersten«.
23,20.21 Der Neffe des Paulus berichtete nicht nur über den gesamten Anschlag, sondern bat den Obersten auch inständig, sich »nicht von ihnen überreden« zu lassen, dass Paulus zu ihnen gebracht werde.
23,22 Als der »Oberste« diese Geschichte gehört hatte, »entließ« er »den jungen Mann« mit der Anweisung, niemand anders von ihrer Zusammenkunft zu berichten. Er hatte erkannt, dass er sofort handeln musste, um den Gefangenen vor dem brennenden Hass der Juden zu bewahren.
23,23-25 Der Oberste rief schnell »zwei von den Hauptleuten« und gab Befehle, eine Eskorte zu bilden, die den Apostel »nach Cäsarea« bringen sollte. Die Wache bestand aus »zweihundert Soldaten, … siebzig Reitern und zweihundert Lanzenträgern«. Die Reise sollte im Schutz der Dunkelheit um 21 Uhr beginnen. Die Größe der Militäreskorte war nicht als Ehre für diesen treuen Botschafter Christi gedacht. Sie zeigt eher die Entschlossenheit des Obersten, seinen Ruf bei den römischen Vorgesetzten zu erhalten. Wenn es nämlich den Juden gelänge, Paulus als römischen Bürger zu ermorden, dann würde er für seine Nachlässigkeit zur Verantwortung gezogen werden.
23,26-28 Der Oberste weist sich in seinem Brief, den er an den römischen »Statthalter Felix« schrieb, als »Klaudius Lysias« aus. Der Zweck des Briefes bestand natürlich darin, die Paulus betreffende Angelegenheit zu erklären. Man muss es fast als komisch bezeichnen, wie Lysias versucht, sich selbst als Helden und Verteidiger der öffentlichen Rechtsordnung hinzustellen. Er fürchtete wahrscheinlich sehr, dass »Felix« erfahren könnte, dass er einen »Römer« gefesselt hatte, der nicht verurteilt war. Es war ein Glück für »Klaudius Lysias«, dass Paulus über das Verhalten des Obersten Stillschweigen bewahrte.
23,29.30 Nach den Ausführungen des Obersten hatte seine Untersuchung gezeigt, dass Paulus sich keines Verbrechens schuldig gemacht habe, das »des Todes oder der Fesseln wert wäre«. In dem Aufruhr sei es wohl um »Streitfragen ihres Gesetzes« gegangen. Wegen des geplanten Anschlags gegen Paulus hielt er es jedoch für ratsam, Paulus nach Cäsarea zu senden. Gleichzeitig wies er seine »Kläger« an, ebenfalls dorthin zu reisen, damit die ganze Angelegenheit vor Felix behandelt werden konnte.
23,31-35 Die Reise »nach Cäsarea« wurde in »Antipatris« kurz unterbrochen, in einer Stadt, die etwa 60 Kilometer von Jerusalem und ca. 35 Kilometer von »Cäsarea« entfernt liegt. Weil von dort an kaum noch Gefahr bestand, dass die Juden einen Hinterhalt legen würden, kehrten »die Soldaten« nach Jerusalem zurück, sodass nur noch die »Reiter« Paulus nach »Cäsarea« begleiteten. Bei ihrer Ankunft übergaben sie Paulus zusammen mit dem »Brief« an Felix. Als eine erste Befragung ergab, dass Paulus wirklich ein römischer Bürger war, versprach Felix, seinen Fall anzuhören, »wenn« seine Ankläger »aus Jerusalem« angekommen seien. In der Zwischenzeit befahl er, dass Paulus »in dem Prätorium des Herodes bewacht werde«, der zugleich als sein Amtssitz diente. (Felix hielt sich dort fast ständig auf, während Herodes Agrippa II. nur zeitweise in dieser Residenz weilte [vgl. Apg 25,13], weil sich sein eigentliches Herrschaftsgebiet im Nordosten Palästinas befand; Anm. d. Übers.) Der römische Statthalter Felix hatte eine glänzende Karriere vom Sklaven zu einer wichtigen politischen Persönlichkeit im Römischen Reich hinter sich. Seine persönliche Lebensführung war äußerst sittenlos. Zur Zeit seiner Ernennung zum Statthalter der Provinz Judäa war er der Ehemann dreier königlicher Damen. Während er im Amt war, verliebte er sich in Drusilla, die mit Azizus, dem König von Emesa, verheiratet war. Laut Josephus wurde eine Hochzeit von Simon, dem Zauberer aus Zypern, veranlasst.
Er war ein grausamer Despot, wie sich in der Tatsache zeigt, dass er den Anschlag auf einen Hohenpriester namens Jonatan veranlasste, weil dieser ihn wegen seiner schlechten Amtsführung angegriffen hatte.
Vor diesem Felix musste Paulus nun erscheinen.
24,1 »Fünf Tage«, nachdem Paulus von Jerusalem nach Cäsarea abgereist war, erschien der Hohepriester Hananias mit einigen Mitgliedern des Hohen Rats. Sie nahmen sich einen Römer namens »Tertullus« als »Anwalt«. Seine Aufgabe war es, vor Felix Anklagen »gegen Paulus« zu erheben.
24,2-4 »Tertullus« eröffnete »die Anklage«, indem er dem Statthalter schmeichelte. Natürlich war in dem, was er sagte, einiges an Wahrheit verborgen. »Felix« hatte Recht und Ordnung aufrechterhalten, indem er Aufstände und Volksbewegungen unterdrückte. Doch die Worte des Tertullus gingen über eine bloße Anerkennung der Tatsache hinaus. Dies war ein eindeutiger Versuch, den Statthalter auf seine Seite zu ziehen.
24,5-8 Dann fuhr er fort, um seine einzelnen Anklagen gegen den Apostel Paulus vorzubringen:
1. Er sei »eine Pest«, das heißt, er sei gemeingefährlich wie eine Seuche. 2. Er habe »Aufruhr erregt … unter allen Juden«.
3. Er sei »Anführer der Sekte der Nazoräer«.
4. Er habe »versucht …, den Tempel zu entheiligen«.
24,9 Nachdem Tertullus Felix gegenüber sein Vertrauen bekundet hatte, dass dieser die Wahrheit der gegen Paulus gerichteten Anklagen beurteilen könne, unterstützten die anwesenden »Juden« die Argumente des Tertullus.
24,10 »Paulus« erhob sich auf ein Zeichen des »Statthalters« hin, um sich zu verteidigen. Zunächst gab er seiner Genugtuung Ausdruck, vor einem Mann erscheinen zu dürfen, der sich in den Sitten und Gebräuchen des jüdischen Volkes auskannte, da er »seit vielen Jahren« im Amt war. Dies mag als Schmeichelei erscheinen, doch in Wahrheit war es eine höfliche Feststellung der Wahrheit. Der Apostel antwortete dann nacheinander auf die Klagen, die gegen ihn erhoben worden waren.
24,11 Die Anklage, ein öffentliches Ärgernis darzustellen, beantwortete er damit, dass nur »zwölf Tage« vergangen waren, seit er »nach Jerusalem … hinaufging«. Sein Anliegen sei es gewesen, »anzubeten«, und nicht, um Unruhe zu verbreiten.
24,12.13 Als Nächstes bestritt er die Anklage, die Juden zu einem Aufruhr angestiftet zu haben. Zu keiner Zeit, »weder im Tempel, … in den Synagogen noch in der Stadt« hatte er mit den Menschen diskutiert, um sie zum Aufruhr anzustiften. Das waren die Fakten, und niemand konnte das Gegenteil beweisen.
24,14-17 Paulus leugnete die dritte Anklage nicht, nämlich, dass er ein Anführer der »Sekte« der Nazoräer sei. Doch er sagte, dass er in dieser Eigenschaft »dem Gott« der Juden diente, »indem« er »allem« glaubte, was im AT »geschrieben steht«. Er teilte die Erwartung aller rechtgläubigen Juden, insbesondere der Pharisäer, »dass eine Auferstehung der Gerechten wie der Ungerechten sein« werde. Im Licht dieser kommenden »Auferstehung« versuchte er immer, eine ungetrübte Gemeinschaft mit dem Herrn und seinen Mitmenschen aufrechtzuerhalten. Weit davon entfernt, die Juden zu einem Aufruhr anzustiften, war Paulus nach Jerusalem gekommen, um dem jüdischen Volk »Almosen zu bringen«. Er bezog sich dabei natürlich auf die Sammlung der Gemeinden in Mazedonien und Achaja, die für die bedürftigen Hebräerchristen in Jerusalem bestimmt war.
24,18.19 Dann ging es um die vierte Klage, nämlich darum, dass er »den Tempel« entheiligt habe. Darauf antwortete Paulus folgendermaßen: Während er dabei war, im »Tempel« Opfer zu bringen, um ein jüdisches Gelübde zu erfüllen, »fanden« ihn »einige Juden aus Asien« und klagten ihn an, unreine Heiden in den »Tempel« mitzunehmen. Das stimmte natürlich nicht. Der Apostel war zu dieser Zeit allein und hatte sich von aller rituellen Unreinheit gerade »gereinigt«. Diese »Juden aus Asien«, die den Aufruhr gegen ihn in Jerusalem angeführt hatten, hätten eigentlich nach Cäsarea kommen und ihn anklagen sollen, »wenn sie etwas gegen« ihn vorzubringen hatten.
24,20.21 Paulus forderte nun die anwesenden Juden auf, eindeutig die Delikte zu nennen, derer er sich als schuldig erwiesen habe, als er »vor dem Hohen Rat« in Jerusalem »stand«. Dazu waren sie jedoch außerstande. Alles, was sie gegen ihn anführen konnten, war der »Ausruf« des Paulus: »Wegen der Auferstehung der Toten werde ich heute von euch gerichtet.« Mit anderen Worten: Die Anklagen, die irgendwelche kriminellen Vergehen betrafen, entsprachen nicht der Wahrheit, und das, was von den Vorwürfen stimmte, stellte kein Straftat dar.
24,22 Als »Felix« sich den Fall angehört hatte, sah er sich einem Dilemma gegenüber. Er wusste genug über den christlichen Glauben, um zu entscheiden, wer hier recht hatte. Der vor ihm stehende Gefangene hatte sich offensichtlich keines Vergehens gegen das römische Gesetz schuldig gemacht. Doch wenn er das vor Paulus zugeben würde, würde er den Zorn der Juden gegen sich heraufbeschwören. Vom politischen Standpunkt aus war es wichtig, dass er ihre Gunst behielt. So flüchtete er sich in die Ausrede, den Fall noch weiter behandeln zu wollen. Er kündigte an, dass er warten wolle, bis »Lysias, der Oberste«, nach Cäsarea kommen würde. Doch in Wirklichkeit war dies nichts anderes als eine Verzögerungstaktik. Wir hören nirgends, dass »der Oberste« je nach Cäsarea gekommen wäre.
24,23 Als er die Verhandlung schloss, »befahl« Felix, dass Paulus zwar »in Gewahrsam« gehalten werden müsse, wies aber gleichzeitig an, ihm eine gewisse »Erleichterung« der Haft zu gewähren. »Den Seinen« sollte erlaubt sein, ihn zu besuchen und »ihm zu dienen«. Das deutet zweifellos darauf hin, dass der Statthalter Paulus nicht für einen Schwerverbrecher hielt.
24,24.25a »Einige Tage« nach der öffentlichen Verhandlung organisierte »Felix« im Beisein seiner Frau »Drusilla« eine Privatunterredung mit dem Apostel, um mehr »über den Glauben an Christus« zu erfahren. Mit unübertrefflicher Furchtlosigkeit »redete … Paulus« mit diesem lasterhaften Statthalter und seiner ehebrecherischen Frau »über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und das kommende Gericht«. Sie wussten wenig über »Gerechtigkeit«, weder in ihrem öffentlichen noch in ihrem privaten Leben. Ihnen war »Enthaltsamkeit« fremd, wie anhand ihrer gesetzwidrigen Ehe deutlich wurde. Sie mussten vor dem »kommenden Gericht« gewarnt werden, weil sie in den Feuersee geworfen werden würden, wenn ihre Sünden nicht durch das Blut Christi gesühnt werden würden.
24,25b.26 »Felix« scheint durch diese Rede mehr bewegt worden zu sein als Drusilla. Obwohl er »mit Furcht erfüllt« war, vertraute er sein Leben doch nicht dem Heiland an. Er schob seine Entscheidung für Christus mit den Worten auf: »Für jetzt geh hin! Wenn ich aber gelegene Zeit habe, werde ich dich rufen lassen.« Leider kam diese »gelegene Zeit« nie wieder, soweit wir aus der Bibel wissen. Aber dies war nicht das letzte Zeugnis des Paulus vor »Felix«. Der Statth alter rief ihn im Laufe der nächsten beiden Jahre wiederholt zu sich, während der Apostel als Gefangener in Cäsarea weilte. Im Grunde hoffte »Felix«, dass einige von Paulus’ Freunden ihm ein ansehnliches Bestechungsgeschenk zuk ommen lassen würden, um seine Freilassung zu erwirken.
24,27 »Als aber zwei Jahre verflossen waren«, im Jahr 60 n. Chr., »bekam Felix den Porzius Festus zum Nachfolger; und da Felix den Juden einen Gefallen tun wollte, hinterließ er den Paulus« als gefesselten Gefangenen in Cäsarea.
25,1 Porzius »Festus« wurde durch Kaiser Nero im Herbst des Jahres 60 n. Chr. zum römischen Statthalter von Judäa ernannt. »Cäsarea« war das politische Zentrum der römischen Provinz Syrien, zu der Judäa gehörte. »Nach drei Tagen« reiste Festus »von Cäsarea hinauf nach Jerusalem«, der religiösen Hauptstadt seiner Untertanen.
25,2.3 Obwohl es schon zwei Jahre her war, dass »Paulus« in Cäsarea ins Gefängnis gekommen war, hatten die »Juden« ihn nicht vergessen, noch war ihr mörderischer Hass abgeflaut. Da sie der Ansicht waren, von dem neuen Statthalter eine politische Gefälligkeit erwarten zu können, kamen »die Hohenpriester und die Vornehmsten der Juden«, um ihn mit ihren Anklagen gegen Paulus zu überhäufen. Sie baten ihn, Paulus »nach Jerusalem« zu überführen, damit er dort verhört werden könne. Wahrscheinlich meinten sie, dass vor dem Hohen Rat weiter gegen ihn verhandelt werden sollte, doch ihr wirklicher Plan bestand darin, ihm aufzulauern und ihn »umzubringen«.
25,4.5 Aber »Festus« war zweifellos im Voraus über ihren vorherigen Mordplan aufgeklärt worden. Auch hatte er wohl von den ausführlichen Maßnahmen gehört, die der Oberste in Jerusalem ergriffen hatte, um Paulus sicher nach Cäsarea bringen zu lassen. Er weigerte sich deshalb, ihre Bitte zu erfüllen. Er versprach ihnen aber, dass sie Gelegenheit erhalten würden, ihre Anklage gegen Paulus vorzubringen, wenn sie nach Cäsarea kommen würden.
25,6-8 Nach einem Aufenthalt von »mehr als zehn Tagen« in Jerusalem kehrte Festus »nach Cäsarea« zurück und berief das Gericht für den »folgenden Tag« ein. Die Juden gingen schnell zum Angriff über und brachten »viele und schwere« Anklagen gegen Paulus vor, doch konnten sie keine davon »beweisen«. Der Apostel merkte, dass ihre Argumente sehr schwach waren. Deshalb begnügte er sich damit, ihre Vorwürfe, ein Verbrechen »gegen das Gesetz der Juden, … gegen den Tempel« oder »gegen den Kaiser« begangen zu haben, zurückzuweisen.
25,9-11 Für einen Augenblick schien es so, als ob »Festus« willig war, die Bitte der »Juden« zu erfüllen, dass »Paulus … nach Jerusalem« gebracht werden sollte, damit vor dem Hohen Rat über ihn verhandelt werden konnte. Doch das wollte er nicht ohne Erlaubnis des Gefangenen zulassen. »Paulus« erkannte offensichtlich, dass er »Jerusalem« niemals lebend erreichen würde, wenn er zustimmen würde. Er weigerte sich deshalb, indem er feststellte, dass Cäsarea der zuständige Gerichtssitz für die Verhandlung war. Wenn er ein Verbrechen gegen das römische Recht »begangen« haben sollte, war er bereit, dafür zu sterben. Doch wenn er sich eines solchen Vergehens nicht schuldig gemacht hatte, stellte sich die Frage: Warum sollte er dann »den Juden« übergeben werden? Er schöpfte nun seine Rechte als römischer Bürger aus, indem er die erinnerungswürdigen Worte äußerte: »Ich berufe mich auf den Kaiser.« War es gerechtfertigt, dass Paulus sich »auf den Kaiser« berief? Hätte er seinen Fall nicht ganz Gott anbefehlen und sich weigern sollen, sich auf sein irdisches Bürgerrecht zu verlassen? Gehörte dies zu den »Fehlern des Paulus«? Wir können das nicht abschließend entscheiden. Wir wissen nur, dass die Berufung auf »den Kaiser« seine Freilassung zu diesem Zeitpunkt verhindert hat. Selbst wenn er sich nicht auf ihn berufen hätte, wäre er auch auf andere Art nach Rom gelangt.
25,12 »Festus … besprach« sich kurz mit seinen Rechtsberatern über das Vorgehen in solchen Angelegenheiten und sagte dann wahrscheinlich in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: »Auf den Kaiser hast du dich berufen, zum Kaiser sollst du gehen.«
25,13 »Als aber einige Tage vergangen waren, kamen der König Agrippa und Berenike nach Cäsarea«, um »Festus« zu seinem neuen Amt zu beglückwünschen. »Agrippa« war der Sohn Herodes’ Agrippas I., der Jakobus ermorden und Petrus ins Gefängnis werfen ließ (Kap. 12). Seine Schwester war eine ungewöhnlich schöne Frau. Während ihr die Historiker einen schlechten Ruf zuschreiben (einschließlich der Verbindung mit ihrem Bruder), schweigt das NT über ihren Charakter.
25,14-16 Während ihres recht langen Aufenthaltes in Cäsarea entschloss sich »Festus«, Agrippa von den Schwierigkeiten mit einem Gefangenen namens Paulus zu berichten. Zunächst berichtete er von dem gesetzwidrigen Verlangen »der Juden«, dass ein Urteil über Paulus gesprochen werde, ehe eine rechtmäßige Verhandlung stattgefunden habe. Er stellte sich selbst als derjenige dar, der auf ordentliche Gerichtsverfahren Wert legte und nichts anderweitig entschied. Er erzählte, wie er auf einer Verhandlung bestanden habe, worin der Beklagte »seine Ankläger persönlich vor sich habe« und ihm Gelegenheit gegeben werde, »sich … zu verteidigen«.
25,17-19 Als der Fall aber verhandelt wurde, stellte Festus fest, dass der Gefangene sich keines Vergehens gegen die römische Rechtsordnung schuldig gemacht habe. Stattdessen drehte sich der Fall um »einige Streitfragen gegen ihn wegen ihres eigenen Gottesdienstes und wegen eines gewissen Jesus, der gestorben ist, von dem Paulus sagte, er lebe«.
25,20-22 Festus berichtete nun von seinem Angebot an Paulus, den Prozess »nach Jerusalem« zu verlegen, und von dessen »Berufung« auf den »Augustus«. (Augustus ist hier ein Titel des Kaisers, kein Name.) Dadurch erhob sich natürlich ein Problem. Wenn er diesen Gefangenen nach Rom senden würde, welche Anklage sollte er dann gegen ihn vorbringen? Da »Agrippa« Jude war und sich deshalb in jüdischen Fragen gut auskannte, hoffte Festus, dass er einige Hinweise von Agrippa erhalten werde, wie er eine ge eignete Anklage gegen ihn finden könnte.
Als Festus vom Heiland der Welt sprach, benutzte er den Ausdruck »ein gewisser Jesus«. Bengels Kommentar ist es wert, hier zitiert zu werden: »So spricht der elende Festus von dem, vor dem sich alle Knie einmal beugen werden.«
25,23 »Am folgenden Tag« wurde nun eine offizielle Anhörung anberaumt. »Agrippa und Berenike« kamen »mit großem Gepränge« an. Sie wurden von »den Obersten und vornehmsten Männern der Stadt« begleitet. Dann »wurde Paulus« vorgeführt.
25,24-27 Und noch einmal erklärte »Festus«, wie der Fall lag. Er berichtete von den ständigen Forderungen »der Juden« nach dem Tod des Paulus, seiner eigenen Unfähigkeit, herauszufinden, welches »todeswürdigen« Verbrechens sich Paulus schuldig gemacht habe, und dann von der Berufung des Paulus auf den Kaiser. Das Dilemma des Festus bestand natürlich darin: Er war durch die Berufung des Paulus gezwungen, ihn zu Nero zu senden, doch es gab keinerlei rechtmäßige Grundlage für einen Prozess. »Festus« sagte jetzt ohne Umschweife, dass »Agrippa« hoffentlich in der Lage sei, ihm zu helfen, da es doch reichlich »ungereimt« schien, »einen Gefangenen zu senden und nicht auch die gegen ihn vorliegenden Beschuldigungen mitzuteilen«. Hier ging es eher um eine Art Anhörung als um einen Prozess. Die Juden waren nicht anwesend, um den Apostel anzuklagen. Andererseits wurde von Agrippa keine verbindliche Entscheidung erwartet.
26,1-3 Die folgende Szene ist von einem Ausleger treffend beschrieben worden (»ein versklavter König und ein gekrönter Gefangener«).
Vom geistlichen Standpunkt aus gesehen, war »Agrippa« ein bedauernswerter Mensch, während Paulus sich auf Flügeln des Glaubens über seine äußeren Umstände erhob.
Als er von »Agrippa« zum Reden aufgefordert wurde, »streckte Paulus die Hand aus und« begann, seine Erfahrungen als Christ in bewegender Weise darzulegen. Zunächst gab er seiner Dankbarkeit Ausdruck, dass ihm erlaubt wurde, seinen Fall jemandem vorlegen zu können, der als Jude »alle Gebräuche und Streitfragen, die unter den Juden« aktuell waren, kannte. Mit seiner Einleitung wollte er sich nicht einschmeicheln, sondern in gebührender Höflichkeit als Christ einfach die Wahrheit darlegen.
26,4.5 Von seiner Jugend an sei er, so der Apostel, ein vorbildlicher Jude gewesen. Die »Juden« mussten eingestehen, »wenn sie es« nur »bezeugen wollten«, dass Paulus seinen Weg als »strengster« Verfechter der Rechtgläubigkeit gegangen und ein praktizierender Pharisäer gewesen war.
26,6 »Nun« würde ihm der Prozess gemacht. Er hatte sich keines größeren Verbrechens schuldig gemacht als der Tatsache, dass er an der »Hoffnung« festhielt, deren Grundlage die von Gott an die jüdischen »Väter« des AT ergangene »Verheißung« war. Der Gang der Argumentation des Paulus ist wohl folgender: Im AT hat Gott verschiedene Bünde mit den Führern Israels, etwa mit Abraham, Isaak, Jakob, David und Salomo, geschlossen. Deren Grundaussage war immer wieder die Verheißung des Messias und seiner Wiederkunft gewesen, bei der er das Volk Israel befreien und über die Erde herrschen würde. Die Patriarchen des AT starben, ohne die Erfüllung dieser Verheißung zu erleben. Doch bedeutet dies, dass Gott seine Zusagen nicht erfüllen würde? Natürlich würde er sie Wirklichkeit werden lassen! Doch inwiefern war er dazu imstande, wenn diese Väter schon tot waren? Die Antwort lautete: »… indem er sie aus den Toten auferweckt.« So verbindet Paulus die Verheißungen des AT ganz unmittelbar mit der Auferstehung der Toten.
26,7 Der Apostel beschreibt die »zwölf Stämme«  (LU 1984)  Israels,  wie  sie  »unablässig« Gott gedient haben in der Hoffnung, die Erfüllung der Verheißung zu sehen. Diese Bezugnahme auf die »zwölf Stämme« ist wichtig im Hinblick auf die gängige Lehre, dass zehn der zwölf Stämme Israels während der Gefangenschaft »verloren« gegangen sind. Obwohl sie unter den Heiden zerstreut worden waren, sah sie der Apostel als ein besonderes Volk, das »Gott« diente und auf den verheißenen Befreier wartete.
26,8 Das war also das Vergehen des Paulus! Er glaubte, dass »Gott« seine Verheißung erfüllen werde, indem er die Väter von den »Toten« auferweckt. Was war daran so »unglaublich«? Paulus fragte Agrippa und alle, die bei ihm waren.
26,9-11 Paulus kam nun auf seine Lebensgeschichte zurück und erzählte von den brutalen und unbarmherzigen Verfolgungsaktionen, die er gegen die Anhänger des christlichen Glaubens anführte. Mit aller Macht widerstand er »dem Namen Jesu, des Nazoräers«. Mit einer »Vollmacht … von den Hohenpriestern« brachte er »viele« Christen in Jerusalem ins Gefängnis. Wenn ihnen vor dem Hohen Rat der Prozess gemacht wurde, stimmte er immer gegen sie. Immer wieder organisierte er die Bestrafung derer, die er »in allen Synagogen« fand. Dabei tat er alles in seiner Macht Stehende, sie dazu zu bringen, ihren Herrn zu verleugnen. (Wenn es hier heißt, dass er sie »zwang78 … zu lästern«, so bedeutet das nicht, dass er damit Erfolg hatte. Vielmehr versuchte er, sie dazu zu zwingen.) Die Hasskampagne des Paulus gegen die Jünger »Jesu« breitete sich von Jerusalem und Judäa auch auf »ausländische Städte« aus.
26,12-14 Während er in dieser Angelegenheit im Ausland unterwegs war, hatte er ein Erlebnis, das sein ganzes Leben veränderte. Er befand sich auf dem Weg »nach Damaskus«, mit behördlichen Papieren ausgestattet, die es ihm erlaubten, die Christen festzunehmen und sie nach Jerusalem zur Bestrafung zurückzubringen. »Mitten am Tag« wurde er von einem Gesicht voller Herrlichkeit überwältigt. »Ein Licht vom Himmel her« umleuchtete ihn, heller als der »Glanz der Sonne«. Nachdem er »zur Erde niedergefallen« war, »hörte« er »eine Stimme«, die ihm die bohrende Frage stellte: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« Die »Stimme« fügte noch die aufschlussreichen Worte hinzu: »Es ist hart für dich, gegen den Stachel auszuschlagen.« Der »Stachel« war ein scharf zugespitztes Werkzeug, das benutzt wurde, um störrische Lasttiere vorwärts zu zwingen. Paulus hatte »gegen den Stachel« seines Gewissens ausgeschlagen. Ja, noch mehr, er hatte auch »gegen« die Stimme des Heiligen Geistes gehandelt, der ihn überführen wollte. Er konnte nie die Haltung und Würde vergessen, womit Stephanus gestorben war. Er hatte »gegen« Gott selbst gekämpft.
26,15 Paulus fragte: »Wer bist du, Herr?« Die Stimme antwortete: »Ich bin Jesus, den du verfolgst.« Jesus? Wie konnte das sein? War Jesus nicht gekreuzigt und begraben worden? Hatten seine Jünger nicht seinen Leib gestohlen und versteckt? Wie konnte dann Jesus zu ihm jetzt reden? Langsam dämmerte Paulus die Wahrheit. Natürlich war Jesus begraben worden, doch dann war er aus den Toten auferstanden! Er war in den Himmel aufgefahren, und jetzt sprach er mit Paulus. Indem Paulus die Christen verfolgt hatte, verfolgte er zugleich ihren Herrn. Und damit hatte er den Messias Israels verfolgt, ja, den Sohn Gottes.
26,16 Als Nächstes fasst Paulus den Auftrag zusammen, den der auferstandene Herr Jesus Christus ihm gab. Er wurde von dem Herrn aufgefordert, sich aufzurichten und sich auf seine »Füße« zu stellen. Er bekam diese besondere Offenbarung der Herrlichkeit Christi, weil er dazu bestimmt war, ein »Diener« des Herrn und ein »Zeuge« von dem zu sein, was er an diesem Tag »gesehen« hatte. Außerdem sollte er all die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens bezeugen, die ihm noch offenbart werden würden.
26,17 Die Verheißung, dass Paulus »von dem Volk« Israel und »den Heiden« errettet  werden  würde  (vgl.  Schl 2000), ist folgendermaßen zu verstehen: Paulus sollte vom Unglauben seiner Landsleute und der Nichtjuden befreit werden, um sein Werk zu vollbringen.
26,18 Paulus sollte insbesondere zu den Heiden gesandt werden, um »ihre Augen aufzutun, dass sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Macht des Satans zu Gott«. Durch den Glauben an den Herrn Jesus sollten sie »Vergebung der Sünde empfangen und ein Erbe unter denen, die durch den Glauben an« ihn »geheiligt sind«. H. K. Downie zeigt uns, dass Vers 18 eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Auswirkungen des Evangeliums ist: 1. Es befreit von Finsternis. 2. Es befreit von der Macht Satans. 3. Es vergibt Sünden.
4. Es stellt ein verlorenes Erbe wieder her.
26,19-23 Nachdem er so beauftragt wurde, erklärt Paulus dem Agrippa, dass er »nicht ungehorsam der himmlischen Erscheinung« war. Sowohl »in Damaskus« als auch »in Jerusalem und in ganz … Judäa und (unter) den Nationen« predigte er, »Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren«. Die Betreffenden sollten Werke tun, die die Echtheit ihrer Bekehrung unter Beweis stellten. Das tat er auch, als »die Juden« ihn »im Tempel ergriffen und versuchten«, ihn »zu ermorden«. Doch »Gott« bewahrte ihn und half ihm, und er fuhr fort, allen Zeugnis zu geben, denen er begegnete. Er predigte die Botschaft, die »auch die Propheten und Mose« im AT gepredigt hatten. Der Inhalt dieser Verkündigung war, »dass der Messias« leiden und »als Erster« »von den Toten«  auferstehen  sollte  (LU 1984).  Er würde sowohl dem jüdischen »Volk als auch den Nationen« bzw. Heiden »Licht« verkündigen.
26,24-26 Als Heide konnte »Festus« wahrscheinlich der Argumentation des Apostels kaum folgen. Völlig unfähig, einen Mann wertzuschätzen, der mit dem Heiligen Geist erfüllt war, warf er Paulus spontan vor, wegen seiner »großen Gelehrsamkeit« verrückt geworden zu sein. Ohne nur im Geringsten beleidigt zu sein, verneinte Paulus diese Vermutung und betonte, dass er »Worte der Wahrheit und der Besonnenheit« geredet habe. Er gab dann seiner Zuversicht Ausdruck, dass »der König« die Wahrheit all dessen kannte, was er gesagt hatte. Das Leben des Paulus und sein Zeugnis waren kein Geheimnis geblieben. Alle Juden wussten darum, und zweifellos hatten die Berichte darüber auch Agrippa erreicht.
26,27 Paulus fragte nun direkt den König: »Glaubst du, König Agrippa, den Propheten?« Dann beantwortete er seine eigene Frage: »Ich weiß, dass du glaubst.« Die Überzeugungskraft seiner Argumente kann nicht bestritten werden. Paulus sagte im Grunde: »Ich glaube alles von den Propheten im AT Gesagte. Auch du, ›Agrippa, … glaubst‹ daran, nicht wahr? Wie können mich dann die Juden eines Verbrechens anklagen, für das ich den Tod verdient habe? Oder wie kannst du mich für etwas verurteilen, an das du selbst glaubst?‹«
26,28 Dass Agrippa die Überzeugungskraft seiner Argumente bemerkt hatte, zeigt sich in seinen Worten: »In Kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden.« Doch gehen die Meinungen weit auseinander, was Agrippa damit wirklich meinte. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass der König wirklich kurz vor einer Entscheidung für Christus gestanden habe. Sie sind der Ansicht, dass die Antwort in Vers 29 diese Auffassung unterstützt. Andere wiederum meinen, dass Agrippa ironisch sprach, etwa dem Sinn nach: »Du meinst wohl, dass du mich mit ein bisschen Überredungskunst zum Christen machen kannst?« Mit anderen Worten, er erwehrte sich der Überzeugungskraft der Worte des Apostels mit einem Scherz.
26,29 Ob nun Agrippa ernsthaft oder im Scherz redete, Paulus jedenfalls antwortete mit tödlichem Ernst. Er sagte, er wünsche dringend, dass alle Anwesenden einschließlich Agrippa, ob mit viel oder wenig Überredungskunst, die Freuden und Segnungen eines christlichen Lebens genießen mögen. Sie sollten die Vorrechte des Paulus erhalten und »solche« werden, wie er »auch« sei, »ausgenommen« seine »Fesseln«. Morgan schreibt:
Er wäre gestorben, um Agrippa zu erretten, doch er wollte ihm nicht seine Ketten weitergeben. Das ist wahrer christlicher Glaube. Mache ihn groß, verbreite ihn und wende ihn an. Die Ernsthaftigkeit, die gleichzeitig andere verfolgt, ist nicht christlich. Doch die Ernsthaftigkeit, die stirbt, um andere zu erlösen, jedoch niemals jemanden in Ketten schlagen will, zeugt von einer wahren christlichen Gesinnung.79
26,30-32 »Der König, … der Statthalter, … Berenike« und die anderen Beamten verließen den Raum, um sich im kleinen Kreis zu beraten. Sie alle waren gezwungen zuzugeben, dass Paulus »nichts, was des Todes oder der Fesseln wert wäre«, getan hatte. »Agrippa« sagte zu »Festus« (vielleicht leicht bedauernd), dass Paulus »hätte losgelassen werden können, wenn er sich nicht auf den Kaiser berufen hätte«.
Wir fragen uns natürlich, ob die Berufung auf den »Kaiser« nicht hätte widerrufen werden können. Ob nun eine solche Berufung unabänderlich war oder nicht, wir wissen, dass es Gottes Plan war, dass der Heidenapostel nach Rom zur Verhandlung vor dem Kaiser kommen (23,11) und dort die Erfüllung seines Wunsches finden sollte, dem Tode seines Herrn gleichgestaltet zu werden. I. Paulus’ Reise nach Rom und Schiffbruch (27,1 – 28,16) Dieses Kapitel beschreibt die teilweise dramatische Seereise des Apostels von Cäsarea nach Malta. Er befand sich auf dem Weg nach Rom. Wenn Paulus nicht Passagier an Bord gewesen wäre, hätten wir nie etwas von der Reise oder dem Schiffbruch erfahren. Da der Abschnitt voller nautischer Fachwörter ist, fällt es einem nicht immer leicht, den entsprechenden Ausführungen zu folgen.
27,1 Die Reise begann in Cäsarea. Paulus wurde unter die Aufsicht eines »Hauptmannes mit Namen Julius« gestellt. Dieser »Hauptmann« gehörte zur »Schar des Augustus«, einer besonderen Legion der römischen Armee. Wie alle anderen Hauptmänner im NT war er ein freundlicher, gerechter und an anderen Menschen interessierter Mensch von tadellosem Charakter.
27,2 Es gab noch andere Gefangene an Bord, die wie Paulus nach Rom zum Prozess gebracht wurden. Auf der Passagierliste standen auch »Aristarch« und Lukas, beides Reisegefährten des Paulus schon auf früheren Reisen.
Der Heimathafen des »Schiffes«, mit dem sie segelten, war Adramyttion (heute Edremit), eine Stadt in Mysien, der Nordwestspitze Kleinasiens. Es sollte nach Norden und dann nach Westen fahren und in den Häfen »längs der Küste« der Provinz Asien anlegen, die im Westen Kleinasiens lag.
27,3 Das Schiff segelte zunächst nordwärts entlang der Küste Palästinas und machte »in Sidon« Halt, 113 Kilometer von Cäsarea entfernt. »Julius«, der Hauptmann, gestattete »wohlwollend«, dass Paulus »zu den Freunden« ging, »damit er ihrer Fürsorge teilhaftig wurde«.
27,4.5 Von Sidon aus führte der Weg über den nordöstlichen Zipfel des Mittelmeeres, wobei man links an »Zypern« vorbeifuhr, und so den Windschutz durch die Insel ausnutzte. Obwohl »die Winde widrig waren«, setzte das Schiff die Fahrt zur Südküste Kleinasiens fort: Es segelte westwärts an »Zilizien und Pamphylien« vorbei, bis es nach »Myra«, einer Hafenstadt »in Lyzien«, kam.
27,6 »Dort« brachte »der »Hauptmann die Gefangenen auf ein anderes »Schiff«, weil das erste sie nicht in Richtung Italien weiterbringen, sondern die Westküste Kleinasiens hinaufsegeln würde, um in seinen Heimathafen zu gelangen. Das zweite Schiff kam aus Alexandria, einer Hafenstadt an der Nordküste Afrikas. Es beförderte insgesamt 276 Menschen (Besatzung und Passagiere) und hatte Weizen geladen. Von Alexandria war es über das Mittelmeer nach Norden bis Myra gesegelt und nahm nun Kurs westwärts »nach Italien«.
27,7.8 »Viele Tage« lang ging es nur langsam voran, weil die Winde ihnen entgegenstanden. Nur »mit Mühe« brachte die Besatzung das Schiff bis zum Hafen von Knidos, einer Hafenstadt an der äußersten Südwestspitze Kleinasiens. Weil der »Wind« ihnen wieder entgegenstand, segelten sie nach Süden und fuhren an der geschützten Ostseite Kretas entlang. Als sie um das Kap »Salmone« herumsegelten, wandten sie sich nach Westen und fuhren starken Winden entgegen, bis sie nach »Guthafen« kamen, zu einem Hafen, »in dessen Nähe die Stadt Lasäa war«, an der zentralen Südküste »Kretas« gelegen.
27,9.10 Bis dahin war ihnen durch das schlechte Wetter schon viel Zeit verloren gegangen. Der nahende Winter machte weiteres Reisen »unsicher«. Es muss Ende September oder Anfang Oktober gewesen sein, weil »das Fasten« (der große Versöhnungstag) »schon vorüber war«. »Paulus« warnte die Besatzung, dass »die Fahrt« schon unsicher sei. Wenn sie diese Reise fortsetzten, wären sie der Gefahr ausgesetzt, »die Ladung und das Schiff« und auch ihr »Leben« zu verlieren.
27,11.12 Doch der »Steuermann und der Schiffsherr« wollten weiterfahren. »Der Hauptmann« verließ sich auf ihr Urteil, und die meisten anderen waren ihrer Meinung. Man war der Ansicht, dass »der Hafen« nicht so gut wie »Phönix« zum »Überwintern« geeignet war. »Phönix« lag etwa 60 Kilometer westlich von Guthafen an der Südwestspitze »Kretas«. Der Hafen dieser Stadt war »gegen Südwesten und gegen Nordwesten« offen.
27,13-17 »Als aber ein Südwind sanft wehte«, glaubten die Seeleute, dass sie die Strecke nach Phönix bald zurücklegen könnten. Sie lichteten den Anker und segelten westwärts die Küste entlang. Dann brach ein schlimmer Nordoststurm (Eurakylon80) von den Klippen der Küste über sie herein. Da sie nicht mehr in der Lage waren, den Kurs zu halten, war die Besatzung gezwungen, das Schiff in der Strömung treiben zu lassen. Sie wurden nach Südwesten zu »einer kleinen Insel, Kauda81 genannt«, getrieben, die zwischen 30 und 50 Kilometer von Kreta entfernt liegt. Als sie die geschützte Seite der »Insel« erreichten, konnten sie »kaum das Rettungsboot«, das sie ausgesetzt hatten, in ihre Gewalt bekommen. Doch schließlich waren sie imstande, es an Bord zu ziehen. Dann »umgürteten … sie das Schiff«, um zu verhindern, dass es in der schweren Dünung auseinanderbrechen würde. Sie fürchteten sehr, nach Süden »in die Syrte« verschlagen zu werden – einen Golf an der Küste Nordafrikas, der für seine Untiefen bekannt war. Um das zu verhindern, »ließen sie das Takelwerk nieder und trieben so dahin«.
27,18.19 Nachdem sie einen Tag lang der Gewalt des Sturms ausgeliefert waren, fingen sie an, die Ladung über Bord zu werfen. Am dritten Tag warfen sie »das Schiffsgerät fort«. Zweifellos war viel Wasser in das Schiff eingedrungen, sodass es nötig wurde, die Ladung zu erleichtern und ein Sinken des Schiffes zu verhindern.
27,20 »Viele Tage lang« wurden sie hilflos von den Wellen hin und her geworfen, ohne »Sonne« oder »Sterne« zu sehen. Daher war ihnen jede Möglichkeit genommen, sich zu orientieren und herauszufinden, wo sie sich befanden. »Die Hoffnung auf« Überleben wurde schließlich aufgegeben.
27,21-26 Die Verzweiflung wurde durch den Hunger noch verstärkt. Die Männer hatten viele Tage nichts gegessen. Zweifellos hatten sie die ganze Zeit hart gearbeitet, um das Schiff zu erhalten und eingedrungenes Wasser zu lenzen. Vielleicht gab es keine Kochmöglichkeit mehr. Krankheit, Furcht und Enttäuschung raubten ihnen wahrscheinlich den Appetit. Es gab genug zu essen, doch die Lust darauf war ihnen vergangen. »Da stand Paulus in ihrer Mitte« mit einer Hoffnungsbotschaft auf. Zuerst erinnerte er sie sanft daran, dass »man hätte … nicht von Kreta abfahren« sollen. Dann versicherte er ihnen, dass »das Schiff« zwar verloren gehen würde, jedoch »keiner von« ihnen. Woher wusste er das? Nun, »ein Engel« des Herrn war ihm bei »Nacht« erschienen, der ihm versicherte, dass er »vor den Kaiser gestellt« werden müsse. »Gott« hatte ihm »alle geschenkt« die mit ihm fuhren, und zwar in dem Sinne, dass auch ihr Leben bewahrt werden würde. Deshalb sollten sie wieder Mut fassen. »Paulus« glaubte, dass alles gut ausgehen würde, auch wenn sie an »irgendeiner Insel« stranden würden. A. W. Tozer schreibt:
Als der »Südwind sanft wehte« und das Schiff, womit Paulus unterwegs war, glatt dahinsegelte, wusste niemand an Bord, welche charakterliche Stärke diesen äußerlich so unscheinbaren Mann auszeichnete. Doch als der Sturm Eurakylon über sie hereinbrach, wurde die Haltung des Paulus bald auf dem ganzen Schiff bekannt. Der Apostel war zwar ein Gefangener, doch er ergriff im wahrsten Sinne des Wortes das Kommando über das Schiff, traf Entscheidungen und gab Anweisungen, die für die Menschen an Bord Tod oder Leben bedeuten konnten. Und ich denke, dass diese Krise etwas in Paulus zum Vorschein brachte, das er selbst noch nicht erkannt hatte. Die schöne Theorie wich den unumstößlichen Tatsachen, als der Sturm hereinbrach.82
27,27-29 Vierzehn Tage waren vergangen, seit sie Guthafen verlassen hatten. Sie trieben hilflos in einem Teil des Mittelmeeres herum, der als »Adriatisches Meer« bekannt war und zwischen Griechenland, Italien und Afrika liegt. »Gegen Mitternacht (meinten) die Matrosen, dass sich ihnen Land näherte.« Vielleicht konnten sie die Wellen gegen die Küste donnern hören. Als sie das erste Mal die Meerestiefe maßen, »fanden sie zwanzig Faden« Tiefe (etwa 36 Meter), dann waren es etwas später nur noch »fünfzehn Faden« (etwa 28 Meter). Um zu verhindern, dass das Schiff auf Grund lief, »warfen sie vom Hinterschiff vier Anker aus und wünschten« sich das Tageslicht herbei.
27,30-32 Da sie um ihr Leben fürchteten, planten einige der »Matrosen«, in einem kleinen Boot an Land zu kommen. Sie wollten das Beiboot gerade »vom Vorderschiff aus« hinablassen und taten dabei so, als ob sie von dort weitere »Anker auswerfen« wollten – da meldete »Paulus« ihren Plan »dem Hauptmann«. Paulus machte darauf aufmerksam, dass der Rest der Männer »nicht gerettet werden« könne, wenn die Matrosen nicht an Bord blieben. Da »hieben die Soldaten die Taue des Bootes ab und ließen es hinabfallen«. »Die Matrosen« waren so gezwungen, ihr Leben an Bord des Schiffes gemeinsam mit den anderen zu retten.
27,33.34 Phillips überschreibt die Verse 33-37 mit »der gesunde Menschenverstand des Paulus«. Um die dramatische Situation richtig einschätzen zu können, sollte man wirklich etwas von den Schrecken eines Sturmes auf See kennen. Außerdem sollten wir uns erinnern, dass Paulus nicht der Kapitän des Schiffes, sondern lediglich ein Passagier war, und dazu noch Gefangener.
Kurz vor Tagesanbruch »ermahnte Paulus« die Männer, etwas zu essen. Er erinnerte sie daran, dass sie zwei Wochen »ohne Essen« geblieben waren. Nun war die Zeit gekommen, etwas Nahrung zu sich zu nehmen, denn ihr Wohlergehen hing davon ab. Der Apostel versicherte ihnen, dass »keinem von« ihnen »ein Haar … verloren gehen« würde.
27,35 Dann gab er ihnen ein Beispiel, indem er »Brot« nahm, öffentlich »Gott vor allen … dankte« und aß. Wie oft scheuen wir uns, vor anderen zu beten? Und doch spricht ein solches Gebet oftmals lauter als unsere Predigt.
27,36.37 Auf diese Weise ermutigt, »nahmen« die anderen »auch selbst Speise zu sich«. Es »waren aber in dem Schiff, alle Seelen, zweihundertsechsundsiebzig«.
27,38-41 Nach dem Essen »erleichterten« die Matrosen »das Schiff, indem sie den Weizen in das Meer warfen«. »Land« war zwar nun in der Nähe, doch sie konnten es nicht erkennen. Man entschied sich, »das Schiff« auf den »Strand« treiben zu lassen und soweit wie »möglich« in die Nähe des Festlandes zu kommen. Sie kappten »die Anker« und »ließen sie … im Meer«. Dann banden sie »die Haltetaue der Steuerruder los«, die sie vorher nach oben gezogen hatten, und brachten sie wieder in Position. Daraufhin »hissten« sie »das Vordersegel und hielten auf den Strand zu«. Sie setzten »das Schiff … auf einer Landzunge« auf Grund. Der Bug »saß fest« im Sand, doch das Heck zerbrach durch »die Gewalt der Wellen«.
27,42-44 »Der Soldaten Plan aber war, die Gefangenen zu töten«, damit keiner flüchtete, doch »der Hauptmann, … der Paulus retten wollte«, vereitelte ihren Plan. Er wies alle an, »welche schwimmen« konnten, an Land zu gehen. Die anderen sollten sich »auf Brettern« oder »Stücken vom Schiff« an Land treiben lassen. Auf diese Art wurden die ganze Besatzung und alle Passagiere sicher »an das Land gerettet«.
28,1.2 Sobald die Besatzung und die Passagiere das Ufer erreicht hatten, erfuhren sie, dass sie auf der Insel »Melite« (Malta) gelandet waren. Einige der »Eingeborenen« der Insel hatten das Wrack und die Gestrandeten gesehen, wie sie durch das Wasser an Land zu kommen suchten. Sie waren so freundlich, »ein Feuer« für die Angekommenen zu entfachen, die sowohl vom Meer als auch vom »Regen« völlig durchnässt waren und sicherlich in »der Kälte« froren.
28,3 Während »Paulus« beim Feuermachen half, wurde er von einer Giftschlange gebissen. Offensichtlich hatte die Schlange zwischen einem Teil des Treibholzes geschlafen. Als nun das Holz »auf das Feuer« gelegt wurde, wurde sie schnell wach und biss den Apostel. Sie »hängte sich an seine Hand«, nicht in dem Sinne, dass sie sich nur herumgeringelt hätte, sondern ihn auch biss.
28,4-6 Zuerst schlossen die Einwohner, dass Paulus ein »Mörder« sein müsse. Obwohl er von dem Schiffswrack »gerettet« wurde, holte ihn ihrer Meinung nach »Dike«, die Göttin der Rache, ein, weil er nun bald »anschwellen oder plötzlich tot hinfallen werde«. Doch als Paulus keinerlei Symptome einer Vergiftung zeigte, »änderten sie ihre Meinung und sagten, er sei ein Gott«. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, wie unzuverlässig und wankelmütig Herz und Sinn des Menschen sind.
28,7 »Der Erste der Insel« Melite hieß zu dieser Zeit »Publius«. Er besaß in der Nähe des Strandes, wo die Schiffbrüchigen gelandet waren, beträchtliche »Ländereien«. Dieser reiche römische Beamte »nahm« Paulus und seine Freunde »freundlich« auf und gab ihnen »drei Tage« lang Quartier. Die Schiffbrüchigen hatten also ausreichend Zeit, um sich ein dauerhaftes Winterquartier zu verschaffen.
28,8 Die Freundlichkeit dieses Heiden blieb nicht unbelohnt. Zu dieser Zeit wurde sein »Vater … von Fieber und Ruhr befallen … Zu dem ging Paulus hinein, und als er gebetet hatte, legte er ihm die Hände auf und heilte ihn.«
28,9.10 Die Nachricht von dieser Heilung verbreitete sich bald auf der ganzen »Insel«. Während der nächsten drei Monate wurden alle Kranken zu Paulus gebracht, und alle wurden geheilt. Die Menschen auf Melite erzeigten dem Apostel und Lukas83 ihre Wertschätzung, indem sie diese mit Ehren überhäuften und viele Geschenke brachten, die auf der Weiterreise nach Rom von Nutzen sein konnten.
28,11 Als »nach drei Monaten« der Winter vorbei war, konnte man wieder sicher segeln. Der Hauptmann ging mit seinen Gefangenen an Bord »eines alexand rinischen Schiffes«, »das auf der Insel überwintert hatte«. Als Galionsfigur des Schiffes waren die »Dioskuren«, auf Deutsch Zwillinge, zu sehen, womit Kastor und Pollux gemeint sind. Diese waren bei den Heiden die Schutzgötter der Seeleute.
28,12-14 Von Melite aus segelten sie nach »Syrakus«, der Hauptstadt Siziliens, an dessen Ostküste gelegen. Das Schiff blieb dort drei Tage und fuhr dann weiter nach »Rhegion« an der Südwestspitze Italiens, gewissermaßen an der Zehenspitze des »Stiefels« gelegen. »Nach einem Tag« kam ein günstiger »Südwind« auf, der es den Männern ermöglichte, 290 Kilometer nordwärts die Westküste Italiens hinauf bis »nach Puteoli« an der Nordküste der Bucht von Neapel zurückzulegen. »Puteoli« lag rund 240 Kilometer südöstlich von »Rom«. In Puteoli »fanden« die Reisegefährten »Brüder«, mit denen Paulus »sieben Tage« der Gemeinschaft verbringen durfte.
28,15 Wir erfahren nirgendwo, wie die Nachricht von der Ankunft des Paulus in Puteoli nach Rom gelangte. Doch zwei verschiedene Gruppen von »Brüdern« machten sich auf den Weg, ihm »entgegen«. Ein Gruppe reiste 69 Kilometer bis nach Forum-Appii (dt. Markt des Appius) südöstlich von Rom. Die andere Gruppe reiste 53 Kilometer südostwärts bis »TresTabernae« (dt.: drei Schenken). »Paulus« wurde durch diesen ergreifenden Liebesbeweis der Heiligen in Rom sehr aufgemuntert und ermutigt.
28,16 Nach seiner Ankunft in »Rom« wurde ihm »erlaubt, mit dem Soldaten, der ihn bewachte«, in einem Privathaus zu leben.
J. Hausarrest des Paulus und sein Zeugendienst gegenüber den Juden Roms (28,17-31)
28,17-19 Entsprechend seiner Vorgehensweise, zuerst immer den »Juden« Zeugnis zu geben, sandte »Paulus« den religiösen Führern der dortigen jüdischen Gemeinde eine Einladung. »Als sie aber« in seinem Mietshaus »zusammengekommen« waren, erklärte er ihnen seinen Fall. Er berichtete, dass, obwohl er »nichts gegen das« jüdische »Volk oder« seine »Gebräuche« getan hatte, die Juden in »Jerusalem« ihn »in die Hände der Römer überliefert« hatten. Die heidnischen Behörden hatten keinen Grund für die Anklage gesehen und wollten ihn frei lassen, doch als »die Juden« dem Urteil »widersprachen«, war der Apostel gezwungen, sich »auf den Kaiser zu be rufen«. Dabei ging es jedoch nicht darum, gegen seine »Nation« eine Klage vorzubringen, sondern darum, sich zu verteidigen.
28,20 Weil ihm kein Verbrechen gegen das jüdische Volk zur Last gelegt werden konnte, hatte er die führenden römischen Juden »herbeigerufen«. Er sei »wegen der Hoffnung Israels« in Ketten geschlagen worden. »Die Hoffnung Israels« bezeichnet, wie schon vorher gesagt, die Erfüllung der Verheißungen an die jüdischen Patriarchen, insbesondere die Messiasverheißung. Zu dieser Erfüllung der Verheißungen gehörte auch die Auferstehung aus den Toten.
28,21.22 Die führenden Juden erklärten, nichts Belastendes über den Apostel Paulus zu wissen. Sie hatten keine »Briefe von Judäa … über« ihn empfangen, und keiner ihrer jüdischen Gefährten hatte irgendwelche Berichte gegen ihn vorgebracht. Doch sie wollten mehr von Paulus hören, weil sie wussten, dass dem christlichen Glauben, für den er einstand, »überall widersprochen wird«.
28,23 Einige Zeit später kam eine große Anzahl dieser Juden zur »Herberge« des Paulus, um mehr von ihm zu hören. Er nahm die Gelegenheit wahr, ihnen Zeugnis vom »Reich Gottes« zu geben und sie »von Jesus« zu »überzeugen«. Dabei zitierte er »aus dem Gesetz Moses« und »den Propheten, von frühmorgens bis zum Abend«.
28,24 Einige glaubten seiner Botschaft, doch »andere glaubten nicht«. (Unglaube ist schlimmer als die bloße Tatsache, dass jemand die Botschaft nicht annimmt. Er deutet vielmehr auf eine aktive Ablehnung hin.)
28,25-28 Als »Paulus« sah, dass das Evangelium wieder einmal – insgesamt gesehen – von den Juden abgelehnt wurde, zitierte er Jesaja 6,9.10. Dort wurde der Prophet beauftragt, das Wort einem »Volk« zu predigen, dessen »Herz … dick«, dessen »Ohren« taub und dessen »Augen« blind geworden waren. Der Apostel litt wieder einmal unter der Situation, das Evangelium Menschen zu predigen, die es nicht hören wollen. Angesichts dieser Ablehnung durch die Juden verkündigte »Paulus«, dass er das Evangelium nun den Angehörigen der »Nationen« bringen werde. Dabei vertraute er darauf, dass »sie« es »auch hören« würden.
28,29 (S. Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel.) »Die« ungläubigen »Juden (gingen) weg und« diskutierten heftig untere inander. Wie Calvin betont, erzürnte die Tatsache, dass Paulus diese Prophezeiung zitierte, die Gottlosen unter den Juden, die den Messias verwarfen. Dadurch wurden sie gegen die Juden aufgebracht, die ihn annahmen. Der Reformator wendet diese Erkenntnis dann auf hilfreiche Weise an:
Letztlich ist es vergeblich, wenn Menschen sich beklagen, dass das Evangelium Christi Spaltungen verursacht, wenn es doch offensichtlich ist, dass diese Spaltungen ihre Ursache in der Halsstarrigkeit der Menschen haben. Und in der Tat ist es für uns notwendig, diejenigen zu bekämpfen, die Gott verachten, wenn wir echten Frieden mit ihm genießen wollen.84
28,30 Danach blieb Paulus »zwei ganze Jahre« in Rom, wobei er »in seiner eigenen Mietwohnung« leben konnte und dabei ständig Besuchern dienen konnte. Wahrscheinlich schrieb er während dieser Zeit die Briefe an die Epheser, Philipper und Kolosser sowie an Philemon.
28,31 Er genoss ein relativ großes Maß an Freiheit und »predigte das Reich Gottes und lehrte die Dinge, die den Herrn Jesus Christus betreffen, mit aller Freimütigkeit ungehindert«.
Hier endet das Buch der Apostelgeschichte. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass es seltsam jäh endet. Doch der Plan, der zu Anfang vorgestellt wird, ist nun erfüllt. Das Evangelium hat Jerusalem, Judäa, Samaria und nun auch die Heidenwelt erreicht.
Die Ereignisse im Leben des Paulus nach Ende der Apostelgeschichte können nur aus seinen späteren Briefen erschlossen werden.
Man nimmt allgemein an, dass sein Rechtsfall nach zwei Jahren vor Nero kam und mit einem Freispruch endete. Danach begann er seine sogenannte vierte Missionsreise. Im Folgenden finden sich die Orte, die er dabei wahrscheinlich besucht hat, obwohl die Reihenfolge nicht unbedingt festliegt:
1. Kolossä und Ephesus (Philem 22). 2.  Mazedonien  (1. Tim  1,3;  Phil  1,25; 2,24). 3.  Ephesus (1. Tim 3,14). 4. Spanien (Röm 15,24). 5. Kreta (Titus 1,5).
6.  Korinth (2. Tim 4,20). 7.  Milet (2. Tim 4,20). 8. Den Winter verbrachte er in Nikopolis (Titus 3,12).
9.  Troas (2. Tim 4,13). Wir wissen nicht, warum, wann oder wo er wieder gefangen genommen wurde. Den entsprechenden Aussagen können wir jedoch entnehmen, dass er noch ein zweites Mal als Gefangener nach Rom gebracht wurde. Diese Gefangenschaft war härter als die erste (2. Tim  2,9).  Er  wurde  von  den  meisten seiner  Freunde  verlassen  (2. Tim  4,9-11) und wusste, dass sein Tod kurz bevorstand (2. Tim 4,6-8). Es ist überliefert, dass er außerhalb der Stadt Rom im Jahr 67 oder 68 enthauptet worden ist. Wer sein Wirken angemessen würdigen will, lese 2. Korinther 4,8-10; 6,4-10 und 11,23-28 sowie unseren Kommentar zu diesen aufschlussreichen Zusammenfassungen.
1,1 Paulus stellt sich als Erkaufter vor (das wird durch die Bezeichnung »Knecht Christi Jesu« ausgesagt), als Berufener (auf der Straße nach Damaskus wurde er zum »berufenen Apostel«, ein besonderer Gesandter des Heilands), und als »Ausgesonderter« (auserwählt, um »das Evangelium« zu den Heiden zu bringen [s. Apg 9,15; 13,2]). Auch wir sind durch das kostbare Blut Christi erkauft worden. Wir sind aufgerufen, Zeugnis von seiner Erlösungsmacht zu geben und ausgesondert, die Gute Nachricht überall zu verkündigen, wo wir hinkommen.
1,2 Damit die jüdischen Leser des Paulus nun nicht meinen, dass das Evangelium etwas völlig Neuartiges wäre und keinen Bezug zu ihrem geistlichen Erbe habe, erwähnt Paulus, dass die »Propheten« des AT es »verheißen« haben, sowohl in eindeutigen Aussagen (5. Mose 18,15; Jes 7,14; Hab 2,4) als auch in  Bildern  und  Symbolen  (z. B.  Noahs Arche, die eherne Schlange und die Opfervorschriften).
1,3 Das Evangelium ist die Gute Nachricht vom »Sohn« Gottes, »der aus der Nachkommenschaft Davids … dem Fleische  nach«  stammt  (d. h.  was  sein Menschsein betrifft). Der Ausdruck »dem Fleische nach« beinhaltet, dass unser Herr mehr ist als ein Mensch. Die Worte bedeuten seinem Wesen als Mensch entsprechend. Wenn Christus nur ein Mensch gewesen wäre, dann wäre es unnötig, diese seine Eigenschaft gesondert aufzuführen, weil er sonst keine weiteren Eigenschaften als andere Menschen auch besäße. Doch er ist viel mehr als ein Mensch, wie der nächste Vers zeigt.
1,4 Der Herr Jesus wurde »als Sohn Gottes in Kraft« ausgezeichnet. Der Heilige Geist, der hier »Geist der Heiligkeit« genannt wird, zeichnete Jesus bei seiner Taufe und durch seinen Dienst als Vollbringer von Wundern aus. Die machtvollen Wunder des Heilands, die in der Vollmacht des Heiligen Geistes gewirkt wurden,1 geben von der Tatsache Zeugnis, dass er der Sohn Gottes ist. Wenn wir lesen, dass er »als Sohn Gottes in Kraft eingesetzt« ist »dem Geiste der Heiligkeit nach auf Grund der Toten-Auferstehung«, dann denken wir natürlich sofort an seine eigene Auferstehung. Doch wörtlich heißt es hier: »durch die Auferstehung Toter« (vgl. Konkordante Übersetzung; Anm. d. Übers.), sodass der Apostel auch an die Auferweckung der Tochter des Jairus, des Sohnes der Witwe zu Nain und des Lazarus denken könnte. Doch besteht kaum Zweifel daran, dass hier in erster Linie die Auferstehung des Herrn selbst gemeint ist. Wenn wir sagen, dass Jesus »der Sohn Gottes« ist, dann meinen wir, dass er auf eine Art Sohn ist, wie dies niemand anders sein kann. Gott hat viele Söhne. Alle Gläubigen sind seine Söhne (Gal 4,5-7). Sogar die Engel werden Söhne genannt (Hiob 1,6; 2,1). Doch Jesus ist Gottes Sohn in einem einzigartigen Sinne. Wenn unser Herr von Gott als seinem Vater sprach, dann verstanden die Juden zu Recht, dass er damit die Behauptung aufstellte, Gott gleich zu sein (Joh 5,18). Dieser Sohn ist »Jesus Christus, unser Herr«.
1,5 »Durch« Jesus Christus, unseren Herrn, hat Paulus »Gnade« (die Gunst Gottes als unverdiente Zuwendung, die ihn errettet hat) »und Apostelamt … empfangen«. Wenn Paulus sagt, dass »wir … Gnade und Apostelamt« empfangen haben, dann benutzt er fast mit Sicherheit den Autorenplural (er meint also sich selbst). Seine Verbindung zwischen »Apostelamt« und »Nationen« (d. h. Heiden) weist auf ihn und nicht auf die anderen Apostel hin. Paulus ist zu den Menschen aller Völker »zum Glaubensgehorsam« gesandt worden. Damit ist gemeint, damit sie der Botschaft des Evangeliums gehorchen sollen, indem sie Buße tun und an den Herrn Jesus Christus glauben (Apg 20,21). Das Ziel dieser weltweiten Verkündigung der Botschaft besteht dari n, »seinen Namen« zu ehren, um Jesus Christus wohlgefällig zu sein und ihn zu verherrlichen.
1,6 »Unter« denen, bei denen das Evangelium Widerhall fand, waren diejenigen, die Paulus mit dem Titel »Berufene Jesu Christi« auszeichnet. Damit betont er, dass Gott die Initiative zu ihrer Errettung ergriffen hat.
1,7 Der Brief ist an alle Gläubigen »in Rom« gerichtet, und nicht, wie andere Briefe, an eine einzelne Gemeinde. Das Schlusskapitel des Briefes deutet an, dass es verschiedene Versammlungen von Gläubigen in der Stadt gab, und dieser Gruß gilt ihnen allen.
»Allen Geliebten Gottes, berufenen Heiligen«: Diese beiden herrlichen Namen gelten für alle, die durch das kostbare Blut Christi erlöst worden sind. Diese Bevorrechtigten werden auf besondere Art von Gott geliebt und sind auch berufen, für Gott von der Welt abgesondert zu sein, denn das ist die Bedeutung des Wortes »Heilige«.
Der für Paulus charakteristische Gruß verbindet »Gnade« und« Frieden«. Mit »Gnade« (charis) wird das griechische Element des Grußes betont, während »Frieden« (schalom) den traditionellen jüdischen Gruß darstellt. Diese Kombination ist hier besonders angebracht, weil die Botschaft des Paulus sich darum dreht, wie gläubige Juden und Heiden jetzt eins in Christus sind.
Die »Gnade«, die hier gemeint ist, entspricht nicht der rettenden Gnade (die Leser des Briefes waren schon gerettet). Vielmehr geht es um die »Gnade«, die den Betreffenden für das christliche Leben und den christlichen Dienst ausrüstet. »Friede« ist hier nicht so sehr der Friede mit Gott (denn die Heiligen hatten diesen schon, weil sie durch den Glauben gerechtfertigt waren; kursiv hier und im Folgenden jeweils ergänzt; Anm. d. Übers.). Es ist mehr der »Friede« von Gott gemeint, der in ihren Herzen wohnt, während sie inmitten einer ruhelosen Gesellschaft leben. »Gnade … und Friede« kommen »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«, womit die Stellungsgleichheit des Sohnes mit dem Vater deutlich vorausgesetzt wird. Wäre Jesus nur Mensch gewesen, wäre es absurd, ihn als denjenigen darzustellen, der in gleicher Weise wie der Vater »Gnade« und »Frieden« schenkt. Es wäre das Gleiche, als ob man sagen würde: »Gnade und Frieden von Gott dem Vater und vom Bundespräsidenten.«
1,8 Wann immer es dem Apostel möglich war, begann er seine Briefe damit, seine Leser für dasjenige zu loben, was unter ihnen lobenswert war. (Ein gutes Beispiel für uns alle!) Hier dankt er »Gott durch Jesus Christus«, den Mittler, dass der »Glaube« der römischen Christen »in der ganzen Welt verkündet wird«. Über ihr Zeugnis als Christen wurde im gesamten Römischen Reich gesprochen, das damals aus der Perspektive der Menschen in der Mittelmeerregion die »ganze Welt« darstellte.
1,9 Weil die römischen Christen ihr Licht vor den Menschen scheinen ließen, fühlte sich Paulus gedrängt, »unablässig« für sie zu beten. Er beruft »Gott« zu seinem »Zeugen« dafür, wie anhaltend er gebetet habe, weil niemand anders davon wissen konnte. Doch »Gott« weiß es – derjenige Gott, dem der Apostel mit seinem »Geist an dem Evangelium seines Sohnes« diente. Der Dienst des Paulus geschah »mit« seinem »Geist«. Es ging hier nicht darum, dass er sich als Sklave Gottes abplagte, endlose Riten vollzog und pro forma Gebete oder Liturgien herunterleierte. Sein Dienst war vielmehr vom inständigen, glaubensvollen Gebet gekennzeichnet. Dieser Dienst war von Bereitwilligkeit, Hingabe sowie Unermüdlichkeit geprägt und einem Geist getrieben, der den Herrn Jesus über alles liebte. Er setzte sich leidenschaftlich dafür ein, die Gute Nachricht von Gottes Sohn bekannt zu machen.
1,10 Paulus hatte Gott für die Heiligen in Rom gedankt. Damit verbunden war sein Gebet, sie in naher Zukunft besuchen zu können. Wie in all seinem Handeln wollte er jedoch, dass dies im Einklang mit »dem Willen Gottes« geschah.
1,11 Das dringende Verlangen des Apostels war es, den Heiligen geistlich weiterzuhelfen, damit sie noch mehr im Glauben »befestigt« würden. Hier findet sich weder ein Hinweis auf einen sogenannten »zweiten Segen«, den er ihnen zueignen würde, noch beabsichtigte er, ihnen durch Handauflegung irgendeine geistliche Gabe zu vermitteln (obwohl er dies im Falle des Timotheus getan hat; s.  2. Tim  1,6).  Es  ging  mehr  darum,  ihr geistliches Wachstum durch den Dienst am Wort zu fördern.
1,12 Er erklärt weiter, dass dadurch sowohl sie als auch er gesegnet werden würden. Er würde durch ihren »Glauben« »mitgetröstet« werden, was auch in umgekehrter Richtung gelten würde. In jeder erbaulichen Gemeinschaft gibt es gegenseitige geistliche Bereicherung. »Eisen wird durch Eisen geschärft, und ein Mann schärft das Angesicht seines Nächsten« (Spr 27,17). Man beachte die Demut und Liebenswürdigkeit des Paulus – er war nicht zu hochgestellt, sich von anderen Heiligen helfen zu lassen.
1,13 Er hatte sich schon »oft vorgenommen, Rom zu besuchen, doch war er immer »verhindert worden«, vielleicht durch dringende Aufgaben in anderen Gegenden, möglicherweise aber auch direkt durch die Führung des Heiligen Geistes oder eventuell dadurch, dass er von Satan daran gehindert wurde. Er wünschte sich, »einige Frucht« unter den Heiden in Rom zu haben, »wie« er auch unter den übrigen Nationen »Frucht« gehabt hatte. An dieser Stelle spricht Paulus von der »Frucht« des Evangeliums, wie sich in den nächsten beiden Versen zeigt. In den Versen 11 und 12 nannte er sein Ziel, die römischen Christen im Glauben zu erbauen. Hier ist es nun sein Verlangen, Menschen in der Hauptstadt des Römischen Reiches für Christus zu gewinnen.
1,14 Jeder, der Christus hat, hat auch die Antwort auf die größten Nöte dieser Welt. Er hat das Heilmittel für die Krankheit der Sünde, den Weg, den ewigen Schrecken der Hölle zu entkommen, und die Zusicherung ewiger Glückseligkeit bei Gott. Das lädt ihm die Verantwortung auf, die Gute Nachricht Menschen aus allen Kulturen (sowohl »Griechen« als auch »Nichtgriechen«) und Menschen aller Bildungsschichten weiterzugeben (sowohl »Weisen« als auch »Unverständigen«). Paulus war sich dieser Verpflichtung eindringlich bewusst, denn er sagte: »Ich (bin) ein Schuldner.«
1,15 Um sich seiner Schuld zu entledigen, war er »willig«, auch den Christen »in Rom … das Evangelium« mit der ganzen Kraft, die Gott ihm zur Verfügung stellte, »zu verkündigen«. Jedoch sollte diese Verkündigung sicherlich nicht in erster Linie an die Gläubigen in Rom gerichtet sein, wie dieser Vers scheinbar nahelegt, denn sie hatten die Gute Nachricht ja schon angenommen. Paulus wollte in erster Linie zu den unerreichten Heiden der Hauptstadt predigen. B. Definition des Evangeliums (1,16.17)
1,16 Paulus »schämte« sich nicht, Gottes gute Botschaft nach Rom – die auf dem höchsten kulturellem Niveau befindliche Metropole dieses Weltreichs – zu tragen, auch wenn es sich erwiesen hatte, dass die Botschaft den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit war. Paulus wusste nämlich, dass das »Evangelium … Gottes Kraft zum Heil« ist. Das bedeutet, dass es uns zeigt, wie Gott durch seine Macht jeden errettet, der an seinen Sohn glaubt. Die Macht erstreckt sich sowohl auf die Juden als auch auf die Griechen. Die Reihenfolge (»dem Juden zuerst als auch dem Griechen«) hat sich geschichtlich in der Zeit der Apostelgeschichte erfüllt. Natürlich haben wir noch immer eine nicht aufhebbare Verantwortung gegenüber dem alten Volk Gottes, den Juden. Von uns wird jedoch nicht mehr verlangt, sie zu evangelisieren, ehe wir zu den Heiden gehen. Heute handelt Gott mit Juden und Heiden auf der gleichen Grundlage, wobei Botschaft und Zeitplan für alle gleichermaßen gelten.
1,17 Weil das Wort »Gerechtigkeit« hier zum ersten Mal in diesem Brief vorkommt, werden wir an dieser Stelle kurz über seine Bedeutung nachdenken. Das Wort wird im Neuen Testament auf drei verschiedene Arten gebraucht, und wir wollen nun diese drei Verwendungsmöglichkeiten besprechen.
Erstens wird das Wort »Gerechtigkeit« verwendet, um einen Charakterzug Gottes zu beschreiben. Es beinhaltet, dass Gott immer recht hat und richtig, angemessen und in Übereinstimmung mit all seinen anderen Charakterzügen handelt. Wenn wir sagen, dass Gott gerecht ist, dann meinen wir, dass in ihm keine Bosheit, Unehrlichkeit oder Ungerechtigkeit ist.
Zweitens kann mit »Gottes Gerechtigkeit« die von ihm geschaffene Möglichkeit gemeint sein, gottlose Sünder zu rechtfertigen. Er kann dies tun und dennoch gerecht bleiben, weil Jesus als das sündlose Opfer all den Ansprüchen der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan hat.
Schließlich bezeichnet »Gottes Gerechtigkeit« den vollkommenen Zustand, den Gott denen schenkt, die an seinen Sohn  glauben  (2. Kor  5,21).  Diejenigen, die an sich nicht gerecht sind, werden so behandelt, als wären sie gerecht, weil Gott sie in der Vollkommenheit Christi sieht. Die Gerechtigkeit Christi wird ihnen angerechnet.
Welche Bedeutung ist nun in Vers 17 gemeint? Jede von ihnen könnte hier gemeint sein, doch scheint uns der Ausdruck »Gottes Gerechtigkeit« an dieser Stelle besonders auf die von ihm geschaffene Möglichkeit der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben hinzuweisen.
Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium geoffenbart. Zuerst sagt uns das Evangelium, dass Gottes Gerechtigkeit die Bestrafung der Sünden erfordert und diese Strafe der ewige Tod ist. Doch dann hören wir, dass Gottes Liebe schon das getan hat, was seine Gerechtigkeit forderte. Er sandte seinen Sohn als Stellvertreter für die Sünder in die Welt, um die Strafe auf sich zu nehmen. Weil nun seine gerechten Ansprüche voll erfüllt sind, kann Gott in seiner Gerechtigkeit alle diejenigen erretten, die für sich das Werk Christi in Anspruch nehmen.
Gottes Gerechtigkeit »wird … aus Glauben zu Glauben … geoffenbart«. Der Ausdruck »aus Glauben zu Glauben« kann auf mehrere Arten gedeutet werden. Dabei ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass das griechische Wort für Glauben gleichzeitig auch Treue bedeuten kann:
1. Durch Gottes Treue zu unserem Glauben,
2. von einer Stufe des Glaubens zur anderen oder
3. von Anfang bis zum Ende durch den Glauben.
Die letzte angeführte Bedeutung ist die wahrscheinlichste. Gottes Gerechtigkeit wird nicht aufgrund von Werken denjenigen zugesprochen, die versuchen, sie sich zu verdienen. Sie wird ausschließlich aufgrund des Glaubens offenbart. Das stimmt völlig mit dem göttlichen Beschluss von Habakuk 2,4 überein: »Der Gerechte aber wird aus Glauben leben«, was wir auch folgendermaßen verstehen können: »Die durch den Glauben Gerechtfertigten werden leben.« In den ersten 17 Versen des Römerbriefes hat Paulus uns in sein Thema eingeführt und kurz einige Hauptpunkte aufgezählt. Er spricht nun die dritte Frage an: »Warum brauchen Menschen das Evangelium?« Die Antwort lautet kurz: »Weil sie sonst verlorengehen.« Doch damit erheben sich vier weitere Fragen: 1. Sind die Heiden, die noch nie das Evangelium gehört haben, verloren? (1,18-32) 2. Sind die selbstgerechten Vertreter einer hochstehenden Moral, ob es sich nun um Heiden oder Juden handelt, verloren? (2,1-16)
3. Ist Gottes von alters her auserwähltes Volk, die jüdische Nation, verloren? (2,17-3,8) 4. Sind alle Menschen verloren? (3,9-20) C. Alle brauchen das Evangelium (1,18-3,20)
1,18 Hier haben wir nun die Antwort auf die Frage: »Warum brauchen Menschen das Evangelium?« Die Antwort lautet, dass sie ohne Evangelium verloren sind, und dass »Gottes Zorn vom Himmel her über alle« Bosheit »der Menschen … geoffenbart« ist, »welche die Wahrheit« auf ungerechte Weise durch ihr ungerechtes Leben unterdrücken. Doch wie wird Gottes Zorn »geoffenbart«? Eine diesbezügliche Antwort enthält der Zusammenhang. Gott überlässt die Menschen ihrer Unreinheit (1,24), den bösen Leidenschaften (1,26) und einer verkommenen Gesinnung (1,28). Doch gilt auch, dass Gott gelegentlich in die menschliche Geschichte eingreift, um sein überaus großes Missfallen gegenüber der Sünde des Menschen zu  bekunden  –  z. B.  durch  die  Sintflut (1. Mose  7),  die  Zerstörung  von  Sodom und  Gomorra  (1. Mose  19)  und  die  Bestrafung Korachs, Datans und Abirams (4. Mose 16,32).
1,19 »Sind die Heiden, die nie das Evangelium gehört haben, verloren?« Paulus zeigt uns, dass dies der Fall ist. Dies liegt nicht an ihrem Erkenntnismangel, sondern daran, dass sie zwar genug wissen, aber gleichzeitig diese Erkenntnis leugnen! Denn das »von Gott« Erkennbare, das in der Schöpfung gesehen werden kann, ist »ihnen geoffenbart«. Gott hat sie nicht ohne Offenbarung seiner selbst gelassen.
1,20 Seit der »Erschaffung der Welt« sind zwei »unsichtbare« Wesenszüge Gottes für alle erkennbar: »seine ewige Kraft« und »seine Göttlichkeit«. Das Wort, das Paulus hier benutzt, bedeutet so viel wie Gottsein bzw. göttliche Größe (vgl. Menge; Anm. d. Übers.). Es bezeichnet eher seinen Charakter als seine Existenz bzw. eher seine herrlichen Eigenschaften als die Tatsache, dass er Gott ist. Dass er Gott ist, wird hier vorausgesetzt. Die Argumentation an dieser Stelle ist deutlich: Die Schöpfung erfordert einen Schöpfer. Ein Kunstwerk setzt einen Künstler voraus. Wenn man zu Sonne, Mond und Sternen aufschaut, dann kann jeder wissen, dass es einen Gott gibt. Die Antwort auf die gestellte Frage (»Was ist mit den Heiden?«) lautet wie folgt: Sie sind »ohne Entschuldigung«. Gott hat sich ihnen in der Schöpfung geoffenbart, doch sie haben auf diese Offenbarung nicht reagiert. Deshalb werden die Menschen nicht dafür verurteilt, dass sie einen Heiland ablehnen, von dem sie noch nie gehört haben, sondern weil sie nicht ihrem Wissen von Gott entsprechend gelebt haben.
1,21 Obwohl »sie Gott« durch seine Werke »kannten, … verherrlichten« sie ihn doch nicht. Auch dankten sie ihm nicht für all seine Taten und Werke. Stattdessen ergaben sie sich der »Torheit« der Philosophie sowie der Spekulation über andere Götter und können nun als Folge davon nicht mehr richtig sehen oder klar denken. »Wer das Licht ablehnt, dem wird es vorenthalten.« Wer nicht mehr sehen will, wird die Sehfähigkeit verlieren.
1,22 Als die Menschen durch ihr selbst erworbenes Wissen immer eingebildeter wurden, verstrickten sie sich immer mehr in Unwissenheit und Torheit. Diese beiden Eigenschaften waren von jeher charakteristisch für Menschen, welche die Gotteserkenntnis ablehnen: Sie werden unheilbar eingebildet und gleichzeitig völlig unwissend.
1,23 Statt sich aus niederen Formen zu entwickeln, hatten die ersten Menschen eine hochstehende ethische Ordnung. Indem sie sich weigerten, den wahren, unendlichen, »unverweslichen Gott« anzunehmen, ist ihre Wahrheit zu Torheit und ihre moralische Integrität zu Verderbtheit degeneriert. Torheit und Verderbtheit gehen immer mit dem Götzendienst einher. Dieser ganze Abschnitt straft die Evolutionstheorie Lügen.
Der Mensch ist instinktiv religiös. Er muss irgendetwas haben, das er verehren kann. Als er sich weigerte, den lebendigen Gott anzunehmen, machte er sich seine eigenen Götter aus Holz und Stein, die »Menschen, … Vögel und … vierfüßige und kriechende Tiere« darstellen. Bemerkenswert ist die absteigende Reihenfolge: »Menschen, … Vögel und … vierfüßige und kriechende Tiere«. Und man darf nicht vergessen, dass der Mensch im Laufe der Zeit immer mehr dem ähnelt, was er anbetet. Wenn seine Auffassung des Göttlichen entartet, dann wird auch seine Ethik degenerieren. Wenn sein Gott ein Reptil ist (also die unterste der hier aufgezählten Stufen erreicht hat), dann meint er, so leben zu können, wie es ihm gefällt. Man beachte auch, dass sich der Verehrer eines Gottes selbst immer als diesem Gott unterlegen fühlt. Wenn der Mensch im Bild und nach dem Bild Gottes geschaffen ist, dann nimmt er in diesem Fall eine tiefere Stellung als eine Schlange ein! Wenn der Mensch Götzen anbetet, dann betet er Dämonen an. Paulus sagt ganz klar, dass die Opfer der Heiden den Dämonen und nicht Gott dargebracht werden (1. Kor 10,20).
1,24 Dreimal wird von »Gott« gesagt, dass er den Menschen »dahingibt«. Er hat »sie dahingegeben … in Unreinheit« man sich dieser Neigung hingibt und die Sünde praktiziert. Der Heilige Geist gibt die Kraft, der Verführung zu widerstehen und dauernden Sieg darüber zu behalten  (1. Kor  10,13).  Einige  Christen  in Korinth waren lebendige Beispiele dafür, dass Homosexuelle nicht unwiderruflich an diesen Lebensstil gebunden sind (1. Kor 6,9-11).
1,28 Menschen weigern sich also, Gott in ihrer Erkenntnis »festzuhalten«, ob es nun als Schöpfer, Erhalter oder Erlöser ist. Daher »hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn«, damit sie sich noch einer Reihe weiterer Formen der Bosheit schuldig machen. Dieser Vers gibt uns einen tiefen Einblick in die Ursachen dafür, warum die Evolutionstheorie den natürlichen Menschen so anspricht. Der Grund besteht nicht so sehr in seinem Verstand, sondern in seinem Willen. Er will »Gott« nicht »in der Erkenntnis festhalten«. Es geht nicht darum, dass die Beweise für die Evolutionstheorie so überwältigend wären, dass man gezwungen wäre, sie anzunehmen. Der Mensch sucht vielmehr eine Erklärung seines Ursprungs, die Gott gänzlich ausschließt. Er weiß nämlich, dass er Gott moralisch verantwortlich ist, wenn es ihn gibt.
1,29 Hier findet sich nun die schwarze Liste von weiteren Sünden, die den von Gott entfremdeten Menschen kennzeichnen. Man beachte, dass ein solcher Mensch »erfüllt« mit diesen Sünden ist, und ihnen nicht nur gelegentlich anhängt. Er ist geübt in Sünden, die für einen Menschen nicht angemessen sind: »Ungerechtigkeit« (Unrecht), »Hurerei«  (LU 1912).  Dazu  gehören  Unzucht, Eheb ruch und alle anderen Formen verbotenen Geschlechtsverkehrs)2, »Bosheit« (willentlich Böses tun), »Habsucht« (Geldgier; die Sucht, immer mehr haben zu wollen), »Schlechtigkeit« (das Verlangen, andere schädigen zu wollen; von Boshaftigkeit und Gemeinheit geprägter Hass), »voll von Neid« (Eifersucht auf andere), voll von »Mord« (geplantes und ungesetzliches Töten anderer, entweder im Zorn oder beim Begehen eines anderen Verbrechens), voll von »Streit« (Hader, Zank, Streitsucht), voll von »List« (Verrat, Intrigen und Überlistung) und voll von »Tücke« (böswillige Gesinnung, Gehässigkeit, Feindschaft, Bitterkeit). Auch »Ohrenbläser« (diejenigen, die insgeheim gehässig über andere reden und Klatsch weitergeben) sind hier zu nennen.
1,30 Außerdem gehören dazu: »Verleumder« (Lästermäuler in der Öffentlichkeit, Rufmörder), »Gotteshasser« (oder auch Gottverhasste; vgl. Anmerkung revidierte Elberfelder Bibel), »Gewalttäter« (diejenigen, die andere verächtlich behandeln oder beleidigen), »Hochmütige« (überhebliche, arrogante Menschen), »Prahler« (Angeber, Wichtigtuer), »Erfinder böser Dinge« (diejenigen, die Möglichkeiten ersinnen, Unheil anzurichten, und sich neue Arten der Bosheit ausdenken) und »den Eltern Ungehorsame« (Menschen, die sich gegen die elterliche Autorität erheben).
1,31 Abschließend werden genannt: »Unverständige« (Menschen ohne ethische und geistliche Unterscheidungsfähigkeit bzw. ohne Gewissen), »Treulose« (Menschen, die Versprechen, Verträge, Vereinbarungen und Abkommen brechen, wann immer es ihnen passt) und Menschen »ohne natürliche Liebe« (Menschen, die unter völliger Missachtung natürlicher Bindungen und den damit verbundenen Verpflichtungen handeln). Es sind  »unversöhnliche«  (Schl 2000  und LU 1912;  unbelehrbar  oder  unnachgiebig)3 und »unbarmherzige« (grausam, mitleidslos, rachsüchtig) Menschen.
1,32 Diejenigen, die die Sexualität missbrauchen (1,24) oder sie pervertieren (1,26.27), sowie jene, welche die anderen aufgeführten Sünden praktizieren ren, und fühlen sich mit denen, die ebenfalls diese Sünden begehen, kameradschaftlich verbunden.
Exkurs zum Thema unerreichte Heiden
Was ist nun Gottes Antwort auf die Frage: »Sind die Heiden, die das Evangelium nie gehört haben, verloren?« Das Urteil über die Heiden wird durch die Tatsache gesprochen, dass sie nicht nach der Erkenntnis leben, die Gott ihnen in der Schöpfung gegeben hat. Stattdessen werden sie Götzendiener. Die Folge davon ist, dass sie sich einem Leben der Sittenlosigkeit und Bosheit ergeben haben.
Doch man stelle sich nun vor, dass ein einzelner Heide doch nach der Erkenntnis lebt, die Gott ihm gibt. Man nehme an, er verbrenne seine Götzen und suche nach dem wahren Gott. Was dann? Es gibt zu diesem Thema zwei Lehrrichtungen unter den evangelikalen Gläubigen.
Einige sind der Ansicht, dass Gott dem Heiden, wenn er entsprechend seiner Gotteserkenntnis aufgrund der Schöpfung lebt, das Licht des Evangeliums schickt. Kornelius wird hier als Beispiel dafür angeführt. Er suchte Gott. Seine Gebete waren von Gott erhört und seine Almosen von ihm gesehen worden. Dann sandte Gott Petrus, um ihm mitzuteilen, wie er errettet werden könnte (Apg 11,14).
Andere sind der Meinung, dass Gott einem Menschen, wenn er auf den wahren und lebendigen Gott infolge der ihm in der Schöpfung geoffenbarten Erkenntnis vertraut und dennoch stirbt, ehe er das Evangelium hört, aufgrund des Werkes Christi auf Golgatha errettet. Obwohl der Mensch nichts vom Werk Christi weiß, rechnet Gott ihm den Wert dieses Werkes zu, wenn er Gott nach dem Maß der ihm geschenkten Erleuchtung vertraut. Die Vertreter dieser Ansicht sind der Meinung, dass Gott auch die Menschen vor Golgatha auf diese Weise gerettet habe und auch immer noch geistig Behinderte, Menschen mit unterdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten und Kinder rettet, ehe sie das Alter der Verantwortlichkeit erreicht haben. Die erste Ansicht lässt sich durch den Fall des Kornelius untermauern. Die zweite Ansicht kann keine Schriftbeweise für die Zeit nach dem Tod und der Auferstehung Christi (unser gegenwärtiges Zeitalter) nennen und schwächt auch die Notwendigkeit intensiver Missionstätigkeit ab.
Paulus hat gezeigt, dass die Heiden verloren sind und das Evangelium brauchen. Nun wendet er sich an eine zweite Gruppe von Menschen, deren genaue Identität in gewisser Hinsicht umstritten ist. Wir glauben, dass der Apostel hier zu den selbstgerechten Moralpredigern redet, ganz gleich, ob es sich um Juden oder Heiden handelt. Der erste Vers zeigt, dass diese Menschen dadurch selbstgerechte Moralisten sind, dass sie das Verhalten anderer verurteilen (und doch die gleichen Sünden selbst begehen). Die Verse 9, 10, 12 und 15 zeigen, dass Paulus sowohl zu den Juden als auch zu den Heiden spricht. Deshalb lautet nun die Frage: Sind selbstgerechte Moralisten, ob es nun um Juden oder Heiden handelt, auch verloren? Und die Antwort lautet, wie wir sehen werden: »Ja, auch sie sind verloren!«
2,1 Diese zweite Gruppe besteht aus denjenigen, die auf die Heiden hinunterblicken und sich selbst für zivilisierter, gebildeter und vornehmer halten. Sie verurteilen die Heiden für ihre Rohheit, doch sie sind selbst genauso schuldig, wenn auch vielleicht auf eine eher subtile Weise. Der gefallene Mensch sieht Fehler bei anderen leichter als bei sich selbst. Abstoßendes und scheußliche Dinge im Leben anderer erscheinen ihm im eigenen Leben durchaus erlaubt. Doch die Tatsache, dass er die Sünden anderer »richten« kann, zeigt, dass er den Unterschied zwischen Richtig und Falsch kennt. Wenn er weiß, dass es falsch ist, jemandem die Frau auszuspannen, dann weiß er auch, dass es für ihn selbst falsch ist, einem anderen die Frau wegzunehmen. Wenn deshalb jemand selbst die Sünde begeht, die er an anderen verurteilt, dann ist er selbst ohne Entschuldigung.
Die Sünden kultivierter Menschen entsprechen im Wesentlichen den Sünden der Heiden. Obwohl ein Sittenlehrer nun einwenden könnte, er habe nicht jede Sünde, die sich in der Bibel findet, begangen, sollte er drei Tatsachen beachten: 1. Er ist in der Lage, alle diese Sünden zu tun.
2. Indem er ein Gebot bricht, ist er am ganzen Gesetz schuldig geworden (Jak 2,10).
3. Er hat Gedankensünden begangen, die er zwar nie in die Tat umgesetzt haben mag, die jedoch nach der Bibel ebenso schlimm sind. Jesus lehrte, dass z. B. der lüsterne Blick dem Ehebruch gleichzusetzen ist (Matth 5,28).
2,2 Dem selbstgefälligen Moralprediger muss eine Lektion hinsichtlich des »Gerichts Gottes« vermittelt werden. Der Apostel vermittelt sie in den Versen 2-16. Der erste wichtige Punkt lautet, »dass das Gericht Gottes der Wahrheit entsprechend … ergeht«. Es beruht nicht auf unvollständigen, ungenauen oder durch Umstände beeinflussten Indizien, sondern auf der Wahrheit, und zwar der ganzen Wahrheit und nichts als der Wahrheit.
2,3 Zweitens kann niemand dem »Gericht Gottes entfliehen«, der andere für die gleichen Sünden verurteilt, die er selbst tut. Seine Fähigkeit, andere zu richten, spricht ihn nicht von eigener Schuld frei, sondern vergrößert die eigene Schuld nur noch.
Dem »Gericht Gottes« kann keiner entfliehen, es sei denn, er tut Buße und empfängt Vergebung.
2,4 Als Nächstes erfahren wir, dass das Gericht Gottes manchmal aufgeschoben wird. Dieser Aufschub ist ein Zeichen der »Gütigkeit und Geduld und Langmut« Gottes. »Gütigkeit« bedeutet, dass Gott dem Sünder – nicht jedoch seinen Sünden – gegenüber wohlgesonnen ist. »Geduld« beschreibt die Tatsache, dass Gott die Bestrafung der Bosheit und Rebellion des Menschen aufschiebt. Seine »Langmut« ist seine erstaunliche Zurückhaltung trotz unaufhörlicher Provokationen seitens des Menschen.
»Die Güte Gottes«, die sich in seiner Vorsehung, seinem Schutz und seiner Bewahrung zeigt, hat das Ziel, den Menschen »zur Buße« zu leiten. Er will nicht, »dass irgendwelche verlorengehen, sondern dass alle zur Buße kommen« (2. Petr 3,9). »Buße« bedeutet Umkehr, sodass man der Sünde den Rücken kehrt und sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt. »Sie ist ein Sinneswandel, der eine Veränderung der Einstellung zur Folge hat, die sich dann in veränderten Handlungsweisen ausdrückt.«4 Sie beweist, dass sich ein Mensch gegen sich selbst und seine Sünde auf die Seite Gottes stellt. Es geht um mehr als nur um die intellektuelle Anerkennung der eigenen Schuld. Buße betrifft vielmehr auch das Gewissen, wie John Newton geschrieben hat: »Mein Gewissen war getroffen und gestand die Schuld ein.«
2,5 Hier findet sich ein vierter Punkt, den wir über das Gericht Gottes lernen: Es geht darum, dass es im Einklang damit gefällt wird, wie viel Schuld auf gehäuft worden ist. Paulus stellt hier verhärtete und unbußfertige Sünder dar, die sich selbst Gerichtsurteile »auf häufen«, als wenn sie sich ein Vermögen an Gold und Silber sammeln würden. Doch welch ein Vermögen wird das sein, wenn sich Gottes »Zorn« am Tag des »Gerichtes« am großen weißen Thron offenbart (Offb 20,11-15)! An diesem Tag des »gerechten Gerichtes Gottes« wird erkannt werden, dass Gott absolut »gerecht« ist und weder Vorurteile noch Ungerechtigkeit irgendwelcher Art kennt.
2,6 In den nächsten fünf Versen erinnert uns Paulus daran, dass das Gericht Gottes jedem »nach seinen Werken« vergelten wird. Jemand kann sich großer persönlicher Redlichkeit rühmen. Er kann sich auf seine Rasse oder seine nationale Herkunft verlassen. Er kann vielleicht anführen, dass es echte Männer Gottes unter seinen Vorfahren gibt. Doch er wird nach seinem eigenen Verhalten und nicht anhand dieser anderen Aspekte gerichtet werden. Seine Werke sind dann entscheidend. Wenn wir nur die Verse 6-10 betrachten würden, dann könnte man leicht folgern, dass sie die Erlösung durch Werke lehren. Sie sagen scheinbar, dass diejenigen, die gute Werke tun, sich dadurch das ewige Leben verdienen können. Doch sollte klar sein, dass der Abschnitt das nicht bedeuten kann, weil dies dem fortwährenden Zeugnis der übrigen Schrift widersprechen würde, die eindeutig sagt, dass die Erlösung aus Glauben ohne Werke geschieht. Chafer weist darauf hin, dass über 150 Stellen im Neuen Testament aussagen, dass die Erlösung ausschließlich auf dem Glauben beruht.5 Keine Stelle kann diesem überwältigenden Zeugnis widersprechen, wenn sie recht verstanden wird.
Wie haben wir diesen Abschnitt nun zu verstehen? Zunächst müssen wir verstehen, dass gute Werke erst nach jemandes Wiedergeburt getan werden können. Als die Menschen Jesus fragten: »Was sollen wir tun, damit wir die Werke Gottes wirken?«, antwortete Jesus: »Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat« (Joh 6,28.29). Das erste gute Werk, das ein Mensch tun kann, besteht demnach darin, an den Herrn Jesus Christus zu glauben. Dabei müssen wir uns ständig klar darüber sein, dass Glaube kein verdienstvolles Werk ist, durch das man sich die Erlösung verdienen könnte. Wenn also die Unerretteten nach ihren Werken gerichtet werden, dann werden sie nichts bringen können, das als Beweis ihrer Unschuld irgendeinen Wert hätte. All ihre sogenannte Gerechtigkeit wird schmutzigen Lumpen gleichen (Jes 64,6). Sie werden für die Sünde verurteilt werden, nicht an Jesus als ihren Herrn geglaubt zu haben (Joh 3,18). Darüber hinaus werden ihre Werke ihr Strafmaß bestimmen (Lk 12,47.48). Wenn Gläubige nach ihren Werken gerichtet werden, was wird dann das Ergebnis sein? Sicherlich können sie kein gutes Werk vorweisen, durch das sie sich das Heil verdienen könnten. All ihre Werke vor der Erlösung waren sündig. Doch das Blut Christi hat ihre Vergangenheit ausgelöscht. Nun kann Gott gegen sie keine Anklage mehr finden, für die er sie zur Hölle verurteilen müsste. Sobald sie gerettet sind, werden sie gute Werke tun – Werke, die nicht notwendigerweise in den Augen der Welt gute Werke sind, doch Gott sieht sie sehr wohl als solche an. Ihre guten Werke sind die Folge ihrer Erlösung, bedingen aber nicht die Er lösung. Vor dem Richterstuhl Christi werden ihre Werke beurteilt werden, und sie werden für alle treuen Dienste belohnt werden.
Doch wir müssen uns ständig daran erinnern, dass dieser Abschnitt sich nicht mit den Gläubigen beschäftigt, sondern nur mit den Ungläubigen.
2,7 Paulus erklärt hier, dass das Gericht nach den Werken stattfinden wird. Dabei sagt er, dass Gott »denen, die mit Ausdauer in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben« geben wird. Wie schon erklärt, heißt das nicht, dass diese Menschen durch »Ausdauer in gutem Werk« errettet werden könnten. Das wäre ein anderes Evangelium. Niemand wird von Natur aus ein solches Leben führen, und keiner kann dies ohne göttliche Kraft tun. Jeder, der dieser Beschreibung entspricht, ist schon aus Gnaden durch Glauben errettet worden. Die Tatsache, dass er nach »Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit« sucht, ist bereits ein Beweis dafür, dass er wiedergeboren ist. Seine ganze Lebensführung zeigt, dass er bekehrt ist.
Er strebt nach der Herrlichkeit des Himmels, der »Ehre«, die allein Gott gibt (Joh 5,44), und nach der »Unverweslichkeit«, der Eigenschaft des Auferstehungsleibes  (1. Kor  15,53.54),  und  nach dem himmlischen Erbe, das unvergänglich, unbefleckt und unverwelklich ist (1. Petr 1,4). Gott wird all denen »ewiges Leben« schenken, bei denen dieses Zeugnis eines Bekehrungserlebnisses sichtbar wird. Vom »ewigen Leben« wird im Neuen Testa ment auf verschiedene Weise gesprochen. Es ist sofort unser Eigentum, das wir empfangen, sobald wir uns bekehren (Joh 5,24). Es ist ein zukünft iges Eigentum, das wir erhalten, wenn wir unsere Herrlichkeitsleiber empfangen (hier und Röm 6,22). Obwohl man diese Gabe durch den Glauben empfängt, wird sie manchmal auch mit der Belohnung für ein gehorsames Leben verbunden (Mk 10,30). Alle Gläubigen werden das »ewige Leben« zugeeignet bekommen, doch einige werden es besser genießen können als andere. Es bedeutet mehr als eine zeitlich nicht begrenzte Existenz, nämlich eine bestimmte Lebensqualität, das »Leben in Überfluss«, das der Heiland in Joh annes 10,10 verheißen hat. Es ist das Leben Christi selbst (Kol 1,27).
2,8 Nun geht es um jene, »die von Selbstsucht bestimmt und der Wahrheit ungehorsam sind«, jedoch »der Ungerechtigkeit … gehorsam«. Sie werden mit »Zorn und Grimm« belohnt werden. Sie sind »der Wahrheit ungehorsam« und haben nie auf den Ruf des Evangeliums reagiert. Stattdessen haben sie sich die Ungerechtigkeit als Herrin erwählt. Ihr Leben wird durch Streit, Zank und Ungehorsam gekennzeichnet – ein sicherer Beweis dafür, dass sie nicht erlöst sind.
2,9 Nun wiederholt der Apostel Gottes Urteilsspruch über die beiden Arten von Werken und diejenigen, die diese Werke vollbracht haben. Diesmal erwähnt er sie nur in umgekehrter Reihenfolge. Das Urteil wird »Drangsal und Angst« für jeden bedeuten, »der das Böse vollbringt«. Auch hier müssen wir wieder betonen, dass diese bösen Werke ein böses, ungläubiges Herz anzeigen. Die Werke sind der äußere Ausdruck der Haltung des jeweiligen Menschen gegenüber dem Herrn.
Der Ausdruck »sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen« zeigt, dass das Gericht Gottes auch nach den Vorrechten oder der Erkenntnis gehalten wird, die man empfangen hat. Die Juden waren »zuerst« bevorrechtigt: Sie waren (und sind) das erwählte irdische Volk Gottes. Daher werden sie auch »zuerst« zur Verantwortung gezogen werden. Dieser Aspekt des Gerichts Gottes wird in den Versen 12-16 weiter ausgeführt.
2,10 Das Urteil wird lauten: »Herrlichkeit und Ehre und Frieden jedem«, ob Grieche oder Jude, »der das Gute wirkt«. Und man darf nicht vergessen, dass niemand für Gott etwas Gutes tun kann, es sei denn, er hat sein Leben dem Herrn Jesus Christus anvertraut und glaubt an ihn.
Der Ausdruck »sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen« kann nicht bedeuten, dass Gott die Juden vorzieht. Der nächste Vers sagt nämlich schon, dass Gottes Gericht unparteiisch ist. Deshalb muss sich dieser Ausdruck auf die historische Reihenfolge beziehen, in der das Evangelium in die Welt hinausgegangen ist. Es wurde zuerst den Juden verkündigt, wobei die ersten Gläubigen Juden waren (Kap. 1,16).
2,11 Eine weitere Wahrheit bezüglich des Gerichts lautet, dass Gott ohne »Ansehen der Person« richtet. In irdischen Gerichtsverhandlungen mag dem gut aussehenden, reichen und einflussreichen Mann der Vorzug gegeben werden, doch Gott ist streng unparteiisch. Er ist durch nichts zu beeinflussen.
2,12 Wie schon oben erwähnt, erklären die Verse 12-16 die Tatsache etwas näher, dass Gott entsprechend der Erkenntnis eines Menschen richtet. Paulus hat zwei verschiedene Arten von Menschen im Blick: Diejenigen ohne Gesetz (die Heiden) und diejenigen unter dem Gesetz (die Juden). Das schließt jeden ein, außer diejenigen, die zur Gemeinde Gottes gehören. (S. 1. Kor 10,32. Dort wird die Menschheit in diese drei Personenkreise unterteilt.)
Diejenigen, die »ohne Gesetz gesündigt« haben, werden »auch ohne Gesetz verlorengehen«. Das heißt nicht, dass sie »ohne Gesetz« gerichtet werden. Vielmehr werden sie »ohne Gesetz verlorengehen«. Sie werden nach dem gerichtet werden, was Gott ihnen geoffenbart hat. Sollten sie nicht entsprechend dieser Offen barung leben, werden sie »verloren gehen«.
Wer »unter (dem) Gesetz gesündigt« hat, wird »durch das Gesetz« gerichtet werden, und wer ihm nicht gehorcht hat, wird auch verlorengehen. Das Gesetz verlangt vollkommenen Gehorsam.
2,13 Das Gesetz nur zu besitzen, reicht nicht aus. Das Gesetz verlangt völligen und ständigen Gehorsam. Niemand wird als gerecht angesehen, nur weil er weiß, was im Gesetz steht. Der einzig vorstellbare Weg der Rechtfertigung unter dem Gesetz wäre, es in seiner Gesamtheit zu halten. Da jedoch alle Menschen Sünder sind, ist es ihnen unmöglich, das zu tun. Deshalb beschreibt dieser Vers eher eine Idealvorstellung als etwas, das dem Menschen möglich wäre.
Das Neue Testament lehrt ausdrücklich, dass es für den Menschen unmöglich ist, durch Befolgen des Gesetzes gerettet zu werden (s. Apg 13,39; Röm 3,20; Gal 2,16.21; 3,11). Es war nie Gottes Absicht, dass das Gesetz jemanden erretten sollte. Selbst wenn ein Mensch das Gesetz von heute an in seiner Gesamtheit halten könnte, wäre er noch immer nicht gerechtfertigt, weil Gott auch seine Vergangenheit berücksichtigen muss. Wenn also Vers 13 sagt, dass »die Täter des Gesetzes … gerechtfertigt werden«, dann müssen wir hier verstehen, dass das Gesetz Gehorsam fordert. Wenn irgendjemand vom Tag seiner Geburt an vollkommen gehorsam wäre, wäre er gerechtfertigt. Doch es ist eine unumstößliche Tatsache, dass dies niemandem gelingt.
2,14 Die Verse 14 und 15 stellen einen Einschub dar, der sich auf Vers 12 zurückbezieht, wo wir erfahren haben, dass Heiden, die ohne das Gesetz sündigen, auch ohne es verlorengehen werden. Nun erklärt Paulus, dass den Heiden das Gesetz zwar nicht gegeben ist, sie jedoch angeborenes Wissen um Gut und Böse haben. Sie wissen instinktiv, dass es falsch ist, zu lügen, zu stehlen, Ehebruch zu begehen und zu morden. Das einzige Gebot, das sie nicht durch Intuition kennen können, ist das Sabbatgebot, das jedoch eher ein Ritualgebot als eine moralische Verpflichtung ist.
Es läuft also darauf hinaus, dass die »Nationen, die kein Gesetz haben, sich selbst ein Gesetz« sind. Sie bilden sich durch ihren moralischen Instinkt ihre eigenen Maßstäbe von Gut und Böse.
2,15 »Sie beweisen, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist.« Nicht das Gesetz ist in ihre Herzen geschrieben, sondern »das Werk des Gesetzes«. Das Werk, welches das Gesetz eigentlich im Leben der Israeliten vollbringen sollte, wird nun in gewissem Maße im Leben von Heiden erkennbar. Nehmen wir ein Beispiel: Sie wissen, dass es richtig ist, z. B. seine Eltern zu ehren. Dies zeigt, dass »das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist«. Sie wissen auch, dass gewisse Dinge grundsätzlich falsch sind. »Ihr Gewissen«, das als Prüfinstanz dient, bestätigt dieses instinktive Wissen. Und ihre Gedanken entscheiden ständig darüber, ob ihre Handlungen richtig oder falsch sind. Sie klagen »sich untereinander« an oder »entschuldigen« sich, sie erlauben oder verbieten.
2,16 Dieser Vers ist eine Fortführung der Gedanken in Vers 12. Er legt fest, wann die Menschen ohne Gesetz und die Menschen unter dem Gesetz gerichtet werden. Und dabei lehrt uns dieser Vers noch eine letzte Wahrheit hinsichtlich des Gerichts Gottes – nämlich die Tatsache, dass es auch »das Verborgene der Menschen« und nicht nur ihre in der Öffentlichkeit begangenen Sünden berücksichtigen wird. Die Sünde, die gegenwärtig noch verborgen ist, wird zum offenen Skandal beim Gericht am großen weißen Thron. »Jesus Christus« wird dann der Richter sein, weil der Vater ihm das Gericht übergeben hat (Joh 5,22). Wenn Paulus hinzufügt: »Nach meinem Evangelium«, dann meint er: »So lehrt mein Evangelium.« »Mein Evangelium« bedeutet das von Paulus gepredigte Evangelium, und es war dasselbe, das auch die anderen Apostel verkündigten.
2,17 Der Apostel muss sich noch mit einer dritten Gruppe von Menschen befassen. Deshalb wendet er sich nun der Frage zu: Sind die Juden, denen das Gesetz gegeben wurde, auch verloren? Und natürlich lautet die Antwort: »Auch sie sind verloren!«
Zweifellos glaubten viele Juden, dass ihnen Gottes Gericht nichts anhaben könnte. Sie dachten, dass Gott »einen Juden« niemals der Hölle überantworten würde. Die Heiden dagegen waren in ihren Augen Nahrung für die höllischen Flammen. Paulus muss nun dieses Vorurteil zerstören, indem er zeigt, dass Heiden manchmal Gott näher stehen können als Juden.
Als Erstes geht er die Dinge durch, die der Jude sich Gott gegenüber zugutehielt. Er war ein Jude und damit ein Angehöriger des irdischen Volkes, das Gott sich erwählt hat. Er stützte sich »auf das Gesetz«, das aber nie als Stütze gedacht war, sondern vielmehr unser Gewissen für das Bewusstsein der Sündhaftigkeit wecken sollte. Er rühmte sich »Gottes«, des einzigen wahren Gottes, der einen einzigartigen Bund mit dem Volk Israel geschlossen hatte.
2,18 Er kannte Gottes »Willen«, weil in der Schrift dieser allgemeine Wille Gottes niedergeschrieben ist. Er hieß das, »worauf es ankommt«, gut, weil das »Gesetz« ihn lehrte, wie man moralische Werte beurteilt.
2,19 Er war stolz darauf, den moralisch und geistlich »Blinden … ein Leiter« zu sein, »ein Licht derer«, die in der »Finsternis« der Unwissenheit leben.
2,20 Er fühlte sich dazu berechtigt, die »Törichten« oder Ungelehrten zu korrigieren und »Unmündige« zu lehren, weil für ihn im »Gesetz« dargestellt war, was die Erkenntnis und Wahrheit im Wesen ist.
2,21 Doch das, worauf der Jude stolz war, hat sein Leben nicht verändert. Es ging ihm nur um rassistischen Stolz, um Religion und Wissen ohne praktische Veränderung der Moral. Er lehrte andere, doch sein Herz blieb von den Lehren unberührt. Er predigte gegen das »Stehlen«, doch er lebte nicht entsprechend.
2,22 Wenn er »Ehebruch« verbot, dann ging das nach dem Motto: »Tue das, was ich sage, und nicht das, was du bei mir siehst.« Während er »Götzen für Gräuel hielt« und verabscheute, zögerte er doch nicht, »Tempelraub« zu begehen, vielleicht, indem er wirklich heidnische Tempel plünderte.
2,23 Er rühmte sich, »das Gesetz« zu besitzen, doch entehrte er Gott, der es gegeben hatte, indem er es übertrat.
2,24 Diese Verbindung von hohem Anspruch und schlechter Lebensführung ließ die »Nationen« den »Namen Gottes« lästern. Sie maßen den Herrn, wie es Menschen immer tun, an denen, die bekannten, ihm nachzufolgen. Das galt zur Zeit Jesajas (Jes 52,5) und gilt auch noch heute. Jeder von uns sollte sich fragen: Wenn die Menschen von Jesus Christus nur das sehen könnten, was bei Ihnen von ihm sichtbar geworden ist (setzen Sie hier Ihren Namen ein), was sehen sie dann?
2,25 Zusätzlich zum Gesetz war der Jude stolz auf die rituelle »Beschneidung«. Dies ist ein kleiner operativer Eingriff, der an der Vorhaut der männlichen Juden vorgenommen wird. Sie wurde von Gott als Zeichen seines Bundes mit Abraham  eingesetzt  (1. Mose  17,9-14). Sie drückte die Trennung des Volkes von der Welt und seine Hinkehrung zu Gott aus. Nach einer Weile wurden die Juden so stolz auf die Beschneidung, dass sie die Heiden verächtlich »Unbeschnittene« nannten.
Hier verbindet Paulus die »Beschneidung« mit dem Gesetz des Mose und weist darauf hin, dass sie als Zeichen nur dann galt, wenn der Betreffende gleichzeitig ein gehorsames Leben führte. Gott ist nicht an Ritualen interessiert, er gibt sich mit äußeren Zeremonien nicht zufrieden, solange sie nicht von innerer Heiligung begleitet sind. Deshalb könnte ein Jude, der sich nicht ans Gesetz hält, genauso gut unbeschnitten bleiben. Wenn der Apostel hier von Menschen spricht, die das Gesetz halten oder tun, dann dürfen wir die Worte nicht im absoluten Sinne verstehen.
2,26 Wenn sich also ein nicht unter dem Gesetz stehender Heide an die ethischen Vorstellungen hält, wie sie im »Gesetz« vorgeschrieben sind, dann ist »sein Unbeschnittensein« vor Gott annehmbarer als die Beschneidung eines jüdischen Übeltäters. In solch einem Fall ist das Herz eines Heiden beschnitten, und darum geht es letztlich.
2,27 Das bessere Verhalten des Heiden verurteilt den Juden, der »mit Buchstaben und Beschneidung« das Gesetz übertritt oder kein »beschnittenes« Leben führt, nämlich ein Leben in Absonderung und Heiligung.
2,28 Nach Gottes Ansicht ist ein wahrer »Jude« nicht einfach ein Mensch, in dessen Adern Abrahams Blut fließt oder der das Zeichen der Beschneidung an seinem Leib trägt. Man kann beides haben und moralisch zum Abschaum der Welt gehören. Der Herr lässt sich von äußeren volksgruppenbezogenen oder religiösen Zeichen nicht beeinflussen, er sucht nach innerer Aufrichtigkeit und Reinheit.
2,29 Ein wahrer »Jude« ist jemand, der nicht nur ein Nachkomme Abrahams ist, sondern auch ein gottesfürchtiges Leben führt. Dieser Vers lehrt nicht, dass alle Gläubigen Juden sind. Auch geht es hier nicht darum, dass die Gemeinde das Israel Gottes ist. Paulus spricht hier vielmehr von denen, die von jüdischen Eltern geboren wurden, und beharrt darauf, dass die schlichte Tatsache der Geburt und die Einhaltung der Beschneidung nicht ausreichen. Es geht um eine innere Haltung.
Wahre »Beschneidung« ist eine Sache »des Herzens« – kein körperliches Beschneiden im wörtlichen Sinne, sondern die geistliche Realität eines Eingriffs in Bezug auf die alte, unerlöste Natur des Menschen.
Diejenigen, die folglich das äußere Zeichen und die innere Gnade verbinden, erhalten Gottes »Lob«, wenn auch nicht die Anerkennung durch »Menschen«. In diesem letzten Vers ist ein Wortspiel enthalten, das im Deutschen nicht zu erkennen ist. Das Wort »Jude« kommt von »Juda«, was »Lob« bedeutet. Ein wirklicher »Jude« ist jemand, dessen Charakter so gestaltet ist, dass er »von Gott … Lob« empfängt.
3,1 Paulus fährt in den ersten acht Versen dieses Kapitels mit dem Thema der Schuld der Juden fort. Hier erscheint nun ein Jude, der Einwände vorzubringen hat und Paulus herausfordert. Das Gespräch läuft folgendermaßen: Frage: Nehmen wir einmal an, alles, was du in Kapitel 2,17-29 gesagt hast, sei wahr. Was ist dann noch der Vorteil »des Juden«, oder welchen »Nutzen« hat dann die »Beschneidung«?
3,2 Antwort: Die Juden haben viele Vorrechte gehabt. Das wichtigste Privileg bestand darin, dass »ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden« sind. Die alttestamentlichen Schriften wurden den Juden gegeben, damit sie diese abschrieben und bewahrten, doch wie sind die Juden mit ihrem großen Vorrecht umgegangen? Im Ganzen gesehen haben sie einen erschreckenden Mangel an Glauben unter Beweis gestellt.
3,3 Frage: Zugegeben, dass nicht alle Juden geglaubt haben, doch bedeutet das, dass Gott seine Verheißungen zurücknimmt? Schließlich hat er die Israeliten als sein Volk erwählt und mit ihnen eindeutige Bünde geschlossen. Kann die »Untreue« einiger Gott veranlassen, sein Wort zu brechen?
3,4 Antwort: »Das sei ferne!« Wann immer sich die Frage erhebt, ob Gott oder der Mensch recht hat, sollte man aufgrund der Voraussetzung weiterdenken, dass »Gott« recht hat und »jeder Mensch … (ein) Lügner« ist. Das ist auch Davids Aussage in Psalm 51,6. Sinngemäß sagt er dort im Grunde: »Man muss festhalten, dass alles, was du sagst, die reine Wahrheit ist, und immer, wenn du von sündhaften Menschen infrage gestellt wirst, musst du gerechtfertigt werden.« Unsere Sünden dienen nur dazu, die Wahrheit der Worte Gottes zu bestätigen.
3,5 Frage: Wenn das so ist, warum verurteilt Gott uns dann? »Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit« umso heller scheinen lässt, wie kann Gott uns dann mit seinem »Zorn« heimsuchen? (Paulus merkt hier an, dass er, wenn er so fragt, ein typisch menschliches Argument anführt.)
3,6 Antwort: Solch ein Argument braucht man noch nicht einmal ernsthaft zu bedenken. Wenn es nur die geringste Möglichkeit gäbe, dass Gott ungerecht sein könnte, wie sollte er dann noch geeignet sein, »die Welt« zu »richten«? Und doch sind wir uns alle einig, dass er die Welt richten wird.
3,7 Frage: Doch wenn ich durch meine Sünde Gott Ehre einbringe, wenn »meine Lüge« die »Wahrheit Gottes« rechtfertigt, wenn er den Zorn des Menschen dazu benutzt, sich Ruhm zu erwerben, wie kann er mich dann auch noch »als Sünder« anklagen?
3,8 Warum wäre es unlogisch zu sagen – Antwort: Ich will dich hier unterbrechen, um zu sagen, dass es wirklich »einige« gibt, die uns Christen nachsagen, dieses Argument zu benutzen, doch das ist böse Nachrede. Frage: Warum wäre es unlogisch zu sagen: »Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme?« Antwort: Ich kann dazu nur sagen, dass das »Gericht« über die Menschen, die so etwas behaupten, »gerecht« ist. (Dieses letzte Argument, so dumm es auch aussehen mag, wird tatsächlich immer wieder gegen das Evangelium von der Gnade Gottes vorgebracht. Die Leute sagen: »Wenn man nur durch Glauben an Christus gerettet wird, dann könne man doch hingehen und fröhlich weitersündigen. Da Gottes Gnade so viel größer ist als die Sünde des Menschen, wird doch seine Gnade umso größer, je mehr man sündigt.« Der Apostel behandelt diesen Einwand in Kapitel 6.)
3,9 Frage: Willst du dann damit sagen, dass »wir« Juden »einen Vorzug« vor diesen sündigen Heiden haben? Die Frage kann nach einigen Handschriften auch lauten: »Sind wir Juden schlechter als die Heiden?« Die Antwort lautet in jedem Fall, dass die Juden weder besser noch schlechter sind. Alle sind Sünder. Das führt uns zur nächsten Frage des Paulus in seiner Argumentation, die der obigen Fragestellung sehr ähnlich ist. Er hat gezeigt, dass die Heiden ebenso verloren sind wie die selbstgerechten Moralisten (ob Heiden oder Juden) und wie die Juden. Nun wendet er sich der Frage zu, ob alle Menschen verloren sind. Die Antwort lautet: Ja, »wir haben« schon festgestellt, dass »alle« Menschen »unter« der Macht »der Sünde« stehen. Das bedeutet, dass der Jude sich in dieser Hinsicht nicht von den Heiden unterscheidet.
3,10 Wenn wir also noch weitere Beweise wünschen, dann sollten wir sie im Alten Testament suchen. Zunächst sehen wir, dass sich die Sünde auf jeden auswirkt, der von menschlichen Eltern abstammt (3,10-12). Dann erkennen wir, dass die Sünde jeden Aspekt des Menschen betrifft (3,13-18). Wir können hier wie folgt umschreiben: Es gibt keinen einzigen Menschen, der »gerecht« wäre (Ps 14,1).
3,11 Es gibt keinen, der von Gott das rechte Verständnis hat. »Da ist keiner, der Gott sucht« (Ps 14,2). Wenn der Mensch sich selbst überlassen wäre, würde der gefallene Mensch nie nach Gott suchen. Nur durch das Werk des Heiligen Geistes werden Menschen dazu gebracht, es zu tun.
3,12 »Alle« haben sich von Gott entfernt. Die ganze Menschheit ist verdorben. Keiner lebt wirklich gut, »auch nicht einer« (Ps 14,3).
3,13 Der »Schlund« des Menschen ist »wie ein offenes Grab«. Ihre Ausdrucksweise ist immer hinterhältig (Ps 5,10). Ihre Unterhaltungen werden mit Giftzungen geführt (Ps 140,3).
3,14 Ihre Worte sind voll von »Fluch« und von Hass erfüllt (Ps 10,7).
3,15 »Ihre Füße … eilen«, Menschen zu morden (Jes 59,7).
3,16 Ihre Wege sind auf Verwüstung und »Elend« ausgerichtet (Jes 59,7).
3,17 Sie haben nie gelernt, »Frieden« zu schließen (Jes 59,8).
3,18 Sie haben keine Ehrfurcht vor »Gott« (Ps 36,2).
Das ist nun Gottes Röntgenbild der Menschheit. Es offenbart allgemeine Ungerechtigkeit (Vers 10), Unwissenheit und Unabhängigkeit im Verhältnis zu Gott (Vers 11), Eigenwilligkeit, Unbrauchbarkeit und Fehlen alles Guten (Vers 12). Der Mund des Menschen fließt über von Verderben, seine Zunge verbreitet Gift, seine Lippen sind trügerisch. Er flucht (Vers 14), er ist ständig bereit zu morden (Vers 15), er hinterlässt Probleme und Verwüstung (Vers 16), er versteht nicht, in Frieden zu leben (Vers 17), und er kümmert sich nicht um Gott (Vers 18). Hier sehen wir die vollkommene Verderbtheit des Menschen, womit wir meinen, dass die Sünde die ganze Menschheit und auch jeden Aspekt des menschlichen Wesens verdorben hat. Offensichtlich begeht nicht jeder Mensch alle Sünden, doch sein Wesen ist zu allen diesen Sünden fähig. Wäre Paulus daran gelegen gewesen, uns einen noch vollständigeren Sündenkatalog zu liefern, hätte er sexuelle Sünden auflisten können: Ehebruch, Homosexualität, Lesbentum, Perversion, Sodomie, Prostitution, Vergewaltigung, Lüsternheit, Pornografie und anzügliche Reden. Er hätte die Sünden im Umfeld des Krieges aufzählen können: Vernichtung Unschuldiger, Gräueltaten, Gaskammern, Konzentrationslager, Foltermethoden, Sadismus. Er hätte die Sünden im Familienleben aufführen können: Untreue, Scheidung, Gewalt gegenüber der eigenen Frau, seelische Grausamkeit, Kindesmisshandlung. Dazu können wir nun noch die Verbrechen wie Mord, Verstümmelung, Diebstahl, Raub, Unterschlagung, Vandalismus, Korruption und Vetternwirtschaft aufführen. Dann gibt es noch die Wortsünden: Gotteslästerung, anzügliche Witze, schlüpfrige Anspielungen, Fluchen, Lästern, Lügen, Klatschen, Rufmord, Beschimpfungen, Kritiksucht. Andere Sünden, die man gegen sich selbst begeht, sind: Trunkenheit, Drogenabhängigkeit, Stolz, Neid, Habgier, Undankbarkeit, schmutzige Gedanken, Hass und Bitterkeit. Die Liste scheint endlos zu sein – Umweltverschmutzung, Rassismus, Ausbeutung, Betrug, Verrat, Nichteinhaltung von Versprechen und so weiter und so weiter. Welchen weiteren Beweis für die Verdorbenheit des Menschen brauchen wir denn noch?
3,19 Als Gott Israel das Gesetz gab, stand Israel stellvertretend für alle Menschen. Er sah, dass Israel versagte, und wandte diese Erkenntnis folgerichtig auf die gesamte Menschheit an. Es ist, als entnähme ein Gesundheitsbeauftragter eine Wasserprobe aus einem Brunnen: Wenn er sie analysiert hat, bemerkt er, dass sie verseucht ist, woraufhin er den ganzen Brunnen für verseucht erklärt. Paulus erklärt also, dass alles, was das Gesetz spricht, es »zu denen sagt, die  unter  dem  Gesetz  sind«  (Schl 2000) – nämlich dem Volk Israel – »damit jeder Mund«, gleich, ob jüdisch oder heidnisch, »verstopft werde und die ganze Welt« vor Gott schuldig sei.
3,20 Niemand kann also »gerechtfertigt werden«, indem er das Gesetz hält. Das Gesetz wurde nicht gegeben, um die Menschen zu rechtfertigen, sondern um »die Erkenntnis der Sünde« herbeizuführen – nicht die Erkenntnis der Erlösung, sondern »die Erkenntnis der Sünde«. Wir wüssten nie, wie krumm eine Linie ist, wenn wir keine Gerade kennen würden. Das Gesetz ist wie eine Gerade. Wenn Menschen diesen Maßstab an sich selbst anlegen, dann sehen sie, wie krumm sie sind.
Wir können einen Spiegel benutzen, um festzustellen, dass unser Gesicht schmutzig ist, doch der Spiegel ist nicht dazu da, sich mit ihm das Gesicht zu waschen. Ein Thermometer sagt uns, ob wir Fieber haben, doch das Fieber wird nicht verschwinden, wenn wir das Thermometer hinunterschlucken.
Das Gesetz wird also richtig angewendet, wenn man es zur Überführung von der Sünde benutzt, doch als Rettungsmittel von der Sünde ist es völlig ungeeignet. Luther drückte es so aus: Die Aufgabe des Gesetzes ist nicht zu rechtfertigen, sondern in Furcht zu versetzen. D. Grundlagen und Bedingungen des Evangeliums (3,21-31)
3,21 Wir kommen nun zum Kern des Römerbriefes, in dem Paulus die Frage beantwortet: Wie kann nach dem Evangelium ein gottloser Sünder von einem gerechten Gott gerechtfertigt werden? Paulus beginnt, indem er sagt, dass »Gottes Gerechtigkeit« auch »ohne Gesetz« offenbart worden ist. Das bedeutet, dass ein Ratschluss oder Heilsplan »geo ffenbart« wurde, wodurch Gott in seiner Gerechtigkeit ungerechte Sünder erlösen kann, und zwar nicht, indem er von den Menschen verlangt, das Gesetz zu erfüllen. Weil Gott heilig ist, kann er Sünde weder dulden oder übersehen noch im Blick auf sie ein Auge zudrücken. Er muss sie bestrafen, und die Strafe für Sünde lautet Tod. Und doch liebt Gott den Sünder und möchte ihn erretten: Darin besteht das Problem. Die Gerechtigkeit Gottes fordert den Tod des Sünders, doch seine Liebe verlangt nach seiner ewigen Freude. Das Evangelium offenbart, wie Gott Sünder erlösen kann, ohne seine Gerechtigkeit zu beeinträchtigen. Dieser gerechte Plan wurde »durch das Gesetz und die Propheten … bezeugt«. In den Vorbildern und Schatten der Opfer, die Blutvergießen erforderten, wurde dieser Plan vorausgesagt. Und außerdem wurde er durch ausdrückliche Prophezeiungen geoffenbart (vergleiche z. B. Jes 51,5.6.8; 56,1; Dan 9,24).
3,22 Vers 21 hat uns mitgeteilt, dass diese Gerechtigkeit nicht durch das Halten des Gesetzes erlangt werden kann. Nun erklärt uns der Apostel, wie man sie stattdessen erreicht – »durch Glauben an Jesus Christus«. Mit Glaube ist hier das völlige Vertrauen auf den lebendigen Herrn Jesus Christus als den einzigen Sünderheiland und die einzige Hoffnung auf den Himmel gemeint. Der Glaube beruht auf der Offenbarung der Person und des Werkes Christi, wie wir sie in der Bibel finden.
Glaube ist kein irrationaler Sprung ins Nichts. Er erfordert sichere Beweise und findet sie in der Unfehlbarkeit des Wortes Gottes. Der Glaube ist weder unlogisch noch unvernünftig. Was ist vernünftiger, als dass das Geschöpf seinem Schöpfer vertrauen sollte?
Glaube ist kein verdienstvolles Werk, wodurch der Mensch sich seine Erlösung erarbeiten oder sie selbst bewirken könnte. Er kann nicht damit angeben, an den Herrn zu glauben; er wäre ein Narr, wenn er nicht glauben würde. Glaube ist kein Versuch, sich die Erlösung zu verdienen, sondern die einfache Annahme der Erlösung, die uns Gott als Geschenk gibt. Paulus fährt fort, dass diese Erl ösung »zu allen und auf alle«6  (Schl 2000) kommt, »die glauben«. »Zu allen« kommt die Erlösung in dem Sinne, dass sie für alle Menschen erreichbar ist, allen angeboten wird und für alle ausreicht. Doch sie ist nur »auf« denen, »die glauben«, d. h. sie hat nur im Leben derjenigen Menschen eine Wirkung, die den Herrn Jesus durch einen ausdrücklichen Glaubensakt annehmen. Die Vergebung ist für alle da, doch sie wird nur im Leben des Einzelnen gültig, wenn er sie annimmt. Wenn Paulus sagt, dass die Erlösung für alle erreichbar ist, dann meint er damit sowohl Heiden als auch Juden, weil hier »kein Unterschied« mehr besteht. Weder hat der Jude einen Vorteil noch der Heide einen Nachteil.
3,23 Das Evangelium ist für alle da, weil alle es brauchen. Und die Tatsache, dass alle es brauchen, ist darin begründet, dass »alle … gesündigt haben7 und … nicht die Herrlichkeit Gottes … erlangen«. Jeder von uns hat in Adam »gesündigt«. Als Adam sündigte, so sündigte er stellvertretend für alle seine Nachkommen. Doch die Menschen sind nicht nur von Natur aus Sünder, sondern auch durch ihr praktisches Verhalten. Sie »erlangen« deshalb »nicht die Herrlichkeit Gottes«.
Exkurs zum Thema Sünde
Sünde ist jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat, die Gottes Maßstab der Heiligkeit und Vollkommenheit nicht entspricht. Es geht um eine Zielverfehlung. Jemand hat einmal gehört, dass ein In dianer, dessen Pfeil das Ziel nicht erreicht hatte, sagte: »Oh, ich habe gesündigt.« In seiner Sprache8 benutzt man dasselbe Wort für »sündigen« und »das Ziel verfehlen«.
Sünde  ist  Gesetzlosigkeit  (1. Joh  3,4), die Rebellion des eigenen Willens gegen den Willen Gottes. Es geht bei der Sünde nicht nur darum, dass man etwas Falsches tut, sondern auch um Unterlassung einer guten Tat (Jak 4,17). Was nicht im Glauben geschieht, ist Sünde (Röm 14,23). Das bedeutet, dass es immer falsch ist, irgendetwas zu tun, hinsichtlich dessen auch nur der geringste Zweifel besteht. Wenn man kein reines Gewissen in einer Sache hat und dennoch in seinem Handeln entsprechend fortfährt, dann sündigt man.
»Jede Ungerechtigkeit ist Sünde« (1. Joh  5,17).  Und  auch  törichte  Gedanken sind Sünde (Spr 24,9). Sünde beginnt im Geist des Menschen. Wenn der sündige Gedanke gefördert und ihm Raum ge geben wird, dann wird er zur Tat, und die Tat führt zum Tod. Sünde wirkt oft auf den ersten Blick sehr anziehend, doch abscheulich, wenn man daran zurückdenkt.
Manchmal unterscheidet Paulus zwischen »Sünde« und »Sünden«. »Sünden« sind die einzelnen falschen Handlungen, die ein Mensch begangen hat. »Sünde« dagegen bezieht sich auf die menschliche böse Natur  –  d. h. auf unseren Zustand. Was wir sind, ist um einiges schlimmer als alles, was wir getan haben. Doch Christus starb sowohl für unser verdorbenes Wesen als auch für unsere bösen Taten. Gott vergibt unsere Sünden, doch die Bibel spricht nie davon, dass unsere Sünde vergeben wird. Stattdessen verurteilt oder verdammt Gott die Sünde im Fleisch (Kap. 8,3).
Es besteht auch ein Unterschied zwischen Sünde und Übertretung. Übertretung ist eine Verletzung eines bekannten Gesetzes.  Stehlen  z. B.  ist  grundsätzlich sündig, d. h. an sich falsch. Doch Stehlen ist auch eine Übertretung, wenn ein Gesetz existiert, das Stehlen verbietet. »Wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung« (Kap. 4,15).
Paulus hat nun bewiesen, dass alle Menschen gesündigt haben und die Herrlichkeit Gottes nicht erlangen. Nun fährt er fort, indem er uns die Lösung dieses Problems vorstellt.
3,24 Wir »werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade«. Das Evangelium kündet davon, wie Gott Sünder rechtfertigt, indem er ihnen ein Geschenk zueignet und ihnen seine unverdiente Gnade zukommen lässt. Doch was meinen wir, wenn wir von Rechtfertigung sprechen? Rechtfertigen heißt, jemanden für gerecht zu erklären. Gott spricht einen Sünder z. B. gerecht, wenn dieser Sünder an den Herrn Jesus Christus glaubt. So wird das Wort am häufigsten im Neuen Testament verwendet.
Doch auch ein Mensch kann Gott rechtfertigen (s. Lk 7,29), indem er Gottes Wort glaubt und ihm gehorcht. Mit anderen Worten, er erklärt, dass Gott gerecht ist in allem, was er sagt und tut. Und natürlich kann ein Mensch sich selbst rechtfertigen, d. h. er kann seine eigene Gerechtigkeit einklagen (s. Lk 10,29). Doch das ist nichts anderes als eine Form des Selbstbetrugs.
Rechtfertigung heißt jedoch nicht, dass jemand wirklich an sich gerecht gemacht wird. Wir können Gott nicht gerecht machen, er ist es schon. Doch wir können erklären oder verkündigen, dass er gerecht ist. Gott macht den Sünder nicht an sich sündlos oder gerecht, sondern Gott schreibt die Gerechtigkeit praktisch seinem Konto gut. A. T. Pierson hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Gott nennt Sünder, wenn er sie rechtfertigt, in Wirklichkeit nur gerecht, obwohl sie es nicht sind – er unterstellt keine Sünde, wo sie in Wirklichkeit vorhanden ist, und unterstellt Gerechtigkeit, wo keine Gerechtigkeit zu finden ist.«9
Eine einfache Definition von Rechtfertigung lautet: »Sie ist ein Zustand, als ob ich nie gesündigt hätte.« Doch diese Definition geht nicht weit genug. Wenn Gott den glaubenden Sünder rechtfertigt, dann spricht er ihn nicht nur von der Schuld frei, sondern kleidet ihn in seine eigene Gerechtigkeit und macht ihn so völlig geeignet für ein Leben im Himmel. »Rechtfertigung geht über einen Freispruch hinaus – sie beinhaltet Wohlannehmlichkeit. Sie geht auch über Beg nadigung hina us – sie umfasst Erhöhung.«10 Freispruch bedeutet nur, dass man von einer Anklage freigesprochen wird. Rechtf ertigung bedeutet, dass uns wahre Gerechtigkeit zugerechnet wird. Der Grund für die Rechtfertigung gottloser Sünder durch Gott liegt darin, dass der Herr Jesus Christus die Schuld ihrer Sünden durch seinen Tod und seine Auferstehung vollständig beglichen hat. Wenn Sünder Christus im Glauben annehmen, sind sie gerechtfertigt. Wenn Jakobus lehrt, dass die Rechtfertigung durch Werke geschieht (Jak 2,24), dann meint er damit nicht, dass wir allein durch gute Werke gerettet werden, oder durch den Glauben und gute Werke, sondern durch den Glauben, der sich in guten Werken auswirkt.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Rechtfertigung eine Abrechnung ist, die in Gottes Denken stattfindet. Sie ist kein Gefühl; und der Gläubige weiß, dass er gerechtfertigt ist, weil die Bibel es ihm sagt. C. I. Scofield hat das einmal so ausgedrückt: »Rechtfertigung ist der Akt Gottes, durch den er all die für gerecht erklärt, die an Jesus glauben. Das findet in Gottes Gedanken statt, nicht im Nervensystem oder in der Gefühlswelt des Gläubigen.«
In diesem Vers lehrt der Apostel, dass wir »umsonst gerechtfertigt« werden. Man kann die Rechtfertigung nicht erwerben oder gar kaufen, sondern sie wird uns als Geschenk dargereicht. Als Nächstes lernen wir, dass wir »durch« Gottes »Gnade« gerechtfertigt werden. Das bedeutet einfach, dass Rechtfertigung ohne irgendein Verdienst unsererseits geschieht. Wir haben sie weder verdient, gesucht noch erworben. Um spätere Verwirrung zu vermeiden, sollten wir hier kurz unterbrechen, um die sechs verschiedenen Aspekte der Rechtfertigung zu erklären, die wir im Neuen Testament finden. Wir lesen im Neuen Testament, dass wir aus Gnaden, durch Glauben, aufgrund des Blutes und der Macht des Herrn, durch Gott und durch Werke gerechtfertigt werden, doch findet sich in diesen Aussagen weder ein Widerspruch noch ein Konflikt. Wir werden aus Gnaden gerechtfertigt – das bedeutet, dass wir die Rechtfertigung nicht verdient haben. Wir werden durch Glauben gerechtfertigt (Kap. 5,1) – das bedeutet, dass wir die Rechtfertigung empfangen müssen, indem wir an den Herrn Jesus Christus glauben.
Wir werden aufgrund des Blutes gerechtfertigt (Kap. 5,9) – das bezieht sich auf den Preis, den der Heiland zahlen musste, damit wir gerechtfertigt werden konnten.
Wir werden aufgrund der göttlichen Macht gerechtfertigt (Kap. 4,24.25) – dieselbe Macht, die den Herrn Jesus aus den Toten auferweckte.
Wir werden von Gott gerechtfertigt (Kap. 8,33) – er ist derjenige, der uns gerecht spricht.
Wir werden durch Werke gerechtfertigt (Jak 2,24) – womit nicht gemeint ist, dass wir durch gute Werke die Rechtfertigung verdienen können, sondern vielmehr, dass sie der Beweis dafür sind, dass wir gerechtfertigt worden sind. Wenn wir nun zu Vers 24 zurückkehren, so lesen wir, dass wir »durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist«, gerechtfertigt werden. »Erlösung« bedeutet hier das Auslösen einer Beute für einen Kaufpreis. Der Herr Jesus erkaufte uns vom Sklavenmarkt der Sünde. Sein kostbares Blut war der Kaufpreis, der gezahlt werden musste, um den Ansprüchen des heiligen und gerechten Gottes Genüge zu tun. Wenn man nun fragt, wem denn nun der Kaufpreis gezahlt wurde, so hat man das Wesentliche hier nicht verstanden. Die Schrift deutet nirgends an, dass irgendwann einmal eine besondere Zahlung an Gott oder Satan ergangen ist. Der Kaufpreis wurde nicht wörtlich gezahlt, sondern war eine abstrakte Vereinbarung, aufgrund derer Gott gerechterweise die Gottlosen erlösen konnte.
3,25 »Gott … hat« Jesus Christus »dargestellt zu einem Sühneort«. Ein »Sühneort« ist ein Mittel, wodurch der Gerechtigkeit Genüge getan, Gottes Zorn abgewendet wird und dem Sünder aufgrund eines annehmbaren Opfers Gnade erwiesen werden kann.
Dreimal wird im Neuen Testament von Christus als dem »Sühneort« gesprochen. Hier in Römer 3,25 erfahren wir, dass diejenigen, die auf Christus vertrauen, durch sein vergossenes Blut Gnade finden können. In 1. Johannes 2,2 wird Christus als die Sühnung für unsere Sünden und die der ganzen Welt beschrieben. Sein Werk reicht für die ganze Welt aus, doch es ist nur für diejenigen wirksam, die ihr Vertrauen auf ihn setzen. In 1. Johannes 4,10 finden wir schließlich, dass Gottes Liebe sich darin erweist, dass er seinen Sohn als Sühnung für unsere Sünden gesandt hat.
Das Wort Sühnung findet sich auch in Hebräer 2,17: »Daher musste er in allem den Brüdern gleich werden, damit er barmherzig und ein treuer Hoherpriester vor Gott werde, um die Sünden des Volkes zu sühnen.« Hier bedeutet »sühnen« die Sünde wegtun, indem die Strafe gezahlt wird.
Das entsprechende Wort im Alten Testament für Sühnung bzw. Sühneort lautet  »Gnadenstuhl«  (LU 1912)  oder »Sühneplatte« (Anmerkung Elberfelder Bibel). Die Sühneplatte war der Deckel der Bundeslade. Am großen Versöhnungstag besprengte der Hohepriester diesen Deckel mit dem Blut eines Opfertieres. Dadurch wurden die Vergehen des Hohenpriesters und des Volkes gesühnt oder bedeckt.
Als Christus für uns zum »Sühneort« wurde, ging er wesentlich weiter. Er bedeckte die Sünde nicht nur, sondern beseitigte sie vollkommen.
Nun sagt uns Paulus hier, dass Gott Christus »zu einem Sühneort durch den Glauben an sein Blut … dargestellt« hat. Uns wird nicht gesagt, dass wir an sein Blut glauben sollen, sondern wir sollen an Christus selbst glauben. Nur ein auferstandener und lebendiger Jesus Christus kann uns erretten. Er ist die Sühnung. »Glaube« an ihn ist die Bedingung, durch die wir selbst die Sühnung erlangen. »Sein Blut« ist der Preis, der gezahlt wurde. Das vollendete Werk Christi verkündigt Gottes »Gerechtigkeit« zur Vergebung der »Sünden«, die der Vergangenheit angehören. Das bezieht sich auf die Sünden, die vor dem Tode Christi begangen wurden. Von Adam bis Christus erlöste Gott die Menschen, die an ihn glaubten, auf der Grundlage der Offenbarung, die er ihnen jeweils gegeben hat. Abraham z. B. glaubte Gott, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet (1. Mose 15,6). Doch wie konnte Gott das gerechterweise tun? Für ihn war doch kein sündloses Opfer geschlachtet worden. Das Blut eines vollkommenen Opfers war noch nicht vergossen worden. Mit anderen Worten, Christus war noch gar nicht gestorben. Die Schuld war noch nicht beglichen. Gottes gerechten Ansprüchen war noch nicht Genüge getan worden. Wie konnte dann Gott die gläubigen Sünder des AT erlösen? Die Antwort lautet, dass Christus zwar noch nicht gestorben war, doch Gott schon wusste, dass er sterben würde. So erlöste er die Menschen auf der Grundlage des noch zukünftigen Werkes Christi. Auch wenn die Heiligen des AT noch nichts von Golgatha gehört hatten, schrieb er ihnen den Wert des Werkes Christi gut, wenn sie an Gott glaubten. In einem ganz realen Sinne war die Errettung der Gläubigen des AT »ein im Voraus gewährter Gnadenakt«. Sie wurden aufgrund eines Kaufpreises erlöst, der noch zu zahlen war. Sie sahen auf das zukünftige Golgatha, auf das wir heute zurückblicken können.
Das meint Paulus, wenn er sagt, dass die Sühnung Christi Gottes »Gerechtigkeit« erweist, und zwar »wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes«. Er spricht nicht von Sünden, wie einige fälschlicherweise annehmen, die jemand vor seiner Bekehrung begangen hat. Dies würde bedeuten, dass das Werk Christi die Sünden vor der Bekehrung gesühnt hat, man danach jedoch auf sich selbst angewiesen ist. Nein, Paulus geht es hier um die scheinbare Nachsicht Gottes, der jedoch nur auf den ersten Blick die Sünden derer übersehen hat, die vor dem Kreuz erlöst worden sind. Es mag den Anschein erwecken, dass Gott diese Sünden entschuldigt oder vorgegeben habe, sie nicht zu sehen. Doch das ist nicht der Fall, sagt Paulus. Der Herr wusste, dass Christus die volle Sühnung erringen würde, und deshalb hat er Menschen auf dieser Basis erlöst.
Daher war die Zeit des AT die Zeit der »Nachsicht« Gottes. Mindestens 4000 Jahre lang hielt er sein Gericht über die Sünde zurück. Als dann die Zeit erfüllt war, sandte er seinen Sohn in der Eigenschaft desjenigen, der die Sünden tragen sollte. Als der Herr Jesus unsere Sünden auf sich nahm, schüttete Gott den vollen Zorn seines gerechten und heiligen Wesens über seinen geliebten Sohn aus.
3,26 So verkündigt also der Tod Christi die »Gerechtigkeit« Gottes. Gott ist gerecht, weil er die volle Begleichung der Schuld der Sünde verlangt hat. Und er kann die Gottlosen rechtfertigen, ohne ihre Sünden gutzuheißen oder Kompromisse mit seiner eigenen Gerechtigkeit einzugehen, weil der vollkommene Stellvertreter gestorben und wiederauferstanden ist. Albert Midlane hat diese Wahrheit in Verse gegossen:
Vollkommene Gerechtigkeit steht in des Heilands Blut bereit, dort an dem Kreuz, wo er einst starb, er Gnad’ und Frieden uns erwarb. Dem Sünder drohte ew’ger Tod, er war stets auf der Flucht vor Gott; doch seit am Kreuz das Werk vollbracht, ist Rettung da aus Sünd’ und Nacht. Die Sünde lag auf Gottes Lamm die große Schuld es auf sich nahm. Nichts fordert mehr Gerechtigkeit, die Gnade ihre Füll’ uns beut’. Der Sünder, der da glaubt, ist frei, denn Christus macht’ sein Leben neu. Er sieht nur auf das Sühnungsblut, das jetzt macht allen Schaden gut. Nachdichtung unter
Verwendung des englischen Originals
3,27 »Wo bleibt nun der Ruhm« in diesem wunderbaren Heilsplan? »Er ist ausgeschlossen«, verbannt, hinausgetan. »Durch« welches Prinzip ist der Ruhm »ausgeschlossen«? Durch das Prinzip »der Werke«? »Nein.« Wenn man die Erlösung durch Werke verdienen könnte, dann wäre hier noch viel Raum, sich selbst zu beglückwünschen. Doch wenn die Erlösung allein auf dem Grundsatz »des Glaubens« gewährt wird, dann ist kein Platz mehr für Selbstverherrlichung. Der Gerechtfertigte sagt: »Ich habe die ganzen Sünden vollbracht; Jesus hat die ganze Errettung vollbracht.« Wahrer Glaube schließt jede Möglichkeit der Selbsterlösung, der Selbsthilfe und der Selbstverbesserung aus und erwartet alles von Christus, dem Heiland. Wahrer Glaube spricht so:
Da ich denn nichts bringen kann, schmieg’ ich an Dein Kreuz mich an; nackt und bloß – o kleid’ mich doch! Hilflos – ach, erbarm’ dich noch! Unrein, Herr, flieh’ ich zu dir, wasche mich, sonst sterb’ ich hier! Augustus Toplady,
deutscher Nachdichter unbekannt
3,28 Da es nun keinen Grund zum Rühmen gibt, wiederholt Paulus, »dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke«.
3,29 Wie stellt uns das Evangelium nun Gott vor? Ist er ausschließlich »der Gott der Juden«? Nein, sondern »auch der Nationen«. Der Herr Jesus Christus starb nicht für eine einzige Rasse der Menschheit, sondern für eine ganze Welt von Sündern. Und das Angebot der vollen und freien Erlösung ergeht an alle, die es annehmen wollen, ob Jude oder Heide.
3,30 Es gibt keine zwei Götter – einen für die Juden und einen für die Nationen. Es gibt nur einen einzigen Gott und nur einen Weg der Erlösung für alle Menschen. Gott rechtfertigt »die Beschneidung aus Glauben und das Unbeschnittensein durch den Glauben«. Was immer der Grund hier für den unterschiedlichen Gebrauch der Präpositionen sein mag (»aus« und »durch«11), es gibt keinen Unterschied in dem Mittel, das zur Erlösung führt: In beiden Fällen führt der »Glaube« zur Erlösung.
3,31 Eine wichtige Frage bleibt bestehen: Sind wir dann der Ansicht, dass das Gesetz wertlos sei und nicht beachtet werden müsse, wenn wir sagen, dass die Errettung durch den Glauben und nicht durch das Halten des Gesetzes erlangt wird? Drängt das Evangelium das Gesetz beiseite, sodass es keine Aufgabe mehr besitzt? »Das sei ferne«, sondern das Evangelium »bestätigt das Gesetz«, und zwar folgendermaßen: Das Gesetz verlangt vollkommenen Gehorsam. Die Strafe für die Nichteinhaltung des Gesetzes muss bezahlt werden. Die Strafe ist der Tod. Wenn ein Gesetzesbrecher diese Strafe bezahlt, dann wird er für alle Ewigkeit verloren sein. Das Evangelium sagt uns, wie Christus starb, um die Strafe für das Brechen des Gesetzes zu tragen. Er war nicht der Meinung, dass man das Gesetz ignorieren solle. Er hat die ganze Schuld beglichen. Nun kann jeder, der das Gesetz gebrochen hat, für sich in Anspruch nehmen, dass Christus für ihn die Schuld beglichen hat. So hält das Evangelium von der Errettung durch den Glauben das Gesetz aufrecht, indem es darauf besteht, dass die Forderungen des Gesetzes völlig erfüllt werden. E. Die Übereinstimmung des Evangeliums mit dem AT (Kap. 4) Die fünfte Hauptfrage, die Paulus aufgreift, lautet: Stimmt das Evangelium mit der Lehre des AT überein? Die Antwort auf diese Frage war für die Juden von außerordentlicher Bedeutung. Deshalb zeigt der Apostel jetzt, dass zwischen dem Neuen Testament und dem Alten Testament volle Übereinstimmung herrscht. Rechtfertigung erfolgte schon immer aufgrund des Glaubens.
4,1 Paulus belegt seine Behauptung, indem er zwei der größten Männer der jüdischen Geschichte zum Beweis heranzieht: Abraham und David. Mit jedem dieser beiden Männer hat Gott einen wunderbaren Bund geschlossen. Der eine lebte viele Jahrhunderte vor der Gesetzgebung, der andere einige Jahrhunderte danach. Der eine wurde gerechtfertigt, bevor er beschnitten wurde, der andere danach.
Betrachten wir als Erstes »Abraham«, den alle Juden ihren Stammvater nennen können. Was war seine Erfahrung »nach dem Fleisch«?12 Was fand er im Blick darauf heraus,wie man gerechtfertigt wird?
4,2 »Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist«, dann hätte er Grund gehabt, auf sich stolz zu sein. Er hätte sich selbst dafür auf die Schulter klopfen können, dass er sich eine gerechte Stellung »vor Gott« erarbeiten konnte. Doch das ist in jeder Beziehung unmöglich. Niemand wird je in der Lage sein, vor Gott stolz auf sich sein zu können (Eph 2,9). In der Schrift gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Abraham irgendeinen Grund gehabt hätte, sich zu rühmen, dass er durch Werke gerechtfertigt wurde.
Doch man mag nun argumentieren: »Wird nicht in Jakobus 2,21 gesagt, dass Abraham durch Werke gerechtfertigt wurde?« Ja, das steht dort, doch ist die Bedeutung eine ganz andere. Abraham wurde  nach  1. Mose  15,6  durch  Glauben gerechtfertigt, als er Gottes Verheißung hinsichtlich einer zahllosen Nachkommenschaft glaubte. Erst über dreißig Jahre später wurde er durch seine Werke gerechtfertigt, als er Isaak Gott als Brandopfer darbringen wollte (1. Mose 22). Dieser Gehorsamsakt war der Beweis für die Echtheit seines Glaubens. Es war ein äußerer Beweis dafür, dass er wirklich durch den Glauben gerechtfertigt worden war.
4,3 »Was sagt die Schrift« über die Rechtfertigung Abrahams? Sie sagt: »Er glaubte dem Herrn;  und er rechnete es ihm als Gerechtigkeit an« (1. Mose 15,6). Gott offenbarte sich Abraham und verhieß ihm unzählbar viele Nachkommen. Der Patriarch glaubte an den Herrn, und Gott schrieb seinem Konto die »Gerechtigkeit« gut. Mit anderen Worten, Abraham wurde durch den Glauben gerechtfertigt. Es war ganz einfach. Werke hatten daran keinen Anteil. Sie werden noch nicht einmal erwähnt.
4,4 All das bringt uns zu einer der erhabensten Aussagen der Bibel über den Unterschied zwischen Werken und Glauben im Zusammenhang mit dem Heilsplan Gottes.
Wir können uns das so vorstellen: Wenn jemand für seinen Lebensunterhalt arbeitet, also »Werke tut«, dann bekommt er am Ende des Monats seinen Scheck und hat ein Recht auf seinen »Lohn«. Er hat ihn verdient. Er braucht sich vor seinem Arbeitgeber nicht zu verneigen oder vor ihm zu katzbuckeln, ihm für eine solche Gnade zu danken und zu sagen, er habe das Geld nicht verdient. Ganz im Gegenteil! Er steckt sein Geld in die Tasche und geht in dem Bewusstsein nach Hause, dass er nur für seine Zeit und seine Arbeit entschädigt worden ist. Doch bei der Rechtfertigung ist es genau umgekehrt.
4,5 Es mag zwar schockierend erscheinen, doch der Gerechtfertigte ist derjenige, der erst einmal »nicht Werke tut«. Er bestreitet, dass die Möglichkeit besteht, sich seine Erlösung zu verdienen. Er schwört jedem eigenen Verdienst ab und kann nicht behaupten, dass auch nur etwas Gutes an ihm sei. Er erkennt an, dass seine größten Bemühungen niemals ausreichen können, um Gottes gerechte Anforderungen zu erfüllen. Stattdessen »glaubt« er »an den, … der den Gottlosen rechtfertigt«. Er kommt nicht mit dem Argument, dass er ja sein Bestes getan habe, dass er nach der »goldenen Regel« gelebt habe oder dass er nicht so schlimm wie andere sei. Nein, er kommt als »Gottloser« bzw. als schuldiger Sünder und verlässt sich ganz auf die Gnade Gottes.
Und was folgt daraus? »Sein Glaube« wird ihm »zur Gerechtigkeit gerechnet«. Weil er nun glaubt, statt Werke zu tun, rechnet ihm Gott »Gerechtigkeit« auf sein Konto an. Durch die Verdienste unseres auferstandenen Heilands kann ihn Gott mit »Gerechtigkeit« kleiden und ihn so zur Aufnahme in den Himmel geeignet machen. Von diesem Zeitpunkt an sieht Gott ihn in Christus und nimmt ihn auf dieser Basis an.
Zusammenfassend müssen wir nun sagen, dass Rechtfertigung für die Gottlosen bestimmt ist – nicht für gute Menschen. Es geht hier um Gnade – nicht um eine Bringschuld Gottes. Und Rechtfertigung wird durch den Glauben erlangt – nicht durch Werke.
4,6 Als Nächstes wendet sich Paulus »David« zu, um seine Behauptungen zu beweisen. Die Worte »wie auch« zu Beginn des Verses bedeuten, dass die Erfahrung Davids dem Erleben Abrahams entsprach. Der Dichterfürst Israels hat gesagt, dass derjenige glücklich ist, dem als Sünder von Gott die Gerechtigkeit »ohne Werke« zugesprochen wird. Obwohl David dies nie wörtlich so gesagt hat, leitet der Apostel diese Aussage aus Psalm 32,1.2 ab, die er in den nächsten beiden Versen zitiert:
4,7 »Glückselig die, deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren Sünden bedeckt sind!
4,8 Glückselig der Mann, dem der Herr Sünde nicht zurechnet!« Was schloss Paulus aus diesen Versen? Zuerst bemerkte er, dass David nichts über Werke gesagt hat. Vergebung hat mit der Gnade Gottes zu tun, nicht mit den Bemühungen des Menschen. Zweitens erkannte er, dass ein Mensch vor Gott gerecht dasteht, wenn dieser ihm »Sünde nicht zurechnet«. Schließlich erkannte er noch, dass Gott den Gottlosen rechtfertigt, denn David hatte sich des Ehebruchs und des Mordes schuldig gemacht, doch in diesen Versen genießt er die Kostbarkeit der vollen und freien, ihm unverdient zugeeigneten Vergebung.
4,9 Doch in manchen jüdischen Köpfen mochte sich noch die versteckte Vorstellung finden, dass das auserwählte Volk ein Anrecht auf Gottes Rechtfertigung habe und nur die Beschnittenen gerechtfertigt werden könnten. Der Apostel wendet sich wieder »Abraham« zu, um zu zeigen, dass das nicht der Fall ist. Er stellt die Frage: »Wird die Gerechtigkeit nur den gläubig gewordenen Juden angerechnet, oder gilt sie auch für die gläubig gewordenen Heiden?« Die Tatsache, dass hier Abraham als Beispiel herangezogen wird, scheint zunächst zu bedeuten, dass die Rechtfertigung nur für die Juden gilt.
4,10 Hier greift Paulus eine historische Tatsache auf, die die meisten von uns wahrscheinlich nie beachten würden. Er beweist, dass Abraham gerechtfertigt  wurde  (1. Mose  15,6),  ehe er »beschnitten«  wurde  (1. Mose  17,24).  Wenn der Erzvater des Volkes Israel gerechtfertigt werden konnte, »als er« noch »unbeschnitten« war, dann erhebt sich die Frage: »Warum können nicht auch andere Unb eschnittene gerechtfertigt werden?« Abraham wurde also gerecht gesprochen, als er sich gewissermaßen noch auf heidnischem Grund befand, und das lässt die Tür weit dafür offen, dass andere Heiden ebenfalls gerechtfertigt werden können, und zwar völlig unabhängig von der Beschneidung.
4,11 »Beschneidung« war also nicht die Ursache für die Rechtfertigung Abrahams. Sie war nur ein äußerliches »Zeichen« an seinem Leib, dass er durch den Glauben gerechtfertigt worden war. Im Grunde war die Beschneidung das äußere Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel, doch hier wird seine Bedeutung ausgedehnt auf die Gerechtigkeit, die Gott Abraham durch den Glauben zurechnete.
Die Beschneidung war nicht nur ein Zeichen, sondern auch ein Siegel – ein »Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er unbeschnitten war«. Ein »Zeichen« hat eine Bedeutung, die stellvertretend für eine Wirklichkeit steht. Ein »Siegel« bestätigt, versichert, bekräftigt oder garantiert die Echtheit des Zeichens. Die Beschneidung bestätigte gegenüber Abraham, dass er von Gott durch Glauben als gerecht angesehen und behandelt wurde.
Die »Beschneidung« war ein »Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens« Abrahams. Das kann bedeuten, dass sein »Glaube« gerecht war oder er die Gerechtigkeit durch den »Glauben« erlangt hatte. Das Letztere ist höchstwahrscheinlich die wirkliche Bedeutung, sodass die »Beschneidung« ein »Siegel der Gerechtigkeit« war, das zu seinem Glauben gehörte oder das er aufgrund des Glaubens erlangt hatte.
Weil Abraham gerechtfertigt war, ehe er beschnitten wurde, konnte »er Vater aller sein, die im Unbeschnittensein glauben«  –  d. h.  aller  gläubig  gewordenen Heiden. Sie können genau auf dieselbe Weise gerechtfertigt werden wie Abraham – durch den Glauben. Wenn dies heißt, dass Abraham der »Vater« der gläubigen Heiden ist, so geht es hier natürlich nicht um leibliche Verwandtschaft. Es bedeutet einfach, dass diese Gläubigen seine Kinder sind, weil sie seinen Glauben nachahmen. Sie sind nicht seine Kinder durch ihre Geburt, sondern dadurch, dass sie seinem Vorbild und Beispiel folgen. Auch lehrt dieser Abschnitt nicht, dass die gläubig gewordenen Heiden zum Israel Gottes würden. Das wahre Israel Gottes besteht aus den Juden, die den Messias Jesus als ihren Herrn und Retter annehmen.
4,12 Abraham erhielt das Zeichen der »Beschneidung« auch noch aus einem anderen Grund – nämlich ebenso deswegen, weil er »Vater« derjenigen Juden wurde, die nicht nur beschnitten sind, sondern auch seinem Weg »in den Fußspuren des Glaubens« folgen – dem »Glauben«, den er hatte, »als er« noch »unbeschnitten« war.
Es besteht ein Unterschied darin, Abrahams Nachfahre oder Abrahams Kind zu sein. Jesus sagte zu den Pharisäern: »Ich weiß, dass ihr Abrahams Nachkommen seid« (Joh 8,37). Doch dann fuhr er fort: »Wenn ihr Abrahams Kinder wäret, so würdet ihr die Werke Abrahams tun« (Joh 8,39). So besteht hier Paulus ebenso darauf, dass es nicht die leibliche Beschneidung ist, die zählt. »Der Glaube« an den lebendigen Gott ist unbedingt notwendig. Diejenigen »aus der Beschneidung«, die an den Herrn Jesus Christus glauben, sind das wahre Israel Gottes. Zusammenfassend wäre zu sagen, dass es im Leben Abrahams eine Zeit gab, in deren Verlauf er »Glauben« hatte und noch »unbeschnitten« war, und eine andere Zeit, in der er Glauben hatte und beschnitten war. Die Adleraugen des Paulus sehen in dieser Tatsache die Begründung dafür, dass sowohl die gläubig gewordenen Heiden als auch die gläubig gewordenen Juden Abraham mit Recht ihren Vater nennen und sich als seine Kinder identifizieren können.
4,13 »Die Diskussion geht unerbittlich weiter, indem Paulus jedem mögl ichen Einwand mit aller möglichen Logik und jedem möglichen Schriftbeweis begegnet.«13 Der Apostel muss sich nun mit dem Einwand beschäftigen, dass der Segen durch das Gesetz kam. Demzufolge seien die Heiden, die das Gesetz nicht kannten, verflucht gewesen (s. Joh 7,49). Als Gott »Abraham« und »seiner Nachk ommenschaft« verhieß, »dass er der Welt Erbe sein sollte«, verband er diese Verheißung nicht mit der Bedingung der Erfüllung irgendeines Gesetzes. (Das Gesetz selbst ist erst 430 Jahre später gegeben worden – Gal 3,17.) Es war vielmehr eine Verheißung der Gnade ohne Vorbedingungen, die im »Glauben« angenommen werden musste – durch denselben Glauben, durch den wir heute die »Glaubensgerechtigkeit« erhalten. Der Ausdruck »der Welt Erbe« bedeutet, dass Abraham der Vater sowohl der gläubig gewordenen Heiden als auch der Juden werden sollte (Verse 11.12). Er würde der Vater vieler Nationen (Verse 17.18) werden und nicht nur der Stammvater der jüdischen Nation sein. In ihrem vollsten Sinne wird sich die Verheißung erfüllen, wenn der Herr Jesus, der Same Abrahams, das Zepter der allumfassenden Herrschaft übernehmen und als König der Könige und Herr der Herren regieren wird.
4,14 Nehmen wir einmal an, dass diejenigen, die Gottes Segen suchen, und zwar insbesondere den Segen der Rechtfertigung, imstande sind, diesen durch das Halten des Gesetzes zu erben. Dann »ist der Glaube zunichtegemacht und die Verheißung aufgehoben«. Der Glaube wird dann aufgehoben, weil er vom Prinzip her dem Gesetz entgegensteht: Hier steht der Glaube gegen die Tat. Die Verheißung wäre dann wertlos, weil sie auf Bedingungen beruhen würde, die niemand erfüllen könnte.
4,15 »Das Gesetz bewirkt« Gottes »Zorn«, nicht seinen Segen. Es verurteilt diejenigen, die nicht in der Lage sind, seine Anweisungen ständig und vollkommen zu halten. Und weil das niemand kann, sind alle, die unter dem Gesetz stehen, zum Tode verurteilt. Es ist unmöglich, unter dem Gesetz zu leben, ohne unter dem Fluch zu stehen. Doch »wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung«. »Übertretung« bedeutet die Verletzung eines bekannten Gesetzes. Paulus sagt hier nicht, dass es dort, wo es kein Gesetz gibt, keine Sünde gibt. Eine Tat kann an sich böse sein, auch wenn es kein Gesetz dagegen gibt. Wenn man auf einer Straße mit 100 km/h fährt, so ist dies erst eine »Übertretung«, wenn es ein Schild gibt, das als erlaubte Höchstgeschwindigkeit 80 km/h anzeigt. Die Juden dachten, sie hätten einen Segen ererbt, weil sie das Gesetz hatten, doch sie erbten nur »Übertretung«. Gott gab das Gesetz, damit man Sünde als »Übertretung« erkennen kann, oder anders ausgedrückt, damit man die Sünde in all ihrer Sündhaftigkeit sehen kann. Nach seinem Willen sollte es nie zu einem Heilsweg für sündige Übertreter werden!
4,16 Weil das Gesetz Gottes Zorn hervorruft und keine Rechtfertigung bringt, entschloss sich Gott, die Menschen aus »Gnade« durch den »Glauben« zu rechtfertigen. Er wollte gottlosen Sündern das ewige Leben als freie, unverdiente Gabe zueignen, die sie durch einen einfachen Glaubensakt erhalten könnten. Auf diese Weise ist »die Verheißung« des ewigen Lebens »der ganzen Nachkommenschaft sicher«. Wir sollten hier zwei Worte besonders hervorheben – sicher und ganz. Zunächst will Gott, dass seine »Verheißung … sicher« ist. Wenn die Rechtfertigung auf Gesetzeswerken beruhte, dann könnte man niemals sicher sein, weil man nie wüsste, ob man schon genug gute Werke getan hat und es auch die richtigen waren. Niemand, der versucht, sich seine Erlösung zu verdienen, kann Heilsgewissheit genießen. Doch wenn die Erlösung als Geschenk zugeeignet wird, das man durch Glauben erhält, dann kann man auch aufgrund der Autorität des Wortes Gottes sicher sein, dass man gerettet ist.
Zweitens möchte Gott, dass seine »Verheißung der ganzen Nachkommenschaft sicher« ist – nicht nur den Juden, denen »das Gesetz« gegeben ist, »sondern auch« den Heiden, die ihr Vertrauen in gleicher Weise auf den Herrn setzen, wie »Abraham« es tat. »Abraham ist unser aller Vater« – das bedeutet, der Vater aller gläubigen Juden und Heiden.
4,17 Um Abrahams Vaterschaft aller wahren Gläubigen zu unterstreichen, wirft hier Paulus ein Zitat aus 1. Mose 17,5 ein: »Ich habe dich zum Vater vieler Nationen gesetzt.« Als Gott Israel zu seinem erwählten irdischen Volk bestimmte, bedeutete dies nicht, dass seine Gnade auf dieses Volk beschränkt wäre. Der Apostel zitiert meisterhaft einen Vers nach dem anderen aus dem AT, um zu zeigen, dass es immer Gottes Absicht war, Glauben anzuerkennen, wo immer er ihn fand. Der hier befindliche Ausdruck (»vor dem Gott, dem er glaubte«) führt den Gedanken aus Vers 16 fort: »Abraham, der unser aller Vater ist«. Die Verbindung ist hier folgendermaßen: Abraham ist unser aller Vater in den Augen Gottes, an den er (Abraham) glaubte. Ja, er ist es in den Augen des Gottes, »der die Toten lebendig macht« und von etwas, das noch gar nicht existiert, so redet, »wie wenn es da wäre«. Um diese Beschreibung Gottes zu verstehen, müssen wir uns nur die folg enden Verse ansehen. Gott macht »die Toten lebendig« – d. h. Abraham und Sara, denn obwohl sie nicht leiblich tot waren, waren sie doch kinderlos und über das Alter hinaus, in dem sie Kinder bekommen konnten (s. Vers 19). Gott ruft »das Nichtseiende,  …  wie  wenn  es  da  wäre«,  d. h. eine unzählbare Nachk ommenschaft in vielen Völkern (s. 4,18).
4,18 In den vorhergehenden Versen hat Paulus betont, dass die Verheißung Abraham durch den Glauben und nicht durch das Gesetz zugeeignet wurde. Damit wurde gewährleistet, dass dies aus Gnaden geschah und für alle Nachkommen sicher ist. Von daher liegt es auf der Hand, jetzt Abrahams Glauben an den Gott der Auferstehung zu betrachten. Gott verhieß Abraham Nachkommen, die so zahllos wie die Sterne und die Sandkörner am Ufer des Meeres sind. Menschlich gesprochen war alles hoffnungslos. Doch »gegen« menschliche »Hoffnung« glaubte Abraham »auf Hoffnung hin, damit er ein Vater vieler Nationen werde«, so wie Gott es in 1. Mose 15,5 verheißen hatte: »So soll deine Nachkommenschaft sein.«
4,19 Als die Verheißung einer großen Nachkommenschaft das erste Mal an Abraham erging, war er 75 Jahre alt (1. Mose  12,2-4).  Zu  dieser  Zeit  war  er leiblich noch in der Lage, Vater zu werden, denn danach zeugte er Ismael (1. Mose  16,1-11).  Doch  in  diesem  Vers spricht Paulus von der Zeit, als Abraham etwa 100 Jahre alt war und die Verheißung erneuert wurde (1. Mose 17,15-21). Zu diesem Zeitpunkt konnte er Leben nicht mehr auf natürlichem Wege zeugen. Nur durch ein Wunder Gottes war dies noch möglich. Doch Gott hatte ihm einen Sohn verheißen, und Abraham glaubte an Gottes Verheißung.
Ohne »schwach im Glauben« zu werden, »sah er nicht«14 »seinen eigenen, schon erstorbenen Leib an«, auch nicht »das Absterben des Mutterleibes der Sara«. Menschlich gesprochen war es hoffnungslos, doch Abraham hatte Glauben.
4,20 Die scheinbare Unmöglichkeit, dass die »Verheißung« je erfüllt würde, konnte ihn nicht ins Wanken bringen. Gott hatte es gesagt, Abraham glaubte es, und damit war die Sache erledigt. Nur eines war für den Patriarchen unmöglich, nämlich die Tatsache, dass Gott lügen könnte. Der Glaube Abrahams war stark und lebendig. Er gab »Gott die Ehre«, indem er ihn als denjenigen sah, auf dessen Verheißung man sich ungeachtet aller Wahrscheinlichkeits- oder Zufallsgesetze verlassen kann.
4,21 Abraham wusste nicht, wie Gott sein Wort erfüllen würde, doch das war nebensächlich. Er kannte Gott und hatte das feste Vertrauen, dass Gott dasjenige, »was er verheißen habe, auch zu tun vermöge«. Einerseits war es wunderbarer Glaube, doch andererseits war es das Vernünftigste, was er überhaupt tun konnte. Gottes Wort ist nämlich das Sicherste im ganzen Universum, und für Abraham war die Tatsache, dass er daran glaubte, kein Sprung ins Ungewisse!
4,22 Gott gefiel es sehr, einen Mann zu finden, der ihn beim Wort nahm. Das ist immer so. Und so rechnete er es ihm als »Gerechtigkeit« an. Wo sich vorher ein Sünden- und Schuldkonto angehäuft hatte, fand sich nun nichts als die gerechtfertigte Stellung vor Gott. Abraham wurde von der Verdammnis befreit und durch den Glauben von einem heiligen Gott gerechtfertigt.
4,23 Der Bericht über seine Rechtfertigung durch den Glauben im ersten Buch Mose »ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben« worden. In gewissem Sinne war das sicherlich der Fall – ein für immer aufgezeichneter Bericht über seine Rechtfertigung und seine nun vollkommene Stellung vor Gott.
4,24 Es wurde aber »auch unsertwegen« geschrieben. Auch uns wird der Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet, wenn »wir an« Gott »glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten aufe rweckt hat«. Der einzige Unterschied ist: Abraham glaubte, dass Gott den Toten Leben geben werde  (d. h.  seinem  schwachen Körper und dem unfruchtbaren Leib Saras). Wir glauben, dass Gott den Toten Leben gegeben hat, indem er den Herrn Jesus Christus auferweckt hat. C. H. Mackintosh erklärt: Abraham war berufen, einer Verheißung zu glauben, während wir das Vorrecht haben, einer vollendeten Tatsache zu glauben. Er war berufen, in die Zukunft bzw. auf ein noch künftiges Geschehen zu schauen; wir schauen zurück auf eine vollendete Tatsache, eine vorhandene Erlösung, die durch die Tatsache eines auferstandenen und zur Rechten der Majestät im Himmel verherrlichten Heilands bewiesen ist.15
4,25 Der Herr Jesus wurde »unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt«. Obwohl die Präposition »wegen« (gr. dia) hier sowohl in Verbindung mit unseren Sünden als auch mit unserer Rechtfertigung gebraucht wird, verlangt der Zusammenhang eine jeweils leicht andersgeartete Bedeutung. Er wurde »dahingegeben« nicht nur »unserer Übertretungen wegen«, sondern auch, um sie hinwegzunehmen. Er wurde »unserer Rechtfertigung wegen auferweckt«. Damit soll ausgedrückt werden, dass Gottes Forderungen angesichts des Werkes Christi, wodurch wir gerechtfertigt sind, Genüge getan ist. Im ersten Fall waren »unsere Übertretungen« das Problem, das behandelt werden musste. Im zweiten Fall ist »unsere Rechtfertigung« das Ergebnis, das durch die Auferstehung Christi bestätigt wird. Es hätte keine Rechtfertigung gegeben, wäre Christus im Grab geblieben. Doch die Tatsache, dass er auferstanden ist, sagt uns, dass das Werk vollbracht, der Preis gezahlt und Gott auf ewig mit dem Sühnungswerk unseres Heilands zufriedengestellt ist.
F. Die praktischen Auswirkungen des Evangeliums (5,1-11) Der Apostel führt seine Argumentation für die Rechtfertigung einen Schritt weiter, indem er die Frage aufgreift: Was bewirkt die Gerechtigkeit vor Gott im Leben des Gläubigen? Mit anderen Worten, hat sie wirklich einen Sinn? Seine Antwort ist ein überwältigendes Ja, wobei er sieben Segnungen aufzählt, die jeder Gläubige empfangen hat. Die Segnungen empfängt der Gläubige durch Christus. Er ist der Mittler zwischen Gott und Mensch, und alle Gottesgaben werden durch ihn vermittelt.
5,1 Die erste große Segnung, die diejenigen von uns erhalten haben, die aus Glauben gerechtfertigt worden sind, ist »Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus«. Der Krieg ist vorbei. Die Feindseligkeiten sind begraben. Durch das Werk unseres Herrn Jesus Christus sind alle Ursachen für die Feindschaft zwischen Mensch und Gott ausgeräumt. Wir sind von Feinden zu Freunden geworden, und zwar durch ein Gnadenwunder.
5,2 Außerdem haben wir »Zugang« zu einer unbeschreiblichen Vorrechtsstellung vor Gott. Wir sind in dem Geliebten angenommen, deshalb stehen wir Gott so nahe und werden von ihm wie sein eigener Sohn geliebt. Der Vater streckt auch uns das goldene Zepter entgegen (als Zeichen der Wohlannehmlichkeit, Anm. d. Übers.) und heißt uns als Kinder, nicht als Fremde, willkommen. »Diese Gnade« bzw. diese Gnadenstellung umfasst jeden Aspekt, wenn es um uns als diejenigen geht, die von Gott herzugerufen worden sind. Es ist eine Stellung, die so vollkommen und dauerhaft ist, wie die Position Christi, weil wir in Christus sind. Als ob das nicht genug wäre, »rühmen« wir uns auch »in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes«. Das bedeutet, dass wir freudig der Zeit entgegensehen, wenn wir nicht nur die ganze Herrlichkeit Gottes sehen, sondern selbst auch in Herrlichkeit dargestellt werden (s. Joh 17,22; Kol 3,4). Wir können die volle Bedeutung dieser Hoffnung hier auf Erden nicht erfassen, auch werden wir das Staunen darüber in alle Ewigkeit nicht verlernen.
5,3 Die vierte Segnung, die uns durch die Rechtfertigung zuteilwird, ist die Tatsache, dass wir uns »auch in den Trübsalen … rühmen« – nicht so sehr unserer jetzigen Probleme, sondern ihrer zukünftigen Ergebnisse (s. Hebr 12,11). Es ist einer der wundersamen scheinbaren Unvereinbarkeiten des christlichen Glaubens, dass die Freude in der Anfechtung erhalten bleiben kann. Das Gegenteil der Freude ist Sünde, nicht Leiden. Eines der Nebenprodukte der »Trübsal« besteht darin, dass sie »Ausharren« oder Geduld nach sich zieht. Wir könnten niemals geduldig werden, wenn es in unserem Leben keine Probleme gäbe.
5,4 Paulus fährt nun fort zu erklären, dass »Ausharren … Bewährung« nach sich zieht. Wenn Gott sieht, wie wir uns in unseren Prüfungen bewähren und auf ihn hoffen, dass er seine Absichten in unserem Leben verwirklicht, dann verleiht er uns dafür das Siegel »gut bewährt«. Wir sind geprüft worden und haben uns bewährt. Und in diesem Sinne erfüllt uns diese »Bewährung« mit »Hoffnung«. Wir wissen, dass Gott in unserem Leben wirkt und unseren Charakter formt. Das gibt uns das Vertrauen, dass er als derjenige, der das gute Werk an uns begonnen hat, es auch vollenden wird (Phil 1,6).
5,5 »Die Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden«. Wenn wir auf etwas hoffen würden, doch später herausfänden, dass wir es niemals erhalten werden, dann wäre unsere Hoffnung enttäuscht oder »zuschanden« geworden. Doch die Hoffnung auf unsere Errettung wird niemals enttäuscht werden. Wir werden niemals zuschanden werden oder bemerken, dass wir uns falsche Hoffnungen gemacht haben. Wie können wir da so sicher sein? Weil »die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen«. »Die Liebe Gottes« könnte entweder unsere Liebe zu Gott bedeuten oder seine Liebe zu uns. Hier ist die letztere gemeint, weil die Verse 6-20 einige der großen Beweise der Liebe Gottes zu uns aufzählen. Der »Heilige Geist, der uns« in dem Augenblick »gegeben worden ist«, in dem wir geglaubt haben, überflutet unsere Herzen mit diesen Auswirkungen der ewigen Liebe Gottes. Dadurch empfangen wir die Glaubensgewissheit, dass er uns sicher in die Himmelsheimat bringen wird. Nachdem Sie den Heiligen Geist erhalten haben, werden Sie merken, dass Gott Sie liebt. Es geht hier nicht um das vage, mystische Gefühl, dass »über uns jemand wohnt«, der sich um die Menschheit kümmert, sondern die tief gegründete Überzeugung, dass ein persönlicher Gott wirklich Sie ganz persönlich liebt.
5,6 In den Versen 6-20 schließt der Apostel Paulus vom Kleineren auf das Größere. Seine Logik lautet hier folgendermaßen: Wenn Gottes Liebe uns schon gesucht hat, als wir noch seine gottlosen Feinde waren, hält er für uns jetzt, da wir zu ihm gehören, noch viel mehr bereit. Das bringt uns zur fünften Folge unserer Rechtfertigung, nämlich zu der Tatsache, dass wir in Christus auf ewig sicher sind. Paulus entfaltet dieses Thema, indem er viermal »vielmehr« anführt: das »Vielmehr« der Errettung vom Zorn (5,9), das »Vielmehr« der Bewahrung durch Jesu Auferstehungsleben (5,10), das »Vielmehr« der Gnadengabe (5,15) und das »Vielmehr« der ausschließlichen Herrschaft der Gnade im Leben des Gläubigen (5,17).
In den Versen 6, 7 und 8 betont Paulus, wie bzw. was »wir … waren« (»kraftlos«, »Gottlose«, »Sünder«), als »Christus« für uns »gestorben« ist. In den Versen 9 und 10 hebt er hervor, was wir jetzt sind (gerechtfertigt durch Christi Blut, versöhnt durch seinen Tod). Außerdem betont er die daraus resultierende Gewissheit im Blick darauf, was der Heiland für uns tun wird (uns vom Zorn und durch sein Leben erretten).
Zuerst werden wir daran erinnert, dass wir schwach waren, hilflos, »kraftlos« und nicht in der Lage, uns selbst zu erlösen. Doch zur vorherbestimmten Zeit kam der Herr Jesus Christus auf unsere Erde und starb für alle Menschen. Und er starb nicht für die Guten, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern »für Gottlose«. Keine Tugend, kein Verdienst fand sich in Bezug auf uns, mit denen wir vor Gott hätten wohlannehmlich sein können. Wir waren völlig unwürdig, dennoch ist »Christus« für uns »gestorben«.
5,7 Dieser Akt göttlicher Liebe war einzigartig und es gibt in der menschlichen Geschichte keine Parallele dazu. Dem normalen Menschen ist sein eigenes Leben wertvoll, und er würde nicht im Traum daran denken, es für jemanden Unwürdigen wegzuwerfen. Er würde z. B. nicht für einen Mörder, Ehebrecher oder Gangster sterben. Er würde sogar zögern, »für einen Gerechten« zu »sterben«, für jemanden, der ehrlich und zuverlässig, aber nicht besonders freundlich ist. Es ist im äußersten Fall möglich, dass er für einen »Gütigen« sterben würde – für jemanden, der freundlich, liebevoll und liebenswert ist.
5,8 Gottes »Liebe« ist in jeder Beziehung übernatürlich und von einer anderen Welt. Er zeigte seine wunderbare »Liebe gegen uns darin«, dass er seinen geliebten Sohn sandte, um »für uns« zu sterben, »als wir noch Sünder waren«. Wenn wir fragen, warum er das getan hat, dann müssen wir die Antwort im souveränen Willen Gottes suchen. An uns war nichts Gutes, das solch eine Liebe hätte hervorrufen können.
5,9 Nun herrschen völlig neue Bedingungen. Wir werden nicht mehr als schuldige Sünder angesehen. Durch den enorm hohen Preis des Erlöserblutes Jesu, das für uns auf Golgatha vergossen worden ist, werden wir von Gott gerecht gesprochen. Weil er solch einen hohen Preis für uns nicht gescheut hat, als wir noch Sünder waren, wird er uns nicht durch Christus »vielmehr … vom Zorn« erlösen? Wenn er schon den höchsten Preis dafür gezahlt hat, um uns ihm angenehm zu machen, stellt sich die Frage: Wird er dann etwa zulassen, dass wir am Ende doch noch verlorengehen? »Vom Zorn gerettet« könnte entweder »aus dem Zorn herausgerettet« oder »befreit von jeder Berührung mit Zorn« bedeuten. Wir sind der Ansicht, dass aufgrund der Präposition (gr. apo) hier das Letztere gemeint ist – für Zeit und Ewigkeit gerettet von jeder Berührung mit dem Zorn Gottes.
5,10 Wenn wir nun daran zurückdenken, was wir waren und im Vergleich dazu jetzt sind, dann sollten wir es einmal so sehen: »Als wir Feinde waren«, wurden »wir … mit Gott versöhnt … durch den Tod seines Sohnes«. Wir verharrten in einer feindseligen Haltung dem Herrn gegenüber und waren damit auch ganz zufrieden. Wenn wir uns selbst überlassen gewesen wären, hätten wir nie die Notwendigkeit verspürt, uns mit ihm versöhnen zu lassen. Man stelle sich das nur vor – wir sind »Feinde« Gottes gewesen! Gott teilte unsere Haltung in dieser Angelegenheit nicht. Er schritt aus reiner Gnade ein. Der stellvertretende Tod Christi beseitigte die Ursache unserer Feindschaft gegenüber Gott – nämlich unsere Sünden. Durch den Glauben an Christus sind wir »mit Gott versöhnt« worden.
Wenn Gott unsere Versöhnung so teuer erkauft hat, sei die Frage erlaubt: Wird er uns dann je wieder fallen lassen? Wir wurden »mit Gott versöhnt … durch den Tod seines Sohnes« – durch einen Tod, der völlige Schwachheit versinnbildlichte. Werden wir dann nicht durch das gegenwärtige Leben Christi zur Rechten Gottes bis ans Ende bewahrt werden, da dieses Leben doch unendliche Kraft beinhaltet? Wenn schon sein »Tod« solche Macht hatte, uns zu erretten, wie viel mehr wird dann »sein Leben« die Macht haben, uns bis ans Ende zu bewahren!
5,11 Und nun kommen wir zur sechsten Segnung der Rechtfertigung: »Wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus«. Wir freuen uns nicht nur an den Gaben, sondern am Geber selbst. Ehe wir errettet waren, haben wir unsere Freude woanders gesucht. Nun jubeln wir, wann immer wir uns an ihn erinnern, und sind lediglich dann traurig, wenn wir ihn vergessen. Was hat diesen wunderbaren Wandel bewirkt, dass wir nun in Gott fröhlich sein können? Es ist das Werk des »Herrn Jesus Christus«. Wie alle anderen Segnungen wird diese Freude »durch« ihn uns zugeeignet. Die siebte Segnung, welche die Gerechtfertigten empfangen, finden wir in den Worten »durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben«.16 »Versöhnung« bezieht sich auf die Wiederherstellung der harmonischen Beziehung zwischen Gott und Mensch durch das Opfer des Heilands. Als die Sünde in die Welt kam, brachte sie Entfremdung und Feindschaft zwischen Mensch und Gott. Indem der Herr Jesus die Sünde als Grund der Entfremdung wegnahm, führte er diejenigen, die an ihn glauben, in einen Zustand der Harmonie mit Gott zurück. Wir sollten nebenbei anmerken, dass Gott nicht versöhnt werden musste. Der Mensch musste versöhnt werden, weil er Gott feindlich gegenüberstand. G. Der Sieg des Werkes Christi über Adams Sünde (5,12-21)
Der Rest von Kapitel 5 dient als Brücke zwischen dem ersten Teil des Briefes und den nächsten drei Kapiteln. Er ist mit dem ersten Teil verbunden, indem er das Thema der Verdammnis durch Adam und der Rechtfertigung durch Christus aufnimmt und zeigt, dass das Werk Christi mit seinem Segen die Folgen des Werkes Adams (Elend und Verlust) nicht nur wiedergutmachte, sondern weit übertraf. Der Abschnitt ist auch mit den Kapiteln 6 – 8 verbunden, indem er von der Rechtfertigung zur Heiligung übergeht, und von den einzelnen Sünden zur Sünde in der Natur des Menschen.
5,12 Adam wird in diesen Versen als Oberhaupt oder Stellvertreter all derer gesehen, die zur alten Schöpfung gehören. Christus wird als Oberhaupt aller gesehen, die zur neuen Schöpfung gehören. Ein Haupt handelt für alle, die ihm unterstehen. Wenn etwa der Präsident eines Landes ein Gesetz unterzeichnet, dann handelt er für alle Bürger dieses Landes. Das geschah auch in Adams Fall. Aufgrund seiner »Sünde« kam »der Tod … in die Welt … zu allen Menschen«. Der Tod ereilte fortan alle Nachfahren Adams, »weil sie alle« in Adam »gesündigt haben«. Natürlich ist es auch richtig, dass sie alle bestimmte Einzelsünden getan haben, aber darum geht es hier nicht. Es geht Paulus darum, dass die Sünde Adams eine stellvertretende Handlung war und Gott Adams gesamte Nachkommenschaft so ansieht, dass sie mit ihm »gesündigt« hat.
Man mag einwenden, dass es Eva war und nicht Adam, die die erste Sünde auf Erden beging. Das stimmt, doch weil Adam als Erster erschaffen worden ist, wurde ihm die Funktion des Hauptes zuerkannt. Dadurch hat er für alle seine Nachkommen stellvertretend gehandelt. Wenn der Apostel Paulus hier sagt, dass »der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist«, dann bezieht er sich auf den leiblichen »Tod«, auch wenn der Sündenfall Adam gleichzeitig den geistlichen Tod brachte. (Die Verse 13 und 14 weisen darauf hin, dass der leibliche Tod gemeint ist.)
Wenn wir nun diesen Schriftabschnitt betrachten, dann erheben sich unausweichlich gewisse Fragen. Ist es gerecht, dass Adams Nachkommen nur deshalb als Sünder angesehen werden, weil Adam gesündigt hat? Verurteilt Gott Menschen dafür, dass sie als Sünder mit einem sündhaften Wesen geboren sind, oder nur für die Sünden, die sie wirklich begangen haben? Wenn Menschen mit einem sündhaften Wesen geboren werden, wie kann Gott sie dann für das verantwortlich machen, was sie tun?
Viele Ausleger haben mit diesen Fragen und einer Menge ähnlicher Probleme gerungen und eine erstaunliche Zahl unterschiedlicher Schlüsse gezogen. Doch es gibt bestimmte Tatsachen, bezüglich derer wir uns sicher sein können. Zunächst einmal lehrt die Bibel, dass alle Menschen Sünder sind, sowohl von ihrem Wesen als auch von ihrem praktischen Verhalten her. Jeder, der von menschlichen Eltern geboren wird, erbt Adams Sünde und sündigt auch aus seinem eigenen Willen heraus. Zweitens wissen wir, dass der Lohn der Sünde der Tod ist – sowohl der leibliche Tod als auch die ewige Trennung von Gott.
Niemand muss die Strafe für die Sünde erleiden, es sei denn, er wählt diesen Weg. Das ist eine wichtige Tatsache. Um einen enorm hohen Preis sandte Gott seinen Sohn, damit er als Stellvertreter für die Sünder sterben sollte. Die Erlösung von der Sünde und ihrem Lohn wird uns völlig unverdient als Geschenk durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus angeboten.
Der Mensch wird aufgrund dreier Tatsachen verurteilt: Er hat ein sündhaftes Wesen, weil ihm Adams Sünde zugerechnet wird, und er ist Sünder durch sein praktisches Verhalten. Doch seine schlimmste Sünde ist die Ablehnung des Heils, das Gott für ihn geschaffen hat (Joh 3,18.19.36). Man mag nun fragen: »Was ist mit denen, die dieses Evangelium niemals gehört haben?« Diese Frage wird, zum indest zum Teil, in Kapitel 1 be antwortet. Darüber hinaus können wir in der Gewissheit ruhen, dass der Richter der Welt gerecht  richten  wird  (1. Mose  18,25;  vgl. Schl 2000 und LU 1984; Anm. d. Übers.). Er wird niemals ungerecht oder unfair handeln. Alle seine Entscheidungen beruhen auf Gleichheit und Gerechtigkeit. Obwohl gewisse Situationen nach unseren begrenzten Ansichten Probleme darstellen, sind sie für Gott kein Problem. Wenn der letzte Fall verhandelt ist und die Türen des Gerichtssaales geschlossen werden, dann wird niemand eine Rechtsgrundlage haben, auf der er Einspruch gegen das Urteil erheben könnte.
5,13 Paulus zeigt uns nun, dass sich die Sünde Adams auf das ganze Menschengeschlecht ausgewirkt hat. Er stellt zunächst heraus, dass die »Sünde« vom Sündenfall Adams an »bis zum Gesetz«, das dem Volk Israel auf dem Sinai gegeben wurde, »in der Welt« war. Doch während dieser Zeit gab es kein eindeutig offenbartes Gesetz Gottes. Adam hatte mündlich ein deutliches Gebot vom Herrn erhalten, und viele Jahrhunderte später bildeten die Zehn Gebote eine besondere schriftliche Offenbarung des göttlichen Gesetzes. Doch in der Zwischenzeit hatten die Menschen kein Gesetzeswerk von Gott. Deshalb gab es zu der Zeit zwar »Sünde«, doch keine Übertretung, weil Übertretung die Verletzung eines bekannten Gesetzes bedeutet. »Sünde aber wird nicht« als Übertretung »zugerechnet, wenn kein Gesetz ist«, das sie verboten hat.
5,14 Doch der »Tod« vollbrachte sein unheilvolles Werk auch während dieses Zeitalters, in dem es kein Gesetz gab. Mit der einen Ausnahme von Henoch herrschte der Tod über die gesamte Menschheit. Man kann nicht sagen, dass diese Menschen starben, weil sie ein eindeutiges Gebot Gottes übertreten hätten, wie Adam das getan hatte. Warum starben sie dann? Die Antwort ist hier mit inbegriffen: Sie starben, weil sie in Adam gesündigt hatten. Wenn das ungerecht erscheint, dann sollten wir uns daran erinnern, dass das nichts mit der Errettung zu tun hat. Alle, die an den Herrn glaubten, sind für ewig errettet. Doch trotzdem mussten sie leiblich sterben, und der Grund für ihren Tod war die Sünde Adams, ihres Oberhaupts. In seiner Rolle als Oberhaupt war Adam »ein Bild« (oder Symbol)  »des  Zukünftigen«  –  d. h.  des Herrn Jesus Christus. In den folgenden Versen wird Paulus das Thema dieser beiden Oberhäupter weiter ausführen, doch mehr durch ihre Unterschiede als durch ihre Ähnlichkeiten. Er wird zeigen, dass in Christus die Söhne Adams mehr Segen erhalten haben, als ihr Vater verloren hat. Jetzt ist mehr als jenes da, was durch Adam einst verloren. Jauchzt und singt: »Halleluja! Auch in uns ist Christ geboren!« Stimmt mit allen Heil’gen an, rühmt, was er an uns getan! Verfasser unbekannt
5,15 Der erste Unterschied besteht zwischen »der Übertretung« Adams und »der Gnadengabe« Christi. Durch die »Übertretung« des ersten Menschen sind »die vielen gestorben«. »Die vielen« sind hier natürlich Adams Nachkommen. Mit Tod könnte hier der geistliche und der leibliche Tod gemeint sein. »Die Gnadengabe« ist jedoch stärker als »die vielen«. Die Gnadengabe ist der wunderbare Ausdruck der »Gnade Gottes« gegenüber einem sündigen Geschlecht. Sie wird durch die »Gnade des einen Menschen Jesus Christus« ermöglicht. Es war wirklich eine wunderbare Gnade, dass er für seine rebellischen Geschöpfe gestorben ist. Durch seinen Opfertod wird die Gabe des ewigen Lebens den »vielen« angeboten.
Die beiden Begriffe »die vielen« in diesem Vers beziehen sich nicht auf denselben Personenkreis. Der erste Ausdruck »die vielen« bezieht sich auf alle, die durch die Übertretung Adams dem Tod unterworfen wurden. Die zweite Wendung »die vielen« bezeichnet alle, die Teil der neuen Schöpfung werden, deren Oberhaupt Christus ist. Dazu gehören nur diejenigen, denen die Gnade »überströmend«  zuteilgeworden  ist  –  d. h. wahre Gläubige. Während Gottes Barmherzigkeit alle Menschen umfasst, ist seine Gnade nur für diejenigen da, die dem Heiland vertrauen.
5,16 Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen der Sünde Adams und der »Gabe« Christi. Die eine Sünde Adams brachte unausweichlich »das Urteil«, und das Urteil lautete: »Verloren!« Die »Gnadengabe« Christi dagegen konnte »viele Übertretungen« – und nicht nur eine – ausgleichen. Sie führte zu dem Urteil: »Angenommen!« Paulus betont die Unterschiede zwischen der Sünde Adams und der Gabe Christi, zwischen der schrecklichen, durch eine einzige Sünde herbeigeführten Katastrophe und der gewaltigen Befreiung von vielen Sünden sowie schließlich zwischen dem Urteil der »Verdammnis« und dem Urteil der »Gerechtigkeit«.
5,17 »Durch die Übertretung des einen« regierte »der Tod« als grausamer Tyrann. Doch durch die »Gabe der Gerechtigkeit«, einer Gabe überschwänglicher »Gnade«, herrschen alle Gläubigen »im Leben … durch den einen, Jesus Christus«.
Welch eine Gnade! Wir sind nicht nur von der Tyrannei des Todes befreit, sondern regieren selbst als Könige, indem wir jetzt und in Ewigkeit das ewige Leben genießen. Können wir das wirklich verstehen und richtig schätzen? Leben wir wie Kinder des himmlischen Königs oder kriechen wir auf den Misthaufen dieser Welt umher?
5,18 Die »Übertretung« Adams brachte allen Menschen die »Verdammnis«, doch infolge der »Gerechtigkeit« Christi wird allen die »Rechtfertigung des Lebens« zugeeignet. Mit der »Gerechtigkeit« ist hier nicht das Leben unseres Heilands oder sein Halten des Gesetzes, sondern sein stellvertretender Tod auf Golgatha gemeint. Dadurch wurde uns die »Rechtfertigung des Lebens« gebracht  –  d. h.  die  »Rechtfertigung«,  die das »Leben« schenkt, und zwar »für alle Menschen«.
Die zweifache Erwähnung von »alle« in diesem Vers bezieht sich nicht auf dieselben Menschen. Die erste Erwähnung bezieht sich auf »alle«, die in Adam sind. Die zweite dagegen steht für »alle«, die in Christus sind. Dies wird durch die Worte des vorhergehenden Verses deutlich: »… welche die Überschwänglichkeit der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen …« Der Mensch muss die Gabe durch den Glauben empfangen. Nur diejenigen, die ihr Leben dem Herrn anvertrauen, empfangen die »Rechtfertigung des Lebens«.
5,19 So wie »durch« Adams »Ungehorsam« gegenüber Gottes Gebot »die vielen in die Stellung von Sündern versetzt worden sind, werden auch durch den Gehorsam« Christi gegenüber dem Vater »die vielen« für »gerecht« erklärt. Christi Gehorsam führte ihn ans Kreuz, wo er unsere Sünden trug. Vergeblich bemühen sich Allversöhner darum, diese Verse für den Nachweis zu missbrauchen, dass am Ende alle Menschen gerettet werden. Dieser Abschnitt behandelt zwei verschiedene Oberhäupter. Dabei ist es eindeutig, dass so, wie Adams Sünde alle die betrifft, die »in ihm« sind, auch Christi Gehorsam nur denen nützt, die »in ihm« sind.
5,20 Was Paulus hier gesagt hat, ist für seinen jüdischen Fragesteller mit dessen Einwänden ein Schlag. Dieser war nämlich der Ansicht, dass sich alles um das Gesetz drehe. Nun erfährt Paulus’ Gegenüber, dass es bei Sünde und Erlösung nicht um das Gesetz, sondern um zwei Oberhäupter geht. Wenn das so ist, dann wird er versucht sein zu fragen: »Wofür wurde dann das Gesetz gegeben?« Der Apostel antwortet: »Das Gesetz aber kam daneben hinzu, damit die Übertretung überströmend werde.« Es war nicht die Ursache der Sünde, sondern offenbarte, dass die Sünde eine »Übertretung« des Willens Gottes umfasst und damit gegen ihn gerichtet ist. Das Gesetz erlöste nicht von der Sünde, sondern offenbarte das ganze schreckliche Wesen der Sünde. Doch es erwies sich, dass Gottes Gnade größer war als die Sünde aller Menschen. »Wo aber die Sünde überströmend geworden« ist, da ist Gottes »Gnade« auf Golgatha »noch überschwänglicher geworden« (jeweils Elb)!
5,21 Nun ist die Herrschaft der Sünde, die für alle Menschen den Tod mit sich brachte, beendet. Deshalb regiert jetzt »die Gnade … durch Gerechtigkeit« und gibt ewiges »Leben durch Jesus Christus«. Man beachte, dass die Gnade »durch Gerechtigkeit« regiert. Alle Anforderungen der Heiligkeit Gottes sind erfüllt worden. Die Strafe, die das Gesetz verlangte, wurde bezahlt, sodass Gott nun das ewige Leben allen schenken kann, die die Verdienste Christi, ihres Stellvertreters, für sich in Anspruch nehmen. Vielleicht haben wir in diesen Versen eine teilweise Antwort auf die bekannte Frage, warum Gott es überhaupt zugelassen hat, dass die Sünde in die Welt gekommen ist. Die Antwort lautet, dass Gott so mehr Ehre und der Mensch mehr Segen durch das Opfer Christi erhalten hat, als wenn die Sünde nie in die Welt gekommen wäre. Wir haben in Christus eine bessere Stellung als jene Position, die wir je in einem nicht gefallenen Adam hätten einnehmen können. Wenn Adam nicht gesündigt hätte, so hätte er ein ewiges Leben auf Erden im Garten Eden gehabt. Doch er hätte nie die Aussicht besessen, ein erlöstes Kind Gottes, ein Erbe Gottes oder ein Miterbe Christi zu werden. Er hätte keine Verheißung einer Heimat im Himmel oder der ewigen Gemeinschaft und Ebenbildlichkeit mit Christus erhalten. Diese Segnungen erhalten wir nur »durch« das Erlösungswerk unseres Herrn »Jesus Christus«.
H. Der evangeliumsgemäße Weg zu einem geheiligten Leben (Kap. 6) Paulus hatte gegen Ende von Kapitel 5 gesagt, dass die Gnade für die Sünder überströmend geworden ist. Dies wirft eine weitere Frage auf, und zwar eine sehr wichtige. Verführt die Lehre von der Erlösung aus Gnaden durch Glauben nicht zu einem sündigen Lebensstil? Die Antwort, ein ausdrückliches »Nein«, erstreckt sich über die Kapitel 6 – 8. Hier in Kapitel 6 dreht sich die Antwort um drei Schlüsselwörter: wissen/ erkennen (V. 3.6), sich halten für (V. 11) und zur Verfügung stellen (V. 13). Es wird uns helfen, der Argumentation des Paulus in diesem Kapitel zu folgen, wenn wir den Unterschied zwischen der Stellung und dem praktischen Handeln des Christen verstehen. Die Stellung des Christen umfasst dasjenige, was er in Christus ist. Sein praktisches Verhalten beinhaltet das, was er im täglichen Leben ist oder sein sollte.
Die Gnade gibt uns die diesbezügl iche Stellung und lehrt uns dann, dieser Stellung würdig zu leben. Unsere Stellung ist vollkommen, weil wir in Christus sind. Unser praktischer Lebensvollzug sollte in immer größerem Maße unserer Stellung entsprechen. Er wird jedoch der Stellung erst vollkommen entsprechen, wenn wir unseren Heiland im Himmel sehen, aber wir sollten in der Zwischenzeit immer mehr in sein Bild umgewandelt werden. Der Apostel erklärt zunächst die Wahrheit der Tatsache, dass wir mit Christus in seinem Tod und seiner Auferstehung eins gemacht worden sind, und ermahnt uns dann zum Leben im Licht dieser großartigen Wahrheit.
6,1 Der jüdische Diskussionsgegner greift nun mit einem, wie er meint, ausschlaggebenden Argument an. Wenn das Evangelium der Gnade lehrt, dass die Sünde des Menschen dafür sorgt, Gottes Gnade noch leuchtender hervortreten zu lassen, legt es dann nicht nahe, »in der Sünde« zu »verharren, damit die Gnade überströme«?
Eine moderne Version dieses Argumentes lautet: »Man sagt, dass Menschen aus Gnaden durch Glauben erlöst werden, ohne das Gesetz. Doch wenn man einfach nur glauben muss, um erlöst zu werden, dann könnte doch jeder hingehen und weiterhin in Sünde leben.« Nach diesem Argument bietet die Gnade keine ausreichende Motivation für ein geheiligtes Leben. Es sagt, man müsse die Menschen unter die Begrenzungen des Ge setzes stellen.
Ein Ausleger hat darauf hingewiesen, dass es auf diese erste Frage: »Sollten wir in der Sünde verharren?«, vier Antworten in diesem Kapitel gibt.
1. Das kann man nicht, da man mit Christus eins gemacht ist. Aussage (V. 1-11). 2. Das braucht man nicht, da die Herrschaft der Sünde über das persönliche Leben durch die Gnade gebrochen worden ist. Aufruf (V. 12-14). 3. Das darf man nicht, weil es einen wieder unter die Herrschaft der Sünde bringen würde. Befehl (V. 15-19). 4. Das sollte man nicht tun, denn es würde in einer Katastrophe enden. Warnung (V. 20-23).17
6,2 Die erste Antwort des Paulus lautet also, dass wir nicht in der Sünde verharren können, weil »wir der Sünde gestorben sind«. Diese Wahrheit bezieht sich auf die Stellung. Als Jesus der Sünde starb, tat er das als unser Repräsentant. Er starb nicht nur als unser Stellvertreter –  d. h.  für den Menschen oder an seiner Stelle, sondern auch als unser Repräsentant – d. h. als Mensch. Deshalb sind wir, als er starb, mit ihm gestorben. Er starb dem ganzen Problem der Sünde und löste es ein für alle Mal. Und diejenigen, die in Christus sind, werden von Gott als der Sünde Gestorbene angesehen. Das bedeutet nicht, dass der Gläubige sündlos wäre. Vielmehr ist damit gemeint, dass er mit Christus in dessen Tod und mit all dem, was sein Tod bedeutet, eins gemacht wird.
6,3 Das erste Schlüsselwort in der Argumentation des Paulus lautet wissen. Er führt hier das Thema Taufe ein, um zu zeigen, dass es für einen Gläubigen moralisch inkonsequent wäre, in der Sünde zu verharren. Doch erhebt sich sofort die Frage: »Auf welche Taufe bezieht Paulus sich hier?« Deshalb ist an dieser Stelle ein erläuterndes Wort notwendig. Wenn ein Mensch erlöst wird, so wird er in dem Sinne »auf Christus getauft«, dass er mit Christus in seinem »Tod« und seiner Auferstehung eins wird. Das ist nicht dasselbe wie die Taufe in (oder mit) dem Geist, auch wenn beide gleichzeitig stattfinden. Die letztere Art der Taufe versetzt den Gläubigen in den Leib Christi (1. Kor  12,13),  sie  ist  keine  Taufe  in  den Tod. Die Taufe »auf Christus« bedeutet, dass der Gläubige in Gottes Augen mit Christus gestorben und wiederauferstanden ist.
Wenn Paulus hier von der Taufe spricht, dann denkt er sowohl an die Tatsache, dass wir in geistlicher Weise mit Christus eins gemacht wurden, als auch an die bildhafte Darstellung dieses Vorgangs in der Wassertaufe. Doch während er sein Argument ausführt, verlagert er seine Betonung in besonderer Weise auf die Wassertaufe, weil er seine Leser daran erinnert, wie sie »begraben« und »verwachsen« sind »mit der Gleichheit« des Todes Christi.
Im Neuen Testament wird die unnatürliche Situation eines nicht getauften Gläubigen nicht betrachtet. Es geht davon aus, dass diejenigen, die sich bekehrt haben, im Anschluss daran auch getauft werden. So konnte unser Herr im gleichen Atemzug von Glaube und Taufe sprechen: »Wer gläubig geworden und getauft worden ist, wird errettet werden« (Mk 16,16). Obwohl die Taufe nicht heilsnotwendig ist, sollte sie jedoch das normale öffentliche Zeugnis der Errettung sein.
6,4 Die Wassertaufe ist eine Sichtbarmachung der »Taufe« in Christus. Sie stellt dar, wie der Gläubige in die finst eren Wasser des Todes getaucht wird (in der Person unseres Herrn Jesus), und sie zeigt die Auferstehung des neuen Menschen in Christus, der fortan in einem neuen Leben wandelt. In gewissem Sinne ist der Gläubige bei der Bee rdigung seines alten Menschen zugegen, wenn er getauft wird. Wenn er sich untertauchen lässt, sagt er: »Alles, was ich als sünd iger Sohn Adams war, ist am Kreuz in den Tod gegeben worden.« Wenn er aus dem Wasser wieder hinaufsteigt, sagt er: »Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir« (s. Gal 2,20).
Conybeare und Howson stellen fest, dass »dieser Abschnitt nur verstanden werden kann, wenn man sich vor Augen hält, dass die erste Form der Taufe die Taufe durch Untertauchen war«. Der Apostel geht nun weiter, indem er festhält, dass die Auferstehung Christi uns ermöglicht, »in Neuheit des Lebens (zu) wandeln«. Er erklärt, dass »Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters«. Das bedeutet ganz einfach, dass die vollkommenen Eigenschaften Gottes (seine Gerechtigkeit, Liebe, Heiligkeit usw.) verlangten, dass er den Herrn auferweckte. In Anbetracht der Vollkommenheit unseres Heilandes wäre es nicht mit Gottes Charakter vereinbar gewesen, ihn im Grab zu lassen. Gott hat ihn auferweckt, und weil wir mit Christus in seiner Auferstehung eins gemacht werden, können und sollen »wir in Neuheit des Lebens wandeln«.
6,5 So, wie »wir verwachsen sind mit der Gleichheit« des »Todes« Christi, »so werden wir es auch mit der« Gleichheit »seiner Auferstehung sein«. Die Worte »die Gleichheit seines Todes« beziehen sich auf das Untertauchen des Gläubigen bei der Taufe. Die wirkliche Vereinigung mit Christus in seinem Tod fand vor fast 2000 Jahren statt, doch die Taufe ist eine »Darstellung« oder ein »Gleichnis« dessen, was damals passiert ist. Wir werden nicht nur unter Wasser getaucht, sondern stehen aus dem Wasser wieder auf, was eine »Gleichheit … seiner Auferstehung« ist. Es ist zwar richtig, dass der Ausdruck »mit der Gleichheit« im zweiten Teil des Verses im Original nicht wiederholt wird, doch man muss ihn hier ergänzen, um die Bedeutung zu vervollständigen. So, wie »wir verwachsen sind mit der Gleichheit« des »Todes« Christi (Untertauchen unter Wasser), »so werden wir« mit ihm auch vereinigt in der Gleichheit »seiner Auferstehung« (Auftauchen aus dem Wasser). Der Ausdruck »so werden wir« muss nicht unbedingt auf die Zukunft verweisen. Hodge sagt dazu: Es geht hier nicht darum, was danach passiert, sondern darum, dass die Reihenfolge zwingend ist. Es geht um den kausalen Zusammenhang. Wenn das eine geschieht, geschieht danach zwangsläufig auch das andere.18
6,6 In der Taufe bekennen wir, »dass unser alter Mensch« mit Christus »mitgekreuzigt worden ist«. Die Worte »unser alter Mensch« beziehen sich auf alles, was wir als Kinder Adams waren – auf unser altes, böses, nichtwiedergeborenes Wesen, mit all unseren alten Gewohnheiten und Begierden. Bei der Bekehrung ziehen wir den alten Menschen aus, um den neuen anzuziehen, als ob wir schmutzige Lumpen gegen makellose Kleidung eintauschen würden (Kol 3,9.10). Die Kreuzigung des »alten Menschen« auf Golgatha bedeutet, dass die Herrschaft »des Leibes der Sünde« beendet wurde. Der Ausdruck »der Leib der Sünde« bezieht sich nicht auf den natürlichen Leib. Es geht mehr um die in uns wohnende Sünde, die als ein personifizierter Tyrann in uns herrscht. Der Leib der Sünde wird »abgetan«, d. h. er wird als beherrschende Macht abgeschafft. Der letzte Satzteil beweist, dass dies die Bedeutung ist: »… dass wir der Sünde nicht mehr dienen.« Die Tyrannei der Sünde über uns hat ein Ende.
6,7 »Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde.« Nehmen wir z. B. einen Mann, der zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt worden ist, weil er einen Polizisten ermordet hat. Sobald er stirbt, wird er von dieser Sünde »freigesprochen« (wörtlich: gerechtfertigt). Die Strafe ist vollzogen, und der Fall ist damit erledigt.
Nun sind wir mit Christus am Kreuz von Golgatha gestorben. Nicht nur die Strafe wurde vollzogen, sondern auch die Macht der Sünde über unser Leben ist gebrochen worden. Wir sind nicht länger hilflose Gefangene der Sünde.
6,8 Unser Tod »mit Christus« ist eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, »dass wir auch mit ihm leben werden«. Wir sterben der Sünde und leben anschließend der Gerechtigkeit. Die Herrschaft der Sünde über uns ist zerbrochen, und wir teilen hier und jetzt das Auferstehungsleben Christi. Und (Preist seinen Namen!) wir werden es in alle Ewigkeit mit ihm teilen.
6,9 Unsere Zuversicht beruht auf der Tatsache, dass der auferstandene Christus nie wieder sterben wird. »Der Tod herrscht nicht mehr über ihn.« Drei Tage lang konnte der Tod über unseren Herrn herrschen, doch diese Herrschaft ist für immer vorbei. Christus kann nie mehr sterben!
6,10 Als der Herr Jesus »gestorben ist«, starb er »ein für alle Mal« für die »Sünde«. Er starb den Ansprüchen der Sünde, ihrem Lohn, ihren Forderungen und ihrer Strafe. Er vollendete das Werk und beglich die Rechnung so vollkommen, dass sie niemals wiederholt werden braucht. »Was er aber lebt, lebt er Gott.« Natürlich lebte er in gewissem Sinne immer für Gott. Doch nun »lebt er Gott« in einer neuen Beziehung, als der Auferstandene und in einer neuen Sphäre, wohin die Sünde niemals gelangen kann. Ehe wir weitergehen, sollten wir die letzten zehn Verse nochmals überdenken. Das Hauptthema ist Heiligung. Es wird beschrieben, wie Gott vorgeht, damit wir ein geheiligtes Leben führen. Von unserer Stellung vor Gott her werden wir als mit Christus Gestorbene und Auferstandene angesehen. Das wird in der Taufe dargestellt. Unser Tod mit Christus beendet unsere Geschichte als Männer und Frauen in Adam. Gottes Urteil über unseren alten Menschen lautete nicht Veränderung, sondern Tod. Und dieses Urteil wurde vollstreckt, als wir mit Christus starben. Nun sind wir mit Christus auferstanden, um in Neuheit des Lebens zu wandeln. Die Tyrannei der Sünde über uns ist gebrochen, weil die Sünde zu einem Toten nichts mehr zu sagen hat. Wir sind nun frei, für Gott zu leben.
6,11 Paulus hat bisher unsere Stellung beschrieben. Nun wendet er sich der praktischen Umsetzung dieser Wahrheit in unserem Leben zu. Wir sollen uns »der Sünde für tot (halten), Gott aber lebend in Christus Jesus«.
Dieses »sich halten für« bedeutet hier, die Wahrheit des von Gott über uns Gesagten anzunehmen und im Licht dieser Wahrheit zu leben. Ruth Paxson schreibt:
[Es bedeutet], zu glauben, was Gott in Römer 6,6 sagt, und zu wissen, dass dies eine Tatsache der eigenen persönlichen Errettung ist. Das verlangt von uns einen Glaubensschritt, der sich in einer kompromisslosen Haltung gegenüber dem »alten Menschen« äußert. Wir sehen ihn, wie Gott ihn sieht – am Kreuz, mit Christus getötet. Der Glaube wird ständig daran arbeiten, ihn dort zu halten, wohin die Gnade ihn gestellt hat. Das bezieht uns sehr persönlich mit ein, denn es bedeutet, dass wir von Herzen in Gottes Urteil über das alte »Ich« einstimmen: Es hat in unserem Fall kein Lebensrecht mehr und keinerlei rechtmäßige Ansprüche mehr an uns. Der erste Schritt zu einem Leben praktischer Heiligung besteht darin, dass wir dafürhalten, dass unser »alter Mensch« gekreuzigt ist.19
Wir »halten« uns selbst »der Sünde für tot«, wenn wir auf Versuchung so reagieren, wie ein Toter reagieren würde. Eines Tages wurde Augustinus von einer Frau belästigt, mit der er vor seiner Bekehrung zusammengelebt hatte. Als er sich umdrehte und schnell wegging, rief sie ihm nach: »Augustinus, ich bin’s doch, ich bin’s!« Augustinus ging nur noch schneller und rief ihr über die Schulter zu: »Ja, ich weiß, aber ich bin’s nicht mehr!«20 Er meinte damit, dass er für die »Sünde … tot« sei und nun »Gott lebe«. Ein Toter hat mit Unzucht, Lügen, Betrügen, Klatschsucht und allen anderen Sünden nichts mehr zu tun.
Wir leben nun für »Gott« »in Christus Jesus«. Das bedeutet, dass wir zu Heiligung, Anbetung, Gebet, Dienst und zum Fruchtbringen berufen sind.
6,12 In Kapitel 6,6 sahen wir, dass unser alter Mensch gekreuzigt ist, sodass die Sünde nun nicht mehr als Tyrann regieren darf und wir nicht länger ihre hilflosen Gefangenen sind. Die praktische Ermahnung beruht nun auf der Wahrheit über unsere Stellung vor Gott. Wir sollen »nicht die Sünde in« unserem »sterblichen Leib« herrschen lassen, indem wir ihren bösen Begierden nachgeben. Auf Golgatha wurde die Herrschaft der Sünde durch den Tod beendet. Nun müssen wir das praktisch werden lassen. Dabei ist unsere Mitarbeit gefragt. Nur Gott kann uns heiligen, doch er wird es nicht tun, wenn wir nicht freiwillig mitarbeiten.
6,13 Das bringt uns zum dritten Schlüsselwort in diesem Kapitel – zur Verfügung stellen. Wir dürfen die »Glieder« unseres Leibes »nicht … der Sünde zur Verfügung … stellen«, dass sie als Waffen oder Werkzeuge der Ungerechtigkeit dienen können. Unsere Verpflichtung besteht darin, die Kontrolle über unsere Glieder »Gott« zu übergeben, damit sie für die Sache der »Gerechtigkeit« eingesetzt werden. Schließlich sind wir vom Tod zum Leben erweckt worden, und wie wir in Kapitel 6,4 erinnert worden sind, sollten wir in Neuheit des Lebens wandeln.
6,14 Nun wird noch ein anderer Grund dafür angegeben, dass »die Sünde … nicht über uns« als Gläubige »herrschen« soll. Der erste Grund ist, dass unser alter Mensch mit Christus gekreuzigt ist (Kap. 6,6). Der zweite Grund lautet, dass wir »nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade« leben.
Die Sünde hat bei einem Menschen, der unter dem Gesetz steht, die Oberhand. Warum? Weil ihm das Gesetz zwar sagt, was er zu tun hat, ihm aber die Kraft dafür nicht gibt. Und das Gesetz erregt schlummernde Begierden des gefallenen Menschen, sodass er das Verbotene tun will. Folgende Redensart gibt es schon lange: »Verbotene Früchte schmecken am besten«.
»Die Sünde wird nicht« über denjenigen »herrschen«, der unter der Gnade steht. Der Gläubige ist der Sünde gestorben. Er hat den Heiligen Geist als Kraftquelle für ein geheiligtes Leben erhalten. Und er wird durch die Liebe zum Heiland, nicht durch Furcht vor Strafe, dazu motiviert. Nur die »Gnade« kann Heiligung hervorbringen. Denney sagt dazu: »Nicht die Einschränkungen des Gesetzes, sondern die Wirkungen des Geistes befreien von Sünde. Der Mensch wird nicht auf dem Berg Sinai heilig, sondern auf dem Hügel Golgatha.«21
6,15 Diejenigen, die vor der »Gnade« Angst haben, sind der Ansicht, dass sie uns einen Freibrief für die Sünde gibt. Paulus begegnet diesem Fehlschluss freimütig, indem er die Frage stellt und sie dann einfach mit Nein beantwortet. Wir sind vom Gesetz frei, aber nicht gesetzlos. »Gnade« bedeutet die Freiheit, dem Herrn zu dienen und nicht gegen ihn zu sündigen.
In Kapitel 6,1 lautete die Frage: »Sollten wir in der Sünde verharren?« Hier lautet sie nur noch: »Sollen wir« nicht nur ein wenig »sündigen«? Die Antwort gibt in beiden Fällen ein entsetzter Paulus: »Das sei ferne!« Gott kann keinerlei Sünde gutheißen.
6,16 Es ist eine einfache Tatsache unseres Lebens, dass wir Sklave desjenigen werden, dem wir uns als unserem Herrn unterstellen. Wenn wir uns also der Sünde verkaufen, werden wir zu »Sklaven« der Sünde, und der ewige »Tod« wird uns am Ende dieses Weges erwarten. Wenn wir uns aber Gott unterstellen und ihm gehorchen wollen, dann ist die Folge ein geheiligtes Leben. Die Sklaven der Sünde werden durch Schuld, Furcht und Not geknechtet, doch die Knechte Gottes sind frei zu tun, was der neue Mensch gerne tut. Warum wollen Sie ein Sklave bleiben, wenn Sie doch frei sein können?
6,17 »Aber Dank sei Gott! Ihr seid nicht mehr hilflos der Sünde ausgeliefert, sondern ihr gehorcht mit Leib und Seele dem Evangelium, wie es euch gelehrt worden ist« (Hfa). Die römischen Christen waren dem Evangelium der Gnade, dem sie anbefohlen worden waren, von Herzen gehorsam geworden, einschließlich aller »Lehre«, die uns Paulus in diesem Brief weitergibt.
6,18 Rechte Lehre sollte zu rechtem Gehorsam führen. Indem sie die Wahrheit annahmen, dass sie »von der Sünde … frei gemacht« worden sind, wurden sie »Sklaven der Gerechtigkeit«. Der Ausdruck »von der Sünde … frei gemacht« bedeutet nicht, dass sie nun keine Sündennatur mehr hätten. Der Zusammenhang zeigt, dass es hier um die Freiheit von der Sünde als herrschendes Lebensprinzip geht.
6,19 In Vers 18 spricht der Apos tel von den Sklaven der Gerechtigkeit, doch er erkennt, dass diejenigen, die gerecht leben, nicht in einer echten Sklaverei leben. »Praktische Gerechtigkeit ist keine Sklaverei, außer wenn wir menschlich reden.«22 Diejenigen, die sündigen, sind Sklaven der Sünde, doch wen der Sohn frei macht, der ist wirklich frei (Joh 8,34.36). Paulus erklärt, dass er, indem er das Gleichnis vom »Sklaven« und Meister benutzt, »menschlich« redet, d. h. er benutzt ein bekanntes Bild aus dem Alltag. Er tut dies »wegen der Schwachheit« ihres »Fleisches«. Es geht mit anderen Worten um ihre intellektuellen und geistlichen Probleme, die Wahrheit zu verstehen, wenn man sie in allgemeine Begriffe fasst. Die Wahrheit muss sehr oft veranschaulicht werden, damit sie verstanden wird.
Vor ihrer Bekehrung hatten die Gläubigen ihre Leiber »als Sklaven« allen möglichen Formen »der Unreinheit« und einer Schlechtigkeit nach der anderen hingegeben. Nun sollten sie diese gleichen Leiber »als Sklaven der Gerechtigkeit« hingeben, sodass ihr Leben wirklich heilig würde.
6,20 »Als« sie noch »Sklaven der Sünde« waren, bestand die einzige Freiheit, die sie kannten, in der Freiheit »gegenüber der Gerechtigkeit«. Das war eine verzweifelte Lage – von allem Bösen gebunden und »frei« von allem Guten!
6,21 Paulus fordert sie (und uns) auf, eine Liste der Früchte eines nicht erlösten Lebens zu nennen, die Früchte solcher Taten, »deren« sie sich »jetzt schämen« würden. Marcus Rainsford hat eine solche Liste angelegt:
1. Sämtliche mir gegebenen Möglichkeiten missbraucht.
2. Gefühle zerbrochen.
3. Zeit verschwendet.
4. Einfluss missbraucht. 5. Die besten Freunde betrogen. 6. Die eigenen Interessen verletzt. 7. Die Liebe verhöhnt – insbesondere die Liebe Gottes. Oder, um es mit einem Wort zu sagen: Schande.23
»Das Ende davon ist der Tod.« »Jede Sünde«, schreibt A. T. Pierson, »führt zum Tod, und wenn man darin verharrt, endet sie im Tod als Ziel und Frucht.«24
6,22 Bekehrung verändert die Stellung des Menschen vollständig. Er ist nun »von der Sünde frei gemacht«, d. h. sie ist nicht mehr Herr, und er wird ein williger Sklave »Gottes«. Das Ergebnis ist jetzt ein geheiligtes Leben und »ewiges Leben« am »Ende« des irdischen Weges. Natürlich hat der Gläubige auch schon jetzt das ewige Leben, doch dieser Vers bezieht sich auf das Leben in all seiner Fülle, einschließlich des verherrlichten Auferstehungsleibes.
6,23 Der Apostel fasst sein Thema nun zusammen, indem er uns diese anschaulichen Gegensätze vor Augen führt: Zwei Herren – »Sünde« und »Gott«. Zwei Wege – »Lohn« und »Gnadengabe«.
Zwei Folgen – »Tod« und »ewiges Leben«.
Man beachte, dass das ewige Leben in einer Person liegt, nämlich »in Christus Jesus, unserem Herrn«. Alle, die »in Christus« sind, haben »ewiges Leben«. So einfach ist das!
I. Die Aufgabe des Gesetzes im Leben des Gläubigen (Kap. 7) Der Apostel hat nun eine Frage vorweggenommen, die sich unausweichlich erheben wird: Welches Verhältnis hat der Christ zum Gesetz? Vielleicht hatte Paulus hier, als er die Frage beantwortete, bes onders die Judenchristen im Blick, weil das Gesetz Israel gegeben wurde, sich aber die entsprechenden Maßstäbe ebenso auf Gläubige aus den Nationen beziehen, die sich törichterweise selbst unter das Gesetz als Lebensregel stellen wollen, nachdem sie gerechtfertigt worden sind.
In Kapitel 6 sahen wir, dass der Tod die Tyrannei der Sündennatur im Leben des Kindes Gottes beendet hat. Nun werden wir sehen, dass der Tod gleichermaßen auch die Herrschaft des Gesetzes über diejenigen beendet, die unter dem Gesetz stehen.
7,1 Dieser Vers steht im Zusammenhang mit Kapitel 6,14: »Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade.« Die Verbindung lautet: »Ihr solltet wissen, dass ihr nicht unter dem Gesetz steht, oder ist euch die Tatsache unbekannt, ›dass das Gesetz über den Menschen‹ nur herrscht, ›solange er lebt‹? Paulus spricht zu denen, die sich mit den fundamentalen Wahrheiten des Gesetzes auskennen und deshalb wissen sollten, dass das »Gesetz« einem Toten nichts zu sagen hat.
7,2 Um das zu illustrieren, erwähnt Paulus, auf welche Weise der Tod den Ehebund beendet. Eine »Frau« ist durch das Ehe-»Gesetz an den Mann gebunden, solange er lebt; wenn« er »aber gestorben ist, so ist sie losgemacht« von diesem »Gesetz«.
7,3 »Wenn« eine Frau »eines anderen Mannes wird«, »während der Mann« noch »lebt«, dann macht sie sich des Ehebruchs schuldig. »Wenn« jedoch »der Mann gestorben ist, ist sie frei«, wieder zu heiraten, ohne dass auch nur der Schatten einer Schuld auf sie fällt.
7,4 Wenn man dieses Bild anwendet, dann darf man nicht jede Einzelheit wörtlich auslegen. So stellt z. B. weder der Ehemann noch die Ehefrau das Gesetz dar. Das Bild soll vielmehr zeigen, dass so, wie der Tod die Ehegemeinschaft beendet, das Gestorbensein des Gläubigen mit Christus die Herrschaft des Gesetzes über ihn beendet.
Man beachte, dass Paulus nicht sagt, dass das Gesetz tot sei. Das Gesetz hat noch immer einen wichtigen Dienst in der Überführung von Sünde. Und wir sollten uns daran erinnern, dass er, wenn er in diesem Abschnitt »wir« sagt, an diejenigen denkt, die Juden waren, ehe sie Christen wurden.
Wir sind »dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus«, wobei der »Leib« hier dafür steht, dass Jesus seinen »Leib« in den Tod gab. Wir sind nicht länger an das »Gesetz« gebunden; wir sind mit dem auferstandenen Christus verbunden. Nachdem gleichsam der eine Ehebund durch den Tod beendet wurde, ist ein neuer Ehebund geschlossen worden. Und weil wir nun vom »Gesetz« frei sind, können wir »Gott Frucht« bringen.
7,5 Diese Erwähnung der Frucht erinnert uns an die Art der »Frucht«, die wir gebracht haben, »als wir im Fleisch waren«. Der Ausdruck »im Fleisch« bedeutet offensichtlich nicht »im Leib«. Das »Fleisch« steht hier für unsere Stellung vor Gott, ehe wir gerettet wurden. Damals war das »Fleisch« die Grundlage unserer Stellung. Wir hingen ganz von dem ab, was wir waren oder tun konnten, um von Gott angenommen zu werden. »Im Fleisch« ist das Gegenteil von »in Christus«.
Vor unserer Bekehrung wurden wir von »Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz erregt wurden«, beherrscht. Das Gesetz ist nicht ihre Ursache; aber dadurch, dass es sie nennt und dann verbietet, wird in uns das starke Verlangen geweckt, diese »Leidenschaften« in die Tat umzusetzen!
Diese »Leidenschaften der Sünden« fanden ihren Ausdruck in unseren leiblichen Gliedern, und wenn wir uns der Versuchung hingaben, brachten wir giftige Frucht, die zum »Tod« führt. An anderer Stelle spricht der Apostel von dieser Frucht als den Werken des Fleisches: »Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Hader, Eifersucht, Zornausbrüche, Selbstsüchteleien, Zwistigkeiten, Parteiungen, Neidereien, Trinkgelage, Völlereien« (Gal 5,19-21).
7,6 Zu den wunderbaren Folgen unserer Bekehrung gehört auch, dass wir »von dem Gesetz losgemacht« sind. Das ist das Resultat davon, dass wir mit Christus gestorben sind. Weil er stellvertretend für uns gestorben ist, sind wir mit ihm gestorben. Mit seinem Tod erfüllte er alle Ansprüche des Gesetzes, indem er die schreckliche Strafe auf sich nahm. Deshalb sind wir vom Gesetz und seinem unvermeidlichen Fluch befreit. Es gibt keine doppelte Bestrafung.
Gott hat mit ihm schon gehandelt nach meinen Sünden;
also handelt er danach nicht mehr mit mir.
Karl Heinrich von Bogatzky Wir sind nun befreit, damit wir »in dem Neuen des Geistes dienen und nicht in dem Alten des Buchstabens«. Beweggrund unseres Dienstes ist die Liebe, nicht die Furcht; es ist ein Dienst in Freiheit, nicht in Gefangenschaft. Es geht nicht länger darum, sich sklavisch an die kleinsten Details äußerlicher Zeremonien zu halten, sondern uns freudig zur Ehre Gottes und zum Segen anderer hinzugeben.
7,7 Aus all diesen Ausführungen scheint hervorzugehen, dass Paulus das Gesetz kritisiert. Er hat gesagt, dass die Gläubigen der Sünde und dem Gesetz gestorben sind, und das mag den Eindruck erweckt haben, dass das Gesetz schlecht ist. Aber kein Gedanke könnte abwegiger sein!
In Kapitel 7,7-13 beschreibt Paulus nun die wichtige Rolle, die das Gesetz in seinem eigenen Leben spielte, ehe er gerettet wurde. Er betont, dass das Gesetz selbst nicht sündig ist, sondern die Sünde des Menschen offenbart. Es war das Gesetz, das ihn von der völligen Verderbtheit seines Herzens überführt hat. Solange er sich noch mit anderen Menschen verglich, meinte er, ziemlich anständig zu sein. Doch als die Forderungen des Gesetzes Gottes ihn überführten, stand er sprachlos und verurteilt da. Es war das zehnte Gebot, das ihm besonders seine Sünde vor Augen stellte: »Du sollst nicht begehren!« Begierden beginnen in unseren Gedanken. Obwohl Paulus keine gröbere, abstoßendere Sünde begangen haben mag, erkannte er, dass sein Gedankenleben verdorben war. Er sah ein, dass böse Gedanken genauso sündig sind wie böse Taten. Sein Gedankenleben war durch schmutzige Fantasien verunreinigt worden. Sein äußeres Leben mag relativ tadellos gewesen sein, doch sein Innenleben war eine einzige Schreckenskammer.
7,8 »Die Sünde aber ergriff durch das Gebot die Gelegenheit und bewirkte jede Lust in mir.« Lust bedeutet hier Begierde. Wenn das Gesetz alle bösen Begierden verbietet, dann wird die verdorbene Natur des Menschen erst recht angeregt, danach zu streben. So sagt uns das Gesetz etwa Folgendes: »Du sollst dich nicht allen möglichen sexuellen Fantasien hingeben, wenn dir entsprechende Gedanken kommen. Du sollst nicht in einer Welt lustvoller Vorstellungen leben.« Das Gesetz verbietet es, schmutzige, widerwärtige und anzügliche Gedanken zu hegen. Doch leider gibt es uns nicht die Kraft, eine solche Fantasie zu zügeln. So besteht das Ergebnis darin, dass sich Menschen unter dem Gesetz mehr als je zuvor in einer unreinen Traumwelt sexueller Unreinheit bewegen. Sie erkennen, dass sie, wann immer etwas verboten ist, umso mehr danach streben. »Gestohlenes Wasser ist süß, und heimliches Brot schmeckt lieblich« (Spr 9,17).
»Ohne Gesetz ist die Sünde« sozusagen «tot«, zumindest in gewisser Hinsicht. Die Sündennatur ist wie ein schlafender Hund. Wenn das Gesetz kommt und sagt: »Tu es nicht«, dann wacht der Hund auf, um sich auszutoben und genau das bis zum Übermaß zu tun, was verboten ist.
7,9 Ehe Paulus vom Gesetz überführt wurde, »lebte« er, d. h. seine Sündennatur war vergleichsweise schläfrig, wobei er den Abgrund der Bosheit seines Herzens nicht kannte.
»Als aber das Gebot kam« (d. h. als es mit seinem vernichtenden Urteil kam), erregte dies von Grund auf die Begierden seiner sündigen Natur. Je mehr er zu gehorchen versuchte, desto schlimmer versagte er. Er »starb«, denn jede Hoffnung, die Erlösung durch seine eigenen Bemühungen zu erlangen, war zerstört. Er »starb« jedem Gedanken, dass er selbst gut sein könne. Er »starb« jedem Traum, durch das Halten des Gesetzes gerechtfertigt zu werden.
7,10 Er sah, dass »das Gebot, das zum Leben gegeben« war, ihm in Wirklichkeit »Tod« brachte. Doch was meint er, wenn er sagt, dass das »Gebot … zum Leben gegeben« war? Das lässt sich auf 3. Mose 18,5 zurückführen, wo Gott sagt: »Und meine Ordnungen und meine Rechtsbestimmungen sollt ihr halten. Durch sie wird der Mensch, der sie tut, Leben haben. Ich bin der Herr.« Im Idealfall verhieß das Gesetz den Menschen, die es hielten, das Leben. Ein Schild vor einem Löwenkäfig lautet: »Bitte Abstand vom Käfig halten.« Wenn man diesem Gebot gehorcht, bringt es Leben. Doch dem Kind, das sich nicht daran hält und hineingreift, um den Löwen zu streicheln, bringt es den Tod.
7,11 Paulus betont erneut, dass das Gesetz nicht dafür verantwortlich war. Es war die innewohnende Sünde, die ihn antrieb, dasjenige zu tun, was das Gesetz verbot. Die Sünde verführte ihn, darüber nachzudenken, dass die verbotene Frucht wohl doch nicht so schlecht sei, dass sich nach deren Genuss das entsprechende Glücksgefühl einstellen würde und dass er ungeschoren davonkäme. Sie flüsterte ihm ein, dass Gott ihm Freuden vorenthalte, die ihm nur guttun würden. So »tötete« ihn die Sünde in dem Sinne, dass sie seine besten Hoffnungen zunichtemachte, der Erlösung würdig zu sein oder sich das Heil zu verdienen.
7,12 »Das Gesetz« an sich ist »heilig, und« jedes »Gebot« ist »heilig und gerecht und gut«. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass mit dem Gesetz an sich alles in Ordnung ist. Es ist von Gott gegeben und deshalb vollkommen als Ausdruck seines Willens für sein Volk. Die Schwäche des Gesetzes lag am »Rohmaterial«, mit dem es arbeiten sollte: Es wurde Menschen gegeben, die schon Sünder waren. Sie brauchten das Gesetz, damit sie Sündenerkenntnis bekamen, doch darüber hinaus hatten sie auch einen Heiland nötig, der sie von der Strafe und der Macht der Sünde befreien würde.
7,13 »Das Gute« bezieht sich auf das Gesetz, wie besonders im vorhergehenden Vers gesagt wurde. Paulus erhebt nun die Frage: »Bewirkte« das Gesetz »mir den Tod?« Das bedeutet: »Ist das Gesetz der Schuldige, der Paulus (und mit ihm uns alle) zum Tode verurteilt?« Die Antwort lautet: »Das sei ferne!« Die Sünde ist schuld. Das Gesetz ist nicht die Ursache der Sünde, sondern zeigt nur die Sünde in all ihrer Sündhaftigkeit. »Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde« (Kap. 3,20b). Das ist jedoch noch nicht alles! Wie reagiert die Sündennatur des Menschen, wenn Gottes heiliges Gesetz ihr etwas verbietet? Die Antwort ist bekannt. Was bisher noch ein schlummerndes Verlangen war, wird zur brennenden Leidenschaft! So wird »die Sünde überaus sündig … durch das Gebot«. Zwischen dieser Aussage und der Feststellung in Kapitel 7,10 besteht scheinbar ein Unterschied. Dort sagte Paulus, dass er entdeckt habe, dass das Gesetz ihm den Tod bringe. Hier leugnet er jedoch, dass ihm das Gesetz den Tod bringt. Die Lösung ist folgende: Das Gesetz an sich kann weder einerseits den alten Menschen verbessern noch ihn andererseits veranlassen, Sünden zu begehen. Es kann Sünde anzeigen, genau wie ein Thermometer die Temperatur anzeigt. Aber es kann nicht die Sünde kontrollieren, wie etwa ein Thermostat die Temperatur kontrolliert.
Es geschieht jedoch Folgendes: Die gefallene Natur des Menschen will instinktiv genau das tun, was verboten ist. Deshalb nimmt sie das Gesetz zum Anlass, um ansonsten unterbewusste Begierden im Sünder zu wecken. Je mehr der Mensch diese zu überwinden sucht, desto schlimmer wird es, bis ihm zum Schluss nur noch die Verzweiflung übrig bleibt. So benutzt die Sünde das Gesetz, um ihm jede Hoffnung auf Verbesserung zu rauben. Und er sieht die außerordentliche Sündhaftigkeit seines alten Menschen wie nie zuvor.
7,14 Bis zu diesem Punkt hat der Apostel eine vergangene Erfahrung seines Lebens beschrieben – nämlich die traumatische Krise, als er durch den Dienst des Gesetzes von seiner Sündhaftigkeit überführt wurde.
Nun wechselt er in die Gegenwart, um eine Erfahrung zu beschreiben, die er hatte, seitdem er wiedergeboren ist – nämlich den Konflikt der zwei Naturen und die Unmöglichkeit, durch eigene Kraft Befreiung von der Macht der innewohnenden Sünde zu erfahren. Paulus erkennt an, »dass das Gesetz geistlich ist« – d. h. als solches heilig und dem entsprechend, was dem Menschen geistlich zugutekommt. Doch er erkennt, dass er selbst »fleischlich« ist, weil er keinen Sieg über die Macht der in ihm wohnenden Sünde kennt. Er ist »unter die Sünde verkauft«. Er fühlt sich, als ob er der Sünde als Sklave verkauft worden ist.
7,15 Nun beschreibt der Apostel den Kampf, der in einem Gläubigen stattfindet. Dieser kennt die Wahrheit nicht, dass er mit Christus in seinem Tod und seiner Auferstehung eins geworden ist. Es handelt sich hierbei um den Konflikt zwischen den beiden Naturen in dem Menschen, der den Berg Sinai besteigt, um dort Heiligung zu finden. Harry Foster erklärt:
Hier ist ein Mann, der versucht, Heiligung durch eigene Anstrengung zu erlangen, und mit all seiner Kraft kämpft, um Gottes »heiliges und gerechtes und gutes« Gesetz zu erfüllen (V. 12). Dabei entdeckt er lediglich, dass sein Zustand umso schlimmer wird, je mehr er kämpft. Es verwundert nicht, dass dies eine verlorene Schlacht ist, denn es steht nicht in der Macht der gefallenen menschlichen Natur, die Sünde zu besiegen und in Heiligung zu leben.25
Man beachte die ständige Wiederholung der Personalpronomen in der 1. Person – ich, mir, mich, selbst etc. Sie kommen in den Versen 9-25 über 40-mal vor! Menschen, die diese Erfahrung von Römer 7 durchmachen, erhalten eine Über dosis »Vitamin Ich«. Sie halten immer wieder Nabelschau, suchen in sich selbst den Sieg, wo sie ihn doch nicht finden können.
Es ist sehr traurig, dass die heutige christliche, nach psychologischen Grundsätzen arbeitende Seelsorge sehr oft die Aufmerksamkeit des Klienten auf sich selbst richtet und so das Problem noch verschärft, statt zu helfen. Die Menschen müssen wissen, dass sie mit Christus gestorben und auferstanden sind, damit sie mit ihm in Neuheit des Lebens wandeln können. Statt zu versuchen, das Fleisch zu bessern, werden sie es dann mit dem Herrn Jesus ins Grab geben. Paulus beschreibt den Kampf zwischen den beiden Naturen so: »Was ich vollbringe, erkenne ich nicht.« Er hat eine gespaltene Persönlichkeit (im Sinne von Dr. Jekyll und Mr. Hyde in Stevensons bekannter Novelle). Er sieht sich selbst Dinge tun, die er eigentlich gar nicht will, und vieles, was er tut, hasst er im Grunde.
7,16 Wenn also sein gesunder Menschenverstand seine Handlungen verurteilt, dann ergreift er mit dem Gesetz Partei gegen sich selbst, weil auch das Gesetz diese Handlungen verurteilt. Deshalb gibt er letztlich zu, dass das Gesetz »gut ist«.
7,17 Das führt zu dem Schluss, dass der Schuldige nicht der neue Mensch in Christus ist, sondern die verdorbene Sündennatur, die noch immer in ihm wohnt. Doch wir müssen hier sehr vorsichtig sein. Wir dürfen unsere Sünde nicht einfach entschuldigen, indem wir der uns innewohnenden »Sünde« die Schuld geben. Wir sind verantwortlich für unser Handeln, und wir dürfen diesen Vers nicht missbrauchen, um den »Schwarzen Peter« weiterzureichen. Paulus will hier nur den Ursprung seines sündigen Verhaltens nennen, es jedoch nicht entschuldigen.
7,18 Es kann in der Heiligung keinen Fortschritt geben, wenn wir nicht lernen, was Paulus hier gelernt hat – »dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt«. Hier bedeutet »Fleisch« die verdorbene Sündennatur, die wir von Adam ererbt haben und die in jedem Gläubigen weiterhin existiert. Sie ist der Ursprung alles Bösen, das ein Mensch tut. Hinsichtlich dieser Sündennatur gibt es nichts Gutes.
Die Erkenntnis befreit uns davon, jemals von dieser alten Natur etwas Gutes zu erwarten. Sie befreit uns von der Enttäuschung, wenn wir dort nichts Gutes finden. Und sie befreit uns von der Beschäftigung mit uns selbst. Wenn wir nur auf uns selbst sehen, werden wir keinen Sieg erfahren. Der heilige Schotte Robert Murray McCheyne sagte dazu, dass wir für jeden Blick, den wir auf uns selbst werfen, zehn auf Christus werfen sollten. Um die Hoffnungslosigkeit des Fleisches zu bestätigen, beklagt der Apostel, dass er zwar das Verlangen habe, das Richtige zu tun, aber nicht in sich selbst die Kraft findet, sein Verlangen in die Tat umzusetzen. Das Problem ist einfach, dass er den Anker in seinem eig enen Boot ausgeworfen hat.
7,19 So geht der Kampf zwischen den beiden Naturen weiter. Paulus merkt, dass er »das Gute«, das er gerne tun würde, nicht tut, und stattdessen »das Böse« tut, das er verachtet. Er steckt mitten in einem riesigen Wust von Widersprüchen und Unvereinbarkeiten.
7,20 Wir können diesen Vers wie folgt umschreiben: »Wenn ich aber« (die alte Natur) »das, was ich« (die neue Natur) »nicht will, ausübe, so vollbringe nicht mehr ich« (die Person) »es, sondern die in mir wohnende Sünde«. Wir sollten hier noch einmal betonen, dass Paulus sich nicht selbst entschuldigt oder die Verantwortung abwälzt. Er beschreibt lediglich, dass er keine Befreiung von der in ihm wohnenden Sünde gefunden hat. Wenn er sündigt, geschieht es – so seine Worte – nicht auf Verlangen des neuen Menschen.
7,21 Er findet nun in seinem Leben ein Prinzip oder »Gesetz« am Werk, das alle seine guten Absichten zunichtemacht. Wenn er das Richtige tun will, dann endet es damit, dass er sündigt.
7,22 Seine neue Natur jedoch freut sich »am Gesetz Gottes«. Er weiß, dass das Gesetz heilig und ein Ausdruck des Willens Gottes ist. Er möchte diesen Willen Gottes tun.
7,23 Doch Paulus sieht in seinem Leben ein Prinzip am Werk, das dem Willen Gottes entgegensteht, gegen die neue Natur ankämpft und ihn zum Gefangenen der in ihm wohnenden »Sünde« macht. George Cutting schreibt: Das Gesetz gibt ihm keine Kraft, auch wenn er sich nach seinem inwendigen Menschen an ihm erfreut. Mit anderen Worten, er versucht zu schaffen, was Gott schon zur Unmöglichkeit erklärt hat – nämlich die Tatsache, das Fleisch zum Untertanen des heiligen Gesetzes Gottes zu machen. Er erfährt, dass das Fleisch sich um Fleischliches kümmert und der Erzfeind des Gesetzes Gottes, ja, sogar von Gott selbst ist.26
7,24 Nun lässt Paulus seinen berühmten Stoßseufzer los. Er fühlt sich, als hätte er einen verwesenden Leib auf den Rücken gebunden. Dieser »Leib« ist natürlich die alte Natur in all ihrer Verdorbenheit. In seiner Verzweiflung erkennt er an, dass er nicht imstande ist, sich selbst von dieser schlimmen, sündigen Last zu befreien. Er ist auf Hilfe von außen angewiesen.
7,25 Der Dankesausbruch, womit dieser Vers beginnt, kann auf mindestens zwei Arten verstanden werden. Es kann bedeuten: »Ich danke Gott«, dass die Erlösung »durch unseren Herrn Jesus Christus« kommt. Es kann aber auch ein Einschub sein, worin Paulus Gott dankt, dass er »durch« den Herrn Jesus nicht mehr so verzweifelt ist, wie er es im letzten Vers geschildert hat.
Der Rest des Verses fasst den Konflikt zwischen den beiden Naturen zusammen, ehe der Gläubige die Befreiung erkannt hat. »Mit dem« erneuerten »Sinn« (bzw. der neuen Natur) dient der Gläubige »Gottes Gesetz, mit dem Fleisch aber« (oder dem alten Menschen) »dem Gesetz der Sünde«. Erst im nächsten Kapitel finden wir die Erklärung des Weges zur Befreiung aus diesem Dilemma. J. Der Heilige Geist als Kraft für ein geheiligtes Leben (Kap. 8) Das Thema eines geheiligten Lebens wird nun fortgeführt. In Kapitel 6 hat Paulus die Frage beantwortet: »Ermutigt das Evangelium nicht zu einem sündigen Leben?« In Kapitel 7 hat er sich der Frage gestellt: »Befiehlt das Evangelium (die Botschaft von der Errettung allein durch Glauben) dem Christen nicht, das Gesetz zu halten, um ein geheiligtes Leben zu führen?« Nun geht es um die Frage: »Was ermöglicht dem Christen, ein geheiligtes Leben zu führen?«
Wir bemerken von Anfang an, dass die Personalpronomen, die sich in Kapitel 7 so gehäuft haben, hier verschwinden. Nun ist der Heilige Geist die bestimmende Person. Das ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis dieses Abschnitts. Den Sieg finden wir nicht in uns selbst, sondern im Heiligen Geist, der in uns wohnt. A. J. Gordon zählt sieben Hilfsmittel des Geistes auf: Freimut im Dienst (V. 2), Kraft für den Dienst (V. 11), Sieg über die Sünde (V. 13), Führung im Dienst  (V. 14),  das  Zeugnis  der  Sohnschaft  (V. 16),  Beistand  im  Dienst  (V. 26) und Beistand im Gebet (V. 26).
8,1 Aus dem Tal der Verzweiflung und der Niederlage erklimmt der Apostel nun die Höhen mit dem siegessicheren Ruf: »Also gibt es jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind!« Das kann man auf zweierlei Weise verstehen. Erstens gibt es »keine« göttliche »Verdammnis« über unsere Sünde, weil wir in Christus sind. Solange wir in Adam, unserem ersten Oberhaupt, waren, gab es für uns nur die »Verdammnis«. Doch nun sind wir in Christus und deshalb so frei von der Verdammnis wie er. So können wir die Aufforderung ausrufen: Klag’ zuerst den Heiland an kann ein Leben reiner sein? Hätt’ er irgendeine Schuld, wär’s auch wahr: Ich bin unrein. Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals von W. N. Tomkins Doch es kann auch heißen, dass wir die Art der Selbstverurteilung nicht nötig haben, die Paulus in Kapitel 7 beschrieben hat. Es mag sein, dass wir die Erfahrung von Kapitel 7 machen. Wir stellen fest, dass wir nicht imstande sind, aus eigener Kraft die Anforderungen des Gesetzes zu erfüllen, doch wir müssen nicht dort stehen bleiben. Vers 2 erklärt uns, warum es »keine Verdammnis«27 mehr gibt.
8,2 »Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.« Das sind zwei entgegengesetzte Gesetze oder Prinzipien. Das Prinzip des Geistes ist es, dem Gläubigen die Kraft für ein geheiligtes Leben zu geben. Das Prinzip der in uns wohnenden Sünde besteht darin, den Menschen in den Tod hinunterzuziehen. Es gleicht dem Gesetz der Schwerkraft. Wenn man einen Ball in die Luft wirft, dann kommt er zurück, weil er schwerer ist als die Luft, die er verdrängt. Ein lebendiger Vogel ist zwar auch schwerer als die Luft, die er verdrängt, doch wenn man ihn in die Luft wirft, dann fliegt er davon. Das Gesetz des Lebens in dem Vogel besiegt also das Gesetz der Schwerkraft. So rüstet der Heilige Geist mit dem Auferstehungsleben des Herrn Jesus aus und macht den Sünder »frei … von dem Gesetz der Sünde und des Todes«.
8,3 Das Gesetz konnte die Menschen nie dazu bringen, Gottes heilige Anforderungen zu erfüllen, aber die Gnade hat dort Erfolg gehabt, wo das Gesetz versagt hat. Betrachten wir, wie das vor sich geht! »Das Gesetz« konnte ein geheiligtes Leben nicht hervorbringen, »weil es durch das Fleisch kraftlos war«. Das Problem lag nicht beim Gesetz, sondern bei der gefallenen menschlichen Natur. Das Gesetz sprach zu Menschen die schon Sünder und außerstande waren, ihm zu gehorchen. Doch hier griff Gott ein, »indem er seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde … sandte«. Man beachte, dass der Herr Jesus nicht im Fleisch der Sünde, sondern »in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde« kam. Er  selbst  sündigte  nicht  (1. Petr  2,22),  er kannte keine Sünde (2. Kor 5,21), und in ihm  war  keine  Sünde  (1. Joh  3,5).  Doch indem er in menschlicher Gestalt auf die Erde kam, ähnelte er der sündigen Menschheit. Als Opfer für die Sünde »verurteilte« Christus »die Sünde im Fleisch«. Er starb nicht nur für die Sünden, die wir tun (1. Petr 3,18), sondern auch für unsere Sündennatur. Mit anderen Worten: Er starb genauso für das, was wir sind, wie für das, was wir tun. Damit »verurteilte« er »die Sünde im Fleisch«. Von unserer Sündennatur heißt es nirgends in der Bibel, dass ihr vergeben werde, sie ist »verurteilt«. Die Sünden, die wir getan haben, werden vergeben.
8,4 Nun ist »die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt … in uns, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln«. Wenn wir die Kontrolle unseres Lebens dem Heiligen Geist übergeben, dann befähigt er uns, um Gott und unseren Nächsten zu lieben, denn das ist es, was das Gesetz verlangt. In diesen ersten vier Versen hat der Apostel alle seine Argumente aus Kapitel 5,12 bis Kapitel 7,25 wiederaufgenommen. In Kapitel 5,12-21 hatte er die beiden Oberhäupter Adam und Christus besprochen. In Kapitel 8,1 zeigt er nun, dass das Urteil, das wir durch unsere Gleichsetzung mit Adam geerbt haben, durch unsere Identifikation mit Christus aufgehoben ist. In den Kapiteln 6 und 7 hat er das schreckliche Problem unserer Sündennatur besprochen. Nun verkündigt er siegreich, dass das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus uns vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit hat. In Kapitel 7 wurde das gesamte Thema des Gesetzes diskutiert. Nun lernen wir, dass die Forderungen des Gesetzes durch ein Leben im Heiligen Geist erfüllt werden.
8,5 »Die, welche nach dem Fleisch sind« – d. h. diejenigen, die nicht bekehrt sind – beschäftigen sich mit dem, »was des Fleisches ist«. Sie gehorchen allen Impulsen des Fleisches. Sie leben, um die Begierden des verdorbenen alten Menschen zu erfüllen. Sie verwöhnen den Leib, der doch in wenigen Jahren schon zu Staub werden wird.
»Die aber, die nach dem Geist sind« (das sind die wahren Gläubigen) erheben sich über Fleisch und Blut, um für die ewigen Dinge zu leben. Sie beschäftigen sich mit dem Wort Gottes, mit Gebet, Anbetung und Dienst am Nächsten.
8,6 »Die Gesinnung des Fleisches« – d. h. die Geisteshaltung der gefallenen Natur – »ist Tod«. Sie ist Tod sowohl hinsichtlich der gegenwärtigen Vergnügungen als auch hinsichtlich der endgültigen Bestimmung. Sie birgt in sich die Macht des Todes, wie eine Überdosis Gift.
Doch »die Gesinnung des Geistes« ist »Leben und Frieden«. Der Geist Gottes ist die Garantie des wirklichen Lebens, des Friedens mit Gott und eines Lebens in innerem Frieden.
8,7 Die »Gesinnung des Fleisches« ist Tod, weil sie »Feindschaft gegen Gott« ist. Der Sünder lehnt sich gegen Gott auf und ist sein ständiger Feind. Wenn man noch einen Beweis brauchte, müsste man sich nur die Kreuzigung unseres Herrn Jesus Christus ansehen. Die Gesinnung des Fleisches »ist dem Gesetz Gottes nicht untertan«. Sie will ihren eigenen Willen erfüllt sehen und sich Gottes Herrschaft nicht beugen. Das Wesen des Fleisches ist so geartet, dass es sich dem Gesetz Gottes nicht unterwerfen kann. Es geht nicht nur darum, dass das Bestreben zum Gehorsam fehlt, es fehlt auch die Kraft zum Gehorsam. Das Fleisch ist Gott gegenüber tot.
8,8 Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass diejenigen, »die im Fleisch sind, … Gott nicht gefallen können«. Man stelle sich das einmal vor! Nichts, aber auch gar nichts an einem nicht erlösten Menschen kann »Gott gefallen« – keine guten Werke, keine Einhaltung religiöser Gebräuche, keine Opfergottesdienste, absolut nichts. Zuerst muss er den Platz des schuldigen Sünders einnehmen und Christus in einem ausdrücklichen Glaubensakt in sein Leben aufnehmen. Nur dann kann der Mensch Gottes Anerkennung dadurch ernten, dass dessen Angesicht freundlich über ihm strahlt.
8,9 Wenn jemand von Neuem geboren wird, dann ist er nicht mehr »im Fleisch, sondern im Geist«. Er lebt in einer ganz anderen Sphäre. Wie der Fisch im Wasser lebt und die Frischluft das Lebenselement des Menschen ist, so lebt der Gläubige im Geist. Und er lebt nicht nur im Geist, sondern der Geist lebt auch in ihm. Wenn nämlich der Geist Christi nicht in ihm wohnt, dann gehört er nicht zu Christus. Obwohl es nicht geklärt ist, ob der »Geist Christi« hier derselbe ist wie der Heilige Geist, ist das doch der Gedanke, der am besten in den Zusammenhang passt.
8,10 Durch den Dienst des Geistes ist »Christus« wirklich »in« dem Gläubigen. Es ist erstaunlich, sich vorzustellen, dass das Leben und die Herrlichkeit unseres Herrn in unserem Leib wohnt, wenn wir insbesondere daran denken, dass diese Leiber ja »der Sünde wegen« dem Tod unterworfen sind. Man mag nun argumentieren, dass sie noch nicht wirklich tot sind, wie dieser Vers scheinbar aussagt. Das nicht, aber die Mächte des Todes arbeiten schon an ihnen, und sie werden unausweichlich sterben, falls nicht der Herr vorher zurückkommt. Im Gegensatz zum Leib ist »der Geist28 aber Leben der Gerechtigkeit wegen«. Obwohl einst tot gegenüber Gott, ist er durch das gerechte Werk des Herrn Jesus Christus in dessen Tod und Auferstehung lebendig gemacht worden, und zwar, weil ihm die Gerechtigkeit Gottes angerechnet worden ist.
8,11 Doch die Erinnerung daran, dass der Leib noch immer dem Tod unterworfen ist, sollte uns nicht beunruhigen oder verzweifeln lassen. Die Tatsache, dass der Heilige »Geist« in uns wohnt, ist die Garantie dafür, dass Gott unsere »sterblichen Leiber lebendig machen« wird, so wie er »Christus Jesus aus den Toten auferweckt hat«. Das wird der letzte Akt unserer Erlösung sein – wenn unsere Leiber mit der Herrlichkeit des Auferstehungsleibes unseres Heilandes verherrlicht werden.
8,12 Welche Schlüsse ziehen wir nun angesichts des großen Gegensatzes zwischen Fleisch und Geist? Wir schulden »dem Fleisch« nicht, nach seinem Diktat »zu leben«. Die alte, verdorbene Sündennatur ist nichts als ein Hindernis. Niemals hat sie etwas Gutes hervorgebracht. Wenn Christus uns nicht erlöst hätte, würde uns das Fleisch in die tiefsten, finstersten und heißesten Abgründe der Hölle gebracht haben. Warum sollten wir uns solch einem Feind verpflichtet fühlen?
8,13 Wer »nach dem Fleisch lebt«, muss »sterben«, nicht nur leiblich, sondern ewig. »Nach dem Fleisch (zu) leben«, heißt, nicht wiedergeboren zu sein. Das wird aus Kapitel 8,4.5 deutlich. Doch wieso richtet Paulus diese Worte an Menschen, die bereits Christen sind? Will er damit sagen, dass einige von ihnen doch noch verlorengehen könnten? Nein, aber der Apostel fügt oft Worte der Warnung und der Selbstprüfung in seine Briefe ein, denn er weiß, dass in fast jeder Gemeinde einige Leute noch nicht wirklich wiedergeboren sind.
Der Rest des Verses beschreibt, was für die wahren Gläubigen gilt. Sie können »durch den Geist die Handlungen des Leibes« töten. Sie genießen jetzt das ewige Leben, und sie werden das Leben in seiner Fülle genießen, wenn sie diese Erde verlassen.
8,14 Man kann die wahren Gläubigen auch beschreiben, indem man sagt, dass sie »durch den Geist Gottes geleitet werden«. Paulus bezieht sich hier nicht auf die aufsehenerregenden Fälle, in denen herausragende Christen von Gott geführt wurden. Vielmehr spricht er von der Wirklichkeit, wie sie im Leben aller »Söhne Gottes« besteht – nämlich davon, dass sie »durch den Geist Gottes geleitet werden«. Es geht nicht um die Frage, inwieweit sie dem Geist hingegeben sind, sondern um die Beziehung, die zur Zeit der Bekehrung hergestellt wird. Die Sohnschaft beinhaltet, in Gottes Familie aufgenommen worden zu sein, mit allen Rechten und Pflichten eines erwachsenen Sohnes. Ein Neubekehrter muss nicht eine gewisse Zeit warten, ehe er sein geistliches Erbe antritt. In dem Moment, in dem er gerettet wird, hat er dieses Erbe, und das gilt für alle Gläubigen, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen.
8,15 Diejenigen, die unter dem Gesetz leben, sind wie Minderjährige, die herumkommandiert werden, als wären sie Sklaven. Sie haben immer Angst vor Strafe. Doch wird ein Mensch wiedergeboren, so wird er nicht in ein Sklavendasein hineingeboren. Er wird nicht als Sklave in den Haushalt Gottes aufgenommen. Er empfängt »einen Geist der Sohnschaft«,  d. h.  er  wird  als  mündiger Sohn in die Familie Gottes aufgenommen. Durch einen wahren geistlichen Trieb schaut er zu Gott auf und nennt ihn »Abba, Vater«. »Abba« ist ein aramäisches Wort, das bei der Übersetzung etwas von seiner Bedeutung verliert. Es ist eine vertraute Form des Wortes Vater – so wie etwa »Vati« oder »Papa«. Wir zögern zwar, solche Koseworte im Deutschen zu verwenden, wenn wir Gott anreden, doch bleibt die Wahrheit bes tehen, dass unser Gott sowohl une ndlich hoch als auch uns unendlich nahe ist. Der Ausdruck »Geist29 der Sohnschaft« kann sich auf den Heiligen Geist beziehen, der den Gläubigen auf seine besondere Würde als Sohn aufmerksam macht. Damit kann aber auch die praktische Verwirklichung oder die Stellung der Sohnschaft im Unterschied zum »Geist der Knechtschaft« gemeint sein. Das Wort »Sohnschaft« wird im Römerbrief auf drei verschiedene Arten gebraucht. Hier bezieht es sich auf das Bewusstsein der Sohnschaft, das der Heilige Geist im Leben des Gläubigen schafft. In Kapitel 8,23 bezieht es sich auf die Zukunft, wenn der Leib des Gläubigen erlöst oder verherrlicht ist. In Kapitel 9,4 bezieht es sich auf die Vergangenheit, als Gott Israel zu seinem Sohn erklärte (2. Mose 4,22). In Galater 4,5 und Epheser 1,5 ist mit diesem Wort der Begriff »Sohnesstand« (vgl. Konkordante Übersetzung; Anm. d. Übers.) gemeint. Das bedeutet, dass der Gläubige in die Stellung eines reifen, erwachsenen Sohnes gebracht wird, und zwar mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Jeder Gläubige ist ein Kind Gottes in dem Sinne, dass er in die Familie hineingeboren wurde, in der Gott der Vater ist. Doch jeder Gläubige ist auch Sohn – eine besondere Beziehung, die für die Vorrechte eines Menschen steht, der die Reife des Mannesalters erreicht hat.
Im Englischen wird »Sohnschaft« hier mit adoption wiedergegeben. Allerdings bedeutet »Sohnschaft« im Neuen Testament nie, als Kinder fremder Eltern adoptiert zu werden, wie das in unserer Gesellschaft üblich ist.
8,16 Im neugeborenen Gläubigen gibt es einen geistlichen Trieb, der ihm sagt, dass er ein Sohn Gottes ist. Der Heilige »Geist« sagt ihm dies. »Der Geist selbst bezeugt zusammen mit« dem »Geist« des Gläubigen, dass er der Familie Gottes angehört. Dabei benutzt er in erster Linie das Wort Gottes. Wenn ein Christ die Bibel liest, bestätigt sie ihm die Wahrheit, dass er ein Kind Gottes ist, weil er dem Heiland geglaubt hat.
8,17 Die Zugehörigkeit zur Familie Gottes bringt Vorrechte mit sich, die jede Vorstellungskraft übersteigen. Alle »Kinder« Gottes sind »Erben Gottes«. Ein Erbe erbt natürlich einmal den Besitz seines Vaters. Genau das ist hier gemeint. Aller Besitz des Vaters gehört uns. Wir besitzen zwar noch nicht alles und können uns noch nicht an allem erfreuen, doch nichts wird uns in Zukunft daran hindern können. Und wir sind »Miterben Christi«. Wenn Jesus wiederkommt, um das Zepter der allumfassenden Herrschaft zu übernehmen, werden wir mit ihm die Eigentumsurkunde über den gesamten Reichtum des Vaters erhalten. Wenn Paulus hinzufügt: »Wenn wir wirklich mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden«, dann macht er nicht heroisches Leiden zur Heilsbedingung. Auch beschreibt er nicht einen elitären Kreis von Überwindern, die große Anfechtungen erduldet haben. Vielmehr sieht er alle Christen als Mit-Leidende und alle Christen als »mitverherrlicht« an. Das »Wenn« steht hier für »weil«. Natürlich gibt es Einzelne, die mehr um Christi willen zu leiden haben als andere, und das wird sich in unterschiedlichem Lohn und unterschiedlicher Herrlichkeit bemerkbar machen. Doch all diejenigen, die den Herrn Jesus als Herrn und Heiland anerkennen, werden hier so dargestellt, dass sie sich immer die Feindschaft der Welt zuziehen, mit all ihrer Verachtung und Schande.
8,18 Die größte Schande, die wir hier auf Erden für Christus erdulden mögen, wird für uns wie nichts sein, wenn er uns rufen und öffentlich vor den Heerscharen des Himmels anerkennen wird. Auch die schlimmsten Leiden der Märtyrer werden in der Rückschau nur noch als Nadelstiche erscheinen, wenn der Herr ihre Stirnen mit der Krone bzw. dem Siegeskranz des Lebens schmückt. An anderer Stelle bezeichnet Paulus unsere jetzigen Leiden als leichte, schnell vorübergehende Bedrängnisse, während die Herrlichkeit nach seinen Worten ein überaus großes und ewiges Gewicht besitzt (2. Kor 4,17). Wann immer er die kommende Herrlichkeit beschreibt, scheint Paulus um Worte zu ringen.30 Wenn wir nur die »Herrlichkeit« schon schätzen würden, die wir bereits haben, dann könnten wir die »Leiden« am Wegesrand als nebensächlich abtun!
8,19 Nun zeigt uns Paulus in einem großartigen Bild, wie die hier personifizierte »Schöpfung … sehnsüchtig« auf die Zeit wartet, da wir der erstaunten Welt als »Söhne Gottes« vorgestellt werden. Das wird zu der Zeit sein, wenn der Herr Jesus zur Herrschaft auf die Erde zurückkehrt und wir ihn begleiten werden. Wir sind schon »Söhne Gottes«, doch die Welt erkennt uns weder als solche, noch schätzt sie uns in dieser Stellung. Und doch sehnt sich die Welt nach einer besseren Zeit, und dieser Tag wird erst kommen, wenn der König mit all seinen Heiligen regiert. »Die Schöpfung sieht erwartungsvoll dem wunderbaren Anblick entgegen, wenn Gottes Söhne das Ihre zugesprochen bekommen« (nach einer englischsprachigen Bibelübertragung).
8,20 Als Adam sündigte, betraf seine Übertretung nicht nur die Menschheit, sondern die gesamte »Schöpfung«, und zwar sowohl die belebte als auch die unbelebte Schöpfung. Der Erdboden ist verflucht. Viele wilde Tiere sterben eines gewaltsamen Todes. Krankheiten suchen Vögel und Säugetiere genauso heim wie Fische und Reptilien. Die Folgen der menschlichen Sünde haben sich wie Stoßwellen über die ganze Schöpfung hin ausgebreitet.
So ist »die Schöpfung« nach den Worten des Paulus »der Nichtigkeit«, Vergänglichkeit und Unordnung »unterworfen worden«. Dies geschah nicht freiwillig, sondern durch einen Beschluss Gottes aufgrund der Tatsache, dass das erste Oberhaupt des Menschengeschlechts (Adam) ungehorsam war.
8,21 Die Schöpfung sehnt sich nach den Idealbedingungen im Garten Eden zurück. Dann sieht sie sich dem verheerenden Schaden gegenüber, der durch den Einbruch der Sünde in diese Welt entstand. Es hat immer die Hoffnung auf eine Rückkehr zu jenem friedvollen Zustand gegeben, worin »die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird«, um die Freiheit des goldenen Zeitalters zu genießen, wenn wir als »Kinder Gottes« in Herrlichkeit offenbart werden.
8,22 Wir leben in einer Welt voller Seufzen, Tränen und Leiden. »Die ganze Schöpfung seufzt« und leidet Schmerzen wie bei einer Geburt. Die Musik der Natur wird in Moll geschrieben. Die Erde wird von Verheerungen heimgesucht. Der Todeshauch hat sich auf alles Lebendige gelegt.
8,23 Die Gläubigen sind davon nicht ausgenommen. Obwohl sie »die Erstlingsgabe des Geistes haben«, die ihnen ihre endgültige Rettung zusichert, »seufzen« sie immer noch in der Hoffnung auf den Tag der Herrlichkeit. Der Heilige »Geist« selbst ist die »Erstlingsgabe«. So, wie die erste Handvoll reifes Korn die Verheißung auf eine ganze Ernte in sich birgt, so ist der Heilige Geist das Unterpfand oder die Garantie, dass das ganze Erbe einmal uns gehören wird. Insbesondere ist er die Garantie für die kommende »Sohnschaft, die Erlösung unseres Leibes« (Eph 1,14). In gewissem Sinne haben wir die »Sohnschaft« bereits. Das bedeutet, dass wir in die Familie Gottes als Söhne aufgenommen wurden. Doch im umfassenderen Sinne wird die »Sohnschaft« erst dann vollkommen sein, wenn wir unsere verherrlichten Leiber empfangen. Das ist dann die »Erlösung unseres Leibes«. Unser Geist und unsere Seele sind schon erlöst, und unsere Leiber werden bei der Entrückung erlöst werden (1. Thess 4,13-18).
8,24 »Auf« diese »Hoffnung hin sind wir errettet worden«. Wir haben im Augenblick unserer Bekehrung noch nicht alle Segnungen der Erlösung erhalten. Von Beginn an schauten wir in die Zukunft auf die vollständige und end gültige Befreiung von Sünde, Leid, Krankheit und Tod. Wenn wir diese Segnungen schon erhalten hätten, dann würden wir nicht mehr darauf hoffen. Wir hoffen nur auf etwas, das noch in der Zukunft liegt.
8,25 Unsere Hoffnung auf Befreiung von der Gegenwart der Sünde und von all ihren verhängnisvollen Folgen beruht auf der Verheißung Gottes, und deshalb ist die Hoffnung so sicher, als ob sie sich schon erfüllt hätte. Deshalb »warten wir mit Ausharren«.
8,26 Wie wir durch diese wunderbare Hoffnung gestützt werden, so stützt »der Geist« uns auch in »unserer Schwachheit«. Wir sind in unserem Gebetsleben oft ratlos. »Wir wissen nicht«, wie wir »bitten sollen«. Wir bitten selbstsüchtig, unverständig und engherzig. Doch wieder kommt der Heilige Geist, um uns in unserer Schwachheit zur Seite zu stehen, denn er tritt »für uns in unaussprechlichen Seufzern« ein. In diesem Vers ist der Geist der Seufzende. Wir sind hier nicht gemeint, obwohl wir natürlich auch seufzen.
Es handelt sich hier um ein Geheimnis. Wir werfen einen kleinen Blick in das unsichtbare geistliche Reich, in dem unser Herr und große Mächte um unsertwillen am Werk sind. Und obwohl wir außerstande sind, alles hier zu vers tehen, können wir aus der Tatsache, dass ein Seufzen manchmal ein äußerst geist liches Gebet sein kann, viel Trost er halten.
8,27 Wenn Gott »die Herzen« der Menschen erforscht, dann kann er auch wissen, »was der Sinn« (oder »das Trachten«; vgl. z. B. Schl 2000; Anm. d. Übers.) »des Geistes ist«, auch wenn sich dieser Geist nur in Seufzern ausdrückt. Wichtig ist hier, dass die Gebete des Heiligen Geistes für uns immer »Gott gemäß« sind. Und weil sie immer mit Gottes Willen in Einklang stehen, sind sie immer zu unserem Besten. Das erklärt sehr viel, wie uns der nächste Vers offenbart.
8,28 Gott lässt »alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach seinem Vorsatz  berufen  sind«  d. h.  denen,  die ihn »lieben«. Das mag uns nicht immer so erscheinen. Wenn uns manchmal großer Kummer befällt oder wir etwas Tragisches, Enttäuschungen, Frustrationen oder den Tod lieber Angehöriger verkraften müssen, dann fragen wir uns, was daraus Gutes entstehen kann. Doch der folgende Vers gibt uns die Antwort: Alle Dinge, die unter Gottes Zulassung in unser Leben kommen, sind dazu da, uns in das Bild seines Sohnes zu verwandeln. Wenn wir das erkennen, dann verschwindet das Fragezeichen aus unseren Gebeten. Unser Leben wird nicht durch unpersönliche Mächte wie Zufall, Glück oder Schicksal, sondern durch unseren wunderbaren, persönlichen Herrn bestimmt, der »zu sehr liebt, um unfreundlich zu sein, und zu weise ist, um sich irren zu können«.
8,29 Nun spürt Paulus den majestätischen Linien des göttlichen Planes nach, demzufolge viele Söhne zur Herrlichkeit geführt werden sollen.
Zunächst hat Gott uns in der Ewigkeit vor aller Zeit schon »vorher erkannt«. Es geht dabei nicht um ein rein verstandesmäßiges Wissen. Was sein Wissen betraf, so kannte er bereits jeden, der je geboren werden würde. Doch sein Vorherwissen umfasste nur diejenigen, die er »vorherbestimmt hat, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein«. Deshalb war es ein Wissen mit einem Ziel, das niemals verfehlt werden konnte. Es ist eine unzureichende Feststellung, wenn man sagt, dass Gott diejenigen »vorher erkannt« hat, von denen er wusste, dass sie eines Tages bereuen und glauben würden. In Wirklichkeit ist es sein Vorherwissen, das schließlich die Buße und den Glauben sicher stellt.
Dass gottlose Sünder eines Tages durch ein Wunder der Gnade in das Bild Christi verwandelt werden, ist eine der erstaunlichsten Wahrheiten der göttlichen Offenbarung. Natürlich geht es hier nicht darum, dass wir je die Eigenschaften Gottes haben oder Christus im äußeren Erscheinungsbild ähneln. Vielmehr werden wir in moralischer Hinsicht ihm gleichen, absolut frei von der Sünde, und werden wie er einen verherrlichten Leib haben.
An diesem herrlichen Tag wird er »der Erstgeborene … unter vielen Brüdern« sein. »Erstgeborener« bedeutet hier, dass er der Erste im Rang oder in der Ehrenstellung ist. Er wird nicht Einer unter Gleichen, sondern der Eine sein, der den Platz höchster Ehre unter seinen Brüdern und Schwestern einnimmt.
8,30 Jeder, der von Ewigkeit her »vorherbestimmt« ist, ist gleichzeitig »auch berufen«. Das bedeutet, dass er nicht nur das Evangelium hört, sondern es auch annimmt. Daher haben wir hier einen wirksamen Ruf. Alle sind gerufen, denn mit dem Ruf Gottes (der auf einer rechtskräftigen Grundlage ergeht) ist jeder gemeint. Doch nur wenige nehmen diesen Ruf an, und das ist der wirksame (die Bekehrung verursachende) Ruf Gottes. Alle, die dem Ruf folgen, sind »auch gerechtfertigt«. Ihnen wird eine absolut gerechte Stellung vor Gott gegeben. Sie sind durch die Verdienste Christi mit der Gerechtigkeit Gottes gekleidet und können nur so in die Gegenwart des Herrn gelangen.
Diejenigen, die »gerechtfertigt« sind, die sind »auch verherrlicht«. Eigentlich sind wir noch nicht verherrlicht, doch die Verherrlichung ist so sicher, dass Gott hier die Vergangenheitsform wählen kann, um die Tatsache zu beschreiben. Die Verherrlichung ist uns so sicher, als ob wir sie schon erhalten hätten! Das ist eine der wichtigsten Stellen des Neuen Testaments über die Heilsgewissheit der Gläubigen. Denn von jeder Million Menschen, die von Gott »vorherbestimmt« sind, ist jeder Einzelne dieser Million »berufen«, »gerechtfertigt« und »verherrlicht«. Nicht einer wird fehlen! (vgl. den Ausdruck »alles« in Joh 6,37).
8,31 Wenn wir diese unzerbrechlichen Glieder in der goldenen Kette der Erlösung überdenken, dann ist die Schlussfolgerung zwingend! »Wenn Gott für uns ist«, in dem Sinne, dass er uns für sich auserwählt hat, dann kann niemand mehr erfolgreich »gegen uns«31 sein. Wenn die Allmacht für uns wirkt, dann kann keine Macht seinen Plan zerstören.
8,32 Er hat »doch seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben«. Welch wunderbare Worte! Wir dürfen nie zulassen, dass wir mit diesen Worten nicht mehr vertraut sind und ihr Glanz in unseren Augen schwindet oder ihre Kraft, uns zur Anbetung zu treiben, nachlässt. Als eine Welt mit einer verlorenen Menschheit einen sündlosen Stellvertreter als Retter brauchte, da hielt der große Gott des Universums seinen liebsten Schatz nicht zurück, sondern gab ihn um unsertwillen in einen schändlichen Tod.
Die Logik, die hinter diesem Vers steht, ist unwiderlegbar. Wenn Gott uns schon das größte Geschenk gemacht hat, gibt es dann irgendein kleineres Geschenk, das er noch zurückhalten würde? Wenn er schon den größten Preis bezahlt hat, wird er es dann scheuen, einen kleineren Preis zu geben? Wenn er sich solche Mühe gegeben hat, um uns zu erlösen, wird er uns dann je wieder fallen lassen? »Wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?«
»Die Sprache des Unglaubens«, sagte Mackintosh einmal, »spricht: ›Wie wird er?‹ Die Sprache des Glaubens spricht: ›Wie wird er nicht?‹«32
8,33 Wir befinden uns noch immer in einem Gerichtssaal, doch nun ist ein bemerkenswerter Wechsel eingetreten. Während der gerechtfertigte Sünder vor dem Gericht steht, wird der Ruf nach irgendwelchen weiteren Anklägern laut. Doch es gibt keine! Wie könnte es sie auch geben? Wenn Gott seine Erwählten schon gerechtfertigt hat, wer kann dann noch »Anklage erheben«?
Wenn wir in der Argumentation dieses Verses und der folgenden Verse die Worte »niemand, denn« vor jeder Antwort einfügen, dann wird alles klarer. So würde dieser Vers dann lauten: »Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben?« Niemand, denn »Gott ist es, der rechtfertigt«. Wenn wir diese Worte nicht ergänzen, dann könnte es so klingen, als ob Gott eine Anklage gegen seine Erwählten erhebt. Das wäre jedoch das genaue Gegenteil dessen, was Paulus hier feststellt!
8,34 Schon wieder eine Herausforderung! Ist denn jemand hier, der verurteilt werden müsste? Niemand, denn »Christus Jesus ist« für den Angeklagten »gestorben«, auferstanden und sitzt nun »zur Rechten Gottes« und tritt für ihn ein. Wenn der Herr Jesus, dem das ganze Gericht übergeben ist, den Angeklagten nicht verurteilt, sondern für ihn bittet, dann gibt es niemand anderen, der einen Grund hätte, ihn zu verurteilen.
8,35 Nun steht der Glaube noch einer letzten Herausforderung gegenüber: Ist jemand da, der den Gerechtfertigten »von der Liebe Christi« trennen kann? Nun wird nach allen widrigen Umständen gesucht, die bisher wirksam waren, auf anderen Gebieten des menschlichen Lebens Trennungen zu bewirken. Doch kein solcher Umstand ist zu finden. Weder der Dreschflegel der »Drangsal«, der fortwährend mit »Angst« und Anfechtung auf den Betreffenden herabfährt, noch das Ungeheuer der Verzweiflung, das Leib und Seele mit unerhörten Schmerzen plagt, sind dazu imstande. Dies gilt auch für die Brutalität der »Verfolgung«, die für diejenigen, die anderer Meinung sind, Leiden und Tod bereithält. Auch das dürre Schreckgespenst der »Hungersnot« (die den Betreffenden auszehrt, quält und bis zum Skelett abmagern lässt) ist dazu außerstande. Die »Blöße« kann es ebenso nicht, mit allem, was sie an Entbehrung, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit bedeutet. Auch die »Gefahr« kann es nicht, die Androhung schlimmster Gefahr für Leib und Leben. Auch das »Schwert«, der harte, kalte und todbringende Stahl, kann es nicht.
8,36 Wenn irgendetwas davon den Gläubigen von der Liebe Christi trennen könnte, dann hätte diese Trennung schon vor langer Zeit stattfinden müssen, weil der Christ in seinem irdischen Leben ständig den Tod vor Augen hat. Das meinte der Psalmist, als er sagte, dass wir wegen unserer Identifikation mit dem Herrn »den ganzen Tag … getötet« werden und wir wie »Schafe« sind, die geschlachtet werden (Ps 44,23).
8,37 Statt uns von Christi Liebe zu trennen, ziehen uns diese Probleme nur noch näher zu ihm. Wir sind nicht nur »Überwinder«, sondern »mehr als Überwinder«.33 Wir siegen nicht einfach nur über diese gewaltigen Mächte, sondern wir verherrlichen Gott damit, sind anderen ein Segen und tun uns selbst nur Gutes. Wir machen unsere Feinde zu Sklaven, die Gottes Plänen dienlich sind, statt Hindernisse auf unserem Weg zu sein.
Doch das alles vermögen wir nicht aus eigener Kraft, sondern nur »durch den, der uns geliebt hat«. Nur die Macht Christi verwandelt Bitterkeit in Süße, Schwachheit in Vollmacht, tragische Ereignisse in Siege und Leid in Segen.
8,38 Der Apostel hat seine Suche noch nicht aufgegeben. Er durchforscht das gesamte Universum nach etwas, das uns möglicherweise von der Liebe Gottes trennen könnte. Er verwirft jedoch eine Möglichkeit nach der anderen. Es sind der »Tod« mit seinen Schrecken, das »Leben« mit seinen Verführungen und die »Engel« oder »Gewalten«, die übernatürliche Fähigkeiten und Wissen haben. Weiterhin ist es »Gegenwärtiges«, das über uns kommt, und »Zukünftiges«, das uns Böses ahnen lässt. Es sind »Mächte«, ob es menschliche Tyrannen oder engelsgleiche Widersacher sind.
8,39 Es ist »Höhe oder Tiefe«, alles, was sich in Raum und Zeit befindet, einschließlich der okkulten Mächte.34 Dann fügt Paulus noch an, damit er auch sicher ist, dass er nicht irgendetwas vergessen hat: »… noch irgendein anderes Geschöpf.«
Das Ergebnis der Suche des Paulus ist, dass er nichts finden kann, was uns »von der Liebe Gottes« »scheiden« kann, »die in Christus Jesus ist, unserem Herrn«. Kein Wunder, dass diese triumphalen Worte das Lied derer gewesen sind, die den Märtyrertod erlitten haben, und der Choral derer, die das Leben eines Märtyrers führten!
II. Die Heilszeiten (Haushaltungen): Das Evangelium und Israel (Kap. 9 – 11)
In den Kapiteln 9 – 11 hören wir die Antwort des Paulus auf den Einwand seines jüdischen Fragestellers: Werden durch das Evangelium, das die Erlösung sowohl Juden als auch Heiden zuspricht, nicht die Verheißungen Gottes an sein irdisches Volk, die Juden, aufgehoben? Die Antwort des Paulus umfasst die Vergangenheit Israels (Kap. 9), seine Gegenwart (Kap. 10) und Zukunft (Kap. 11).
Dieser Abschnitt betont stark die göttliche Souveränität und die Verantwortlichkeit des Menschen. Römer 9 ist einer der Schlüsselabschnitte der Bibel zur souveränen Erwählung Gottes. Das nächste Kapitel behandelt die ausgleichende Wahrheit – die Verantwortlichkeit des Menschen – und zwar mit demselben Nachdruck.
Exkurs zum Thema göttliche Souveränität und menschliche Verantwortlichkeit
Wenn wir sagen, Gott ist souverän, dann meinen wir, dass er der Herrscher des Universums ist und tun kann, was ihm gefällt. Indem wir das sagen, wissen wir, dass er aufgrund seiner Göttlichkeit niemals etwas Falsches, Sündiges oder Ungerechtes tun wird. Wenn wir also sagen, Gott ist souverän, dann lassen wir nur zu, dass Gott wirklich Gott ist. Wir sollten uns vor dieser Wahrheit weder fürchten noch uns für sie entschuldigen. Sie ist eine herrliche Wahrheit und sollte uns zur Anbetung führen.
In seiner Unumschränktheit hat Gott bestimmte Menschen erwählt, ihm zu gehören. Doch dieselbe Bibel, die uns Gottes souveräne Erwählung lehrt, lehrt auch die menschliche Verantwortlichkeit. Während es einerseits wahr ist, dass Gott Menschen zur Erlösung erwählt, ist es andererseits auch wahr, dass sie sich durch einen ausdrücklichen Willensakt entscheiden müssen, sich retten zu lassen. Die göttliche Seite der Erlösung wird in den Worten beschrieben: »Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen.« Die menschliche Seite findet sich in den Worten, die unmittelbar darauf folgen: »… und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« (Joh 6,37). Wir freuen uns als Gläubige, dass Gott uns in Christus vor Grundlegung der Welt erwählt hat (Eph 1,4). Doch wir glauben genauso sicher, dass derjenige, der will, das Wasser des Lebens umsonst nehmen darf (Offb 22,17). D. L. Moody hat diese zwei Wahrheiten so veranschaulicht: Wenn wir zur Tür der Erlösung kommen, dann sehen wir die Einladung: »Wer zu mir kommen will.« Wenn wir die Tür durchschritten haben, sehen wir zurück und sehen die Worte: »Auserwählt nach Vorkennt nis Gottes« über der Tür. So stehen wir der Wahrheit der menschlichen Ver antwortlichkeit gegenüber, wenn wir zur Tür der Erlösung kommen. Die zur Fam ilie Gottes Gehören den kennen die Wahrheit der souveränen Erwählung. Sie sind bereits durch diese Tür eingetreten.
Wie kann Gott nun einzelne Menschen erwählen, dass sie zu ihm gehören, und gleichzeitig ein allgemeines Angebot der Erlösung an alle Menschen ergehen lassen? Wie können wir diese Wahrheiten miteinander vereinbaren? Tatsächlich können wir das nicht. Für den menschlichen Geist besteht hier ein Widerspruch. Doch die Bibel lehrt beide Wahrheiten, deshalb sollten wir sie glauben und eingestehen, dass die Schwierigkeiten bei unserem begrenzten Verstand liegen und nicht bei Gott. Diese beiden Aspekte der gleichen Wahrheit sind wie zwei parallele Linien, die sich nur in der Unendlichkeit schneiden.
Einige Ausleger haben versucht, die souveräne Erwählung und die menschliche Verantwortlichkeit zu kombinieren, indem sie sagen, dass Gott vorher wusste, wer dem Heiland vertrauen würde. Dies sind dann diejenigen, die er erwählt hat. Sie legen ihrer Aussage Römer 8,29 (»Denn die er zuvor ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt«; Schl 2000) und 1. Petrus 1,2 zugrunde (»auserwählt nach Vorkenntnis Gottes«). Doch damit wird die Tatsache übersehen, dass Gottes Vorherwissen entscheidend ist. Es ist nicht einfach so, dass er im Voraus weiß, wer dem Heiland vertrauen wird, sondern dass er das Ergebnis im Voraus bestimmt, indem er gewisse Menschen zu sich zieht. Obwohl Gott einige Menschen zur Erlösung erwählt, erwählt er niemanden zur Verdammnis. Um es anders auszudrücken, obwohl die Bibel die göttl iche Erwählung lehrt, so lehrt sie doch nie die göttliche Ablehnung. Man mag nun einwenden: »Wenn Gott einige zum Segen erwählt, dann erwählt er doch notwendigerweise die anderen zur Verdammnis.« Doch das stimmt so nicht! Die gesamte Menschheit wäre durch die eigenen Sünden dem ewigen Tod verfallen, und nicht durch irgendeine willkürliche Bestimmung Gottes. Wenn Gott es zulassen würde, dass alle in die Hölle gehen – und das hätte er gerechtermaßen tun können –, würden die Menschen nur das bekommen, was sie verdient haben. Die Frage lautet: »Hat der oberste Herr das Recht, sich herabzubeugen und eine Handvoll anderenfalls verlorener Menschen auszuwählen, um die Braut seines Sohnes zu werden?« Die Antwort lautet natürlich, dass er dieses Recht hat. Es läuft also auf Folgendes hinaus: Wenn Menschen verlorengehen, dann wegen ihrer Sünde und Auflehnung gegen Gott. Wenn Menschen jedoch gerettet werden, dann durch die souveräne, erwählende Gnade Gottes.
Für den Erretteten sollte das Thema der völlig freien Erwählung durch Gott die Ursache für unaufhörliches Staunen sein. Der Gläubige blickt um sich und sieht Menschen, die einen besseren Charakter haben als er selbst, bessere Anlagen, und fragt sich: »Warum hat der Herr ausgerechnet mich erwählt?« Tausend and’re sind im Dunkeln warum, Herr, erwählst du mich? Ja, ich höre deine Stimme, will dir folgen ewiglich! Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals von Isaac Watts Die Wahrheit der Erwählung sollte nicht von Unerretteten als Ausrede für ihren Unglauben missbraucht werden. Sie dürfen nicht sagen: »Wenn ich nicht erwählt bin, dann kann ich doch auch nichts daran ändern.« Sie können nur herausfinden, ob sie erwählt sind, wenn sie ihre Sünden bereuen und den Herrn Jesus Christus als Heiland annehmen (1. Thess 1,4-7). Auch sollte die Wahrheit von der Erwählung nicht von Christen missbraucht werden, um mangelnden evangelistischen Eifer zu rechtfertigen. Wir dürfen nicht sagen: »Wenn sie erwählt sind, dann werden sie sowieso gerettet.« Nur Gott kennt diejenigen, die erwählt sind. Uns ist aufgetragen, das Evangelium der ganzen Welt zu predigen, denn Gottes Ang ebot der Erlösung ist eine echte Einladung an alle Menschen. Menschen lehnen das Evangelium wegen der Härte ihres Herzens ab, und nicht weil Gottes allgemeine Einladung etwa nicht so gemeint war. Wir müssen zwei Gefahren im Zusammenhang mit diesem Thema vermeiden. Die erste besteht darin, nur eine Seite der  Wahrheit  zu  betonen  –  z. B.  an  Gottes unumschränkte Erwählung zu glauben und zu leugnen, dass der Mensch im Zusammenhang mit seiner Erlösung irgendeine verantwortliche Entscheidung zu treffen hat. Die andere Gefahr besteht darin, dass wir die eine Wahrheit auf Kosten der anderen überbetonen. Der schriftgemäße Ansatz lautet, an Gottes souveräne Erwählung und gleichzeitig ebenso sehr an die menschliche Verantwortlichkeit zu glauben. Nur so bleiben diese Lehren in ihrer ordnungsgemäßen biblischen Ausgewogenheit erhalten. Nun wollen wir uns wieder dem Kapitel 9 zuwenden und folgen dem geliebten Apostel, wie er dieses Thema entfaltet. A. Israels Vergangenheit (Kap. 9)
9,1 Als Paulus darauf bestand, dass die Erlösung sowohl für Heiden als auch Juden gilt, war er scheinbar ein Verräter Israels. Deshalb bekräftigt er hier seine Hingabe an das jüdische Volk mit einem feierlichen Eid. Er sagt »die Wahrheit«. Er lügt nicht. Sein »Gewissen« gibt ihm zusammen mit dem »Heiligen Geist … Zeugnis« und bestätigt die Wahrheit seiner Aussagen.
9,2 Wenn er an Israels herrliche Berufung denkt und daran, dass es jetzt von Gott abgelehnt wird, weil es den Messias abgelehnt hat, dann verspürt er »große Traurigkeit … und unaufhörl ichen Schmerz in« seinem »Herzen«.
9,3 Er würde sich sogar wünschen, »verflucht zu sein« oder von Christus getrennt, wenn er nur seine jüdischen Brüder retten könnte, indem er seine eigene Erlösung verwirkt. In dieser harten Aussage der Selbstverleugnung finden wir die höchste Form menschlicher Liebe – diejenige, die das eigene Leben für seine Freunde hingibt (Joh 15,13). Und wir spüren hier die enorme Last des Anliegens eines bekehrten Juden, der die Hinwendung seines Volkes zu Christus wünscht. Das erinnert uns an das Gebet des Mose für sein Volk: »Und nun, wenn du doch ihre Sünde vergeben wolltest! Wenn aber nicht, so lösche mich denn aus deinem Buch, das du geschrieben hast, aus« (2. Mose 32,32).
9,4 Während Paulus hier über sein Volk weint, sehen wir in einer Rückschau all die herrlichen Vorrechte dieses Volkes. Es geht um »Israeliten«, Glieder des alten und von Gott erwählten Volkes. Gott hat dieses Volk in die Sohnesstellung gebracht  (2. Mose  4,22)  und  es  aus Ägypten befreit (Hos 11,1). Er war für Israel  wie  ein  Vater  (5. Mose  14,1),  und Ephraim war sein Erstgeborener. (Jer 31,9; Ephraim ist hier eine andere Bezeichnung für das Volk Israel.)
Die Schechina oder Wolke der »Herrlichkeit« stand für Gottes Gegenwart in ihrer Mitte, die sie führte und beschützte. Mit Israel und nicht mit den Heiden hatte Gott seine »Bündnisse« geschlossen.  So  hat  er  z. B.  mit  Israel  den  Bund der Landverheißung geschlossen, der dem Volk das Land vom Strom Ägyptens bis zum Euphrat zusagte, (1. Mose 15,18). Und mit Israel wird er noch einen neuen Bund aufrichten und verheißt ihnen »ewigen Bestand, zukünftige Bekehrung und den Segen eines bußfertigen Israels« (Jer 31,31-40).35
Es war Israel, dem die »Gesetzgebung« geschenkt wurde. Dieses Volk - und nur dieses Volk - war der Empfänger. Die detaillierten Rituale und der »Gottesd ienst« in der Stiftshütte und im Tempel waren Israel gegeben, ebenso wie das Priestertum.
Zusätzlich zu den oben erwähnten Bündnissen hatte Gott Israel unzählige »Verheißungen« gegeben, in denen er dem Volk Schutz, Frieden und Reichtum verheißt.
9,5 Die Juden beanspruchen mit Recht die Patriarchen für sich – Abraham, Isaak, Jakob und die zwölf Söhne Jakobs. Sie waren die Stammväter des Volkes. Und sie hatten das größte Privileg von allen – die Tatsache nämlich, dass der Messias selbst ein Israelit war, jedenfalls was seine menschliche Abstammung angeht. Dennoch ist er auch der Herrscher des Universums, nämlich »Gott, gepriesen in Ewigkeit«. Hier haben wir eine eindeutige Aussage über die Gottheit und Menschheit des Heilands. (Einige Übers etzungen der Bibel schwächen diese Aussage ab.  So  heißt  es  z. B.  in  GN:  »…    und  zu ihnen zählt nach seiner menschl ichen Herkunft auch Christus, der versprochene Retter. Dafür sei Gott, der Herr über alles, in Ewigkeit gepriesen. Amen.« Von der griechischen Grammatik her ist diese Übersetzungsmöglichkeit zwar nicht ausgeschlossen, doch geistliche Unters cheidungskraft wird die konservative  Wiedergabe  in  Elb,  ER,  LU 1912, LU 1984, Schl 2000 etc. beim Vergleich mit anderen Schriftstellen bevorzugen.36)
9,6 Der Apostel sieht sich nun einem ernsthaften theologischen Problem gegenüber. Wenn Gott Israel als seinem erwählten irdischen Volk Verheißungen gegeben hat, wie kann das dann mit der gegenwärtigen Beiseitesetzung Israels und der Tatsache, dass die Heiden in die Segensstellung Israels eingesetzt wurden, auf einen Nenner gebracht werden? Paulus ist der Ansicht, dass hier kein Versprechen Gottes gebrochen wurde. Er zeigt, dass Gott immer souverän erwählt und seine Verheißungen nicht nur auf direkte Abstammung beschränkt hat. Nur weil ein Mensch zum Volk »Israel« gehört, bedeutet das nicht, dass er auch schon ein Erbe der Verheißung ist. Innerhalb des Volkes Israel hat Gott einen treuen, gläubigen Überrest.
9,7 Nicht alle »Nachkommen Abrahams« werden als seine »Kinder« bezeichnet. Ismael z. B. gehörte zur »Nachkommenschaft« Abrahams. Doch die Verheißung lief über Isaak, nicht über Ismael. Die Verheißung Gottes lautete: »In Isaak wird dir eine Nachkommenschaft genannt  werden«  (1. Mose  21,12).  Wie wir schon in den Anmerkungen zu 4,12 gesagt haben, traf unser Herr Jesus dieselbe interessante Unterscheidung, als er mit den ungläubigen Juden in Johannes 8,33-39 sprach. Sie hatten zu ihm gesagt: »Wir sind Abrahams Nachkommenschaft« (V. 33). Jesus gibt das zu, indem er sagt: »Ich weiß, dass ihr Abrahams Nachkommen  seid«  (V. 37).  Doch  als  sie  sagten: »Abraham ist unser Vater«, da antwortete der Herr: »Wenn ihr Abrahams Kinder wäret, so würdet ihr die Werke Abrahams tun« (V. 39). Mit anderen Worten, sie stammten zwar von Abraham ab, aber sie hatten nicht Abrahams Glauben und waren deshalb auch nicht seine geistlichen Kinder.
9,8 Also zählt nicht die leibliche Abstammung. Das wahre Israel besteht aus denjenigen Juden, die von Gott erwählt wurden und denen er eine spezielle »Verheißung« gab, indem er sie als seine »Kinder« auszeichnete. Wir sehen dieses Prinzip der souveränen Erwählung im Fall von Isaak und Jakob.
9,9 Gott erschien Abraham und verhieß ihm, dass er zu einer vorherbestimmten »Zeit« wiederkommen wolle und »Sara … einen Sohn haben« werde. Dieser »Sohn« war verheißungsgemäß Isaak. Er war das echte Kind der »Verheißung« und auf übernatürliche Weise hervorgebracht.
9,10 Ein anderer Fall souveräner Erwählung ist der Fall Jakobs. »Isaak« und »Rebekka« waren die Eltern. Doch »Rebekka« gebar zwei Kinder, nicht nur eines.
9,11 Ehe »die Kinder … geboren waren«, erhielten die Eltern eine Ankündigung. Diese Ankündigung konnte demzufolge nichts mit den guten Werken eines der Kinder zu tun haben. Es war ausschließlich eine Sache der Erwählung Gottes, die auf seinem eigenen Willen beruhte und nicht auf dem Charakter oder den Errungenschaften der Betroffenen. »Der nach freier Auswahl gefasste Vorsatz Gottes« beinhaltet seine Absicht, sein Wohlwollen nach seinem eigenen souv eränen Willen und Wohlgefallen zu verteilen.
Dieser Vers beweist übrigens auch, dass der Gedanke falsch ist, Gott könne Jakob aufgrund seines Vorauswissens der Taten Jakobs erwählt haben. Es heißt hier ausdrücklich, dass die Wahl »nicht aufgrund von Werken« erfolgte!
9,12 Gottes Entscheidung war, dass »der Ältere … dem Jüngeren dienen« werde. Esau sollte gegenüber Jakob eine untergeordnete Stellung einnehmen. Jakob war erwählt zu irdischer Herrlichkeit und irdischen Vorrechten. Esau war der Erstgeborene der Zwillinge und hätte normalerweise die Ehre und Vorrechte gehabt, die ihm aus dieser Stellung erwuchsen. Doch Gottes Erwählung ging an ihm vorbei und ruhte auf Jakob.
9,13 Um Gottes souveräne Erwählung noch weiter zu unterstreichen, zitiert Paulus Maleachi 1,2.3: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.« Hier spricht Gott von den zwei Völkern, Israel und Edom, deren Oberhäupter »Jakob« und »Esau« waren. Gott hat Israel als Volk ausgezeichnet, dem er den Messias und das messianische Königreich verh eißen hat. Edom erhielt keine solche Verheißung. Stattdessen wurden »seine Berge zum Ödland gemacht und sein Erbbesitz den Schakalen der Steppe überl assen«  (Mal  1,3;  s. a.  Jer  49,17.18; Hes 35,7-9).
Obwohl es stimmt, dass das Zitat aus Maleachi 1,2.3 eher Gottes Handeln mit den Völkern als mit Einzelpersonen beschreibt, wird es hier verwendet, um Gottes souveränes Recht auch zur Erwählung einzelner Menschen zu unterstreichen.
Die Worte: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst«, müssen im Licht der souveränen Verordnung Gottes gesehen werden, die festlegte: »Der Ältere wird dem Jüngeren dienen.« Die Bevorzugung Jakobs wird hier als Akt der Liebe gesehen, während das Beiseitestellen Esaus im Vergleich dazu als Hass gewertet wird. Es ist nicht so, dass Gott Esau gehasst hätte, indem er eine harte, rachsüchtige Feindschaft gegen ihn hegte. Vielmehr geht es darum, dass er Esau weniger als Jakob liebte, wie sich in seiner freien Erwählung Jakobs zeigt. Dieser Abschnitt bezieht sich auf irdische Segnungen, und nicht auf das ewige Leben. Dass Gott Edom gehasst hat, bedeutet nicht, dass ein einzelner Edomiter nicht errettet werden könnte, genauso wenig wie seine Liebe zu Israel bedeutet, dass der einzelne Jude es nicht nötig hätte gerettet zu werden. (Man beachte außerdem, dass Esau einige irdische Segnungen empfangen hat, wie er selbst in 1. Mose 33,9 bezeugt.)
9,14 Der Apostel sah richtig voraus, dass seine Lehre von der souveränen Erwählung die verschiedensten Einwände hervorrufen würde. Die Menschen würden Gott noch immer anklagen, ungerecht zu sein. Sie sagen, dass Gott, wenn er einige erwählt, damit notwendigerweise die anderen verurteilt. Wenn Gott alles schon im Voraus bestimmt hat, könne man ihrer Argumentation zufolge nichts mehr dafür. Gott sei ungerecht, wenn er die Menschen dafür verurteilt. Paulus bestreitet jedoch energisch jede Möglichkeit, dass »bei Gott … Ungerechtigkeit« herrschen könnte. Doch statt Gottes Souveränität zu verwässern, um sie seinen Gegnern schmackhafter zu machen, wird er im Folgenden diese Tatsache noch einmal ohne Rechtfertigung energischer darstellen.
9,15 Zuerst zitiert er Gottes Wort an Mose: »Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und werde mich erbarmen, wessen  ich  mich  erbarme«  (s.  2. Mose 33,19). Wer kann behaupten, dass der Allerh öchste als der Herr des Himmels und der Erde nicht das Recht habe, zu »begnadigen« und sich zu »erbarmen«? Alle Menschen werden durch ihre eigene Sünde und ihren eigenen Unglauben verurteilt. Wenn sie sich selbst überlassen wären, würden alle verlorengehen. Neben der echten Einladung des Evangeliums an alle Menschen erwählt Gott einige dieser verurteilten Menschen, um seine Gnade über sie auszuschütten. Doch das bedeutet nicht, dass er einfach willkürlich einige auswählt und andere verurteilt. Sie sind schon verurteilt, weil sie ihr Leben lang gesündigt und das Evangelium abgelehnt haben. Diejenigen, die erwählt sind, können Gott für seine Gnade danken. Diejenigen, die verlorengehen, haben niemandem die Schuld zu geben als sich selbst.
9,16 Die Schlussfolgerung lautet also, dass die endgültige Bestimmung von Menschen oder Nationen nicht der Kraft ihres Willens oder der Macht ihrer Anstrengungen unterstellt ist, sondern der Gnade Gottes.
Wenn Paulus sagt, dass es »nicht an dem Wollenden« liegt, dann meint er damit nicht, dass der Wille eines Menschen nicht an seiner Erlösung beteiligt ist. Die Einladung ist ein deutlicher Appell an den Willen eines Menschen, wie sich in Offenbarung 22,17 zeigt: »Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst.« Jesus entlarvte die ungläubigen Juden dahin gehend, dass sie nicht gewillt waren, zu ihm zu kommen (Joh 5,40). Wenn Paulus sagt »noch an dem Laufenden«, dann will er damit nicht leugnen, dass wir uns bemühen müssen, durch die enge Pforte einzugehen (Lk 13,24). Ein gewisses Maß an geistlicher Ernsthaftigkeit und Bereitschaft ist notwendig. Doch der Wille und das Laufen des Menschen sind nicht die bestimmenden Faktoren: Die Erlösung kommt vom Herrn. Morgan sagt: Keine Bereitschaft unsererseits und auch kein eigenes Laufen kann für uns die Erlösung bewirken, die wir brauchen. Damit können wir auch nicht in die Lage versetzt werden, in die für uns bereitgehaltenen Segnungen einzutreten. … Von uns selbst aus haben wir nicht den Willen, erlöst zu werden, und bemühen uns auch nicht darum. Jede menschliche Erlösung beginnt bei Gott.37
9,17 Gottes Unumschränktheit zeigt sich nicht nur daran, dass er den einen Gnade erweist, sondern auch daran, dass er andere verhärtet. Der »Pharao« wird hier als Beispiel dafür genannt. Es wird hier nirgends angedeutet, dass der ägyptische Monarch schon von seiner Geburt an zu seinem Schicksal bestimmt war. Folgendes passierte: Als Erwachsener erwies er sich als böse, grausam und besonders störrisch. Statt den dringenden Warnungen Gottes zu gehorchen, verhärtete er sein Herz. Gott hätte ihn sofort vernichten können, doch das tat er nicht. Stattdessen erhielt Gott ihn am Leben, damit er an ihm seine »Macht« zeigen konnte und durch ihn der Name des Herrn weltweit bekannt würde.
9,18 Der Pharao verhärtete wiederholt sein Herz, und danach verhärtete Gott jeweils als Gerichtshandeln zusätzlich das Herz des Pharao. Dieselbe Sonne, die Eis zum Schmelzen bringt, härtet den Lehm. Dieselbe Sonne, die Wäsche bleicht, bräunt die Haut. Derselbe Gott, der denen, die ein zerbrochenes Herz haben, Gnade erweist, verhärtet die Unbußfertigen. Wer Gnade verwirft, verleugnet Gnade.
Gott hat das Recht, zu »begnadigen« wen er will, und zu »verhärten«, wen er will. Doch weil er Gott ist, handelt er niemals ungerecht.
9,19 Wenn Paulus auf Gottes Recht besteht, nach seinem Belieben zu handeln, so ruft das einen Einwand hervor: Wenn dem so ist, könne Gott niemanden »tadeln«, weil keiner bisher erfolgreich »seinem Willen widerstanden« hat. Für den Fragesteller ist der Mensch eine hilflose Figur auf Gottes Schachbrett. Nichts, was er sagen oder tun kann, wird sein Schicksal ändern.
9,20 Zunächst tadelt der Apostel die Unverschämtheit der Geschöpfe, die es wagen, ihren Schöpfer zu kritisieren. Dem begrenzten Menschen, der voller Sünden, Unwissenheit und Schwachheit ist, steht es keinesfalls zu, Gott oder die Weisheit und Gerechtigkeit seines Handelns zu hinterfragen.
9,21 Dann verwendet Paulus das Bild vom »Töpfer« und vom »Ton«, um die Souveränität Gottes zu verteidigen. »Der Töpfer« geht eines Tages in seine Werkstatt und sieht auf dem Boden einen Haufen formlosen Ton. Er hebt eine Handvoll davon auf, legt ihn auf die Töpferscheibe und formt ein wunderschönes »Gefäß«. Hat er das Recht dazu?
»Der Töpfer« ist natürlich Gott. Der »Ton« ist die sündige, verlorene Menschheit. Wenn »der Töpfer« die Menschen sich selbst überließe, dann würden sie alle in die Hölle kommen. Es wäre absolut gerecht und fair, wenn Gott sie sich selbst überließe. Doch stattdessen erwählt er sich in seiner Souveränität eine Handvoll Sünder, errettet sie durch seine Gnade und verwandelt sie in das Bild seines Sohnes. Hat er etwa kein Recht dazu? Bedenken Sie, dass er die anderen nicht willkürlich zur Hölle verurteilt. Sie sind dazu schon durch ihren Eigenwillen und Unglauben verurteilt.
Gott hat die absolute »Macht« und Autorität, ein »Gefäß zur Ehre« aus dem einen Teil des Tones zu formen »und das andere zur Unehre« aus einem anderen Teil. In einer Situation, in der jeder unwürdig ist, kann er seinen Segen über denjenigen ausschütten, den er erwählt. Auch seinen Segen kann er vorenthalten, wem immer er will. »Wo niemand ein Verdienst hat,« schreibt Barnes, »ist das Höchste, was man verlangen kann, dass er niemanden ungerecht behandelt«.38
9,22 Paulus zeigt nun »Gott«, den großen Töpfer, wie er einem scheinbaren Interessenkonflikt gegenübersteht. Einerseits will er »seinen Zorn erweisen« und »seine Macht« zeigen, indem er die Sünde bestraft. Doch andererseits wünscht er sich, »die Gefäße des Zorns, … die zum Verderben zubereitet sind«, geduldig zu behandeln. Das ist der Kontrast zwischen der gerechten Härte Gottes einerseits und seiner barmherzigen »Langmut« andererseits. Die Argumentation lautet folgendermaßen: »Wenn es absolut gerechtfertigt wäre, dass Gott die Sünder sofort bestraft, jedoch stattdessen große Geduld mit ihnen hat, wer kann ihn dann noch kritisieren?«
Man beachte sorgfältig die Form ulierung: »Gefäße des Zorns, … zum Verderben zubereitet«. »Gefäße des Zorns« sind diejenigen, deren Sünden sie dem »Zorn« Gottes unterwerfen. Sie werden durch ihre eigene Sünde, ihren Ungehorsam und ihre Auflehnung »zum Verderben zubereitet«, und nicht durch irgendeine willkürliche Bestimmung Gottes.
9,23 Wer kann sich beklagen, wenn es Gott gefällt, »den Reichtum seiner Herrlichkeit an den« Menschen kundzutun, denen er »Begnadigung« schenkt? Es sind die Menschen, die er »zur« ewigen »Herrlichkeit vorher« auserwählt hat. Hier erscheint uns der Kommentar von C. R. Erdman besonders hilfreich: Gottes Souveränität zeigt sich nie darin, Menschen zu verurteilen, die erlöst werden sollten, sondern führte vielmehr zu der Erlösung von Menschen, die eigentlich hätten verlorengehen sollen.39
Gott bereitet also keine Gefäße des Zorns zum Verderben zu, sondern »Gefäße der Begnadigung … zur Herrlichkeit«.
9,24 Paulus zeigt uns nun, dass die Gefäße der Begnadigung die Christen sind, die Gott sowohl aus der jüdischen wie auch aus der heidnischen Welt »berufen hat«. Das legt die Grundlage für vieles, das nun folgen soll – die Beiseitesetzung Israels bis auf einen Überrest und die Berufung der »Nationen« in eine Vorrechtsstellung.
9,25 Der Apostel zitiert zwei Verse aus Hosea, um zu zeigen, dass die Berufung der Heiden für die Juden keine Überraschung darstellen sollte. Der erste Vers ist Hosea 2,25: »Ich werde Nicht-meinVolk mein Volk nennen und die NichtGeliebte Geliebte.« Nun bezieht aber Hosea diese Worte eigentlich auf Israel und nicht auf die Heiden. Diese Worte gelten einer Zeit, zu der Israel als Gottes Volk und seine Geliebte wieder hergestellt sein wird. Doch wenn Paulus diesen Vers hier im Römerbrief zitiert, dann wendet er ihn auf die Berufung der Heiden an. Welches Recht hat Paulus, hier eine so grundlegende Veränderung vorzunehmen? Die Antwort lautet folgendermaßen: Der Heilige Geist, der zunächst das Wort inspiriert hat, ist berechtigt, es später neu auszulegen oder anzuwenden.
9,26 Der zweite Vers stammt aus Hosea 1,10: »Und es wird geschehen, an dem Ort, da zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, dort werden sie Söhne des lebendigen Gottes genannt werden.« Und wieder spricht der Vers im Zusammenhang des AT nicht von den Heiden, sondern beschreibt die zukünftige Wiederherstellung Israels. Doch Paulus wendet diesen Vers auf Gottes Annahme der Heiden als seine Söhne an. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Tatsache, dass der Heilige Geist aus dem AT zitierte Stellen im Neuen Testament anwenden kann, wie es ihm gefällt.
9,27 Die Beiseitesetzung Israels außer einem Überrest wird in 9,27-29 besprochen. »Jesaja« sagte voraus, dass nur ein kleiner Teil der Kinder Israel »errettet werden« würde, auch wenn das Volk selbst sehr groß werden würde (Jes 10,22).
9,28 Als der Herr sagte: »Denn indem er das Wort vollendet und abkürzt, wird der Herr es auf der Erde ausführen« (Jes 10,23), da bezog er sich auf die Eroberung Palästinas durch die Babylonier und Israels anschließendes Exil. Das »Wort« war Gottes Gerichtshandeln. Wenn Paulus diese Worte zitiert, sagt er damit, dass das, was Israel in der Vergangenheit geschehen ist, zu seiner Zeit wieder geschehen könnte und würde.
9,29 »Wie Jesaja vorher gesagt hat« (in einem vorhergehenden Teil seiner Prophezeiung): »Wenn nicht der Herr« der Heerscharen des Himmels einige Überlebende »übrig gelassen hätte, so« wäre Israel »wie Sodom« und »Gomorra« ausgelöscht worden (Jes 1,9).
9,30 »Was«, fragt Paulus, ist nun die Schlussfolgerung für das Zeitalter der Gemeinde? Die erste Schlussfolgerung betrifft »die Nationen, die« normalerweise »nicht nach Gerechtigkeit strebten«, sondern eher nach der Gesetzlosigkeit. Sie haben sicherlich auch keine eigene Gerechtigkeit angestrebt und dennoch durch den »Glauben« an den Herrn Jesus Christus »Gerechtigkeit« »erlangt«. Natürlich wurden nicht alle Heiden, sondern nur diejenigen gerechtfertigt, die an Christus geglaubt haben.
9,31 »Israel« dagegen, das die Gerechtigkeit aufgrund des Gesetzes zu erlangen suchte, hat nie ein »Gesetz« gefunden, durch das es die »Gerechtigkeit« hätte erlangen können.
9,32 Der Grund dafür ist klar. Israel weigerte sich zu glauben, dass die Rechtfertigung durch »Glauben« an Christus erlangt wird. Stattdessen versuchte es weiterhin, sich seine eigene Gerechtigkeit durch gute Werke zu verdienen. Die Isr aeliten »haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes«, nämlich an dem Herrn Jesus Christus.
9,33 Genau das hat der Herr durch Jesaja vorausgesagt. Das Kommen des Messias nach Jerusalem würde zwei Folgen haben. Für einige würde er »ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses« werden (Jes 8,14). Andere würden »an ihn« glauben und »nicht zuschanden werden«, keinen Anstoß nehmen und nicht enttäuscht werden (Jes 28,16). B. Israels Gegenwart (Kap. 10)
10,1 Den unbekehrten Juden waren die Lehren des Paulus äußerst widerwärtig. Sie sahen in ihm einen Verräter und Feind Israels. Doch hier versichert er seinen »Brüdern« unter den Gläubigen, denen er schreibt, worin sein größtes Ziel besteht. Würde er es erreichen, würde ihm das die größte Freude bringen: Er betet »zu Gott«, weil er will, »dass sie« (seine ungläubigen Landsleute) »errettet werden«.
10,2 Der Apostel bezeugt ihnen, »dass sie Eifer für Gott haben«, weit davon entfernt, sie als gottlos und ungläubig zu verurteilen. Das zeigt sich in ihrer sorgfältigen Beachtung aller Zeremonien sowie Riten des Judentums und in ihrer Intoleranz gegen jede gegenteilige Lehre. Doch »Eifer« reicht nicht, er muss mit Wahrheit gepaart sein. Anderenfalls kann er mehr Unheil als Gutes anrichten.
10,3 Genau da lag ihr Fehler. Sie »erkannten Gottes Gerechtigkeit nicht«, weil sie nicht wussten, dass Gott die »Gerechtigkeit« aufgrund des Glaubens und nicht aufgrund von Werken zurechnet. Sie versuchten, sich »ihre eigene« Gerechtigkeit durch Halten des Gesetzes aufzurichten. Sie versuchten, durch ihre eigenen Anstrengungen, ihren eigenen Charakter und ihre eigenen guten Werke Gottes Wohlgefallen zu erlangen. Sie weigerten sich hartnäckig, sich Gottes Plan zu unterwerfen, demzufolge er diejenigen gottlosen Sünder, die an seinen Sohn glauben, als gerecht ansehen kann.
10,4 Wenn sie nur an »Christus« glauben würden, dann hätten sie erkannt, dass er »des Gesetzes Ende … zur Gerechtigkeit« ist. Der Zweck des Gesetzes ist es, Sünde zu offenbaren, von der Sünde zu überführen und Sünder zu verurteilen. Es kann niemals Gerechtigkeit schenken. Die Strafe für Gesetzesbruch ist der Tod. Durch seinen Tod hat Christus die Strafe des Gesetzes, das der Mensch gebrochen hat, abgegolten. Wenn ein Sünder den Herrn Jesus Christus als seinen Heiland annimmt, dann hat ihm das Gesetz nichts mehr zu sagen. Durch den Tod seines Stellvertreters ist er dem Gesetz gestorben. Er hat das Gesetz und den vergeblichen Versuch, durch dieses Gesetz die Rechtfertigung zu erlangen, hinter sich gelassen.
10,5 In der Sprache des AT können wir den Unterschied zwischen den Worten des Gesetzes und den Worten des Glaubens hören. In 3. Mose 18,5 z. B. schreibt »Mose«, dass derjenige, der die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit tut, dadurch »leben« wird. Die Betonung liegt hier auf der praktischen Umsetzung, auf dem Tun des Betreffenden.
Natürlich legt uns diese Aussage ein Ideal vor, das kein sündiger Mensch erfüllen kann. Sie sagt einfach nur, dass der Mensch, wenn er das Gesetz vollkommen und dauernd halten könnte, nicht zum Tode verurteilt werden würde. Doch das Gesetz wurde Menschen gegeben, die schon Sünder und bereits verurteilt waren. Selbst wenn sie das Gesetz vom Tag der Gesetzgebung an vollkommen hätten halten können, wären sie noch immer verloren gewesen, weil Gott auch die Sünden der Vergangenheit bestrafen müsste. Jede Hoffnung darauf, dass Menschen die Gerechtigkeit durch das Gesetz erlangen, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
10,6 Um nun zu demonstrieren, dass die Sprache des Glaubens ganz anders ist als die des Gesetzes, zitiert Paulus zunächst 5. Mose 30,12.13: Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest:
»Wer wird für uns in den Himmel hinaufsteigen und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun?« Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest:
»Wer wird für uns auf die andere Seite des Meeres hinüberfahren und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun?«
Das Interessante an diesem Zitat ist die Tatsache, dass diese Verse in ihrem Zusammenhang in 5. Mose sich nicht auf den Glauben und das Evangelium beziehen, sondern auf das Gesetz, und zwar insbesondere auf das Gebot, von ganzem Herzen und von ganzer Seele zum Herrn umzukehren (5. Mose 30,10b). Gott sagt, dass das Gesetz weder verborgen noch fern oder unerreichbar ist. Der Mensch muss nicht »in den Himmel hinaufsteigen« oder das Meer überqueren, um es zu finden. Es ist nahe und wartet darauf, dass man ihm gehorcht.
Doch der Apostel Paulus nimmt hier diese Worte und wendet sie auf das Evangelium an.
Er sagt, dass die Sprache des Glaubens einen Menschen nicht dazu auffordert, »in den Himmel« hinaufzusteigen, um »Christus herabzuführen«. Erstens wäre das ausgesprochen unmöglich, aber es wäre zweitens auch völlig unnötig, weil Christus schon durch seine Menschwerdung auf die Erde gekommen ist!
10,7 Beim Zitieren von 5. Mose 30,13 verändert der Apostel den Text: »Wer wird für uns auf die andere Seite des Meeres hinüberfahren?«, hieß es dort. Nun sagt er: »Wer wird in den Abgrund hinabsteigen?« Er will damit sagen, dass das Evangelium die Menschen nicht auffordert, in das Grab »hinabzusteigen«, um »Christus aus den Toten heraufzuführen«. Das wäre nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig, weil Christus schon aus den Toten auferstanden ist. Man beachte, dass wir in Kapitel 10,6.7 die beiden Lehren über Christus finden, die ein Jude am schwersten akzeptieren kann – nämlich seine Menschwerdung und seine Auferstehung. Und doch muss ein Jude diese beiden Wahrheiten annehmen, um erlöst zu werden. Wir werden beiden noch einmal in Kapitel 10,9.10 begegnen.
10,8 Wenn das Evangelium den Menschen nicht befiehlt, etwas Menschenunmögliches oder etwas zu tun, das der Herr schon längst vollbracht hat, »was sagt« es dann?
Wieder greift Paulus einen Vers aus 5. Mose  30  auf,  um  zu  sagen,  dass  das Evangelium »nahe«, erreichbar und verständlich ist. Der Betreffende kann es in vertrauten Worten ausdrücken (»in deinem Mund«). Er kann es mit seinem menschlichen Geist einfach verstehen (»in deinem Herzen«; 5. Mose 30,14). Es ist die Gute Nachricht von der Erlösung durch den Glauben, die Paulus und die anderen Apostel gepredigt haben.
10,9 Hier finden wir das Evangelium »in der kürzesten Fassung«: Zuerst müssen Sie die Wahrheit der Menschwerdung akzeptieren, dass das Kind in der Krippe zu Bethlehem der Herr des Lebens und der Herrlichkeit ist. Dazu gehört auch, dass der »Jesus« des Neuen Testaments der »Herr« (Jahwe) des AT ist. Zweitens müssen Sie die Wahrheit seiner Auferstehung mit allem annehmen, was damit zusammenhängt. »Gott« hat »ihn aus den Toten auferweckt« als Beweis dafür, dass Christus das Werk vollendet hat, das zu unserer Erlösung nötig war. Gott erwies mit seiner Auf erweckung, dass er dieses Werk in jeder Bez iehung angenommen hat. Mit dem »Herzen« zu glauben, bedeutet, dass man mit allen Geisteskräften, emotionalen Anl agen und Willensanstrengungen glaubt.
So bekennst »du mit deinem Mund Jesus als Herrn« und glaubst »in deinem Herzen, … dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat«. Damit macht man sich das Werk und die Person des Herrn Jesus Christus persönlich zu eigen. Das ist der errettende Glaube.
Oftmals erhebt sich die Frage: »Kann jemand gerettet werden, indem er Jesus als seinen Heiland annimmt, ohne ihn auch als Herrn anzuerkennen?« Die Bibel bestärkt niemanden, der mit Vorbehalten glaubt: »Ich werde Jesus als Retter annehmen, aber ich werde ihn nicht zum König über alles krönen.« Andererseits stehen diejenigen, welche die Unterwerfung unter Jesus als den Herrn als Heilsbedingung ansehen, vor dem Problem: »Bis zu welchem Grad muss man ihn als Herrn anerkennen?« Nur wenige Christen würden von sich sagen, dass sie auf diese Weise eine absolute und vollständige Hingabe an den Herrn vollzogen haben. Wenn wir das Evangelium weitersagen, dann müssen wir immer festhalten, dass Glaube die einzige Bedingung für die Rechtfertigung ist. Doch wir müssen sowohl Sünder als auch Heilige immer wieder daran erinnern, dass Christus der Herr ist (JahweGott) und als solcher anerkannt werden sollte.
10,10 Zur weiteren Erklärung schreibt Paulus: »Mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit.« Es geht nicht nur um eine intellektuelle Zustimmung, sondern um echte Annahme mit dem ganzen inneren Wesen. Wenn ein Mensch das tut, ist er sofort gerechtfertigt. Weiter: »Mit dem Mund wird bekannt  zum  Heil«,  d. h.  der  Gläubige  bekennt öffentlich seine Errettung, die er bereits erfahren hat. Das Bekenntnis ist keine Bedingung der Erlösung, sondern der zwangsläufige äußere Ausdruck des Geschehenen. »Wer Jesus lässt den Retter sein, bekennt ihn auch vor Groß und Klein.« Wenn ein Mensch etwas wirklich glaubt, dann will er es anderen mitteilen. Wenn also ein Mensch wiedergeboren wird, dann ist das eine zu wunderbare Erfahrung, als dass sie geheim gehalten werden könnte. Er wird für Christus Zeugnis geben.
Die Schrift geht davon aus, dass jemand, der gerettet ist, diese Errettung öffentlich bekannt machen wird. Beides gehört zusammen. So sagte Kelly: »Wenn es kein Bekenntnis zu Christus, dem Herrn, mit dem Mund gibt, dann können wir nicht von Erlösung sprechen, wie unser Herr sagte: ›Wer gläubig geworden und getauft worden ist, wird errettet werden.‹«40 Und Denney kommentiert: »Ein Herz, das glaubt zur Gerechtigkeit, und ein Mund, der bekennt zum Heil, sind keine zwei verschiedenen Dinge, sondern zwei Seiten der gleichen Medaille.«41 Es erhebt sich die Frage, warum das Bekenntnis in Vers 9 vor dem Glauben steht, während in Vers 10 der Glaube zuerst kommt, und dann erst das Bekenntnis. Die Antwort lässt sich leicht finden: In Vers 9 liegt die Betonung auf der Menschwerdung und der Auferstehung, und diese Lehren werden in ihrer chronologischen Reihenfolge aufgeführt. Zuerst kommt die Menschwerdung – Jesus ist der Herr. Dann kommt die Auferstehung – Gott hat ihn aus den Toten auferweckt. In Vers 10 liegt der Schwerpunkt auf der Reihenfolge der Erlösung des Sünders. Zuerst »glaubt« er, dann bekennt er seine Erlösung.
10,11 Der Apostel führt nun Jesaja 28,16 an, um zu betonen, dass »jeder, der an ihn« (d. h. an Jesus) »glaubt, … nicht zuschanden werden« wird. Der Gedanke an ein öffentliches Bekenntnis zu Christus könnte die Furcht vor Schande aufkommen lassen, doch das Gegenteil ist der Fall. Unser Bekenntnis zu ihm auf Erden führt dazu, dass er uns im Himmel bekennen wird. Wir haben eine Hoffnung, die nie enttäuscht werden wird. Das Wort »jeder« stellt die Verbindung mit dem Folgenden dar – nämlich dass Gottes herrliche Erlösung allen gilt, sowohl den Heiden als auch den Juden.
10,12 In Kapitel 3,23 lernten wir, dass es bezüglich der Erlösung keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden gibt, denn alle sind Sünder. Nun erfahren wir, dass es auch keinen »Unterschied« gibt, was die Tatsache betrifft, dass das Heil allen bereitsteht. Der Herr ist kein Gott nur für bestimmte Menschen, sondern »Herr über alle«. »Er ist reich« an Gnade und Barmherzigkeit »für alle, die ihn anrufen«.
10,13 Joel 3,5 wird hier zitiert, um die Allgemeingültigkeit des Evangeliums zu belegen. Man könnte sich kaum eine einfachere Aussage über den Heilsweg wünschen, als man in diesen Worten findet: »Jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden.« Der »Name des Herrn« steht hier für den Herrn selbst.
10,14 Doch solch ein Evangelium setzt eine allgemeine Verkündigung voraus. Welchen Nutzen hat eine Errettung, die den Heiden und den Juden angeboten wird, wenn sie davon nicht hören? Hier haben wir das Herzstück jeder christlichen Mission!
In einer Folge von dreimal »Wie?« (»wie werden sie … anrufen … glauben … hören ohne einen Prediger«) geht der Apostel über die Stufen zurück, die ihn zum Heil von Juden und Heiden geführt haben. Vielleicht wird es deutlicher, wenn wir die Reihenfolge folgendermaßen umkehren:
Gott sendet seine Diener. Sie predigen die Gute Nachricht vom Heil.
Die Sünder hören Gottes Angebot, in Christus ewiges Leben zu erhalten. Einige der Zuhörer glauben der Predigt.
Diejenigen, die glauben, rufen den Herrn an.
Diejenigen, die den Herrn anrufen, werden gerettet.
Hodge verweist darauf, welches Prinzip diesem Argument zugrunde liegt: Wenn Gott eine Absicht hat, stellt er auch die Mittel bereit, um diese Absicht zu erreichen.42 Der Vers ist, wie wir gesagt haben, die Grundlage der christlichen Miss ionsbewegung. Paulus verteidigt hier die Tatsache, dass er den Heiden das Evangelium gepredigt hat, eine Vorgehensweise, die die ungläubigen Juden für unentschuldbar hielten.
10,15 Gott ist derjenige, der sendet. Wir sind diejenigen, die »gesandt sind«. Was fangen wir nun mit diesem Sachverhalt an? Haben wir die »lieblichen Füße«, die Jesaja denen zugeschrieben hat, »die das Evangelium des Guten verkündigen« (Jes 52,7)? Jesaja schreibt von den lieblichen Füßen dessen,  d. h.  des  Messias. Hier in Vers 15 wird das »dessen« zu »derer«. Er kam vor fast 2000 Jahren mit »lieblichen Füßen«. Nun ist es unser Vorrecht und unsere Verantwortung, mit unseren »lieblichen Füßen« in eine verlorene und sterbende Welt zu gehen.
10,16 »Aber« Paulus schmerzt es fortwährend, dass das Volk Israel als Gesamtheit »dem Evangelium nicht gehorcht«. Jesaja hatte das schon vorhergesagt. Seine entsprechende Frage wird hier zitiert: »Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt?« (Jes 53,1). Die Frage verlangt nach der Antwort: »Nicht viele.« Als die Ankunft des Messias auf Erden verkündigt wurde, haben nicht viele positiv darauf reagiert.
10,17 Aus diesem Jesajazitat schließt Paulus, dass der Glaube, von dem der Prophet spricht, sich aus der gehörten »Verkündigung« ergibt und die »Verkündigung« dem »Wort« über den Messias entspringt. Der »Glaube« kommt zu den Menschen, wenn sie unsere Predigt über den Herrn Jesus Christus hören, die natürlich auf dem geschriebenen »Wort« Gottes beruht.
Doch mit den Ohren zu hören, reicht nicht aus. Man muss mit offenem Herzen und Sinn hören und gewillt sein, sich die Wahrheit Gottes zeigen zu lassen. Wenn das geschieht, dann wird man sehen, dass das Wort den Klang der Wahrheit enthält und die Wahrheit sich selbst bestätigt. Dann wird man glauben. Es sollte natürlich klar sein, dass das Hören, von dem hier die Rede ist, sich nicht auf das Hören mit den leiblichen Ohren beschränkt. Die Botschaft  könnte  z. B.  auch  gelesen werden. Deshalb bedeutet »hören« hier, das Wort zu empfangen, auf welchem Weg auch immer.
10,18 Wo liegt also das Problem? Haben nicht Juden und Heiden in gleicher Weise die Predigt des Evangeliums »gehört«? Ja, freilich. Paulus macht sich die Worte aus Psalm 19,5 zu eigen, um zu zeigen, dass sie es gehört haben. Er sagt: »Ja, gewiss. ›Ihr Schall ist hinausgegangen zu der ganzen Erde und ihre Reden zu den Grenzen des Erdkreises.‹« Doch das Erstaunliche hier ist, dass diese Worte nicht vom Evangelium reden. Sie beschreiben das allgemeine Zeugnis der Herrlichkeit Gottes, das Sonne, Mond und Sterne ablegen. Doch wie wir schon gesagt haben, Paulus benutzt diese Worte und sagt im Grunde, dass sie genauso für die weltweite Verkündigung des Evangeliums in seinen Tagen gelten. Durch die Inspiration des Geistes Gottes nimmt der Apostel oft Abschnitte des AT und wendet sie auf eine ganz andere Weise an. Derselbe Geist, der diese Worte inspiriert hat, ist gewiss berechtigt, sie auf andere Weise anzuwenden.
10,19 Die Berufung der Heiden und die Ablehnung des Evangeliums durch die Mehrheit der Juden sollte für die Angehörigen des Volkes »Israel« keine Überraschung sein. Ihre eigenen Schriften haben ihnen vorausgesagt, was geschehen würde. Gott hatte sie z. B. vorgewarnt, dass er sie »zur Eifersucht reizen« werde durch »ein Nicht-Volk« (die Heiden). Er hatte gesagt, dass er sie »über eine unverständige«, dem Götzendienst verfallene »Nation … erbittern« werde (5. Mose 32,21).
10,20 Mit noch kühneren Worten führt »Jesaja« an, dass der Herr von den Heiden »gefunden worden« ist, die ihn nicht suchten. Er ist denen »offenbar geworden«, die nicht nach ihm gefragt haben (Jes 65,1). Wenn man die Heiden als Ganzes betrachtet, haben sie nicht nach Gott gesucht. Sie gaben sich mit ihren heidnischen Religionen ganz zufrieden. Doch viele von ihnen waren empfänglich, als sie das Evangelium hörten. Im Verhältnis gesehen, haben mehr Heiden als Juden geglaubt.
10,21 Jesaja hat gerade beschrieben, wie Angehörige der Nationen zu Jahwe strömen. Diesem Bild stellt er die Tatsache gegenüber, wie der Herr den ganzen Tag mit ausgestreckten Händen dasteht und das Volk »Israel« in seine offenen Arme schließen will. Doch dabei schlagen ihm nur Ungehorsam und widerspenstige Weigerung entgegen. C. Israels Zukunft (Kap. 11)
11,1 Wie steht es nun um die Zukunft Israels? Stimmt es, wie einige lehren, dass Gottes Handeln mit Israel abgeschlossen und die Gemeinde nun das Israel Gottes ist? Gelten nun alle Verheißungen an Israel für die Gemeinde heute?43 Dieses Kapitel tritt von allen Bibelabschnitten dieser Ansicht am energischsten entgegen.
Die erste Frage des Paulus bedeutet: »Hat Gott etwa sein Volk« völlig »verstoßen?« Das heißt, ist jeder einzelne Israelit verstoßen? »Das sei ferne!« Es geht hier darum, dass Gott sein Volk zwar verworfen hat, wie in Kapitel 11,15 ausdrücklich gesagt wird, doch das bedeutet nicht, dass er alle verstoßen hat. Paulus selbst ist ein Beweis dafür, dass die Verwerfung nicht vollständig war. Schließlich war er doch »ein Israelit aus der Nachkommenschaft Abrahams« und »vom Stamm Benjamin«. Seine Herkunft als Jude war unangreifbar bewiesen.
11,2 Deshalb müssen wir den ersten Teil des Verses so verstehen: »Gott hat sein Volk nicht« vollkommen »verstoßen, das er vorher erkannt hat«. Die Situation gleicht der Lage zur Zeit Elias. Die große Masse des Volkes hatte sich von Gott zu den Götzen gewandt. Die Zustände waren so schlimm, dass Elia »gegen Israel« betete statt für Israel!
11,3 Er erinnerte den »Herrn« daran, wie sein Volk die »Propheten« zum Schweigen gebracht hatte, indem es sie tötete. Sie hatten Gottes »Altäre niedergerissen«. Es schien ihm, als dass er der einzige treue Fürsprecher für Gott und sein »Leben« unmittelbar in Gefahr sei.
11,4 Doch die Lage war nicht so finster und hoffnungslos, wie Elia befürchtete. Gott erinnerte den Propheten daran, dass er sich »siebentausend Mann« hatte »übrig bleiben lassen«, die sich standfest weigerten, dem Volk darin zu folgen, »Baal« anzubeten.
11,5 Was damals galt, trifft auch heute zu: Gott lässt nie zu, dass es keine Zeugen mehr für ihn gibt. Er hat immer einen treuen »Überrest«, der von ihm als besonderer Empfänger seiner Gnade auserwählt ist.
11,6 Gott erwählt die Angehörigen dieses Überrests nicht aufgrund ihrer »Werke«, sondern infolge seiner souverän erwählenden »Gnade«. Diese beiden Prinzipien – Werke und Gnade – schließen einander aus. Ein Geschenk kann man sich nicht verdienen. Was man ohne Bezahlung erhält, kann man nicht kaufen. Was man sich nicht erarbeitet hat, ist unverdient. Zum Glück beruhte Gottes Erwählung auf »Gnade« und nicht auf »Werken«, weil sonst niemand hätte erwählt werden können.
11,7 Die Schlussfolgerung lautet also, dass »Israel« nicht die Gerechtigkeit erlangen konnte, weil es versuchte, sie durch eigene Anstrengung statt durch das vollbrachte Werk Christi zu erreichen. Der Überrest, der von Gott auserwählt ist, konnte dagegen die Gerechtigkeit durch den Glauben an den Herrn Jesus erlangen. Das Volk wurde mit dem geschlagen, was wir »Blindheit als Gericht« nennen könnten. Die Weigerung, den Messias anzunehmen, führte dazu, dass die Angehörigen des Volkes immer weniger in der Lage und bereit waren, ihn anzunehmen.
11,8 Das ist genau die Entwicklung, die das AT vorausgesagt hat (Jes 29,10; 5. Mose 29,3). »Gott« hat sie in einen Zustand der »Schlafsucht« versetzt, in welchem sie geistliche Realitäten nicht mehr erkennen können. Weil sie sich weigerten, den Herrn Jesus als ihren Messias zu sehen, haben sie nun die Fähigkeit verloren, ihn zu »sehen«. Weil sie nicht auf die bittende Stimme Gottes hören wollten, wurden sie mit geistlicher Taubheit geschlagen. Dieses schreckliche Urteil besteht »bis auf den heutigen Tag«.
11,9 Auch »David« hat das Gericht über Israel vorausgesehen. In Psalm 69,23. 24 beschrieb er den verworfenen Heiland, wie er Gott auffordert, ihren »Tisch … zur Schlinge und zum Fallstrick« zu machen. Der »Tisch« steht hier für die gesamten Vorrechte und Segnungen, die Israel durch Christus empfangen hat. Was ihnen ein Segen sein sollte, ist den Israeliten zum Fluch geworden.
11,10 In diesem Psalmvers fordert der leidende Heiland Gott auf, »ihre Augen« zu verfinstern und ihren »Rücken« so zu beugen, dass sie als von einer großen Last Beschwerte erscheinen, die sich abmühen oder alt geworden sind.
11,11 Paulus stellt nun eine weitere Frage: »Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie fallen sollten?« In den zweiten Teil der Frage müssen wir noch die Worte endgültig oder für immer einsetzen. Sind sie gestolpert, damit sie fallen sollten und nie wiederaufstehen könnten? Der Apos tel bestreitet eine solche Vorstellung energisch. Gottes Ziel ist immer die Wiederherstellung des Sünders. Sein Ziel besteht darin, dass durch den Fall der Israeliten das »Heil« zu »den Nationen« kommen soll und so Israel zur »Eifersucht« gereizt wird. Diese »Eifersucht« soll Israel schließlich wieder zu Gott zurückbringen.
Paulus bestreitet jedoch nicht den Fall Israels, sondern beschreibt ihn in diesem Vers genau – »… sondern durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden«. Im nächsten Vers sagt er: »Wenn aber ihr Fall der Reichtum der Welt ist …« Doch er tritt der Vorstellung energisch gegenüber, dass Gottes Handeln mit Israel für immer abgeschlossen sei.
11,12 Die Folge der Ablehnung des Evangeliums durch Israel war, dass es als Volk beiseitegesetzt wurde und das Evangelium zu den »Nationen« gelangte. In dieser Beziehung bedeutete der »Fall« Israels den »Reichtum der Welt«, und der Verlust Israels ist der Gewinn der Heiden geworden.
Doch wenn das wahr ist, »wie viel mehr« wird dann die Wiederherstellung Israels ein Segen für die Welt sein! Wenn sich Israel am Ende der Großen Trübsal zum Herrn bekehrt, dann wird dieses Volk Segenskanal der Völker werden.
11,13 Der Apostel spricht hier die »Nationen«,  d. h.  die  Heiden,  an  (11,1324). Einige Ausleger sind der Ansicht, dass er zu den Heidenchristen in Rom spricht, doch diese Worte verlangen eine andere Zuhörerschaft – nämlich die heidnischen Nationen als solche. Es wird uns beim Verständnis dieses Abschnittes sehr helfen, wenn wir erkennen, dass Paulus von Israel als Volk und von den Heiden als solchen spricht. Er spricht nicht von der Gemeinde Gottes, sonst sähen wir uns der Möglichkeit gegenüber, dass die Gemeinde »herausgeschnitten« werden könnte (11,22), und das ist nicht schriftgemäß.
Weil Paulus »der Nationen Apostel« war, war es für ihn ganz natürlich, sehr offen zu ihnen zu sprechen. Damit erfüllte er nur seinen »Dienst«.
11,14 Er versuchte auch auf alle möglichen Arten, seine Landsleute »zur Eifersucht« zu »reizen«, damit er von Gott gebraucht werden könnte, »einige« von »ihnen« zu »erretten«. Er und wir wissen, dass er selbst niemanden hätte retten können. Doch der Gott des Heils macht sich so sehr mit seinen Dienern eins, dass er ihnen erlaubt, von sich Dinge zu behaupten, die nur er vollbringen kann.
11,15 Dieser Vers wiederholt das Argument von 11,12 mit anderen Worten. Als Israel – Gottes auserwähltes, irdisches Volk - beiseitegesetzt wurde, wurden die Heiden in die Vorrechtsstellung bei Gott eingesetzt. Somit empfingen sie im übertragenen Sinne die Versöhnung. Wenn Israel einst während des Tausendjährigen Reiches wiederhergestellt wird, dann wird dieser Vorgang einer weltweiten geistlichen Erneuerung bzw. einer Auferstehung gleichen.
Das kann man mit der Erfahrung Jonas verdeutlichen, der ein Bild für das Volk Israel war. Als Jona während des Sturms von den Schiffsleuten über Bord geworfen wurde, führte das zu einer Rettung bzw. Erlösung eines ganzen Schiffes voller Heiden. Doch als Jona wiederhergestellt war und in Ninive predigte, wurde eine ganze Stadt voller Heiden gerettet. Genauso hat die zeitweilige Beiseitesetzung Israels durch Gott dazu geführt, dass das Evangelium im Vergleich zu später relativ wenig Heiden verkündigt wurde. Doch wenn Israel einmal wiederhergestellt sein wird, dann werden Nichtjuden in großen Scharen in das Reich Gottes eingehen.
11,16 Nun gebraucht Paulus zwei Bilder. Das erste Bild beschreibt »das Erstlingsbrot« und den »Teig«, das zweite die »Wurzel« und die »Zweige«. Beim Bild der »Erstlingsbrotes« und des Teiges geht es darum, woraus das Entsprechende hergestellt wurde, nicht um die Frucht. In 4. Mose 15,19-21 lesen wir von einem Stück Teig, das dem Herrn als Hebopfer geheiligt war. Hier wird nun die Schlussfolgerung gezogen: Wenn das Teigstück für den Herrn geheiligt ist, dann ist aller anderer Teig, der mit diesem Teigstück erzeugt wird, ebenfalls heilig. Die Übertragung geschieht folgendermaßen: Das »Erstlingsbrot« ist Abraham. Er war in dem Sinne heilig, dass er für Gott ausgesondert wurde. Wenn das für ihn galt, dann traf das auch auf seine auserwählten Nachkommen zu. Sie wurden für eine äußerliche Vorrangstellung vor Gott ausgesondert.
Das zweite Bild handelt von der »Wurzel« und den »Zweigen«. »Wenn die Wurzel« ausgesondert wird, »so auch die Zweige«. Abraham ist in dem Sinne »die Wurzel«, dass er derjenige war, der von Gott auserwählt wurde, um der Stammvater einer neuen Gemeinschaft zu sein, die sich von den anderen Völkern unterscheiden sollte. Wenn Abraham ausgesondert war, dann waren es auch seine Nachkommen der auserwählten Linie.
11,17 Der Apostel führt nun seine Metapher von der »Wurzel« und den »Zweigen« weiter aus.
Die Zweige, die »ausgebrochen worden sind«, stellen ein Bild für den ungläubigen Teil der zwölf Stämme Israels dar. Weil sie den Messias abgelehnt haben, wurde ihnen ihre bevorrechtigte Stellung als Gottes auserwähltes Volk genommen. Doch nur »einige der Zweige« sind weggenommen worden. Ein Überrest des Volkes, darunter Paulus selbst, hatte den Herrn angenommen.
Der »wilde Ölbaum« steht für die Heiden, die hier als ein Volk gesehen werden. Sie wurden in den Ölbaum »eingepfropft«.
Die Heiden haben dadurch Anteil an »der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaumes«. Die Heiden haben nun dieselbe bevorrechtigte Stellung, die ursprünglich Israel gegeben war und die der gläubige Überrest Israels noch immer einnimmt. Im Blick auf dieses Bild ist die Erkenntnis wichtig, dass der Hauptstamm des Ölbaumes nicht Israel, sondern Gottes Segenslinie durch die Jahrhunderte ist. Wenn der Stamm Israel wäre, dann würden wir das seltsame Bild haben, dass Israel aus Israel ausgeschnitten und dann wiedereingepfropft würde. Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass der »wilde Ölbaum« nicht die Gemeinde ist, sondern die Heiden allgemein umfasst. Anderenfalls würde sich die Möglichkeit ergeben, dass echten Gläubigen die Vorrechtsstellung vor Gott wieder genommen werden könnte. Paulus hat jedoch schon gezeigt, dass das unmöglich ist (Kap. 8,38.39). Wenn wir sagen, dass der Stamm des Ölbaums Gottes Segenslinie durch die Jahrhunderte darstellt, dann erhebt sich die Frage: Was meinen wir dann mit dem Wort »Segenslinie«? Gott entschied sich, bestimmte Menschen auszuwählen, welche die Stellung der besonderen Nähe zu ihm einnehmen sollten. Sie sollten vom Rest der Welt abgesondert sein und mit besonderen Vorrechten gesegnet werden. Sie würden sich einer Stellung erfreuen, die wir heute als »Meistbegünstigtenstatus« bezeichnen könnten. In den verschiedenen geschichtlichen Zeitaltern gab es stets einen solchen Personenkreis, der Gott »besonders nah« war. Das Volk Israel stand am Anfang dieser Segenslinie. Es war das von alters her erwählte irdische Volk Gottes. Weil die Angehörigen dieses Volkes den Messias jedoch ablehnten, wurden »einige der Zweige ausgebrochen« und verloren so ihre Stellung als »bevorrechteter Sohn«. Die Heiden wurden in den Ölbaum »eingepfropft« und wurden mit den gläubigen Juden Teilhaber an »der Wurzel und der Fettigkeit« dieses Ölbaums. Die »Wurzel« deutet auf Abraham hin, mit dem die Segenslinie begann. Die »Fettigkeit« des Ölbaums bezieht sich auf seine Fruchtbarkeit – d. h. auf seine reiche Olivenernte und das Öl, das daraus gepresst wurde. Hier steht die »Fettigkeit« für die Vorrechte, die man durch die Vereinigung mit dem Ölbaum erhalten hat.
11,18 Doch die Heiden sollten »nicht« eine Haltung gegenüber den Juden einnehmen, als ob sie heiliger als diese wären, und sich auch nicht irgendwie ihrer eingebildeten Überlegenheit »rühmen«. Jedes derartige Rühmen übersieht die Tatsache, dass sie ursprünglich nicht zur Segenslinie gehörten. Vielmehr war es die Segenslinie, die sie dorthin versetzte, wo sie sich jetzt befinden, und ihnen damit ihre besondere Vorrechtsstellung gab.
11,19 Paulus nimmt vorweg, dass der fiktive heidnische Fragesteller, mit dem er hier diskutiert hat, »sagt«: »Die jüdischen ›Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich‹ und die anderen heidnischen Zweige ›eingepfropft‹ würden.«
11,20 Der Apostel gibt zu, dass diese Aussage teilweise stimmt. Die jüdischen Zweige »sind ausgebrochen worden«, und die Heiden wurden eingepfropft. Doch das ist »durch den Unglauben« Israels geschehen, und nicht aufgrund dessen, dass die Heiden irgendeinen besonderen Anspruch auf Gottes Gnade gehabt hätten. Die Heiden wurden eingepfropft, weil sie als Volk ihren Stand »durch den Glauben« hatten. Der Ausdruck: »Du aber stehst durch den Glauben«, scheint anzudeuten, dass Paulus von echten Gläubigen spricht. Doch das ist hier nicht notwendigerweise gemeint. Nur dadurch, dass die Heiden vergleichsweise mehr Glauben hatten als die Juden, konnten sie »durch den Glauben« stehen. Deshalb sagte Jesus zu einem heidnischen Hauptmann: »Selbst nicht in Israel habe ich so großen Glauben gefunden« (Lk 7,9). Und Paulus sagte später den Juden in Rom: »So sei euch nun kund, dass dieses Heil Gottes den Nationen gesandt ist; sie werden auch hören« (Apg 28,28). Man beachte: »Sie werden auch hören.« Aufs Ganze gesehen nehmen sie das Evangelium heute eher an als Israel. »Stehen« steht hier im Gegensatz zu fallen. Israel war aus seiner Vorrechtsstellung gefallen. Die Heiden sind nun an seiner Stelle eingepfropft worden.
Doch wer da steht, sehe zu, dass er nicht falle. Die Angehörigen der Nationen sollten sich nun nicht vor Stolz aufblähen, sondern sich vielmehr »fürchten«.
11,21 »Denn wenn Gott« nicht zögerte, »die natürlichen Zweige« aus der Segenslinie herauszuschneiden, dann haben wir keinerlei Grund anzunehmen, dass er die wilden Ölzweige unter ähnlichen Umständen »schonen« würde.
11,22 Deshalb sehen wir im Gleichnis vom Ölbaum zwei große, einander ent gegengesetzte Facetten des Charakters Gottes – seine »Güte« und seine »Strenge«. Seine »Strenge« zeigt sich dar in, dass er Israel aus seiner Vorrechtsstellung genommen hat. Seine »Güte« zeigt sich darin, dass er sich mit dem Evangelium den Heiden zugewandt hat (s. Apg 13,46; 18,6). Doch diese »Güte« dürfen wir nicht als selbstverständlich hinnehmen. Auch die Heiden könnten »herausgeschnitten« werden, wenn sie nicht weiterhin die relative Offenheit erkennen lassen, die der Heiland während seines irdischen Dienstes bei ihnen fand (Matth 8,10; Lk 7,9).
Man muss sich ständig vor Augen halten, dass Paulus nicht von der Gemeinde oder einzelnen Gläubigen spricht. Er spricht von den Heiden als Gesamtheit. Nichts kann je den Leib Christi von seinem Haupt trennen, und nichts kann einen Gläubigen von der Liebe Gottes scheiden, doch die Heidenvölker können aus ihrer gegenwärtigen bevorzugten Stellung wieder entfernt werden.
11,23 Und Israels Trennung wird nicht  endgültig  sein.  »Wenn  sie«  (d. h. die Angehörigen dieses Volkes) ihren nationalen »Unglauben« ablegen, dann gibt es keinerlei Grund dafür, warum Gott sie nicht in ihre ursprüngliche Vorrechtsstellung wiedereinsetzen sollte. Das ist für Gott durchaus möglich.
11,24 Ja, für Gott ist es viel naheliegender, Israel als sein bevorrechtetes Volk wiedereinzusetzen, als zuvor die Heiden in diese Stellung einzupfropfen! Der erstgenannte Vorgang wird viel einfacher vonstatten gehen als der letztere. Die Angehörigen des Volkes Israel stellten die ursprünglichen Äste des Baumes göttlichen Wohlwollens dar, und deshalb werden sie die »natürlichen Zweige« genannt. Die heidnischen Zweige stammten von einem »wilden Ölbaum«. Einen »wilden« Ölzweig in einen »edlen Ölbaum« einzupfropfen, ist »gegen die Natur« oder unnatürlich. Doch »natürliche Zweige« in ihren ursprünglichen »edlen Ölbaum« einzupfropfen, ist ein sehr natürlicher Vorgang.
11,25 Nun enthüllt der Apostel, dass die zukünftige Wiederherstellung Israels nicht nur möglich, sondern schon eine feststehende Tatsache ist. Was uns Paulus nun offenbart, ist ein »Geheimnis« – eine Wahrheit, die bisher unbekannt war. Die Wahrheit, die der auf sich allein gestellte Menschen intellektuell nicht hätte erfassen können, wird jetzt bekannt gemacht. Paulus erwähnt sie, damit die heidnischen Gläubigen sich »nicht … selbst für klug« halten und als stolze Christen auf die Juden herabblicken würden. »Dieses Geheimnis« besteht in Folgendem: »Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren.« Sie betrifft nicht das gesamte Volk, sondern nur den ungläubigen Teil. Diese »Verstockung« ist nur zeitweiliger Art. Sie wird andauern, »bis die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird«. »Die Vollzahl der Nationen« bezieht sich auf den Zeitpunkt, zu dem das letzte Glied der Gemeinde hinzugefügt und der vollständige Leib Christi in die himmlische Heimat entrückt wird. »Die Vollzahl« der Nationen ist etwas anderes als »die Zeiten« der Nationen (Lk 21,24). Die Vollzahl der Nationen fällt zeitlich mit der Entrückung zusammen. Der Ausdruck »die Zeiten der Nationen« bezieht sich auf die gesamte Periode, in der die Nationen über die Juden herrschen. Sie beginnt mit der Babylonischen Gefangenschaft (2. Chron 36,1-21) und endet mit der Wiederkunft Christi zur Herrschaft auf Erden.
11,26 Obwohl »Israels Blindheit« (LU 1912)  als  Form  des  Gerichts  bei  der Entrückung geheilt wird, bedeutet das nicht, dass sogleich ganz Israel gerettet ist. Während der Großen Trübsal werden sich Juden bekehren, doch der gesamte erwählte Überrest wird erst erlöst werden, wenn Christus als König der Könige und Herr der Herren auf die Erde wiederkommen wird.
Wenn Paulus sagt, dass »ganz Israel errettet werden« wird, dann meint er das ganze gläubige Israel. Der ungläubige Teil des Volkes wird bei der Wiederkunft Christi vernichtet werden (Sach 13,8.9). Nur diejenigen, die sagen: »Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn«, werden verschont werden und in das Reich eingehen.
Darauf bezog sich auch Jesaja, als er vom Erlöser sprach, der nach »Zion« kommt und die »Gottlosigkeiten von Jakob abwenden« wird. Man beachte, dass es hier nicht um das Kommen Christi nach Bethlehem, sondern nach »Zion« geht – d. h. um seine Wiederkunft.
11,27 Darauf wird auch in Jesaja 27,9 und Jeremia 31,33.34 Bezug genommen. Dort wird gesagt, dass Gott unter den Bedingungen des neuen »Bundes« Israels »Sünden wegnehmen« wird.
11,28 Deshalb können wir Israels gegenwärtige Stellung zusammenfassen, indem wir zunächst sagen, dass sie »hinsichtlich des Evangeliums … Feinde um« der Gläubigen »willen« sind. Sie sind in dem Sinne »Feinde« geworden, dass sie gegenwärtig verworfen, beiseitegesetzt und aus der Vorrechtsstellung Gottes entfernt worden sind, sodass das Evangelium nun zu den Heiden kommen konnte. Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit. »Hinsichtlich der Auswahl aber« sind sie »Geliebte um der Väter willen« – d. h. um Abrahams, Isaaks und Jakobs willen.
11,29 Es gibt einen Grund, warum sie noch immer geliebt sind: Gottes »Gnadengaben« und seine »Berufung« werden nämlich niemals widerrufen werden. Gott nimmt seine Gaben nicht zurück. Wenn er einmal eine bedingungslose Verheißung gegeben hat, dann wird er nie wieder hinter diese zurückgehen. Er gab Israel die besonderen Vorrechte, die in Kapitel 9,4.5 aufgelistet sind. Er berief Israel dazu, sein irdisches Volk zu sein (Jes 48,12), das von den anderen Völkern abgesondert ist. Nichts kann seine Pläne ändern.
11,30 Die Heiden waren »einst« ein ungezähmtes Volk voller »Ungehorsam«, doch als Israel den Messias und das Evangelium des Heils ablehnte, wandte Gott sich den Heiden in seinem »Erbarmen« zu.
11,31 Eine recht ähnliche Folge von Ereignissen wird sich in der Zukunft ergeben. Auf den »Ungehorsam« der Angehörigen des Volkes Israel folgt ihre »Begnadigung«, wenn sie durch die »Begnadigung« der neutestamentlichen Gläubigen zur Eifersucht gereizt werden. Einige lehren, dass die Juden durch die von Heiden erwiesene Gnade wiederhergestellt werden, doch wissen wir, dass dies nicht stimmt. Israels Wiederherstellung wird durch die Wiederkunft des Herrn Jesus herbeigeführt werden (s. 11,26.27).
11,32 Zunächst erhalten wir beim Lesen dieses Verses die Vorstellung, dass Gott willkürlich sowohl Juden als auch Heiden zum Unglauben verurteilt, sodass sie nichts dafür können. Doch darum geht es hier nicht. Der Unglaube war ihre eigene Sache. Der Vers will uns aber Folgendes sagen: Nachdem Gott sowohl Juden als auch Heiden als ungläubig erfunden hat, wird nun dargestellt, wie er sie beide gleichsam als Gefangene in diesem Zustand lässt, sodass es für sie keinen Ausweg mehr gibt, es sei denn, sie nehmen seine Heilsbedingungen an. Dieser »Ungehorsam« gab Gott die Möglichkeit, »alle« zu begnadigen, sowohl Juden als auch Heiden. Es geht hier nirgendwo um Allversöhnung. Gott hat die Heiden begnadigt und wird auch den Juden Gnade erweisen, doch damit wird nicht gleichzeitig jeder errettet. George Williams schreibt: Gott hat sowohl das jüdische Volk als auch die heidnischen Nationen geprüft. Da beide Personenkreise versagt haben, hat er sie in ihren Unglauben eingeschlossen, damit sie eindeutig ohne Verdienst sind und alle Ansprüche sowie Rechte auf göttliches Wohlwollen verwirkt haben. Damit kann er sie nun alle mit dem unaussprechlichen Reichtum seiner Gnade begnadigen.44
11,33 Dieser abschließende Lobpreis Gottes schaut auf den gesamten Brief und die darin entfalteten Wunder Gottes zurück. Paulus hat den wunderbaren Heilsplan dargelegt, durch den ein gerechter Gott gottlose Sünder rechtfertigen und dennoch gerecht bleiben kann. Er hat gezeigt, wie das Werk Christi Gott mehr Herrlichkeit und den Menschen mehr Segen gebracht hat, als sie durch Adams Sünde verloren haben. Er hat erklärt, wie die Gnade ein geheiligtes Leben ermöglicht, das im Rahmen des Gesetzes nie möglich war. Er hat die unzerreißbare Kette göttlicher Absichten vom Vorherwissen bis zur endgültigen Verherrlichung nachgezeichnet. Er hat die Lehre von der souveränen Erwählung vorgestellt, ebenso wie die dazugehörige Wahrheit der menschlichen Verantwortung. Und er hat die Gerechtigkeit und Harmonie von Gottes Handeln mit Israel und den Völkern während der verschiedenen Zeitalter nachgezeichnet. Nun konnte nichts angemessener sein, als mit einem Lied des Lobpreises und der Anbetung zu schließen.
»O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!« Der Reichtum Gottes! Er ist reich an Barmherzigkeit, Liebe, Gnade, Treue, Macht und Güte.
Die Weisheit Gottes! Sie ist unendlich, unausforschlich, unvergleichlich und unerschütterlich.
Die Erkenntnis Gottes! »Gott ist allwissend«, schreibt Arthur W. Pink, »er weiß und kennt alles: Alles, was möglich ist, alles, was wirklich ist, alle Vorgänge, alle Kreaturen, ob sie der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angehören.«45 Seine Entscheidungen sind »unausforschlich«: Sie sind für den menschlichen Verstand viel zu tief, als dass wir sie völlig verstehen könnten. Seine »Wege«, die sein Handeln in der Schöpfung, der Geschichte, der Erlösung und der Vor sehung erkennen lassen, gehen über unser begrenztes Einsichtsvermögen hinaus.
11,34 Ein erschaffenes Wesen kann »des Herrn Sinn« nur so weit erkennen, wie es ihm gefällt, sich zu offenbaren. Und sogar dann sehen wir wie in einem Spiegel, nämlich undeutlich (1. Kor  13,12).  Niemand  ist  in  der  Lage, Gott einen Rat zu geben. Er braucht unseren Rat nicht und hätte keinerlei Nutzen davon (s. Jes 40,13).
11,35 Niemand hat Gott je zu etwas verpflichtet (s. Hiob 41,3). Welche unserer Gaben könnte je den Ewigen in die Lage versetzen, uns etwas zurückerstatten zu müssen?
11,36 Der Allmächtige ist ein in sich selbst ruhendes Wesen. Er ist die Quelle alles Guten, er ist der aktive Erhalter und Lenker des Universums, und für ihn allein ist alles erschaffen worden. Alles ist gemacht worden, damit es ihm »Herrlichkeit« bringe.
Das möge immer so sein! »Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.« III. Unsere Verantwortung: Die Auswirkungen des Evangeliums auf unser alltägliches Leben (Kap. 12 – 16)
Der Rest des Römerbriefes beantwortet die Frage: Wie sollten die Gerechtfertigten nun in ihrem Alltag leben? Paulus beschäftigt sich mit unseren Pflichten gegenüber anderen Gläubigen, gegenüber unserer Gesellschaft, unseren Feinden, unserer Obrigkeit und unseren schwächeren Glaubensgeschwistern.
A. In persönlicher Hingabe (12,1.2)
12,1 Wer die »Erbarmungen Gottes«, wie sie uns in den Kapiteln 1 – 11 vorgestellt werden, ernsthaft und mit Bedacht betrachtet, kann nur eine Schlussfolgerung ziehen – wir sollten unsere »Leiber darstellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer«. Unsere »Leiber« stehen für alle unsere Glieder und – im weiteren Sinne – auch für unser Leben. Völlige Hingabe ist unser »vernünftiger Gottesdienst«. Ein »vernünftiger Gottesdienst« ist sie in folgender Hinsicht: Wenn der Sohn Gottes für mich gestorben ist, dann ist das Mindeste, das ich tun kann, für ihn zu leben. »Wenn Jesus Christus Gott ist und für mich starb«, sagte der bedeutende britische Sportler C. T. Studd, »dann kann für mich kein Opfer für ihn zu groß sein.«46 Isaac Watts’ großartiges Lied geht in dieselbe Richtung: »Was ich zum Dank auch gebe Dir, / die ganze Welt ist noch zu klein; / der Dank für diese Liebe hier / kann nur mein eignes Leben sein.«
»Vernünftiger Gottesdienst« kann auch mit »geistlicher Gottesdienst« übersetzt werden. Als Gläubige und Priester kommen wir nicht mit den Leibern geschlachteter Tiere, sondern mit dem geistlichen Opfer eines hingegebenen Lebens zu Gott. Wir opfern ihm auch unseren Dienst (Kap. 15,16), unseren Lobpreis (Hebr 13,15) und unser Eigentum (Hebr 13,16).
12,2 Zweitens fordert uns Paulus auf, »nicht … dieser Welt … gleichförmig« zu werden. Phillips drückt es aus: »Lasst euch nicht von der Welt um euch her ihren Stempel aufdrücken.« Wir kommen in das Reich Gottes und sollten die Denkmuster und den Lebensstil der Welt hinter uns lassen.
Mit dem Wort »Welt« (wörtlich: Zeitalter), wie es hier verwendet wird, ist die gottlose menschliche Ordnung gemeint. Sie ist ein System, das der Mensch aufgebaut hat, um ohne Gott glücklich zu werden. Es handelt sich dabei um ein Reich, das Gott entgegengesetzt ist. Der Gott und Fürst dieser Welt ist Satan (2. Kor 4,4; Joh 12,31; 14,30; 16,11). Alle unbekehrten Leute sind seine Untertanen. Er versucht, die Menschen durch die Begierde der Augen, die Begierde des Fleisches und den Hochmut des Lebens anzuziehen und festzuhalten  (1. Joh  2,16).  Die  Welt  hat ihre eigene Politik, ihre Kunst, ihre Musik, ihre Religion, ihre Vergnügungen, ihre Denkmuster und ihre Gewohnheiten. Sie versucht, jeden dazu zu bringen, ihre Kultur und ihre Bräuche zu übernehmen. Unangepasste werden gehasst – wie Christus und seine Nachfolger. Christus starb, um uns von »dieser Welt« zu erlösen. Die Welt ist uns gekreuzigt, und wir der Welt. Es wäre eine schlimme Untreue dem Herrn gegenüber, wenn die Gläubigen die Welt lieben würden. Jeder, der die Welt liebt, ist ein Feind Gottes.
Gläubige sind genauso wenig von der Welt, wie Christus es ist. Dennoch werden sie in die Welt gesandt, um ihr zu bezeugen, dass ihre Werke schlecht sind und die Erlösung für alle zur Verfügung steht, die an den Herrn Jesus Christus glauben. Wir sollten nicht nur von der Welt getrennt sein, sondern wir sollten auch »verwandelt« werden »durch die Erneuerung des Sinnes«. Das bedeutet, dass wir so denken sollen, wie Gott gemäß der biblischen Offenbarung denkt. Dann können wir in unserem Leben direkte Führung Gottes erfahren. Und wir werden erleben, dass sein Wille nicht unangenehm und hart ist, sondern »das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene«.
Hier haben wir drei Schlüssel zum Willen Gottes. Der erste ist ein hingegebener Leib, der zweite ein Leben in Absonderung und der dritte ein verwandelter Sinn. B. Im Dienst durch geistliche Gaben (12,3-8)
12,3 Paulus spricht hier »durch die Gnade, die« ihm als Apostel des Herrn Jesus Christus »gegeben wurde«. Er wird sich mit den verschiedenen Formen richtigen und falschen Denkens befassen. Zuerst sagt er, dass es am Evangelium nichts gibt, das einen Überlegenheitskomplex fördern würde. Er drängt uns bei der Ausübung unserer Gaben zur Demut. Wir sollten niemals übertriebene Vorstellungen von unserer Unersetzlichkeit haben. Auch sollten wir andere nicht beneiden. Wir sollten lieber erkennen, dass jeder Mensch einzigartig ist und wir alle eine wichtige Funktion für den Herrn zu erfüllen haben. Wir sollten mit dem Platz zufrieden sein, den Gott uns im Leib »zugeteilt« hat. Wir sollten versuchen, unsere Gaben mit aller Kraft auszuüben, die Gott uns schenkt.
12,4 Der menschliche »Leib« hat »viele Glieder«, doch jedes muss eine einzigartige Funktion ausüben. Die Gesundheit und das Wohlergehen des ganzen Leibes hängen vom richtigen Funktionieren jedes einzelnen Gliedes ab.
12,5 So ist es auch im »Leib in Christus«. Es besteht Einheit (ein »Leib«), Vielfalt (»die vielen«) und Abhängigkeit voneinander (»Glieder voneinander«). Jede Gabe, die wir haben, ist nicht für den eigenen, selbstsüchtigen Gebrauch oder dafür gedacht, uns selbst darzustellen, sondern zur Förderung des Leibes zugeeignet. Keine Gabe ist sich selbst genug, und keine ist unnötig. Wenn wir all das erkennen, dann denken wir besonnen (12,3).
12,6 Paulus gibt uns nun Anweisungen für die Verwendung einzelner »Gnadengaben«. Die Liste führt nicht alle auf. Die einzelnen Gaben werden eher beispielhaft genannt, als dass alle ausführlich besprochen würden.
Unsere »Gnadengaben« unterscheiden sich »nach der uns verliehenen Gnade«. Mit anderen Worten, Gottes »Gnade« teilt verschiedenen Menschen unterschiedliche »Gnadengaben« aus. Und Gott gibt auch die notwendige Kraft oder Fähigkeit, um die Gabe zu nutzen, die wir haben. Deshalb sind wir als gute Verwalter Gottes verantwortlich, diese uns von Gott zugeeigneten Gaben auch auszuüben.
Diejenigen, die die Gabe der »Weissagung« oder »Prophetie« haben, sollten sie »nach dem Maß des Glaubens« einsetzen. Ein Prophet ist ein Mensch, der im Namen Gottes spricht und das Wort Gottes verkündigt. Es kann sich dabei um Voraussagen handeln, doch gehört dies nicht notwendigerweise zur Weissagung. In den ersten Gemeinden, so schreibt Hodge, waren die Propheten »Männer, die unter dem unmittelbaren Einfluss des Geistes Gottes sprachen und je nach den bestehenden Umständen göttliche Offenbarungen über lehrmäßige Wahrheiten, gegenwärtige Pflichten und zukünftige Ereignisse weitergaben«.47 Diese Offenbarungen sind im Neuen Testament niedergeschrieben und bewahrt worden. Es kann heute keine inspirierten, prophetischen Zusätze zur christlichen Lehre mehr geben, weil der Glaube den Heiligen ein für alle Mal überliefert ist (Judas 3). Deshalb ist heute ein Prophet (Weissagender) jemand, der erklärt, was Gott gemäß der biblischen Offenbarung beabsichtigt. Strong sagt: Alle wahre Prophetie der heutigen Zeit ist nicht mehr als eine Wiederholung der Botschaft Christi – die Verkündigung und Auslegung von Wahrheiten, die schon in der Schrift offenbart sind.48 Diejenigen unter uns, die die Gabe der »Weissagung« haben, sollten »nach dem Maß des Glaubens« weissagen. Das kann heißen: »nach der Regel oder dem Maßstab des Glaubens« – d. h. entsprechend der Lehren des christlichen Glaubens, wie sie in der Bibel zu finden sind. Es kann aber auch bedeuten: »nach dem Verhältnis  des  Glaubens«  –  d. h.  entsprechend der von Gott zugeeigneten Maßgabe des Glaubens. Obwohl manche Übersetzungen hier das Pronomen »unser« (»unseres Glaubens«) einfügen, kommt es im Original nicht vor. 49
12,7 »Dienst« ist ein sehr allgemeiner Ausdruck, gemeint ist der Dienst für den Herrn. Es geht hier nicht um Amt, Pflichten oder Aufgaben eines sogenannten »Geistlichen«. Derjenige, der die Gabe des »Dienstes« hat, zeichnet sich durch das Herz eines Dieners aus. Er sieht Möglichkeiten des Dienstes und ergreift sie. Ein Lehrer ist jemand, der fähig ist, das Wort Gottes zu erklären und es auf seine Zuhörer so anzuwenden, dass sie es sich zu Herzen nehmen. Was immer unsere Gabe ist, wir sollten uns ihr von ganzem Herzen widmen.
12,8 »Ermahnung« ist die Gabe, die Heiligen aufzurütteln, sich von jeder Form des Bösen fernzuhalten und für Christus neue Ziele in der Heiligung und im Dienst zu erreichen.
»Mitteilen« oder Geben ist ein göttliches Erbe, das einen Menschen befähigt und geneigt macht, Not zu erkennen und dazu beizutragen, die Not zu lindern. Man sollte diese Gabe »in Einfalt« gebrauchen.
Die Gabe der Leitung ist fast immer mit den Aufgaben der Ältesten (und vielleicht auch der Diakone) in der Ortsgemeinde verbunden. Der Älteste ist ein Unterhirte, der der Herde vorsteht und sie »mit« Sorgfalt und »Fleiß« leitet. Die Gabe der »Barmherzigkeit« ist eine übernatürliche Befähigung, den Verzweifelten zu helfen. Wer diese Gabe hat, sollte sie »mit Freudigkeit« einsetzen. Natürlich sollten wir alle barmherzig sein, und zwar »mit Freudigkeit«. Eine gläubige Dame berichtete einmal: »Als meine Mutter alt wurde, und jemanden brauchte, der für sie sorgte, haben mein Mann und ich sie eingeladen, zu uns zu kommen und bei uns zu leben. Ich habe alles getan, um es ihr bequem zu machen. Ich kochte und wusch für sie, ich fuhr sie mit dem Auto herum und kümmerte mich um alle ihre Bedürfnisse. Doch während ich das äußerlich tat, war ich innerlich unglücklich. Unbewusst ärgerte ich mich über die Störung unseres normalen Lebensrhythmus. Manchmal sagte meine Mutter zu mir: ›Du lächelst nicht mehr. Warum nicht?‹ Sehen Sie, ich war barmherzig, doch nicht mit Freudigkeit.«
C. In unserer Gesellschaft (12,9-21)
12,9 Als Nächstes führt Paulus einige Eigenschaften an, die jeder Gläubige in seinem Umgang mit anderen Christen und den Unbekehrten entwickeln soll. »Die Liebe« soll »ungeheuchelt« sein. Sie soll nie eine Maske tragen; vielmehr sollen wir sie in aufrichtiger, treuer und ungekünstelter Weise weitergeben. Wir sollen alle Formen des »Bösen« verabscheuen und alles »Gute … festhalten«. In diesem Zusammenhang bedeutet »das Böse« wahrscheinlich alle Einstellungen und Taten der Lieblosigkeit, der Bosheit und des Hasses. Mit dem »Guten« ist im Gegensatz dazu jede Auswirkung übernatürlicher Liebe gemeint.
12,10 In unseren Beziehungen mit denen, die in der Haushaltung des Glaubens leben, sollen wir unsere Liebe durch Mitgefühl unter Beweis stellen, statt durch kalte Gleichgültigkeit oder routinemäßiges Abfertigen das Gegenteil erkennen zu lassen.
Wir sollen es vorziehen, wenn andere und nicht wir selbst geehrt werden. Einmal saß ein geliebter Diener Christi vor einer Versammlung mit anderen »Größen« in einem Nebenraum. Einige waren schon auf der Kanzel gewesen, ehe er an der Reihe war. Als er zur Tür hereinkam, empfing man ihn mit donnerndem Applaus. Er ging schnell zur Seite und klatschte mit, damit er nicht jemandem die Ehre nahm, die seiner Meinung nach ganz gewiss nicht ihm gebührte.
12,11 Hfa übersetzt hier sehr treffend: »Setzt euch unermüdlich für Gottes Sache ein. Lasst das Feuer des Heiligen Geistes in euch brennen, und steht Gott jeden Augenblick zur Verfügung.« Das erinnert uns an die Worte in Jeremia 48,10: »Verflucht sei, wer das Werk des Herrn lässig treibt!«
Gar schnell des Lebens kurzer Tag entweicht;
der Erde Lust wird welk, ihr Glanz erbleicht.
Nur Wechsel und Vergehen siehst du hier,
drum bleibe treu, o Christ, Gott lohnt es dir!
Verfasser unbekannt
12,12 Ganz gleich, wie unsere gegenwärtigen Umstände sein mögen, wir können und sollen uns unserer »Hoffnung« freuen – der Hoffnung auf das Kommen unseres Heilandes, auf die Erlösung unseres Leibes und auf die ewige Herrlichkeit. Wir werden ermahnt, »in Trübsal« auszuharren, d. h. in ihr geduldig zu bleiben. Solche alles überwindende Geduld ist eine der Eigenschaften, die es möglich machen, Unglück in Herrlichkeit zu verwandeln. Wir sollen »im Gebet« standhaft sein. Im Gebet wird nämlich das entsprechende Werk verrichtet. Betend werden Siege erkämpft. Das Gebet bringt Kraft in unser Leben und Friede in unser Herz. Wenn wir im Namen des Herrn Jesus kommen, dann kommen wir der Allmacht so nahe, wie es für einen sterblichen Menschen nur möglich ist. Deshalb erweisen wir uns einen Bärendienst, wenn wir das Gebet vernachlässigen.
12,13 Bedürftige Heilige gibt es überall – Arbeitslose und diejenigen, deren Ersparnisse durch hohe Arztrechnungen aufgebraucht sind, vergessene Prediger und Missionare in abgelegenen Regionen der Erde und ältere Menschen, deren finanzielle Mittel stetig abnehmen. Glieder am Leib Christi leben dann in rechter Weise zusammen, wenn sie mit den Bedürftigen teilen.
Phillips hat den zweiten Teil des Verses so umschrieben: »Niemandem ein Essen oder ein Bett neiden, die eines brauchen.« »Gastfreundschaft« ist eine vergessene Kunst. Zu kleine Wohnungen und Häuser werden als Ausrede dafür missbraucht, durchreisende Christen nicht aufzunehmen. Vielleicht möchten wir uns die Arbeit und Unbequemlichkeit nicht aufbürden. Doch wir vergessen, dass wir, wenn wir Christen beherbergen, quasi den Herrn selbst beherbergen. Unsere Familien sollen so offen sein wie Betanien, wo Jesus gerne Station machte.
12,14 Wir sind aufgerufen, unseren Verfolgern Freundlichkeiten zu erweisen, statt zu versuchen, es ihnen auf irgendeine Art heimzuzahlen. Wir benötigen Leben aus Gott, um Unfreundlichkeit und Verletzungen mit Freundlichkeit begegnen zu können. Die natürliche Reaktion besteht hier darin, Flüche auszustoßen und Rachegedanken zu hegen.
12,15 Einfühlungsvermögen ist die Fähigkeit, die Gefühle und Empfindungen anderer Menschen in besonderem Maße zu teilen. Normalerweise tendieren wir dazu, neidisch zu werden, wenn andere sich freuen, und uns abzuwenden, wenn andere trauern. Gottes Art und Weise ist es, die Freuden und Leiden unserer Mitmenschen zu teilen.
12,16 »Gleichgesinnt gegeneinander« zu sein, bedeutet nicht, dass wir im Unwesentlichen gleicher Meinung sein müssen. Es geht hier nicht um eine Uniformität der Ansichten, sondern eher um harmonische Beziehungen untereinander.
Wir sollen jeden Anschein von Überheblichkeit vermeiden und uns »niedrigen«, einfachen Menschen genauso widmen wie den Reichen und Einflussreichen. Als ein berühmter Christ am Terminal eines Flughafens ankam, wurde er von den Ältesten der Gemeinde, in der er sprechen sollte, empfangen. Die Limousine, die ihn zu einem vornehmen Hotel bringen sollte, war schon vorgefahren. »Wer beherbergt normalerweise hier die Prediger, die zu Besuch kommen?«, fragte er. Sie nannten ein älteres Ehepaar in einem bescheidenen Haus in der Nähe. »Dort würde ich viel lieber wohnen«, sagte er.
Und wieder warnt der Apostel die Gläubigen davor, sich »selbst« für »klug« zu halten. Die Erkenntnis, dass wir nichts besitzen, das wir nicht empfangen haben, sollte uns vor einem aufgeblasenen Wesen bewahren.
12,17 »Böses mit Bösem« zu vergelten, ist in der Welt üblich. Die Menschen sagen: »Wie du mir, so ich dir«, oder: »Er bekommt nur, was er verdient«, oder: »Das werde ich dir heimzahlen!« Doch diese Freude an der Rache soll keinerlei Platz im Leben der Erlösten haben. Stattdessen sollen sie, wenn sie durch Worte verletzt werden, wie in allen Lebensumständen ehrenhaft handeln. Wer auf etwas »bedacht« ist, trägt Sorge dafür oder achtet darauf, dass es geschieht.
12,18 Christen sollen nicht unnötig provozieren oder Streit suchen. Die Gerechtigkeit Gottes wirkt sich nicht in Zorn oder Streitlust aus. Wir sollen den Frieden lieben, ihn immer wieder schließen und aufrechterhalten. Wenn wir andere verletzt haben oder selbst verletzt worden sind, dann sollen wir unermüdlich auf eine friedliche Lösung des Konfliktes hinarbeiten.
12,19 Wir müssen der Neigung widerstehen, Unrecht, das uns geschehen ist, anderen heimzuzahlen. Der Ausdruck »gebt Raum dem Zorn« bedeutet, dass wir es Gott erlauben sollen, eine Sache in die Hand zu nehmen. Es kann aber auch heißen, sich passiv in eine Situation zu fügen, ohne Widerstand zu leisten. Der Rest des Verses unterstützt die erste Sinndeutung – sich zurückzuhalten und diese Angelegenheit dem »Zorn« Gottes zu überlassen. »Die Rache« ist Gottes Angelegenheit. Wir sollten hier nicht versuchen, in seine Rechte einzugreifen. Er wird Unrecht zur rechten Zeit und auf die rechte Weise bestrafen. Lenski schreibt: Gott hat schon lange die gesamte Angelegenheit erledigt. Missetäter werden ihr gerechtes Urteil erhalten. Nicht einer von ihnen wird entkommen. In jedem Fall wird vollkommene Gerechtigkeit walten. Überall wird sie sich durchsetzen. Wenn sich irgendjemand von uns dabei einmischen würde, so wäre dies der Gipfel der Überheblichkeit.50
12,20 Der christliche Glaube geht über Widerstandslosigkeit hinaus und führt zu aktiver Nächstenliebe. Er vernichtet die Feinde nicht durch Gewalt, sondern bekehrt sie durch Liebe. Er speist den »Feind«, wenn ihn »hungert«, und stillt seinen Durst. Damit häuft der Betreffende »feurige Kohlen auf sein Haupt«. Wenn uns eine solche Handlungsweise mit feurigen Kohlen als grausam erscheint, so haben wir diesen Ausdruck als Redensart nicht verstanden. Wer jemandem »feurige Kohlen auf« das Haupt sammelt, beschämt sein Gegenüber in dessen Feindseligkeit, indem er ihn mit ungewöhnlicher Freundlichkeit behandelt.
12,21 Darby erklärt den ersten Teil dieses Verses folgendermaßen: »Wenn meine schlechte Laune dich verdrießlich macht, dann hast du dich vom Bösen überwinden lassen.«51
Der große afroamerikanische Wissenschaftler George Washington Carver sagte einmal: »Ich werde es nicht zulassen, dass jemand mein Leben ruiniert, indem er mich dazu veranlasst, ihn zu hassen.«52 Als Gläubiger wollte er nicht vom Bösen überwunden werden. »Sondern überwinde das Böse mit dem Guten.« Es gehört zum Wesen christlicher Lehre, dass sie nicht bei Verboten stehen bleibt, sondern Ermahnungen im Blick darauf gibt, was wir stattdessen an Gutem tun sollen. »Das Böse« kann »mit dem Guten« überwunden werden. Wir sollten diese Waffe viel öfter benutzen. Stanton hat Lincoln zunächst tiefen Hass entgegengebracht. Er sagte, es sei töricht, nach Afrika zu reisen, um einen Gorilla zu sehen, wenn man einen echten in Springfield, Illinois (wo Lincoln lebte, Anm. d. Übers.), sehen könnte. Doch Lincoln sah dies ganz locker. Später hat Lincoln als US-Präsident Stanton zum Kriegsminister ernannt, weil er der Ansicht war, dass er der Geeignetste für dieses Amt sei. Nachdem Lincoln erschossen war, nannte Stanton ihn den größten Staatsmann unter den Sterblichen. Die Liebe hatte gesiegt!53
D. In Bezug auf die Obrigkeit (13,1-7)
13,1 Die durch den Glauben Gerechtfertigten sind verpflichtet, sich ihrer irdischen Obrigkeit zu »unterwerfen«. Eigentlich gilt diese Verpflichtung für alle, doch der Apostel beschäftigt sich hier in besonderer Weise mit den Gläubigen. Gott hat die irdische Obrigkeit nach der Sintflut eingesetzt, als er bestimmte: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden« (1. Mose 9,6). Diese Bestimmung gab den Menschen die Vollmacht, über Straftaten zu urteilen und die Täter zu bestrafen. In jeder Gesellschaft, in der Menschen zusammenleben, muss es Autorität und Unterwerfung unter die Autorität geben. Anderenfalls haben wir den Zustand der Anarchie, und unter der Anarchie kann man nicht leben. Jede Obrigkeit ist besser als keine Obrigkeit. Deshalb hat Gott die menschliche Obrigkeit eingesetzt, und wenn es keine gibt, so widerspricht das seinem Willen. Das bedeutet nicht, dass er alles gutheißt, was menschliche Herrscher tun. Er heißt ganz gewiss keine Korruption, Brutalität oder Tyrannei gut! Doch eine Tatsache steht fest: »Die bestehenden« Obrigkeiten »sind von Gott verordnet«.
Gläubige können sowohl in einer Demokratie als auch in einer konstitutionellen Monarchie oder sogar unter einem totalitären Regime siegreich leben. Keine irdische Obrigkeit ist besser als die Menschen, aus denen sie besteht. Deshalb ist keine unserer Obrigkeiten vollkommen. Die einzige ideale Herrschaftsform ist eine Monarchie mit dem Herrn Jesus Christus als König, deren segensreicher Einfluss überall spürbar ist. Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Paulus diesen Abschnitt in Bezug auf Unterwerfung unter die irdische Obrigkeit schrieb, als der schreckliche Nero Kaiser war. Es war für die Christen eine schlimme Zeit. Nero beschuldigte sie, ein Feuer gelegt zu haben, das halb Rom zerstörte (und das er wahrscheinlich selbst hat legen lassen). Er ließ einige Gläubige in heißen Teer tauchen und sie dann als lebende Fackeln verbrennen, um seine Orgien zu beleuchten. Andere wurden in Tierhäute eingenäht und dann wilden Hunden vorgeworfen, um von ihnen in Stücke gerissen zu werden.
13,2 Und doch ist es eine feststehende Wahrheit, dass derjenige, der sich gegen die Obrigkeit auflehnt oder ihr nicht gehorcht, gegen Gottes Gebot verstößt. »Wer sich« also der gesetzlichen »Macht widersetzt«, verdient Bestrafung. Es gibt allerdings eine Ausnahme. Ein Christ muss nicht gehorchen, wenn ihm die Obrigkeit eine Sünde befiehlt oder wenn er seinen Glauben an Jesus Christus verleugnen soll (Apg 5,29). Keine Obrigkeit der Welt hat das Recht, das Gewissen eines Menschen zu vergewaltigen. Deshalb gibt es Zeiten, in denen ein Gläubiger sich den Zorn von Menschen zuziehen muss, wenn er Gott gehorchen will. In solchen Fällen muss er sich darauf vorbereiten, die Strafe ohne ungehörige Klagen zu ertragen. Unter keinen Umständen sollte er gegen die Obrigkeit rebellieren oder sich an einem Versuch beteiligen, diese zu stürzen.
13,3 In der Regel müssen Menschen, die richtig handeln, keine Behörden fürchten. Nur diejenigen, die das Gesetz brechen, müssen mit Strafe rechnen. Wenn also jemand ein Leben ohne Strafmandate, Geldstrafen, Gerichtsverhandlungen und Gefängnisaufenthalte führen will, dann muss er nur als gesetzestreuer Bürger leben. Dann wird er die Anerkennung der Obrigkeit finden und nicht getadelt werden.
13,4 Der Machthaber (ganz gleich, ob es sich um einen Präsidenten, einen Kanzler, einen Bürgermeister oder einen Richter handelt) ist ein Diener Gottes in dem Sinne, dass er ein Diener und Stellvertreter des Herrn ist. Er mag Gott nicht persönlich kennen, doch er ist noch immer offiziell von Gott eingesetzt. Deshalb hat David den bösen König Saul wiederholt als Gottes Gesalbten bezeichnet (1. Sam 24, 7.11; 26,9.11.16.23). Trotz der wiederholten Versuche Sauls, David umzubringen, wollte dieser seinen Männern nicht erlauben, dem König Leid zuzufügen. Warum? Weil Saul der König war, und als solcher war er vom Herrn berufen worden.
Als Diener Gottes wird von den Herrschern erwartet, dass sie das »Gute« fördern – die Sicherheit, den Frieden und das allgemeine Wohlergehen der Menschen. Wenn irgendjemand darauf besteht, das Gesetz zu brechen, dann muss er dafür büßen. Er wird bestraft, weil die Obrigkeit die Autorität hat, ihn vor Gericht zu stellen und den Gesetzesbruch zu ahnden. In dem hier befindlichen Ausdruck (»sie trägt das Schwert nicht umsonst«) haben wir eine wichtige Aussage über die Macht, die Gott der Obrigkeit verleiht. »Das Schwert« ist nicht einfach ein harmloses Machtsymbol, dazu hätte ein Zepter ausgereicht. »Das Schwert« scheint von der unbegrenzten Macht des Herrschers zu sprechen – nämlich davon, die Todesstrafe zu verhängen. Deshalb ist die Behauptung unzureichend, dass die Todesstrafe während des Alten Testaments galt, nicht jedoch im Neuen Testament. Hier haben wir die neutestamentliche Aussage, die nahelegt, dass die Obrigkeit das Recht hat, das Leben eines Schwerverbrechers zu fordern. Meist wird gegen diese Ausführungen mit 2. Mose 20,13 argumentiert: »Du sollst nicht töten.« Doch dieses Gebot bezieht sich auf Mord, und die Todesstrafe ist kein Mord. Das hebräische Wort, das in den meisten Übersetzungen mit »töten« wiedergegeben wird, wird nur für »morden« benutzt und z. B. in GN so wiedergegeben: »Du sollst nicht morden.«54 Die Todesstrafe war im alttestamentlichen Gesetz die vorgeschriebene Strafe für einige schlimme Verbrechen. Und wieder erinnert uns der Apostel daran, dass die Obrigkeit »Gottes Dienerin« ist, doch diesmal fügt er hinzu: »… eine Rächerin zur Strafe für den, der Böses tut.« Mit anderen Worten, sie dient Gott nicht nur »zum Guten« für uns, sondern auch als Werkzeug zur Bestrafung der Gesetzesbrecher.
13,5 Das bedeutet nun, dass wir aus zwei Gründen gehorsame Untertane der Obrigkeit sein sollen – aus Furcht vor Strafe und aus dem Verlangen heraus, ein reines »Gewissen« zu haben.
13,6 Wir schulden der Obrigkeit nicht nur Gehorsam, sondern auch finanzielle Unterstützung durch »Steuern«. Es ist unser Vorteil, in einer Gesellschaft zu leben, in der Gesetz und Ordnung herrschen und in der es eine Polizei, eine Feuerwehr und andere Institutionen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gibt. Deshalb müssen wir auch bereit sein, uns an den Kosten zu beteiligen. Die Beamten setzen ihre Zeit und ihre Fähigkeiten dazu ein, Gottes Willen zur Erhaltung einer stabilen Gesellschaft zu erfüllen, und deshalb haben sie ein Anrecht darauf, von den Bürgern unterhalten zu werden.
13,7 Die Tatsache, dass Gläubige Bürger des Himmels sind (Phil 3,20), enthebt sie nicht von ihren Verpflichtungen gegenüber der menschlichen Obrigkeit. Sie müssen alle »Steuern« zahlen, die auf ihr Einkommen, ihr Kapital und ihr Privatvermögen erhoben werden. Sie müssen den vorgeschriebenen »Zoll« für Waren entrichten, die aus anderen Ländern stammen. Sie müssen Ehrfurcht vor denen haben, die mit der Durchführung der Gesetze betraut sind. Und sie sollen die Namen und Ämter aller Staatsdiener ehren (auch wenn sie deren persönliches Leben nicht immer respektieren können). In dieser Beziehung sollen Christen sich nie daran beteiligen, abfällig über einen Präsidenten oder Kanzler zu reden. Auch in der Hitze politischer Auseinandersetzungen sollen sie sich weigern, in die Schimpftiraden einzustimmen, mit denen das jeweilige Staatsoberhaupt überschüttet wird. Es steht geschrieben: »Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht schlecht reden« (Apg 23,5). E. In Bezug auf die Zukunft (13,8-14)
13,8 Grundsätzlich bedeutet der erste Teil dieses Verses: »Zahlt alle eure Rechnungen pünktlich.« Es ist kein Verbot, Schulden zu machen. In unserer Gesellschaft sind einige Formen des Schuldenmachens unvermeidlich: Die meisten von uns erhalten monatliche Rechnungen über Telefon, Gas, Strom, Wasser usw. Und es ist unmöglich, ein Geschäft zu führen, ohne bestimmte Schulden zu machen. Die Ermahnung hier bedeutet, dass man mit seinen Zahlungen nicht in Verzug gerät (überfällige Rechnungen). Doch zusätzlich zu diesem Vers gibt es gewisse Prinzipien, die uns auf diesem Gebiet leiten sollen. Wir sollen niemals Schulden machen, um etwas zu kaufen, das nicht unbedingt notwendig ist. Wir sollen niemals Schulden machen, wenn wir von vornherein wissen, dass wir die Schulden wahrscheinlich nicht mehr zurückzahlen können. Wir sollen nicht auf Raten kaufen, weil wir dabei meist hohe Zinsen zu zahlen haben. Wir sollen vermeiden, ein Produkt zu kaufen, das schnell an Wert verliert. Wir sollen stets finanziell verantwortlich leben, indem wir bescheiden und innerhalb unserer Grenzen leben. Dabei sollen wir uns immer daran erinnern, dass der Schuldner ein Sklave des Kreditgebers wird (s. Spr 22,7).
Wir haben jedoch eine Schuld, die wir nie ganz abtragen können – die Verpflichtung, einander zu »lieben«. Das Wort, das im Römerbrief für Liebe gebraucht wird, ist mit einer Ausnahme (12,10) agapē, das eine tiefe, selbstlose und übermenschliche Zuneigung eines Menschen zu einem anderen bezeichnet. Diese Form der Liebe gründet nicht in irgendeiner Eigenschaft der geliebten Person, sondern ist völlig unverdient. Sie unterscheidet sich von jeder anderen Form der Liebe, weil sie nicht nur die Liebenswürdigen, sondern auch die Feinde liebt.
Diese Liebe zeigt sich im Geben, meist im opfervollen Geben. Dadurch liebte Gott die Welt so sehr, dass er seinen eingeborenen Sohn gab. Christus liebte die Gemeinde und gab sich selbst für sie. In erster Linie ist diese Liebe eine Willenssache, sie hat nichts mit Gefühlen zu tun. Die Tatsache, dass uns ein Liebesgebot gegeben wird, zeigt uns, dass es sich hier um etwas handelt, wofür wir uns entscheiden können. Wenn es hier um unkontrollierbare Emotionen ginge, die uns in einem unerwarteten Moment überfallen, dann könnten wir kaum dafür verantwortlich gemacht werden. Doch hiermit wird natürlich nicht ausgeschlossen, dass Gefühle an dieser Liebe beteiligt sein können.
Es ist einem unbekehrten Menschen unmöglich, diese göttliche Liebe zu zeigen. Es ist sogar für einen Gläubigen unmöglich, aus eigener Kraft diese Liebe hervorzubringen. Sie kann nur durch die Macht des Heiligen Geistes in uns bewirkt werden.
Die Liebe fand ihren vollkommensten Ausdruck auf Erden in der Person des Herrn Jesus Christus.
Unsere Liebe zu Gott zeigt sich in Gehorsam gegenüber seinen Geboten. Wer seinen Nächsten »liebt, hat das Gesetz erfüllt«, oder wenigstens denjenigen Teil des Gesetzes, der uns lehrt, unsere Mitmenschen zu lieben.
13,9 Der Apostel wählt hier die Gebote aus, die lieblose Handlungen gegenüber unseren Nächsten verbieten. Das sind die Gebote gegen das »Ehebrechen«, gegen Mord, Diebstahl, gegen »falsches Zeugnis« (Schl 2000) und gegen Habgier. Die Liebe missbraucht im Gegensatz zur Unsittlichkeit nicht den Körper eines anderen Menschen. Die Liebe nimmt niemandem das Leben – ganz anders ein Mörder. Die Liebe stiehlt kein fremdes Eigentum, der Dieb tut es. Die Liebe spricht anderen nicht ihre Rechte ab, während sich ein falscher Zeuge gegenteilig verhält.55 Die Liebe unterhält kein falsches Verlangen nach dem Eigentum des anderen, die Habsucht jedoch tut es.
»… und wenn es ein anderes Gebot gibt.« Paulus könnte noch ein weiteres erwähnt haben: »Ehre Vater und Mutter.« Sie alle laufen auf das eine Gebot hinaus: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Behandle ihn mit demselben Wohlwollen, mit derselben Fürsorge und Freundlichkeit, womit du dich selbst bedenkst.
13,10 »Die Liebe« will den »Nächsten« niemals schädigen. Sie sucht aktiv das Wohlergehen und die Ehre aller. Deshalb erfüllt jemand, der in Liebe handelt, wirklich die zweite Tafel »des Gesetzes«.
13,11 Der Rest des Kapitels ermutigt uns zu einem Leben der geistlichen Wachsamkeit und der moralischen Reinheit. Die Zeit ist knapp. Das Zeitalter der Gnade neigt sich seinem Ende zu. Die Zeit ist weit fortgeschritten. Daher wird von uns verlangt, dass wir alle Gleichgültigkeit und Trägheit überwinden. »Unsere Errettung« ist »näher« als je zuvor. Der Heiland wird bald kommen und uns ins Vaterhaus führen.
13,12 Unser gegenwärtiges Zeitalter ist wie eine »Nacht« der Sünde, die fast vorbei ist. Der »Tag« der ewigen Herrlichkeit wird bald für die Gläubigen anbrechen. Damit ist gemeint, dass wir alle schmutzigen Kleider der Weltlichkeit »ablegen« sollen – d. h. alles, was uns mit der Ungerechtigkeit und dem Bösen verbindet. Und wir sollen »die Waffen des Lichts anziehen«, die einen Schutz für unser geheiligtes Leben bieten. Die Teile dieser Waffenrüstung werden in Epheser 6,14-18 näher beschrieben. Sie stehen für die Wesenszüge eines wahrhaft christlichen Charakters.
13,13 Man beachte, dass es hier im Wesentlichen um unser praktisches Christsein geht. Weil wir Kinder des »Tages« sind, sollten wir als Söhne des »Lichtes« wandeln. Was hat ein Christ bei wilden Partys, Trinkgelagen, Sexorgien und Ausschweifungen aller Art zu suchen? Was hat er mit Neid und Gezänk zu tun? Gar nichts!
13,14 Der beste Grundsatz, den wir in dieser Hinsicht verfolgen können, lautet in erster Linie: »Zieht den Herrn Jesus Christus an.« Das bedeutet, dass wir seinen gesamten Lebensstil annehmen sollen. Wir sollen wie er leben und uns ihn in jeder Beziehung zum Führer sowie Vorbild nehmen.
Zweitens sollen wir »nicht Vorsorge für das Fleisch« treffen, damit nicht »Begierden wach werden«. Das »Fleisch« ist hier unsere alte, verdorbene Natur. Sie verlangt ständig danach, sich verwöhnen zu lassen. Annehmlichkeiten, Luxus, verbotene sexuelle Ausschweifung, leere Vergnügungen, weltliche Freuden, ein zügelloses Leben, Materialismus etc. bieten ihm Entsprechendes. Wir treiben »Vorsorge für das Fleisch«, wenn wir etwas kaufen, das uns in Versuchung bringt. Das gilt auch, wenn wir es uns leicht machen zu sündigen und wir dem Irdischen eine höhere Priorität einräumen als dem Geistlichen. Wir sollen dem Fleisch nicht im Geringsten nachgeben. Phillips umschreibt das so: »Wir sollen das Fleisch keinen Augenblick lang gewähren lassen.«
Das war genau der Abschnitt, den Gott gebrauchte, um den zwar intelligenten, doch fleischlich gesinnten Augustinus zu Christus und zur Reinheit zu bekehren. Als er Vers 14 las, übergab er sein Herz dem Herrn. Er ist als »Heiliger« Augustinus in die Geschichte eingegangen. F. In Bezug auf andere Gläubige seine Familie »aufgenommen«, und zwar als vollwertiges Mitglied.
14,4 Das dritte Prinzip besteht darin, dass wir kein Recht haben, über einander zu Gericht zu sitzen, als wären wir der Hausherr. Jeder Gläubige ist nämlich ein »Hausknecht« des Herrn. Nur vor seinem »eigenen Herrn« wird er bewährt oder unbewährt stehen. Man mag mit eisiger Herablassung auf jemanden herunterschauen und sicher sein, dass jener wegen seiner Glaubensansichten Schiff bruch erleiden muss. Doch solch eine Haltung ist falsch. Gott wird die Betreffenden aufrecht halten – sowohl den Starken als auch den Schwachen. Er hat in jeder Beziehung die Macht, dies zu tun.
14,5 Einige Judenchristen hielten den Sabbat immer noch für einen Tag, der eingehalten werden muss. Ihr Gewissen ließ es nicht zu, samstags irgendwie zu arbeiten. In diesem Sinne hielten sie »einen Tag vor dem anderen«. Andere Gläubige teilten diese jüdischen Bedenken nicht. Sie hielten »jeden Tag gleich«. Sie sahen nicht einen Tag als heilig und die restlichen sechs als gewöhnliche Wochentage an. Für sie waren alle Tage heilig. Doch was ist mit dem Tag des Herrn, dem ersten Tag der Woche? Hat er nicht einen besonderen Stellenwert im Leben des Christen? Wir erfahren aus dem Neuen Testament, dass dieser Tag der Tag der Auferstehung unseres Herrn ist (Lk 24,1-9). Noch am Auferstehungstag sowie am darauffolgenden Sonntag kam Christus mit seinen Jüngern zusammen (Joh 20,19.26). Der Heilige Geist wurde zu Pfingsten ausgegossen, also ebenfalls am ersten Tag der Woche, denn Pfingsten wurde sieben Sonntage nach dem Fest der  Erstlinge  gefeiert  (3. Mose  23,15.16; Apg 2,1), das die Auferstehung Christi symbolisiert (1. Kor 15,20.23). Die Jünger versammelten sich am ersten Tag der Woche, um das Brot zu brechen (Apg 20,7). Paulus wies die Korinther an, ihre Sammlung am ersten Tag der Woche durchzuführen. So wird der Tag des Herrn im Neuen Testament in besonderer Weise begangen. Doch er ist anders als der Sabbat nicht so sehr ein Tag, den man halten muss, sondern ein Tag, den man halten darf. Wir sind an diesem Tag von unseren normalen Beschäftigungen befreit und können ihn in besonderer Weise mit der Anbetung und dem Dienst für unseren Herrn verbringen.
Nirgends im Neuen Testament werden die Christen aufgefordert, den Sabbat zu halten. Und doch erkennen wir das Prinzip des einen Tages, der nach sechs Tagen als Ruhetag gehalten wird. Wie auch immer jemandes Ansichten über dieses Thema sein mögen, das Prinzip ist folgendes: »Jeder aber sei in seinem eigenen Sinn völlig überzeugt.« Nun sollte es natürlich klar sein, dass sich diese Prinzipien nur auf Angelegenheiten beziehen können, die moralisch neutral sind. Wenn es um die grundlegenden Lehren des christlichen Glaubens geht, gibt es keinen Raum für individuelle Meinungen. Doch in dem Bereich, in dem Handlungsweisen an sich weder gut noch böse sind, ist ein Freiraum für unterschiedliche Ansichten vorhanden. Man sollte an diesen Themen nicht die Gemeinschaft festmachen.
14,6 Derjenige, der »den Tag achtet«, ist ein Judenchrist, der noch immer ein schlechtes Gewissen hat, wenn er samstags arbeitet. Es geht nicht darum, dass er das Halten des Sabbats als Mittel ansieht, das Heil zu erlangen oder gar wiederzuerlangen. Es geht hier einfach darum, dass er tun will, was seiner Meinung nach »dem Herrn« gefällt. In gleicher Weise ehrt jemand Christus dadurch, dass er »nicht  auf  den  Tag  achtet«  (Schl 2000), denn er ehrt Christus selbst, nicht den Schatten (Kol 2,16.17).
Jemand, der die Freiheit hat, Speisen zu essen, die nicht koscher (rein) sind, neigt sein Haupt »und sagt Gott Dank« für diese Speisen. Doch dasselbe tut der Gläubige mit dem schwachen Gewissen, der nur koscheres Essen zu sich nimmt. Aber beide bitten beim Essen um den Segen des Herrn.
In beiden Fällen wird Gott geehrt und ihm gedankt, deshalb gibt es keinen Anlass, diesen Unterschied zu einem Anlass für Streit und Auseinandersetzungen zu machen.
14,7 Die Herrschaft Christi erstreckt sich auf jeden Aspekt des Lebens eines Gläubigen. Wir leben nicht uns selbst, sondern »dem Herrn«. Wir sterben auch nicht uns selbst, sondern »dem Herrn«. Es ist natürlich wahr, dass alles, was wir tun und sagen, andere mitbetrifft, doch darum geht es hier nicht. Paulus betont hier, dass der Herr das Lebensziel und der Lebensinhalt seines Volkes sein sollte.
14,8 Alles, was wir in unserem Leben tun, untersteht Christi Prüfung und Beurteilung. Wir prüfen unsere Handlungsweisen am besten, indem wir uns überlegen, wie sie in seiner Gegenwart aussehen. Selbst im Tod streben wir nach der Herrlichkeit Gottes, indem wir zu ihm gehen. Sowohl im Leben als auch im Tod gehören wir ihm.
14,9 Hier wird einer der Gründe dafür genannt, warum »Christus gestorben und wieder lebendig geworden« ist: Er sollte »herrschen sowohl über Tote als auch über Lebende«, und wir sollen seine willigen Untertanen sein, die ihm in froher Hingabe ihre dankbaren Herzen bringen. Seine Herrschaft erstreckt sich sogar auf unseren Tod, wenn unsere Leiber im Grab liegen und unsere Seelen in seiner Gegenwart leben.
14,10 Weil das zutrifft, ist es eine Torheit, wenn ein Judenchrist, der sich wegen allem Möglichen ein Gewissen macht, den »Bruder« verurteilt, der sich nicht an den jüdischen Kalender hält und sich nicht auf entsprechendes Essen beschränkt. Genauso ist es für den starken Bruder falsch, den schwachen »Bruder« zu »verachten«. Tatsache ist, dass jeder Einzelne von uns einmal »vor dem Richterstuhl Christi56 dargestellt werden« wird. Das wird die einzige Beurteilung werden, die wirklich zählt. In diesem Gericht wird es um den Dienst des Gläubigen gehen, nicht um seine Sünden (1. Kor 3,11-15). Hier wird geprüft und belohnt werden. Man darf dieses Gericht nicht mit dem Gericht über die Heidenvölker (Matth 25,31-46) oder dem Gericht vor dem großen weißen Thron (Offb 20,11-15) verwechseln. Das letztere ist das endgültige Gericht über alle unbekehrten Toten.
14,11 Die Sicherheit unseres Erscheinens vor dem Richterstuhl« (bēma) Christi wird durch ein Zitat aus Jesaja 45,23 untermauert, in dem Jahwe selbst versichert, dass sich vor ihm »jedes Knie beugen« wird, um ihn als höchste Autorität anzuerkennen.
14,12 »Also« ist es eindeutig, dass wir alle für uns selbst »Gott Rechenschaft geben« müssen, nicht für unseren Bruder. Wir richten einander viel zu viel, ohne dass wir die entsprechende Autorität oder das entsprechende Wissen haben.
14,13 Statt über unsere Mitchristen in solchen neutralen Fragen zu Gericht zu sitzen, sollten wir uns entschließen, dass wir keinen »Bruder« in seinem geistlichen Wachstum behindern. Keine dieser nebensächlichen Fragen ist wichtig genug, dass wir deswegen unserem Bruder »zum Anstoß oder Ärgernis« werden.
14,14 Paulus und wir wissen, dass uns keine Speise mehr rituell »gemein« oder unrein macht, wie es für einen Juden noch der Fall war, der unter dem Gesetz lebte. Unsere Speisen werden durch das Wort Gottes und das Gebet geheiligt (1. Tim 4,5). Sie sind durch das Wort geheiligt in dem Sinne, dass die Bibel sie ausdrücklich als »gut« bezeichnet. Und sie werden durch das Gebet geheiligt, wenn wir Gott bitten, sie zu seiner Verherrlichung und zur Stärkung unseres Leibes im Dienst für den Herrn zu gebrauchen. Doch wenn ein schwacher Bruder  z. B.  der Ansicht  ist,  dass  es  für  ihn falsch ist, Schweinefleisch zu essen, dann ist es falsch. Wenn er es dennoch essen würde, dann würde er sein von Gott gegebenes Gewissen damit verletzen. Paulus sagt hier, »dass nichts an sich unrein ist«. Wir müssen dabei aber erkennen, dass er hier nur von den moralisch neutralen Dingen redet. Es gibt vieles im Leben, das an sich unrein ist, etwa Pornografie in Wort und Bild, anzügliche Witze, schmutzige Filme und jede Form der Unmoral. Die Aussage des Paulus muss im Lichte des Zusammenhangs verstanden werden. Christen ziehen sich keine Verunreinigung zu, wenn sie Speisen essen, die das Gesetz des Mose als unrein bezeichnete.
14,15 Wenn ich mich mit einem schwachen »Bruder« zu Tisch setze, sollte ich dann auf meinem Recht bes tehen, Weinbergschnecken oder Krabben zu essen, selbst wenn ich weiß, dass er es für falsch hält? Wenn ich darauf beharre, dann handle ich »nicht mehr nach der Liebe«. Die Liebe gibt ihre eigenen Rechte für den anderen auf, um das Wohle rgehen des Bruders zu wahren. Eine Speise ist nicht so wichtig wie das geistliche Wohle rgehen eines Menschen, »für den Christus gestorben ist«. Denn wenn ich selbstsüchtig meine Freiheit in dieser Angelegenheit zur Schau stelle, kann ich im Leben eines schwachen Bruders irreparablen Schaden anrichten. Das ist die Sache nicht wert, wenn man bedenkt, dass seine Seele für solch einen gewaltigen Preis erkauft wurde – mit dem Blut des Lammes.
14,16 Deshalb lautet hier das Prinzip, dass wir mit diesen nebensächlichen Dingen, die an sich völlig erlaubt sein können, anderen nicht die Gelegenheit geben sollten, uns für unsere »Laxheit« oder »Lieblosigkeit« zu verurteilen. Das wäre, als ob wir unseren guten Ruf um einer Laune willen aufs Spiel setzten.
14,17 Was im »Reich Gottes« wirklich zählt, ist nicht die Einhaltung irgendwelcher Speisevorschriften, sondern der geistliche Zustand des Menschen. »Das Reich Gottes« ist der Bereich, in dem Gott als oberster Herrscher anerkannt wird. Im weitesten Sinne umfasst es alle, die von sich behaupten, mit Gott verbunden zu sein. Doch zum Reich Gottes im engeren Sinne gehören nur diejenigen, die wiedergeboren sind. So wird das Wort in diesem Vers verwendet.
Die Untertanen des Reiches sollen nicht irgendwelchen kurzlebigen Trends der Ernährungsbranche verfallen und keine Gourmets oder Weinkenner sein. Ihr Leben sollte von praktischer »Gerechtigkeit«, ihr Wesen von »Friede« sowie vom Streben nach Eintracht und ihre Gesinnung von »Freude im Heiligen Geist« geprägt sein.
14,18 Nicht dasjenige, was ein Mensch isst oder nicht isst, gibt den Ausschlag. Man erlangt vielmehr durch ein geheiligtes Leben Ehre bei Gott und den Menschen. Diejenigen, die nach Gerechtigkeit, Frieden und Freude streben, dienen »Christus«, indem sie seinen Lehren gehorchen.
14,19 Auf diese Weise ergibt sich noch ein weiteres Prinzip. Statt uns über ziemlich belanglose Angelegenheiten aufzuregen, sollten wir alles unternehmen, um den »Frieden« in der christlichen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Statt andere zu Fall zu bringen, indem wir auf unseren Rechten bestehen, sollten wir danach streben, die anderen in ihrem allerheiligsten Glauben aufzuerbauen.
14,20 »Gott« tut sein »Werk« an jedem seiner Kinder. Es ist erschreckend, wenn wir daran denken, dass wir dieses Werk im Leben eines schwächeren Bruders behindern können, wenn wir über so nebensächliche Angelegenheiten wie »Speisen«, Getränke oder Tage streiten. Für ein Kind Gottes sind heute alle Speisen rein. Doch wäre es auf jeden Fall falsch, etwas Bestimmtes zu essen, wenn man dadurch bei einem Bruder Anstoß erweckt oder ihn in seinem christlichen Wandel zu Fall bringt.
14,21 Es ist tausendmal besser, sich von »Fleisch« oder »Wein« oder irgendetwas anderem zu enthalten, als einem Bruder einen Anstoß zu geben oder ihn zu veranlassen, geistlich zurückzufallen. Wenn wir unsere Rechte aufgeben, so ist das nur ein geringer Preis, den wir um eines schwachen Bruders willen zahlen.
14,22 Ich darf die volle Freiheit haben, alles zu essen. Ich weiß nämlich, dass Gott es uns gegeben hat, damit wir dafür danken. Doch ich darf meine Freiheit nicht vor anderen, die vielleicht schwach sind, unnötig zur Schau stellen. Besser ist es, diese Freiheit nur dann zu genießen, wenn ich allein bin oder wenn niemand daran Anstoß nehmen kann. Es ist gut, wenn man sich an seiner christlichen Freiheit freut und nicht durch unbegründete Bedenken gehindert wird. Doch es ist besser, die eigenen Rechte aufzugeben, statt sich selbst verurteilen zu müssen, anderen ein Anstoß gewesen zu sein. Wer es vermeidet, andere zu Fall zu bringen, ist wirklich »glückselig«.
14,23 Soweit es den schwachen Bruder angeht, ist es für ihn falsch, etwas zu essen, das sein Gewissen ihm verbietet. Wenn er es dennoch isst, dann handelt er nicht »aus Glauben«. Das bedeutet, dass er ein schlechtes Gewissen dabei hat, und deshalb ist es eine »Sünde«, seinem Gewissen Gewalt anzutun.
Es stimmt, dass das Gewissen eines Menschen kein unfehlbarer Maßstab ist und seine Leitlinien im Wort Gottes finden muss. »Doch«, so schreibt Merrill Unger, »Paulus gibt hier eine allgemeine Regel weiter: Ihr zufolge sollte ein Mensch seinem Gewissen folgen, auch wenn es schwach ist, sonst würde seine Integrität als moralische Persönlichkeit zunichtegemacht werden.«57
15,1 Die ersten dreizehn Verse des 15. Kapitels führen das Thema des vorhergehenden Kapitels fort und behandeln Fragen, die nicht moralischer Art sind. Weil sich Spannungen zwischen Bekehrten aus dem Judentum und aus dem Heidentum ergeben hatten, setzt sich Paulus hier für harmonische Beziehungen zwischen Juden- und Heidenchristen ein. »Die Starken« (d. h. diejenigen, die in ihrem Verhalten in moralisch neutralen Angelegenheiten völlig frei sind) sollen nicht sich »selbst … gefallen«, indem sie selbstsüchtig auf ihre Rechte pochen. Sie sollten vielmehr ihre »kraftlosen« Brüder mit Liebe und Umsicht behandeln und deren »Schwachheiten« des Gewissens tolerieren.
15,2 Hier gilt das Prinzip: Lebe nicht, um dir selbst zu gefallen. Wir sollen »dem Nächsten« gefallen, ihm »Gutes« tun und ihn unterstützen. Das ist der christliche Ansatz.
15,3 »Christus« ist unser Vorbild geworden. Er lebte, um seinem Vater zu gefallen, nicht sich selbst. Er sagte: »Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen« (Ps 69,10). Das bedeutet, dass er sich so für Gottes Ehre einsetzte, dass er es als persönliche Beleidigung nahm, als man Gott schmähte.
15,4 Dieses Zitat aus den Psalmen erinnert uns daran, dass die Schriften des AT »zu unserer Belehrung« geschrieben sind. Sie sind zwar nicht direkt an uns geschrieben, doch enthalten sie unschätzbare Lektionen für uns. Wenn wir uns Problemen, Konflikten, Versuchungen und Schwierigkeiten gegenübersehen, dann lehrt uns die Schrift, standhaft zu sein, und wir erfahren »Ermunterung«. So gehen wir in den Wellen nicht unter, sondern werden durch die »Hoffnung« aufrechterhalten, dass der Herr uns hindurchgeleiten wird.
15,5 Diese Überlegung führt Paulus dazu, seinem Wunsch Ausdruck zu verleihen, dass »der Gott«, der Standhaftigkeit und »Ermunterung« schenkt, die Starken und die Schwachen, die Heidenwie die Judenchristen, befähigt, harmonisch der Lehre und dem Beispiel »Christus Jesus gemäß« zu leben.
15,6 Das Ergebnis davon wird sein, dass die Heiligen in der Anbetung des »Gottes und Vaters unseres Herrn Jesus Christus« vereinigt sind. Welch ein Bild! Erlöste Juden und Heiden verherrlichen den Herrn »mit einem Munde!« Der »Mund« wird im Römerbrief viermal erwähnt, wobei sich die biografische Skizze eines geretteten Menschen ergibt. Am Anfang war sein Mund voll Fluchens und Bitterkeit (3,14). Dann wurde dieser Mund gestopft, und er wurde vor seinem Richter für schuldig befunden (3,19). Als Nächstes bekennt er mit seinem Mund Jesus als Herrn (10,9), und als Letztes lobt und preist sein »Mund« den Herrn (15,6).
15,7 Aus all dem ergibt sich ein weiteres Prinzip. Trotz vielleicht vor handener Differenzen, die bei irgendw el chen zweitrangigen Themen be stehen mögen, sollten wir »ein ander auf neh men, wie auch der Christus euch aufg enommen hat«. Hier haben wir die wirkliche Grundlage der Aufnahme in die Ortsgemeinde. Wir nehmen einen Menschen nicht auf, weil er einer bestimmten Konfession angehört, eine be stimmte geistliche Reife hat oder eine gewisse soziale Stellung einnimmt. Wir sollten die jenigen »aufnehmen«, die »Christus« ebenfalls »aufgenommen hat«. Dies sollte dazu dienen, »Gottes Herrlichkeit« zu ver mehren.
15,8 In den nächsten sechs Versen erinnert der Apostel seine Leser daran, dass der Dienst Jesu Christi sowohl Juden als auch Heiden umfasst. Wir sollten daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass auch unsere Herzen groß genug sein sollten, um beide aufzunehmen. Sicherlich kam »Christus«, um »der Beschneidung« zu dienen  –  d. h.  dem  jüdischen Volk.  Gott hat wiederholt verheißen, dass er Israel den Messias senden wolle, und das Kommen Christi bestätigte die Wahrheit dieser »Verheißung«.
15,9 Doch Christus bringt auch den »Nationen« den Segen. Gott wollte, dass auch die Nationen das Evangelium hören. Nach seinem Willen sollten die Menschen, die daran glauben, »Gott« wegen seiner großen »Barmherzigkeit« »verherrlichen«. Das sollte die jüdischen Gläubigen nicht erstaunen, weil es in ihrer Heiligen Schrift mehrmals vorhergesagt wird. In Psalm 18,50 z. B. sieht David den Tag voraus, an dem der Messias Gott inmitten einer großen Menge Gläubiger aus den Heiden »lobsingen« wird.
15,10 In 5. Mose 32,43 werden die Heiden dargestellt, wie sie sich am Segen der Erlösung »mit seinem Volk« Israel freuen.
15,11 In Psalm 117,1 hören wir, wie Israel die »Nationen« aufruft, »den Herrn« unter der tausendjährigen Herrschaft des Messias zu loben.
15,12 Schließlich fügt auch noch »Jesaja« sein Zeugnis hinzu, dass die »Nationen« im Reich des Messias mit eingeschlossen sind (Jes 11,1.10). Es geht hier insbesondere darum, dass die »Nationen« Anteil an den Vorrechten des Messias und seines Evangeliums haben. Der Herr Jesus ist »die Wurzel Isais« in dem Sinne, dass er sein Schöpfer war, und nicht, indem er sein Nachfahre wurde (obwohl auch das stimmt). In Offenbarung 22,16 spricht Jesus von sich selbst als der Wurzel und dem Geschlecht Davids. In seiner Eigenschaft als Gott ist er Davids Schöpfer, in seiner Eigenschaft als Mensch ist er Davids Nachkomme.
15,13 Deshalb schließt Paulus diesen Abschnitt mit einem schönen Segen. Er betet, dass »der Gott«, der uns durch seine Gnade gute »Hoffnung« schenkt, durch seine Gnade die Heiligen »mit aller Freude und allem Frieden« erfüllt, wenn sie an ihn glauben. Vielleicht denkt er hier besonders an die Gläubigen aus den Heiden, doch das Gebet eignet sich für alle. Und es ist wahr, dass diejenigen, die »überreich« sind »in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes«, keine Zeit haben, um über Nebensächliches zu streiten. Unsere gemeinsame Hoffnung ist eine mächtige vereinigende Kraft für unser christliches Leben.
G. In den Plänen des Paulus (15,14-33)
15,14 Im restlichen Teil von Kapitel 15 gibt Paulus seine Gründe für seinen Brief an die Römer an. Auch gibt er seinem großen Verlangen Ausdruck, die Christen in Rom zu besuchen.
Obwohl er die römischen Christen noch nie vorher besucht hat, ist er »überzeugt«, dass sie seine Ermahnungen befolgen werden. Dieses Vertrauen beruht auf den Aussagen, die er über ihre »Güte« gehört hat. Zusätzlich ist er sich ihrer »Erkenntnis« der christlichen Lehre sicher, die sie dazu befähigt, auch andere »zu ermahnen«.
15,15 Trotz seines Vertrauens auf ihre geistliche Entwicklung und trotz der Tatsache, dass er ihnen fremd war, zögerte Paulus doch nicht, sie an einige ihrer Vorrechte und Pflichten zu erinnern. Seine Offenheit, so zu schreiben, entstand durch die ihm »von Gott verliehene Gnade« – d. h. durch die Gnade, wodurch er zum Apostel ernannt wurde.
15,16 Er wurde von Gott ernannt, um in seinem Dienst Priester »Christi Jesu zu sein für die Nationen«. Er sah seine Arbeit als Dienst »am Evangelium Gottes«, als einen Priesterdienst, in welchem er Gerettete »der Nationen« Gott als ein angenehmes »Opfer« darbrachte, weil sie »durch den Heiligen Geist« und die Wiedergeburt für Gott ausgesondert worden sind. G. Campbell Morgan jubelt: Welch ein strahlendes Licht wirft das auf all unsere evangelistischen und seelsorgerlichen Anstrengungen! Jede Seele, die wir durch die Predigt des Evangeliums gewinnen, wird nicht nur in einen Zustand der Sicherheit und des Segens versetzt. Vielmehr ist sie auch ein Opfer für Gott, eine Gabe, woran er Freude findet. Sie ist nämlich das Opfer, das Gott sucht. Jede Seele, die sorgfältig und geduldig in der Lehre Christi unterwiesen ist und so in sein Bild verwandelt wird, ist eine Seele, an der unser Vater sich erfreut. Deshalb arbeiten wir nicht nur, um Menschen zu erretten, sondern auch, um Gottes Herz zu erfreuen. Dies ist das gewaltigste unserer Motive.58
15,17 Wenn Paulus sich selbst rühmt, dann verherrlicht er nicht seine eigene Person, sondern rühmt sich »in Christus Jesus«. Und er rühmt sich nicht seiner eigenen Erfolge, sondern dessen, was Gott durch ihn gewirkt hat. Ein demütiger Diener Christi lässt sich nicht auf ungehöriges Rühmen ein, sondern ist sich der Tatsache bewusst, dass Gott ihn benutzt, um seine Ziele zu erreichen. Jede Versuchung, stolz zu werden, wird von der Erkenntnis gedämpft, dass er von sich selbst aus nichts ist. Er ist sich bewusst, dass er nichts hat außer dem, was er empfangen hat, und dass er nichts für Christus tun kann, es sei denn, in der Macht des Heiligen Geistes.
15,18 Paulus maßt sich »nicht« an, von etwas »zu reden, was Christus« durch den Dienst anderer Menschen getan hat. Er beschränkt sich auf die Art und Weise, wie der Herr ihn benutzt hat, die »Nationen« für den Gehorsam zu gewinnen. Dies geschah durch sein Reden und Tun, d. h. durch die Botschaft, die er predigte, und die Wunder, die er tat.
15,19 Der Herr bestätigte die Botschaft des Apostels durch Wunder, die geistliche Lektionen vermittelten und Erstaunen hervorriefen, sowie dadurch, dass sich die Kraft des Heiligen Geistes auf verschiedene Weise kundtat. Das Ergebnis war, dass Paulus »das Evangelium des Christus völlig verkündigt« hat. Er begann damit in »Jerusalem« und dehnte seine Reisen »bis nach Illyrien« aus, das nördlich von Mazedonien an der Adria liegt. »Von Jerusalem … bis nach Illyrien« beschreibt die geografischen Ausmaße seines Dienstes, nicht die chronologische Reihenfolge.
15,20 Auf seinem Weg bestand das Ziel des Paulus darin, »das Evangelium« dort »zu predigen«, wo noch geistliches Niemandsland war. Seine Zuhörerschaft bestand größtenteils aus Heiden, die noch nie von »Christus« gehört hatten. So baute er nicht »auf eines anderen Grund« auf. Paulus’ Beispiel in der Pioniermission ist nicht unbedingt eine Verpflichtung, dass andere Diener des Wortes genau auf dieselbe Weise handeln müssen. Einige sind z. B. berufen, den Pioniermissionaren zu folgen und den Lehrdienst zu übernehmen, nachdem Gemeinden gegründet worden sind.
15,21 Die Gemeindegründungsarbeit unter den Heiden geschah als Erfüllung der Prophezeiung Jesajas (52,15). Ihr zufolge würden die Heiden, die noch nie vorher evangelisiert worden sind, »sehen«, und diejenigen, die bisher noch »nicht gehört haben«, die Gute Nachricht »verstehen«, um sie im Glauben anzunehmen.
15,22.23 In seinem Verlangen, unerreichte Gebiete unter den Pflug zu nehmen, war Paulus bisher zu beschäftigt gewesen, um nach Rom zu kommen. »Nun aber« ist der Grund in dem Gebiet gelegt, das er in 15,19 beschrieben hat. Andere konnten jetzt auf diesem Fundament aufbauen. Deshalb hatte Paulus nun Zeit, sein schon lange bestehendes »Verlangen« zu erfüllen, Rom zu besuchen.
15,24 Er plante, auf seinem Weg »nach Spanien« in Rom Halt zu machen. Er würde nicht lange genug bleiben können, um mit allen so viel Gemeinschaft zu haben, wie er es gerne hätte. Seine Sehnsucht, ihre Gemeinschaft zu »genießen«, würde jedoch wenigstens teilweise erfüllt werden. Und er war sich sicher, dass sie ihm jede benötigte Hilfe zukommen lassen würden, um seine Reise nach Spanien zu vollenden.
15,25 Aber in der Zwischenzeit wollte er noch »nach Jerusalem« reisen, um denjenigen Geldbetrag zu überbringen, der von den nichtjüdischen Gemeinden für die bedürftigen Heiligen in Judäa zusammengelegt worden war. Das ist die Sammlung, worüber wir in 1. Korinther 16,1 und in 2. Korinther 8 und 9 lesen.
15,26.27 Die Gläubigen in »Mazedonien und Achaja« hatten freudig zu einer Sammlung beigetragen, um die Not unter den armen Christen zu lindern. Diese Sammlung wurde von den Gebern völlig freiwillig zusammengelegt. Andererseits war ihre Hilfsaktion auch angemessen. Schließlich hatten sie geistlich sehr davon profitiert, dass das Evangelium ihnen durch jüdische Gläubige gebracht wurde. Deshalb war es nicht zu viel erwartet, dass sie ihre jüdischen Geschwister durch »leibliche« Güter unterstützen.
15,28.29 Paulus wollte also zunächst seine Mission vollbringen (nämlich die Übergabe der zugesagten Sammlung). Doch er beabsichtigte, auf seinem Weg »nach Spanien« unmittelbar danach auch Rom zu besuchen. Er war voller Zuversicht, dass sein Besuch in Rom durch die »Fülle des Segens Christi« begleitet werden würde, die Christus immer dann ausschüttet, wenn Gottes Wort in der Vollmacht des Heiligen Geistes gepredigt wird.
15,30 Der Apostel schließt diesen Abschnitt mit einer eindringlichen Bitte um das »Gebet« der Gläubigen in Rom. Die Grundlage, auf der er sie hier ermahnt, ist ihre Einheit mit dem »Herrn Jesus Christus« und ihre »Liebe«, die durch den Heiligen Geist gewirkt war. Lenski sagt dazu: »Hier wird zu Gebeten aufgerufen, hinter denen die betreffenden Gläubigen mit ganzem Herzen stehen, als wären sie Kämpfer in der Arena.«59
15,31 Vier Gebetsanliegen werden ausdrücklich genannt.
Erstens bittet Paulus um Gebet dafür, dass er von eifernden Landsleuten »in Judäa errettet werde«, die fanatisch das Evangelium bekämpften, so wie er selbst es einst getan hatte.
Zweitens möchte er, dass die römischen Christen dafür beten, dass die jüdischen »Heiligen« seine Hilfsgelder guten Mutes annehmen. Noch immer gab es religiöse Vorurteile gegen die heidnischen Gläubigen und gegen diejenigen, die den Heiden predigten. Und dann besteht auch immer die Möglichkeit, dass es Menschen ein Ärgernis ist, ein »Almosen« annehmen zu müssen. Es erfordert manchmal mehr Gnade, der Empfänger als der Geber einer Gabe zu sein!
15,32 Die dritte Bitte war, dass der Herr Gnade zu der Romreise des Paulus geben und sie erfreulich werden möge. Die Worte »durch den Willen Gottes« drücken das Verlangen des Paulus aus, sich in allem vom Herrn leiten zu lassen. Als Letztes bittet er noch darum, dass sein Besuch ihn inmitten seines turbulenten und entbehrungsreichen Dienstes »erquicken« möge.
15,33 Und nun schließt Paulus das Kapitel mit dem Gebet, dass »der Gott«, der die Quelle »des Friedens« ist, ihr Teil sein möge. In Kapitel 15 ist der Herr folgendermaßen genannt worden: Gott des Ausharrens und der Ermunterung  (V. 5),  Gott der Hoffnung  (V. 13)  und  nun  »Gott  des Friedens«. Er ist die Quelle alles Guten sowie all dessen, was ein armer Sünder jetzt und in Ewigkeit braucht. »Amen.« H. In der Wertschätzung anderer (Kap. 16)
Auf den ersten Blick scheint das Schlusskapitel eine uninteressante Namensliste zu sein, die für uns heute keine oder kaum Bedeutung hat. Doch wenn wir dieses vernachlässigte Kapitel einmal etwas näher betrachten, dann vermittelt es dem Gläubigen viele wichtige Lehren.
16,1 »Phöbe« wird uns als »Dienerin60 der Gemeinde in Kenchreä« vorgestellt. Wir dürfen nicht annehmen, dass sie einer besonderen religiösen Gemeinschaft angehört hat. Jede Schwester, die in einer Ortsgemeinde Dienst tut, könnte mit Recht »Diakonin« genannt werden.
16,2 Wann immer die ersten Christen von einer Gemeinde zur anderen fuhren, führten sie Empfehlungsschreiben mit sich. Dies war eine Höflichkeit der besuchten Gemeinde gegenüber und eine Hilfe für den Besucher.
Deshalb empfiehlt der Apostel hier Phöbe und bittet, dass sie als echte Gläubige »würdig« aufgenommen werde. Er bittet weiter darum, dass ihr auf jede erdenkliche Weise geholfen werde. Ihre Empfehlung ist, dass sie sich dem Dienst an anderen hingegeben hat – einschließlich der Fürsorge für Paulus. Vielleicht war sie eine der unermüdlichen Schwestern, die Predigern und anderen Gläubigen in Kenchreä Gastfreundschaft boten.
16,3 Als Nächstes sendet Paulus Grüße an »Priska und Aquila«, die mutige und standhafte »Mitarbeiter« im Dienste Jesu Christi gewesen waren. Wie können wir Gott nur danken für christliche Ehepaare, die sich selbst in aufopfernder Arbeit für das Anliegen Christi hingeben!
16,4 Bei einer Gelegenheit haben Priska (Priszilla) und Aquila sogar ihr eigenes Leben für Paulus riskiert – eine heldenhafte Tat, worüber hier nicht ausführlicher berichtet wird. Doch der Apostel ist dankbar, und das sind auch »alle Gemeinden« bekehrter Heiden, denen er gedient hat.
16,5 »Und die Gemeinde in ihrem Haus.« Das bedeutet, dass sich in ihrem Haus ein Teil der Gemeinde traf. Kirchengebäude gab es erst im späten 2. Jahrhundert. Schon vorher, als Priska und Aquila in Korinth gewohnt hatten, beherbergten sie eine Gemeinschaft von Gläubigen in ihrem Haus.
»Epänetus« bedeutet »lobenswert«. Zweifellos entsprach das Verhalten dieses ersten Bekehrten der Provinz Achaja61 seinem Namen. Paulus nennt ihn »meinen Geliebten«.
16,6 In diesem Kapitel werden sehr viele Frauen genannt. Damit wird ihr weites Betätigungsfeld hervorgehoben (V. 1.3.6.12  usw.)  »Maria«  hat  sehr  hart für die Heiligen gearbeitet.
16,7 Wir wissen nicht, wann »Andronikus und Junias … Mitgefangene« des Paulus gewesen sind. Wir können nicht entscheiden, ob das Wort »Verwandte« hier bedeutet, dass sie mit dem Apostel wirklich verwandt waren. Vielleicht ging es auch einfach nur darum, dass sie wie er Juden waren. Und wir wissen ebenso nicht, ob der Ausdruck »unter den Aposteln ausgezeichnet« bedeutet, dass sie von den Aposteln geachtet wurden oder ob sie selbst herausragende »Apostel« waren. Wir wissen nur eines mit Sicherheit: Sie hatten sich schon »vor« Paulus bekehrt.
16,8 Als Nächstes begegnen wir »Ampliatus«, der der »Geliebte« des Apostels war. Wir hätten wohl nie etwas von einem dieser Menschen gehört, wenn sie nicht aufgrund der Werkes von Golgatha gläubig geworden wären. Dies ist das einzig Bedeutende, was man von irgendeinem unter uns sagen kann.
16,9 »Urbanus« erhält den Titel »Mitarbeiter«, und »Stachys« wird »mein Geliebter« genannt. Kapitel 16 ist wie eine Kleinausgabe des Richterstuhls Christi, wo wir für jede Handlung im Glauben an Christus gelobt werden.
16,10 »Apelles« war mutig durch einige Anfechtungen gegangen und hatte das Siegel »Bewährter in Christus« errungen.
Paulus grüßt das »Haus des Aristobul« und meint wahrscheinlich christliche Sklaven, die diesem Enkel Herodes’ des Großen gehörten.
16,11 »Herodion« war wahrscheinlich auch ein Sklave. Er war ein »Verwandter« oder auch »Landsmann« des Paulus. Er könnte der einzige jüdische Sklave im Haus des Aristobul gewesen sein. Es gab einige Sklaven, die dem »Narzissus« gehörten und ebenfalls Gläubige waren. Auch ihnen sendet Paulus seine Grüße. Selbst diejenigen, die auf der sozialen Stufenleiter am niedrigsten stehen, werden nicht von den erlesensten Segnungen des christlichen Glaubens ausges chlossen. Dass diese Sklaven hier in dies e Liste aufgenommen worden sind, ist eine liebevolle Erinnerung daran, dass in Christus alle sozialen Unterschiede vers chwinden, weil wir alle »eins in ihm« sind.
16,12 »Tryphäna und Tryphosa« hatten Namen, die »zierlich« und »zart« bzw. »weich« bedeuteten, doch taten sie einen wertvollen Dienst für den Herrn. »Die Geliebte Persis« war eine weitere der Mitarbeiterinnen, die wir in den Ortsgemeinden so nötig brauchen, die aber nur selten anerkannt werden und deren Fehlen erst bemerkt wird, wenn sie nicht mehr da sind.
16,13 »Rufus« könnte der Sohn des Simon sein, der das Kreuz Jesu trug (Matth 27,32). Er war nicht nur durch seine Errettung vom »Herrn« auserwählt, sondern auch hinsichtlich seines christl ichen Charakters,  d. h.  er  war  ein  besonderer Heiliger. Die »Mutter« des Rufus hatte auch Paulus ihre mütterliche Freundlichkeit erwiesen und verdiente sich so den liebevollen Titel »meine Mutter«.
16,14.15 Vielleicht waren »Asynkritus, Phlegon, Hermes, Patrobas« und »Hermas« Mitarbeiter einer Hausgemeinde wie diejenigen, die im Haus von Priska und Aquila (16,3.5) zusammenkamen. »Philologus und Julia, Nereus und seine Schwester und Olympas« könnten zum Kern einer anderen Hausgemeinde gehört haben.
16,16 Der »heilige Kuss«, die übliche, liebevolle Begrüßung unter den Gläubigen damals, wird auch heute noch in einigen Ländern praktiziert. Er wird als »heiliger Kuss« bezeichnet, um ungebührliche Assoziationen zu vermeiden. In unserer Kultur wird der »Kuss« im Allgemeinen durch das Händeschütteln ersetzt. Die »Gemeinden« in Achaja, von wo aus Paulus schreibt, schlossen sich seinen Grüßen an.
16,17 Der Apostel kann seinen Brief nicht ohne eine Warnung vor gottlosen Irrlehren schließen, die sich vielleicht in eine Gemeinde einschleichen könnten. Die Christen sollten auf solche Menschen ein wachsames Auge haben. Sie scharen Gruppen um sich und stellen Fallen, um den Glauben der weniger Aufmerksamen zugrunde zu richten. Sie sollten nach denjenigen Ausschau halten, die »entgegen der Lehre«, die sie als Christen »gelernt« hatten, lehrten. Von diesen sollten sie sich »abwenden«.
16,18 Diese Irrlehrer gehorchen nicht »unserem Herrn Christus«, sondern nur »ihrem eigenen Bauch«. Und sie sind alle nur zu erfolgreich, die Arglosen durch ihre gewinnenden und »schönen Reden« in trügerische Sicherheit zu wiegen.
16,19 Paulus war froh, dass der Gehorsam seiner Leser bekannt war. Doch er wollte, dass sie imstande wären, das »Gute« zu erkennen und ihm zu gehorchen, während sie auf das »Böse« nicht reagieren sollten.
16,20 Auf diese Weise würde »der Gott«, der die Quelle »des Friedens« ist, ihnen einen reichen Sieg über »Satan« schenken.
Der für den Apostel charakteristische Segen wünscht den Heiligen alle benötigt en Fähigkeiten in ihrer Stellung als Pilger, deren Ziel die ewige Herrlichkeit ist.
16,21 Wir kennen »Timotheus«, den Sohn des Paulus im Glauben, der sein treuer Mitarbeiter war. Wir wissen über »Luzius« nur, dass er wie Paulus jüdischer Abstammung war. Es könnte sein, dass wir »Jason« schon einmal begegnet sind (Apg 17,5), wie auch »Sosipater« (Apg 20,4), die beide ebenfalls Juden waren.
16,22 »Tertius« war derjenige, dem Paulus den Brief diktiert hat. Er nimmt sich hier die Freiheit, seine Grüße einzufügen.
16,23 Wir finden mindestens vier Männer mit dem Namen »Gajus« im Neuen Testament. Dieser hier ist wahrscheinlich derselbe, der auch in 1. Korinther 1,14 genannt wird. Er war für seine Gastfreundschaft bekannt, nicht nur gegenüber dem Paulus, sondern auch gegenüber anderen Christen, die darauf angewiesen waren. »Erastus« war »Schatz meister« oder »Stadtverwalter« (Schl 2000)  in  Korinth.  Doch  ist  er  derselbe, der auch in Apostelg eschichte 19,22 und/oder 2. Timot heus 4,20 genannt ist? Wir können hier nichts Sicheres sagen. »Quartus« wird hier nur als »Bruder« genannt, doch welch eine Ehre ist das!
16,24 »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen!« (vgl. Schl 2000). Hier haben wir den typischen
1,1 »Paulus« war seit seinem Erlebnis auf der Straße nach Damaskus ein »berufener Apostel Christi Jesu«. Dieser Ruf erging nicht durch Menschen, sondern direkt durch den Herrn Jesus. Ein »Apostel« ist wörtlich übersetzt ein »Gesandter«. Die ersten Apostel waren Zeugen des auferstandenen Christus. Sie konnten auch Wunder tun, um zu bestätigen, dass die von ihnen verkündigte Botschaft göttlichen Ursprungs war.
Mein Heiland Jesus Christus, er selbst hat mich gesandt, zu geh’n ins Land des Dunkels und seinem Wink zu folgen mit der durchgrab’nen Hand.
Frances Bevan (nach einer Textvorlage von Gerhard Tersteegen)
Als Paulus schrieb, war ein Bruder namens Sosthenes bei ihm. Deshalb nennt Paulus ihn in seinem Grußwort. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, ob er mit dem Sosthenes in Apostelgeschichte 18,17 identisch ist – dem Synagogenvorsteher, der öffentlich von den Griechen geschlagen wurde. Vielleicht war dieser Vorsteher durch die Predigt des Paulus gerettet worden. Nun half er ihm bei der Verbreitung des Evangeliums.
1,2 Der Brief richtet sich zunächst an »die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist«. Es ist ermutigend zu sehen, dass es keinen Ort auf Erden gibt, der zu verdorben wäre, als dass dort nicht eine Gemeinde Gottes gegründet werden könnte. Die korinthische Gemeinde wird weiter beschrieben als die Gemeinschaft der »Geheiligten in Christus Jesus«. Sie waren die »berufenen Heiligen«. »Geheiligt« bedeutet hier für Gott von der Welt abgesondert und beschreibt die Stellung all derer, die zu Jesus Christus gehören. Was den Zustand ihrer praktischen Heiligung betraf, sollten sie sich tagtäglich durch eine geheiligte Lebensführung absondern. Einige Leute sind der Ansicht, dass Heiligung ein besonderes Werk der Gnade sei, durch das ein Mensch die Ausrottung der Sündennatur aus seinem Leben erfahren könne. Einer solchen Lehre widerspricht dieser Vers. Die Korinther waren weit von einem Zustand praktischer Heiligung entfernt, worin sie sich hätten befinden sollen. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass sie von ihrer Stellung her durch Gott »geheiligt« waren.
Als Heilige gehörten sie zu einer großen Gemeinschaft: Sie waren die »berufenen Heiligen, samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus anrufen, ihres und unseres Herrn«. Obwohl die Lehren dieses Briefes in erster Linie an die Heiligen in Korinth gerichtet waren, gelten sie doch auch für all jene aus der weltweiten Gemeinschaft, die die Herrschaft Christi anerkennen.
1,3 Der erste Korintherbrief ist auf ganz besondere Weise der Brief der Herrschaft Christi. Während Paulus die vielen Probleme der Gemeinde und der einzelnen Mitglieder behandelt, erinnert er seine Leser immer wieder, dass Jesus Christus Herr ist und dass all unser Tun in Anerkennung dieser großartigen Wahrheit geschehen sollte. Wir finden in Vers 3 den charakteristischen Gruß des Paulus. Mit den Worten »Gnade« und »Friede« fasst er sein ganzes Evangelium zusammen. »Gnade« ist die Ursache allen Segens, und »Friede« ist die Auswirkung im Leben des Menschen, der die Gnade Gottes annimmt. Diese Segnungen erfahren wir »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Paulus zögert nicht, den »Herrn Jesus Christus« im gleichen Atemzug mit »Gott, unserem Vater« zu nennen. Das ist eine der vielen Stellen im NT, die bezeugen, dass der Herr Jesus Gott mit dem Vater stellungsgleich ist. B. Danksagung (1,4-9)
1,4 Nachdem der Apostel sein Grußwort beendet hat, dankt er nun für die Korinther und für das wundervolle Werk, das Gott in ihrem Leben vollbracht hat (V. 4-9). Es ist ein edler Charakterzug des Paulus, dass er immer darauf bedacht war, etwas im Leben seiner Mitgläubigen zu finden, für das er danken konnte. Wenn auch ihre praktische Lebensführung kaum empfehlenswert war, dann konnte er doch zumindest für das »danken«, was »Gott« für sie getan hatte. Genau das geschieht hier. Die Korinther waren nicht gerade Vorbilder, was ihr geistliches Leben betraf. Doch Paulus konnte wenigstens »für die Gnade Gottes« danken, die ihnen »gegeben ist in Christus Jesus«.
1,5 Dadurch, dass die Korinther reichlich mit Gaben des Heiligen Geistes ausgestattet waren, erwies sich auf besondere Weise Gottes Gnade ihnen gegenüber. Paulus erwähnt hier Gaben »in allem Wort und aller Erkenntnis« und meint damit wahrscheinlich, dass es bei den Korinthern die Gabe des Zungenredens, der Auslegung der Zungenrede sowie einer außergewöhnlichen Erkenntnis gab. »Wort« steht dabei für das zum Ausdruck Gebrachte und »Erkenntnis« für innere Einsicht.
1,6 Die Tatsache, dass die Korinther diese Gaben besaßen, war eine Bestätigung des Handelns Gottes an ihnen, und das ist gemeint, wenn Paulus sagt: »… wie denn das Zeugnis des Christus unter euch gefestigt worden ist.« Sie hatten das »Zeugnis des Christus« gehört, es im Glauben angenommen, und Gott bezeugte ihnen, dass sie wirklich errettet waren, indem er ihnen Wundergaben schenkte.
1,7 Was geistliche Gaben anging, so war die Gemeinde in Korinth keiner anderen unterlegen. Doch der reine Besitz von Gaben war noch kein Zeichen für eine wirklich geistliche Haltung. Paulus dankte dem Herrn eigentlich für etwas, wofür die Korinther selbst überhaupt nicht verantwortlich waren. Der aufgefahrene Herr verteilt seine Gaben, ohne dass er dabei darauf achtet, ob jemand würdig ist, sie zu empfangen. Wenn jemand eine Gabe hat, dann sollte er nicht stolz darauf sein, sondern sie in Demut für den Herrn einsetzen. Die Frucht des Geistes hat hiermit überhaupt nichts zu tun. Bei ihr gehört es dazu, dass sich der Gläubige ganz der Führung durch den Heiligen Geist hingibt. Der Apostel konnte die Korinther nicht dafür loben, dass sich in ihrem Leben geistliche Frucht zeigte. Vielmehr konnt er nur für die Gaben danken, die der souveräne Herr überreich an sie ausgeteilt hatte – etwas, das sie selbst nicht beeinflussen konnten.
Später in diesem Brief wird der Apostel die Heiligen sogar für den Missbrauch der Gaben rügen müssen, doch hier begnügt er sich damit, seinem Dank dafür Ausdruck zu verleihen, dass sie diese Gaben in solch ungewöhnlichem Maße empfangen hatten.
Die Korinther sehen erwartungsvoll dem »Offenbarwerden unseres Herrn Jesus Christus« entgegen. Die Ausl eger sind sich nicht einig, ob hiermit das Kommen Christi für  seine  Heiligen  (1. Thess  4,1318) gemeint ist oder sein Kommen mit seinen Heiligen (2. Thess 1,6-10) bzw. beides. Im ersten Fall wäre es nur das »Offenbarwerden« für die Gläubigen, während es im zweiten um ein »Offenbarwerden« vor der ganzen Welt ginge. Sowohl die Entrückung als auch das Kommen Christi in Herrlichkeit werden von den Gläubigen sehnsüchtig erwartet.
1,8 Nun gibt Paulus seiner Gewissheit Ausdruck, dass der Herr die Heiligen »auch festigen wird bis ans Ende«, damit sie »untadelig« seien »an dem Tag unseres Herrn Jesus Christus«. Und wieder ist es auffällig, dass Paulus hier für das dankt, was Gott einst tun wird, und nicht so sehr für die Handlungen der Korinther selbst. Weil die Korinther an Christus geglaubt hatten und Gott diese Tatsache durch die Austeilung von Geistesgaben bestätigt hatte, war Paulus sicher, dass Gott die Korinther für sich bewahren würde, bis Christus für sein Volk wiederkommt.
1,9 Der Optimismus des Paulus hinsichtlich der Korinther beruht auf der Treue Gottes, der sie »in die Gemeinschaft seines Sohnes« berufen hat. Er weiß, dass Gott sie nie seinen Händen entgleiten lassen würde, weil er solch gewaltige Kosten gehabt hat, um ihnen Anteil am Leben zu geben, das ihnen der Herr Jesus zugeeignet hat.
II. Unordnung in der Gemeinde errettet zu haben. Doch solch eine Vorstellung ist unhaltbar.
Im zweiten Teil von Vers 17 leitet Paulus elegant auf die folgenden Verse über. Er predigte das Evangelium nicht, indem er »Redeweisheit« benutzte, »damit nicht das Kreuz Christi zunichtegemacht werde«. Er wusste, was dies mit sich brachte: Während er bemüht war, die wahre Bedeutung des »Kreuzes Christi« darzulegen, hätte er seine Anstrengungen vereitelt, wenn die Menschen von seiner Redekunst oder Rhetorik beeindruckt gewesen wären.
1,18 Es wird uns beim Verständnis des folgenden Abschnittes helfen, wenn wir uns daran erinnern, dass die Korinther als Griechen menschliche Weisheit sehr anziehend fanden. Sie sahen ihre Philosophen als Volkshelden an. Etwas von diesem Geist war zweifellos in die Gemeinde in Korinth eingedrungen. Es gab Gläubige, die versuchten, das Evangelium den Gebildeten annehmbarer zu machen. Sie waren der Ansicht, dass es unter den Gelehrten nicht angesehen genug war, und deshalb wollten sie die Botschaft weitgehend verstandesmäßig durchdringen. Diese Anbetung des Intellektualismus war sicherlich eine der Streitfragen, welche die Menschen veranlasste, im Umfeld menschlicher Leiter Parteiungen zu bilden. Der Versuch, das Evangelium annehmbarer zu machen, wird immer fehlschlagen. Zwischen der göttlichen und der menschlichen Weisheit besteht ein gewaltiger Unterschied, und es hat keinen Zweck, beide miteinander in Einklang bringen zu wollen.
Paulus zeigt nun, wie töricht es ist, Menschen zu verehren. Dabei betont er, dass es dem Wesen des Evangeliums widerspricht, wenn man so handelt (1,18 – 3,4). Sein erster Punkt lautet, dass die Botschaft vom Kreuz allem widerspricht, was Menschen für wahre Weisheit halten (1,18-25).
»Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit.« Barnes hat es so treffend ausgedrückt:
Der Tod am Kreuz beinhaltet alle möglichen schändlichen und unehrenhaften Vorstellungen; und von Erlösung zu sprechen, die nur durch die Leiden und den Tod eines Gekreuzigten zu erkaufen war, war nur geeignet, in ihren Herzen reinste Verachtung hervorzubringen.1
Die Griechen waren Liebhaber der Weisheit (das ist die wörtliche Bedeutung des Wortes »Philosophen«). Doch in der Botschaft des Evangeliums fand sich nichts, das ihren Wissensstolz angesprochen hätte.
Für diejenigen, die »errettet werden«, ist das Evangelium »Gottes Kraft«. Sie hören die Botschaft, nehmen sie im Glauben an, und dann findet in ihrem Leben das Wunder der Wiedergeburt statt. Man beachte die folgenschwere, in diesem Vers erwähnte Tatsache, dass es nur zweierlei Kategorien von Menschen gibt: Es sind diejenigen, die verlorengehen, und diejenigen, die errettet werden. Es gibt keinen Personenkreis dazwischen. Die Menschen lieben ihre menschliche Weisheit, doch nur das Evangelium führt zum Heil.
1,19 Die Tatsache, dass das Evangelium der menschlichen Weisheit ein Anstoß sein würde, wurde schon von Jesaja prophezeit (Jes 29,14):
»Ich will die Weisheit der Weisen vernichten und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« S. Lewis Johnson merkt im Wycliffe Bible Commentary an, dass Gott mit diesen Worten in ihrem ursprünglichen Zusammenhang »die Politik der ›Weisen‹ in Juda brandmarkte, die ein Bündnis mit Ägypten anstrebten, als sie von Sanherib (dem assyrischen König, Anm. d. Übers.) bedroht wurden«.2 Wie wahr ist es doch, dass Gott Freude daran hat, seine Pläne auf Wegen zu erreichen, die den Menschen töricht erscheinen. Wie oft benutzt er Methoden, die von den Weisen dieser Welt verlacht werden würden, und doch erreicht er dadurch mit wundervoller Genauigkeit und Effektivität seine Ziele. So sagt dem Menschen z. B. seine eigene Weisheit, dass er sich seine Errettung verdienen könne. Doch das Evangelium setzt alle Bemühungen des Menschen, sich selbst zu erretten, beiseite und zeigt Christus als den einzigen Weg zu Gott.
1,20 Paulus fordert die Korinther als Nächstes mit geradezu polemischen Worten heraus: »Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortstreiter dieses Zeitalters?« Hat Gott etwa die Korinther um Rat gefragt, als er seinen Heilsplan entwarf? Hätten sie sich einen solchen Erlösungsplan ausdenken können, wenn sie nur auf ihre eigene Weisheit angewiesen gewesen wären? Können sie sich erheben und irgendetwas widerlegen, das Gott je gesagt hat? Die Antwort ist ein entschiedenes »Nein!« Gott hat »die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht«.
1,21 Der Mensch kann durch eigene »Weisheit« nicht zur Erkenntnis Gottes gelangen. Jahrhundertelang hat Gott den Menschen dazu die Gelegenheit gegeben, und sie scheiterten daran. Dann »hat es Gott wohlgefallen«, die »Glaubenden« durch die Predigt vom Kreuz »zu erretten«. Es ist eine Botschaft, die den Menschen töricht erscheint. Die Torheit des Gepredigten bezieht sich auf das Kreuz. Natürlich wissen wir, dass diese Predigt nicht töricht ist, doch dem unerleuchteten Verstand des Menschen erscheint sie so. Godet sagt, dass Vers 21 die gesamte Geschichtsphilosophie beinhalte. Darin sei der Inhalt ganzer Bücher zusammengefasst. Wir sollten hier nicht zu schnell vorbeieilen, sondern über diese unermesslichen Wahrheiten tiefer nachsinnen.
1,22 Für die »Juden« war es kennzeichnend, »Zeichen« zu »fordern«. Ihre Haltung bestand darin, dass sie erst dann glauben wollten, wenn sie ein Wunder sähen. Die »Griechen« dagegen fragten nach »Weisheit«. Sie waren an menschlichen Argumenten, an Diskussionen und an Logik interessiert.
1,23 Doch Paulus geht weder auf die Forderung der Juden noch auf die Wünsche der Griechen ein. Er sagt: »Wir predigen Christus als gekreuzigt.« Dazu hat jemand einmal gesagt: »Er war kein Jude, der Wunder und Zeichen liebte, noch ein Grieche, der Weisheit liebte, sondern ein Christ, der den Heiland liebte.« »Den Juden« war der gekreuzigte Christus ein »Ärgernis«. Sie warteten auf einen mächtigen Militärführer, der sie von der römischen Unterdrückung befreien würde. Stattdessen bot ihnen das Evangelium einen Heiland, der an das Schandkreuz genagelt wurde. »Den Nat ionen« war der gekreuzigte Christus »eine Torheit«. Sie konnten nicht verstehen, wie jemand, der in solch offensichtl icher Schwachheit gescheitert und gestorben war, ihre Probleme lösen sollte.
1,24 Doch seltsamerweise finden sich gerade die Aspekte, die Juden und Griechen suchen, auf wunderbare Weise bei unserem Herrn Jesus. Denjenigen, die seinem Ruf folgen und ihm vertrauen, »Juden wie Griechen«, wird »Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit«.
1,25 In Wirklichkeit findet sich bei Gott weder Torheit noch Schwäche. Der Apostel sagt in diesem Vers, dass das, was an Gott für die Menschen scheinbar »töricht« ist, in Wirklichkeit »weiser als die Menschen« in jenen Augenblicken ist, in denen ihre Weisheit die größten Erkenntnisse hervorgebracht hat. Und was an Gott für die Menschen scheinbar »schwach« ist, erweist sich als »stärker« als alles, was »Menschen« je erreichen können.
1,26 Nachdem der Apostel vom Evangelium selbst gesprochen hat, wendet er sich nun den Menschen zu, die Gott durch  das  Evangelium  beruft  (V. 26-29). Er erinnert die Korinther, dass »es nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Edle sind«, die berufen sind. Es ist oft betont worden, dass dieser Text nicht sagt »keine«, sondern »nicht viele«. Durch diesen Unterschied konnte eine englische Adlige von sich sagen, sie sei durch den Buchstaben »M« gerettet worden, denn im Englischen heißt »keine« »not any« und »nicht viele« »not many«.
Die Korinther selbst stammten nicht aus der intellektuellen Oberschicht der Gesellschaft. Sie waren nicht durch die Philosophien mit ihren schön klingenden Worten, sondern durch das schlichte Evangelium erreicht worden. Warum legten sie also so viel Wert auf menschliche Weisheit und verehrte Prediger, die versuchten, die Botschaft für den Weltweisen schmackhaft zu machen?
Wenn Menschen eine Gemeinde gründen wollten, dann würden sie versuchen, die prominentesten Bürger der betreffenden Stadt für sie zu gewinnen. Doch Vers 26 lehrt uns, dass Gott an denen vorbeigeht, die bei Menschen so hoch angesehen sind. Diejenigen, die er beruft, sind normalerweise nicht diejenigen, die in den Augen der Welt als groß gelten.
1,27 »Das Törichte der Welt hat Gott auserwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt, damit er das Starke zuschanden mache.« Erich Sauer sagt dazu:
Je primitiver das Material, desto größer (wenn man die Maßstäbe der Kunst darauf anwenden kann) die Ehre des Meisters. Je kleiner die Armee, desto größer (wenn die Schlacht gewonnen wird) der Ruhm des Eroberers.3
Gott benutzte Trompeten, um die Mauern Jerichos zum Einsturz zu bringen. Er verringerte Gideons Armee von 32 000 auf 300 Mann, um die Heere Midians zu vertreiben. Er benutzte einen Viehtreiberstock in der Hand Schamgars, um die Philister zu besiegen. Mit einem Eselskinnbacken konnte Simson eine ganze Armee besiegen. Und unser Herr speiste über 5000 Menschen mit nur ein paar Broten und Fischen.
1,28 Um nun das »fünffach gestaffelte Heer der Toren Gottes«, wie es jemand genannt hat, zu vervollständigen, führt Paulus noch »das Unedle der Welt und das Verachtete … das, was nicht ist«, auf. Indem Gott solche ungeeigneten Materialien verwendet, macht er »das, was ist, zunichte«. Mit anderen Worten: Es gefällt ihm, Menschen aufzunehmen, die von der Welt nicht geachtet werden, um sich an ihnen zu verherrlichen. Diese Verse sollten eine Ermahnung für all diejenigen sein, die die Gunst von Prominenten und bekannten Persönlichkeiten zu gewinnen suchen und die niedriger gestellten Heiligen Gottes nicht oder kaum beachten.
1,29 Gottes Ziel bei der Erwählung derjenigen, die in der Welt keinerlei Bedeutung haben, besteht darin, dass alle Ehre ihm und nicht den Menschen gegeben wird. Weil die Erlösung ganz von ihm abhängt, ist nur er es wert, gelobt zu werden.
1,30 Dieser Vers betont noch weiter, dass alles, was wir sind und haben, von Gott kommt – und nicht auf Philosophie zurückgeht. Deshalb gibt es keinen Platz für menschliches Rühmen. Als Erstes wurde Christus uns zur »Weisheit«. Er ist  die  Weisheit  Gottes  (V. 24),  der  Eine, den Gottes Weisheit als Heilsweg auserwählt hat. Wenn wir ihn haben, besitzen wir eine stellungsgemäße Weisheit, die unsere vollkommene Erlösung garantiert. Zweitens ist er unsere »Gerechtigkeit«. Durch den Glauben an ihn werden wir vom heiligen Gott gerecht gesprochen. Drittens ist Christus unsere »Heiligkeit« oder »Heiligung« (Anm. ER). An uns ist natürlich nichts Heiliges, doch in ihm sind wir von unserer Stellung her geheiligt, wobei wir durch seine Macht von einem Stand der Heiligung in den nächsten versetzt werden. Und schließlich ist er auch noch unsere »Erlösung«, und das bezieht sich zweifellos auf die endgültige Erlösung, wenn der Herr wiederkommen wird und uns mit sich in die himmlische Heimat nimmt, damit wir bei ihm sein können. Dann werden wir an Leib, Seele und Geist erlöst sein.
Traill hat diese Wahrheit scharfsinnig herausgearbeitet:
Weisheit ohne Christus ist schreck liche Torheit; Gerechtigkeit ohne Christus ist Schuld und Verdammnis. Heiligung ohne Christus ist Schmutz und Sünde; Erlösung ohne Christus ist Knechtschaft und Sklaverei.4
A. T. Pierson bringt diesen Vers mit dem Leben und Dienst unseres Herrn in Verbindung:
Seine Taten, Worte und Handlungen bewiesen, dass er die Weisheit Gottes war. Dann kamen sein Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung: Diese haben mit unserer Rechtfertigung zu tun. Danach werden der vierzigtägige Aufenthalt unter den Menschen, die Himmelfahrt, die Gabe des Geistes und sein Thronen zur Rechten Gottes erwähnt – alles Ereignisse, die mit unserer Heiligung zu tun haben. Und dann geht es um die Wiederkunft, die uns die Erlösung bringen wird.5
1,31 Gott hat es so eingerichtet, dass wir all diese Segnungen in dem »Herrn« erhalten. Paulus argumentiert deshalb folgendermaßen: »Warum wollt ihr Menschen verehren? Sie können nichts dergleichen für euch tun.«
2,1 Der Apostel erinnert nun die Heiligen an seinen Dienst bei ihnen, und wie er danach strebte, Gott und nicht sich selbst zu verherrlichen. Er kam zu ihnen und verkündigte »das Geheimnis Gottes«, nicht »mit Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit«. Er war keinesfalls dara n interessiert, sich einen Ruf als Redner oder Philosoph zu erwerben. Dies zeigt, dass der Apostel Paulus einen Unterschied zwischen seelischem und geistl ichem Dienst gesehen hat. Mit seelischem Dienst meinen wir den, der Menschen belustigt, unterhält oder in sonst irgende iner Weise deren Gefühle anspricht. Geistlicher Dienst dagegen stellt die Wahrheit des Wortes Gottes vor, sodass Christus verherrlicht und das Herz sowie Gewissen der Zuhörer erreicht wird.
2,2 Der Inhalt der Botschaft des Paulus war »Jesus Christus«. Er verkündigte »ihn als gekreuzigt«. »Jesus Christus« bezeichnet die Person, während »als gekreuzigt« auf sein Werk verweist. Die Person und das Werk des Herrn Jesus sind die Grundlage des christlichen Evangeliums.
2,3 Paulus betont weiter, dass seine persönliche Erscheinung weder beeindruckend noch anziehend war. Er lebte »in Schwachheit und mit Furcht und in vielem Zittern« unter den Korinthern. Der Schatz des Evangeliums lag in einem irdenen Gefäß verborgen, damit die Vortrefflichkeit der Kraft göttlichen Ursprungs und nicht auf Paulus zurückzuführen war. Er selbst war ein Beispiel dafür, wie Gott Schwaches gebraucht, um die Mächtigen zu verwirren.
2,4 Weder die »Rede« des Paulus noch seine »Predigt« bestand in »überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft«. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass sich »Rede« auf die von Paulus vermittelten Inhalte bezieht und mit »Predigt« die Darbietungsart der Inhalte gemeint ist. Andere definieren »Rede« als Zeugnis gegenüber Einzelnen und »Predigt« als Botschaften an größere Gruppen. Nach den Maßstäben dieser Welt hätte Paulus niemals einen Rednerwettbewerb gewonnen. Trotzdem benutzte der »Geist« Gottes die Predigten, um Menschen von Sünde zu überführen und sie zur Hinwendung zu Gott zu veranlassen.
2,5 Paulus wusste: Es war stets eine große Gefahr damit verbunden, dass seine Zuhörer an ihm selbst und seiner Person interessiert waren, statt an dem lebendigen Herrn. Er war sich bewusst, dass er selbst nicht segnen oder retten konnte. Daher beschloss er, dass er die Menschen dazu führen wollte, nur auf Gott und nicht »auf Menschenweisheit« zu vertrauen. Alle, die das Evangelium verkündigen oder das Wort Gottes weitergeben, sollten dies zu ihrem wichtigsten Ziel erklären.
2,6 Vor allem ist die »Weisheit« des Evangeliums göttlichen Ursprungs (V. 6.7).  »Wir  reden  aber  Weisheit  unter den Vollkommenen« oder Erwachsenen. Doch handelt es sich nicht um die »Weisheit dieses Zeitalters«. Auch wird es in den Augen »der Fürsten dieses Zeitalters« keine Weisheit sein. Ihre Weisheit ist vergänglich und besteht wie sie selbst nur für kurze Zeit.
2,7 »Wir reden Gottes Weisheit in einem Geheimnis.« Ein »Geheimnis« ist im NT eine Wahrheit, die bisher noch nicht offenbart wurde, doch nun den Gläubigen durch die Apostel und Propheten der frühchristlichen Gemeinde bekannt gemacht wurde. Dieses Geheimnis ist »die verborgene« Weisheit, »die Gott vorherbestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu unserer Herrlichkeit«. Das Geheimnis des Evangeliums umfasst solche wunderbaren Wahrheiten wie die Tatsache, dass jetzt Juden und Heiden in Christus eins gemacht sind. Weiterhin gehört dazu, dass der Herr Jesus wiederkommen und die Angehörigen seines wartenden Volkes heimholen wird, damit sie bei ihm sind, und dass nicht alle Gläubigen sterben werden, aber alle verwandelt werden.
2,8 Die »Fürsten dieses Zeitalters« könnten dämonische Geistwesen in den Himmeln sein, oder ihre menschlichen Werkzeuge auf Erden. Sie verstehen weder die verborgene Weisheit Gottes (Christus am Kreuz), noch erkennen sie, dass ihr Mord am Sohn Gottes zu ihrer eigenen Niederlage beitrug. »Wenn sie« die Wege Gottes »erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben«.
2,9 In den Versen 9-16 werden bestimmte Vorgänge (Offenbarung, Inspiration und Erleuchtung) beschrieben. Sie erklären uns, wie diese wundervollen Wahrheiten den Aposteln durch den Heiligen Geist bekannt gemacht wurden, wie die Apostel uns diese Wahrheiten durch die Inspiration mit dem Heiligen Geist weitergegeben haben und wie wir sie durch die Erleuchtung durch den Heiligen Geist verstehen können. Das in Vers 9 befindliche und Jesaja 64,3 entnommene Zitat umfasst die Prophezeiung, wonach Gott wundervolle Wahrheiten aufbewahrt hat, die nicht durch die natürlichen Sinne entdeckt werden können. Er wird sie jedoch zur rechten Zeit denen offenbaren, »die ihn lieben«. Es werden drei Fähigkeiten aufgeführt, mit denen wir Irdisches wahrnehmen können (nämlich »Auge«, »Ohr« und »Herz« bzw. Wille), doch diese reichen nicht aus, um göttliche Wahr heiten erkennen zu können, weil dafür der Geist Gottes notwendig ist. Dieser Vers wird normalerweise so ausgelegt, dass er sich auf die Herrlichkeit des Himmels bezieht, und sobald wir diese Bedeutung einmal verinnerlicht haben, ist es schwer, sie wieder aus unserem Verstand herauszubekommen und eine andere Bedeutung zu akzeptieren. In Wirklichkeit spricht Paulus hier von den Wahrheiten, die zum ersten Mal im NT offenbart worden sind. Menschen hätten diese Wahrheiten niemals durch wissenschaftliches Forschen oder durch philosophische Untersuchungen herausfinden können. Der menschliche Geist hätte diese wundervollen Geheimnisse niemals entdecken können, die uns zu Beginn des Evangeliumszeitalters gegeben wurden, wenn er nur auf sich selbst angewiesen gewesen wäre. Menschliche Vernunft ist völlig unzureichend, um die Wahrheiten Gottes zu erkennen.
2,10 Dass Vers 9 sich nicht auf den Himmel bezieht, wurde durch die Feststellung bewiesen, dass »Gott es« uns »durch den Geist … geoffenbart« hat. Mit anderen Worten, diese Wahrheiten, die uns das AT vorausgesagt hat, wurden den Aposteln im Zeitalter des NT offenbart. Das Wort »uns« bezieht sich auf die Verfasser des NT. Durch den »Geist« Gottes wurden die Apostel und Propheten erleuchtet, weil »der Geist … alles … erforscht, auch die Tiefen Gottes«. Mit anderen Worten, der Geist Gottes, ein Teil der Gottheit, hat unbegrenzte Weisheit, versteht alle Wahrheiten Gottes und kann sie auch anderen vermitteln.
2,11 Sogar im menschlichen Bereich kann niemand wissen, was der »Mensch« denkt – außer dem Betreffenden selbst. Niemand kann es herausfinden, es sei denn, der Betreffende möchte es bekannt machen. Und selbst dann müssen wir, um einen anderen Menschen zu verstehen, den »Geist« eines »Menschen« haben. Ein Tier könnte unser Denken nicht vollständig verstehen. Und genauso ist es mit Gott. Der Einzige, der die Geheimnisse Gottes verstehen kann, ist der »Geist Gottes«.
2,12 Das Wort »wir« in Vers 12 bezieht sich auf die Verfasser des NT, obwohl das ebenso auf alle Schreiber der Bibel zutrifft. Weil die Apostel und Propheten den Heiligen Geist erhalten hatten, konnte er sie in die tiefgründigsten Wahrheiten Gottes einführen. Das meint der Apostel, wenn er in diesem Vers sagt: »Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, damit wir die Dinge kennen, die uns von Gott geschenkt sind.« Ohne »den Geist, der aus Gott ist«, hätten die Apostel niemals die geistlichen Wahrheiten empfangen, von denen Paulus spricht und die uns im NT überliefert sind.
2,13 Nachdem Paulus den Prozess der Offenbarung beschrieben hat, durch den die Autoren der Heiligen Schrift die Wahrheit von Gott empfangen haben, fährt er nun damit fort, den Vorgang der Inspiration zu beschreiben, durch den uns die Wahrheit geschenkt worden ist. Vers 13 ist einer der wichtigsten Verse im gesamten Wort Gottes zum Thema Verbalinspiration. Der Apostel Paulus stellt hier eindeutig fest, dass die Apostel, als sie uns die göttlichen Wahrheiten übermittelten, nicht eigene »Worte« benutzten oder solche, die »durch menschliche Weisheit« beeinflusst waren. Vielmehr gebrauchten sie die Worte, die der »Geist« ihnen eingab. Und wir glauben, dass jedes einzelne Wort der Schrift, wie es sich in den Originalhandschriften fand, Gottes Wort ist (und dass die Bibel in ihrer heutigen Form vollkommen vert rauenswürdig ist). An diesem Punkt erhebt sich ein Aufschrei, weil einige meinen, dass man mit der eben dargestellten Auffassung nur meinen kann, dass die Autoren der Bibel einem mechanischen Diktat unterworfen gewesen seien, als ob Gott den Verfassern nicht gestattet habe, ihren eigenen Stil zu benutzen. Und doch wissen wir, dass der Schreibstil z. B. des Paulus sich völlig von demjenigen des Lukas unterscheidet. Wie können wir dann eine Verbalinspiration mit den individuellen Schreibstilen der einzelnen Verfasser vereinbaren? Auf eine Weise, die wir nicht völlig verstehen können, gab Gott die Worte der Schrift. Dennoch kleidete er diese Worte in den individuellen Stil der Verfasser, indem er der menschlichen Person Anteil an seinem vollkommenen Wort schenkte. Der hier vorkommende Ausdruck (»Geistliches durch Geistliches deuten«) kann auf verschiedene Weise gedeutet werden. Erstens kann er bedeuten, dass geistliche Wahrheiten mit geistgegebenen Worten gelehrt werden. Zweitens ist damit gemeint, dass geistliche Wahrheiten an geistliche Menschen weitergegeben werden, und drittens, dass geistliche Wahrheiten in einem Bibelabschnitt mit derartigen Wahrheiten in anderen Abschnitten verglichen werden. Wir sind der Auffassung, dass die erste Erklärung am besten zum Zusammenhang passt. Paulus sagt hier, dass der Vorgang der Inspiration beinhaltet, dass geistliche Wahrheit in Worte gekleidet wird, die für diesen Zweck vom Heiligen Geist besonders ausgewählt wurden. So können wir die Stelle wie folgt umschreiben: »… indem wir geistliche Wahrheiten mit geistlichen Worten darlegen.«
Manchmal wird eingewandt, dass dieser Abschnitt sich nicht auf die Inspiration beziehen könne, weil Paulus hier vom »Reden« spricht und nicht vom »Schreiben«. Doch es ist nicht ungewöhnlich, dass das Wort »reden« für inspirierte Schriften verwendet wird (z. B. Joh 12,38. 41; Apg 28,25; 2. Petr 1,21).
2,14 Aber das Evangelium ist nicht nur göttlich in seiner Offenbarung und Inspiration, sondern wir erfahren hier, dass es auch nur durch die Macht des »Geistes Gottes« angenommen werden kann. Wenn der Heilige Geist nicht hilft, so »nimmt« »ein natürlicher Mensch aber … nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit«. Er kann diese Worte überhaupt nicht verstehen, weil sie nur »geistlich« zu verstehen sind. Vance Havner rät in seiner lebendigen Art:
Der weise Christ verschwendet keine Zeit bei dem Versuch, Gottes Plan den nicht wiedergeborenen Menschen zu erklären, weil das hieße, Perlen vor die Schweine zu werfen. Er könnte genauso gut versuchen, einem Blinden einen Sonnenuntergang zu beschreiben oder mit einem Denkmal im Stadtpark über Atomphysik zu diskutieren. Der natürliche Mensch kann so etwas nicht verstehen. Man könnte ebenso gut versuchen, Sonnenstrahlen mit einer Angel zu fangen, wie Gottes Offenbarung ohne die Hilfe des Heiligen Geistes zu verstehen. Wenn jemand nicht durch den Geist wiedergeboren und gelehrt ist, so ist ihm dies alles ausgesprochen fremd. Ein Doktortitel nützt einem gar nichts, denn es könnte sein, dass man in dieser Hinsicht »Doktor der Unwissenheit« wird!6
2,15 Andererseits kann derjenige, der durch den Geist Gottes erleuchtet ist, diese wunderbaren Wahrheiten erforschen, auch wenn »er selbst« von den Unbekehrten nicht richtig »beurteilt« werden kann. Vielleicht ist er Zimmermann, Klempner oder Fischer, und doch beweist er, wie angemessen er mit der Bibel umgehen kann. »Der geistgeleitete Christ untersucht und erforscht die Bibel. Er ist ihrem Inhalt auf der Spur und lernt, sie wertzuschätzen und zu verstehen.«7 Der Welt mag er ein Rätsel sein. Er mag niemals eine Universität oder Hochschule besucht haben, und doch kann er die tiefen Geheimnisse des Wortes Gottes verstehen und sie vielleicht sogar anderen weitergeben.
2,16 Der Apostel stellt nun mit Jesaja die rhetorische Frage: »Wer hat den Sinn des Herrn erkannt, dass er ihn unterweisen könnte?« Wenn wir diese Frage so stellen, haben wir sie auch schon beantwortet. Es steht weder in der Macht des Menschen, noch ist menschliche Weisheit so groß, dass der Betreffende Gott erkennen könnte. Gott ist nur denjenigen bekannt, denen er sich bekannt machen will. Doch diejenigen, die »Christi Sinn« haben, sind in der Lage, die tiefsten Wahrheiten Gottes zu verstehen. Es sei nochmals zusammengefasst: Zunächst ging es um die Offenbarung (V. 9-12),  das  bedeutet,  dass  Gott  bisher unbekannte Wahrheiten den Menschen durch den Heiligen Geist offenbart hat. Diese Wahrheiten wurden durch den Geist Gottes auf übernatürliche Weise bekannt gemacht.
Zweitens gibt es die Inspiration (V. 13). Als die Apostel (und alle anderen Verfasser der Bibel) diese Wahrheiten weitergaben, verwendeten sie genau die Worte, die der Heilige Geist ihnen eingab. Schließlich gibt es noch die Erleuchtung  (V. 14-16).  Diese  Wahrheiten  mussten nicht nur durch ein Wunder offenbart und inspiriert werden, sondern können auch nur durch die übernatürliche Macht des Heiligen Geistes verstanden werden.
3,1 Als Paulus erstmalig Korinth besuchte, hatte er die Gläubigen mit der Milch des Wortes ernährt. Er konnte ihnen nur grundlegende geistliche Speise geben, weil sie noch schwach und jung im Glauben waren. Die Lehren, die er ihnen vermittelt hatte, entsprachen ihrem Zustand. Sie konnten noch keine tief gehenden geistlichen Lehren empfangen, weil sie noch jung im Glauben waren. Sie waren »Unmündige in Christus«.
3,2 Paulus hatte sie nur die elementaren Wahrheiten über Christus gelehrt, die er hier »Milch« nennt. Sie waren wegen ihrer Unreife nicht in der Lage, »feste Speise« zu sich zu nehmen. Im gleichen Sinne sagt der Herr Jesus zu seinen Jüngern: »Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen« (Joh 16,12).
3,3 Die Gläubigen waren »noch« immer in einem »fleischlichen« Zustand. Das zeigte sich in der Tatsache, dass es »Eifersucht und Streit« unter ihnen gab. Solches Verhalten ist charakteristisch für Weltmenschen, aber nicht für diejenigen, die sich vom Geist Gottes leiten lassen.
3,4 Indem die Korinther im Umfeld menschlicher Leiter Parteiungen bildeten, etwa um »Paulus« oder »Apollos«, handelten sie rein menschlich. Das meint Paulus wenn er fragt: »Benehmt ihr euch nicht einfach menschlich?« Bis zu diesem Punkt hat der Apostel Paulus gezeigt, wie töricht es ist, Menschen zu verehren, indem er das wahre Wesen des Evangeliums betrachtet hat. Nun wendet er sich dem Thema »christlicher Dienst« zu und zeigt auch von diesem Standpunkt her, wie ausgesprochen töricht es ist, gemeindliche Führungspersönlichkeiten zu verehren, indem man Gruppen in ihrem Umfeld bildet.
3,5 »Apollos« und »Paulus« waren »Diener, durch die« die Korinther an den Herrn Jesus »gläubig geworden« waren. Sie waren lediglich Werkzeuge und nicht diejenigen, die an der Spitze konkurrierender theologischer Schulen standen. Wie töricht wäre es doch von den Korinthern, Diener in den Rang von Herren zu erheben! Ironside kommentiert recht treffend: »Man stelle sich nur einen Haushalt vor, in dem wegen der Dienerschaft Streit herrscht!«
3,6 Indem Paulus nun ein Bild aus der Landwirtschaft benutzt, zeigt er, dass der Diener in seinem Handeln doch sehr beschränkt ist. Paulus selbst konnte pflanzen und »Apollos« konnte begießen, doch nur Gott kann »das Wachstum« geben. So können auch heute einige von uns das Wort predigen, und wir alle können für unerrettete Verwandte und Freunde beten, doch das eigentliche Erlösungswerk kann nur durch den Herrn getan werden.
3,7 Wenn wir die Angelegenheit von diesem Standpunkt aus betrachten, dann können wir ganz schnell erkennen, dass der Pflanzende und der Begießende relativ unwichtig sind. Sie haben nicht die Macht, Leben hervorzubringen. Warum sollte es dann Neid und Rivalität unter christlichen Mitarbeitern geben? Jeder sollte die Arbeit tun, die ihm aufgetragen ist, und sich freuen, wenn der Herr seinen Segen dazu gibt.
3,8 »Der aber pflanzt und der begießt, sind eins« in dem Sinne, dass sie beide dasselbe Ziel haben. Sie sollten nicht eifersüchtig aufeinander sein. Und soweit es ihren Dienst betrifft, so haben sie die gleiche Stellung. Eines Tages »wird … jeder aber … seinen eigenen Lohn empfangen nach seiner eigenen Arbeit«. Das ist der Tag des Richterstuhls Christi.
3,9 Gott ist der Eine, dem wir alle verantwortlich sind. Alle seine Diener sind »Mitarbeiter«, die gemeinsam auf »Gottes Ackerfeld« arbeiten. Wir können auch ein anderes Bild dafür benutzen: Sie arbeiten am gleichen »Bau« zusammen. Erdman gibt den Gedanken folgendermaßen wieder: »Wir sind Mitarbeiter, die Gott gehören und miteinander an einem Projekt arbeiten.«8
3,10 Der Apostel führt nun den Gedanken vom Bau fort und erkennt zunächst einmal an, dass alles, was er bisher erreicht hat, nur durch die »Gnade Gottes« geschehen konnte. Damit meint er die unverdiente Befähigung durch Gott, das Werk eines Apostels zu tun. Dann beschreibt er seine Aufgabe bei der Gründung der Gemeinde in Korinth: Hier hat er »als ein weiser Baumeister den Grund gelegt«. Er kam nach Korinth und predigte den gekreuzigten Christus. Menschen wurden gerettet, und so konnte er eine Ortsgemeinde gründen. Dann fügt er hinzu: »Ein anderer aber baut darauf.« Damit bezieht er sich sicherlich auf andere Lehrer, die später Korinth besucht haben, und auf dem Fundament aufbauten, das schon gelegt worden war. Doch der Apostel warnt: »Jeder aber sehe zu, wie er darauf baut.« Er meint, dass es eine ernst zu nehmende Aufgabe ist, in einer Ortsgemeinde den Lehrdienst auszuüben. Einige waren mit Uneinigkeit stiftenden Lehren und Ansichten, die dem Wort Gottes entgegenstanden, nach Korinth gekommen. Paulus war sich dessen zweifellos bewusst, als er diese Worte schrieb.
3,11 Man braucht nur ein Fundament für ein Gebäude. Sobald es gelegt ist, braucht man kein weiteres. Der Apostel Paulus hatte das Fundament für die Gemeinde in Korinth gelegt. Dieser »Grund« war »Jesus Christus«, seine Person und sein Werk.
3,12 Die daran anschließende Lehre in einer Ortsgemeinde kann unterschiedlichen Wert haben. So gibt es einige Lehren von bleibendem Wert, die man mit »Gold, Silber« und »kostbaren Steinen« vergleichen kann. Hier bezieht sich »kostbare Steine« wahrscheinlich nicht auf Diamanten, Rubine und andere Edelsteine, sondern auf Granit, Marmor und Alabaster, die beim Bau kostbarer Tempel verwendet wurden. Andererseits kann die Lehre in einer Gemeinde von vergänglichem Wert oder sogar wertlos sein. Solch eine Lehre wird hier mit »Holz, Heu, Stroh« verglichen.
Dieser Schriftabschnitt wird normalerweise allgemein auf das Leben aller christlichen Gläubigen angewendet. Es stimmt, dass wir alle Tag für Tag bauen, und die Ergebnisse dieser Mühe werden eines Tages offenbart werden. Dennoch sollte der sorgfältige Ausleger festhalten, dass es hier nicht in erster Linie um alle Gläubigen, sondern um Prediger und Lehrer geht.
3,13 Eines Tages »wird das Werk eines jeden offenbar werden«. »Tag« bezieht sich hier auf den Richterstuhl Christi, an dem aller Dienst für den Herrn beurteilt werden wird. Der Vorgang der Be urteilung wird hier mit der Wirkung des Feuers verglichen. Der Dienst, der Gott Ehre gebracht hat und ein Segen für Menschen war, wird wie Gold, Silber und kostbare Steine nicht vom Feuer angegriffen werden. Andererseits wird der Dienst, der unter dem Volk Gottes Probleme entstehen lässt oder es nicht erbaut, verzehrt werden. »Und wie das Werk eines jeden beschaffen ist, wird das Feuer erweisen.«
3,14 Es gibt drei Arten von Gemeindearbeit. In Vers 14 wird die erste Art genannt – Dienst, der zum Segen wird. In solch einem Fall wird das Lebenswerk des Dieners die Probe vor dem Richterstuhl Christi bestehen und »bleiben«. Der Arbeiter wird dann »Lohn empfangen«.
3,15 Die zweite Art der Gemeindearbeit ist nutzlos. In diesem Fall wird der Diener »Schaden leiden«, obwohl »er selbst … gerettet werden« wird. E. W. Rogers betont: »›Schaden‹ bedeutet hier nicht, dass etwas, das man schon besessen hat, verwirkt wird.«9 Aus diesem Vers sollte deutlich geworden sein, dass es am Richterstuhl Christi nicht mehr um die Sünden des Gläubigen und ihre Bestrafung geht. Die Strafe für die Sünden des Gläubigen wurde von dem Herrn Jesus Christus am Kreuz von Golgatha getragen, und diese Angelegenheit ist ein für alle Mal erledigt. Deshalb wird die Errettung des Gläubigen hier am Richterstuhl Christi keinesfalls infrage gestellt. Vielmehr geht es hier um den Dienst. Durch den Fehler, hier nicht zwischen Erlösung und Lohn zu unterscheiden, hat die katholische Kirche diesen Vers verwendet, um ihre Lehre vom Fegefeuer zu untermauern. Doch eine sorgfältige Untersuchung des Verses zeigt, dass hier so etwas wie ein Fegefeuer überhaupt nicht erwähnt wird. Es gibt hier keine Andeutung, dass das Feuer das Wesen eines Menschen reinigen könnte. Vielmehr erprobt das Feuer den Dienst oder die Arbeit eines Menschen und stellt fest, welche Qualität sie hatte. Der Mensch wird auch dann gerettet, wenn seine Werke vom Feuer verzehrt werden. Ein interessanter Gedanke im Zusammenhang mit diesem Vers ist, dass das Wort Gottes manchmal mit dem Feuer verglichen wird (s. Jes 5,24 und Jer 23,29). Dasselbe Wort Gottes, das unseren Dienst am Richterstuhl Christi beurteilt, haben wir auch heute schon zur Verfügung. Wenn wir entsprechend der Lehren der Bibel bauen, dann wird unser Werk an jenem Tag die Probe bestehen.
3,16 Paulus erinnert die Gläubigen, dass sie »Tempel (gr., das innere oder höchste Heiligtum) Gottes« sind »und der Geist Gottes in« ihnen »wohnt«. Es stimmt auch, dass der Geist in jedem einzelnen Gläubigen wohnt, doch daran denkt Paulus hier gar nicht. Er sieht die Angehörigen der Gemeinde als eine Gemeinschaft von vielen und wünscht, dass sie die heilige Würde einer solchen Berufung erkennen.
3,17 Eine dritte Art des Werkes gibt es noch in der Ortsgemeinde, das man als äußerst zerstörerisch bezeichnen kann. Offensichtlich gab es Irrlehrer, die in die Gemeinde von Korinth gekommen waren und deren Lehre eher zur Sünde als zur Heiligung führte. Sie fanden es nicht schlimm, solch eine Zerstörung im Tempel Gottes anzurichten. Deshalb schleudert Paulus ihnen diese folgenschwere Erklärung entgegen: »Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben.« Falls wir es auf dem Hintergrund der Ortsgemeinde betrachten, so bedeutet das, wenn ein Mann in eine Gemeinde kommt und ihr Zeugnis unmöglich macht, so wird »Gott« ihn »verderben«. Der Abschnitt spricht von Irrlehrern, die keine echten Gläubigen an den Herrn Jesus sind. Wie folgenschwer ein solches Vergehen ist, zeigt sich durch die Schlussworte von Vers 17: »Der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.«
3,18 Im christlichen Dienst gibt es, wie immer im christlichen Leben, die Gefahr des Selbstbetrugs. Vielleicht meinten einige derer, die nach Korinth als Lehrer gekommen waren, dass sie überragende Weisheit besäßen. Jeder, der eine übertriebene Vorstellung von seiner weltlichen Weisheit hat, muss lernen, dass er in den Augen der Welt zum Narren werden muss, damit er in Gottes Augen »weise werden« kann. Godet liefert an diesem Punkt eine sehr hilfreiche Umschreibung: Irgendjemand, ob Korinther oder nicht, mag sich bei seiner Verkündigung in euren Gemeinden die Rolle des Weisen oder den Ruf einen tiefgründigen Denkers anmaßen. Dabei soll er sich sicher sein, dass er keine echte Weisheit erlangen wird, bis er durch eine Krise geht, worin die menschliche Weisheit als Ursache seiner Aufgeblasenheit verschwindet. Danach empfängt er nur noch die Weisheit, die von oben ist.10
3,19 »Die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott.« Der Mensch könnte durch Forschen Gott niemals finden, auch hätte menschliche Weisheit nie einen Heilsplan erdenken können, in dem Gott Mensch wird, um für schuldige, böse und rebellische Sünder zu sterben. Hiob 5,13 wird hier in Vers 19 zitiert, um zu zeigen, dass Gott über die angebliche Weisheit triumphiert, um seine Vorhaben zum Ziel zu bringen. Der Mensch mit all seiner Gelehrtheit kann die Pläne des Herrn nicht zum Scheitern bringen. Stattdessen zeigt Gott den Menschen oft, dass sie trotz ihrer Weltklugheit ausgesprochen arm und machtlos sind.
3,20 Psalm 94,11 wird hier zitiert, um zu unterstreichen, dass »der Herr … die Überlegungen der Weisen« dieser Welt »kennt«. Er weiß auch, dass sie »nichtig«, leer und fruchtlos sind. Doch warum macht sich Paulus solche Mühe, die Weisheit der Welt so in Misskredit zu bringen? Aus einem ganz einfachen Grund: Die Korinther legten sehr viel Wert auf solche Weisheit und folgten solchen Führern, die diese scheinbar im außergewöhnlichen Maße besaßen.
3,21 Angesichts alles bisher Gesagten sollte sich »niemand im Blick auf Menschen« rühmen. Und soweit es um echte Diener des Herrn geht, sollten wir uns nicht rühmen, dass wir ihnen gehören, sondern vielmehr erkennen, dass sie alle uns gehören. »Alles ist euer.«
3,22 Jemand hat Vers 22 einmal eine »Inventarliste des Besitzes des Kindes Gottes« genannt. Uns gehören die christlichen Mitarbeiter, ob es »Paulus« als Evangelist oder »Apollos« als Lehrer oder »Kephas« als Hirte ist. Weil sie alle uns gehören, ist es töricht, sie für uns zu beanspruchen, weil wir jeden von ihnen besitzen. Auch die »Welt« gehört uns. Als Miterben Christi werden wir sie eines Tages in Besitz nehmen, und in der Zwischenzeit gehört sie uns durch göttliche Verheißung. Diejenigen, die sich um die Angelegenheiten der Welt kümmern, wissen nicht, dass sie es für uns tun. Dann gehört uns das »Leben«. Damit ist nicht nur die Existenz auf Erden gemeint, sondern Leben in seinem wahrsten, vollsten Sinne. Und der »Tod« gehört uns. Für uns ist er nicht länger ein gefürchteter Feind, der die Seele in undurchdringlicher Finsternis hält. Vielmehr ist er ein Bote Gottes, der die Seele in den Himmel führt. »Gegenwärtiges oder Zukünftiges: Alles ist« gleichermaßen unser. Es hat jemand einmal treffend gesagt, dass alle Dinge dem dienen, der Christus dient. A. T. Robertson meinte einmal dazu: »Die Sterne auf ihren Bahnen kämpfen für den, der bei der Erlösung der Welt an Gottes Seite steht.«
3,23 Alle Christen gehören Christus. Einige in Korinth behaupteten, ihm zu gehören, und schlossen damit alle anderen aus. Sie waren die »Christus-Partei«. Doch Paulus widerlegt eine solche Vorstellung. Wir alle sind »Christi, Christus aber ist Gottes«. Indem Paulus den Heiligen ihre wahre und eigentliche Würde zeigt, enthüllt Paulus freimütig die Torheit, Sekten und Parteiungen in der Gemeinde zu bilden.
4,1 Damit die Korinther imstande wären, Paulus und die anderen Apostel recht einzuschätzen, sagt er, dass die Heiligen sie als »Diener« oder Mitarbeiter »Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes« betrachten sollten. Ein Verwalter ist ein Diener, der für die Person oder das Vermögen eines anderen sorgt. Die »Geheimnisse Gottes« sind Geheimnisse, die vorher verborgen waren, Gott jetzt aber den Aposteln und Propheten des NT offenbart hat.
4,2 Die wichtigste Eigenschaft eines »Verwalters« ist, »treu erfunden« zu werden. Menschen schätzen Klugheit, Weisheit, Reichtum und Erfolg, doch Gott sucht Menschen, die Jesus in allem treu sind.
4,3 Die erforderliche Treue eines Verwalters kann von anderen Menschen nur schwer eingeschätzt werden. Deshalb sagt Paulus hier, dass es für ihn »das Geringste ist«, wenn er von den Korinthern »oder von einem menschlichen Gerichtstag beurteilt« werde. Paulus erkennt, wie ausgesprochen unfähig der Mensch ist, eine gerechte Beurteilung treuer Hingabe an Gott abzugeben. Er fügt hinzu: »Ich beurteile mich aber auch selbst nicht.« Er erkannte, dass er selbst als Mensch geboren worden und deshalb nur zu geneigt war, zu seinen eigenen Gunsten zu urteilen.
4,4 Wenn der Apostel sagt: »Ich bin mir selbst nichts bewusst«, dann meint er damit nichts bezüglich des Dienstes als Christ. Er kann sich an keine Untreue erinnern, die man gegen ihn vorbringen könnte. Er glaubt keinen Augenblick lang, dass er von keiner Sünde in seinem Leben wisse. Auch sagt er nicht, dass ihm keine Unvollkommenheit bewusst sei, was seine Existenz als Christ betreffe. Den Abschnitt sollte man in seinem Kontext lesen, wobei es hier um den christlichen Dienst und die darin unter Beweis gestellte Treue geht. Doch auch wenn er nichts gewusst hätte, was man gegen ihn selbst vorbringen könnte, so wäre er »dadurch« noch »nicht gerechtfertigt«. Er war einfach nicht kompetent, diese Angelegenheit zu beurteilen. Schließlich ist der Herr der Richter.
4,5 Angesichts dessen sollten wir äußerst vorsichtig sein, wenn wir einen christlichen Dienst einschätzen. Wir neigen dazu, das Spektakuläre und Sensationelle zu feiern und das Geringere sowie Unauffälligere zu verachten. Die sicherste Vorgehensweise besteht darin, »nichts vor der Zeit« zu »verurteilen«, sondern zu warten, »bis der Herr kommt«. Er wird alles beurteilen können, und zwar nicht nur, was vor Augen ist, sondern auch die Motive des Herzens – nicht nur, was getan wurde, sondern auch warum es getan wurde. Er wird »die Absichten der Herzen offenbaren« wobei natürlich alles, das um der Selbstverherrlichung willen getan wurde, keine Belohnung erhalten wird. Dass »jedem sein Lob … von Gott« werden wird, ist kein leeres Versprechen, dass sich der Dienst jedes Gläubigen eines Tages als wohlgefällig erweisen wird. Die Bedeutung ist, dass jeder, dem Lob gebührt, auch Lob »von Gott« und nicht von Menschen erhalten wird. In den nächsten acht Versen stellt der Apostel recht deutlich fest, dass der Stolz die Ursache der Spaltungen ist, die in der Gemeinde in Korinth existieren.
4,6 Zuerst erklärt Paulus, dass er sich und »Apollos« als Beispiele hingestellt hat, als er über den christlichen Dienst und die Neigung gesprochen hat, menschlichen Führern zu folgen handelten, als ob sie schon herrschten, doch sie taten es ohne die Apostel. Paulus erklärt, er wünsche sich, dass sie »wirklich« schon »zur Herrschaft« gekommen seien, sodass er »mit« ihnen »herrschen könnte«! Aber eigentlich ist »die Zeit des Lebens ein Training und Übungsfeld für die Zeit der Herrschaft«, wie jemand einmal gesagt hat. Die Christen werden mit dem Herrn Jesus regieren, wenn er wiederkommt und sein Reich auf Erden aufrichtet. In der Zwischenzeit ist es ihr Vorrecht, die Verachtung eines verworfenen Heilands zu teilen. H. P. Barker warnt: Es ist Ausdruck einer ausgesprochenen Treulosigkeit, unsere eigene Krone zu erstreben, ehe der König gekrönt wird. Doch genau das taten einige der Christen in Korinth. Die Apostel selbst trugen die Verachtung Christi am Leib. Doch die Korinther waren »reich« und »ehrbar«. Sie versuchten, es sich gut gehen zu lassen, während ihr Herr und Meister solch schwere Zeiten durchleben musste.11
Bei Krönungen setzen die Peers ihre Krönchen erst dann auf, wenn der Herrscher gekrönt worden ist. Die Korinther kehrten diese Ordnung um; sie regierten schon, während der Herr noch abgelehnt wurde!
4,9 Im Gegensatz zu dieser Selbstzufriedenheit der Korinther beschreibt Paulus nun das Schicksal der »Apostel«. Er zeigt, wie sie in eine Arena mit wilden Tieren geschickt werden, in der »Engel« und »Menschen« die Zuschauer sind. Godet hat dazu gesagt: »Es war nicht die richtige Zeit für die Korinther, sich selbstzufrieden damit zu brüsten, dass die Gemeinde herrsche, während die Apostel dem Schwert ausgeliefert waren.«
4,10 Während die Apostel »Narren um Christi willen« geworden sind, genossen die Heiligen das Ansehen der Bevölkerung als kluge Christen. Die Apostel waren »schwach«, aber die Korinther ließen keine Schwäche zu. Im Gegensatz zur Schmach der Apostel stand das Ansehen der Heiligen.
4,11 Den Aposteln schien es nicht so, dass die Stunde des Sieges und der Herrschaft schon gekommen sei. Sie litten unter »Hunger«, »Durst«, Blöße und Verfolgung. Sie wurden gejagt, verfolgt und waren heimatlos.
4,12 Sie mussten für ihren Unterhalt mit ihren »eigenen Händen« arbeiten. Wenn sie »geschmäht« wurden, so segneten sie als Antwort. Wenn sie »verfolgt« wurden, dann schlugen sie nicht zurück, sondern ertrugen es geduldig.
4,13 Wenn sie »gelästert« wurden, baten sie die Menschen, den Herrn Jesus anzunehmen. Kurz gesagt, sie waren »wie Auskehricht der Welt« »geworden, ein Abschaum aller«. Diese Beschreibung der Leiden um Christi willen sollte zu unser aller Herzen sprechen. Wenn der Apostel Paulus heute leben würde, stellt sich die Frage: Könnte er dann zu uns wie zu den Korinthern sagen: »Ihr habt ohne uns als Könige regiert«?
4,14 In den Versen 14-21 ermahnt Paulus die Gläubigen noch einmal wegen ihrer Spaltungen. Er ist sich bewusst, dass er ironisch gesprochen hat, und erklärt nun, dass er das nicht getan hat, um die Korinther »zu beschämen«. Vielmehr wollte er sie als seine »geliebten Kinder« ermahnen. Nicht Bitterkeit ließ ihn so sprechen, sondern ein echtes Interesse an ihrem geistlichen Wohlergehen.
4,15 Der Apostel erinnert sie daran, dass sie vielleicht »zehntausend Zuchtmeister in Christus« haben, doch nur einen Vater im Glauben. Paulus selbst hatte sie zum Herrn geführt, er war ihr geistlicher Vater. Viele andere konnten nach ihm kommen und sie lehren, doch niemand anders konnte dieselbe liebevolle Fürsorge für sie haben als derjenige, der sie zum Lamm gewiesen hatte. Paulus will keinesfalls den Lehrdienst verächtlich machen, sondern beschreibt eine wohlbekannte Wahrheit, nämlich die Tatsache, dass es viele gibt, die sich im christlichen Dienst engagieren, ohne das persönliche Interesse an den Heiligen zu haben, das für jemanden kennzeichnend ist, der sie zu Christus geführt hat.
4,16 Deshalb drängt Paulus sie nun, seine »Nachahmer« zu werden, d. h. hinsichtlich seiner selbstlosen Hingabe an Christus und seiner unermüdlichen Liebe sowie seines unermüdlichen Dienstes für seine Mitgläubigen, wie er dies in den Versen 9-13 beschrieben hat.
4,17 Um ihnen zu helfen, dieses Ziel zu erreichen, hat Paulus »Timotheus« zu ihnen »gesandt«, sein »geliebtes und treues Kind im Herrn«. Timotheus war angewiesen, sie an Paulus’ »Wege in Christus« zu »erinnern«, Wege, die er in allen Gemeinden gelehrt hatte. Paulus sagt hier, dass er tat, was er predigte, und das sollte für jeden gelten, der im christlichen Dienst steht.
4,18 Als Paulus erklärte, dass er ihnen Timotheus senden wolle, sind vielleicht einige seiner Gegner in Korinth schnell aufgestanden, um den anderen einzureden, dass Paulus sich fürchtete, selbst zu kommen. Diese Männer waren »aufgeblasen«, wenn sie dies den anderen einredeten.
4,19 Paulus verspricht »aber«, dass er in naher Zukunft »kommen« werde, »wenn der Herr will«. Wenn er kommen würde, dann würde er den Stolz derer bloßstellen, die so groß daherreden, aber keine geistliche »Kraft« besitzen.
4,20 Schließlich zählt die »Kraft«, »denn das Reich Gottes besteht nicht« in erster Linie aus Worten, sondern aus Taten. Es erweist sich nicht im bloßen Bekenntnis, sondern in der Kraft göttlicher Wirklichkeit.
4,21 Wie Paulus zu ihnen kommen wird, hängt von ihnen selbst ab. Wenn sie weiter rebellisch bleiben, dann wird er »mit der Rute zu« ihnen »kommen«. Wenn sie sich aber andererseits demütigen und unterwerfen, dann wird er »in Liebe und im Geist der Sanftmut« zu ihnen kommen.
B. Sittenlosigkeit unter den Gläubigen (Kap. 5)
Kapitel 5 behandelt die Notwendigkeit disziplinarischer Maßnahmen in einer Gemeinde, wenn eines der Glieder eine ernste Sünde öffentlicher Natur begangen hat. Gemeindezucht ist für die Gemeinde notwendig, um in den Augen der Welt ihre Heiligkeit zu wahren, und auch deshalb, weil nur dann der Heilige Geist in ihrer Mitte nicht betrübt wird und weiterhin wirken kann.
5,1 Offensichtlich war es überall bekannt, dass einer unter den Männern der Gemeinde in Korinth sich der »Unzucht« hingegeben hat. Hier handelte es sich um eine sehr extreme Sünde, wie man sie noch nicht einmal »unter den Nationen« finden konnte. Es ging hier darum, dass »einer« verbotenen Umgang mit »seines Vaters Frau« gehabt hatte. Zweifellos war die eigene Mutter des Mannes gestorben, und der Vater hatte ein zweites Mal geheiratet. So würde der Ausdruck »seines Vaters Frau« seine Stiefmutter bezeichnen. Sie war wahrscheinlich ungläubig, weil eine Gemeindezucht gegen sie nicht erwähnt wird. In ihrem Fall war die Gemeinde nicht berechtigt, ein Urteil zu fällen.
5,2 Wie hatten nun die korinthischen Christen darauf reagiert? Statt in tiefe Trauer zu verfallen, waren sie stolz und hochmütig. Vielleicht waren sie auf ihre Toleranz stolz, dass sie den Sünder nicht richteten. Oder möglicherweise waren sie so stolz auf die vielen geistlichen Gaben der Gemeinde, dass sie nicht ernsthaft über das Geschehen nachdachten. Oder sie waren eventuell mehr an hohen Mitgliederzahlen als an Heiligung interessiert. Jedenfalls hatte sie diese Sünde nicht hinlänglich aus der Fassung gebracht.
»Ihr seid aufgeblasen und habt nicht etwa Leid getragen, damit der, der diese Tat begangen hat, aus eurer Mitte entfernt würde!« Dieser Satz lässt erkennen, dass der Herr selbst, wenn die Gläubigen die rechte Haltung der Demütigung vor ihm eingenommen hätten, in dieser Angelegenheit gehandelt und den Sünder gestraft hätte. Erdman sagt: Sie hätten verstehen müssen, dass die wahre Herrlichkeit der Gemeinde nicht in Beredsamkeit und großartigen Gaben ihrer Lehrer besteht, sondern in moralischer Reinheit und dem beispielhaften Leben ihrer Mitglieder.12
5,3 Im Gegensatz zu ihrer Gleichgültigkeit steht die Tatsache, dass der Apostel, obwohl er »abwesend« war, in dieser Angelegenheit »das Urteil gefällt« hat, als ob er anwesend gewesen wäre.
5,4 Paulus stellt hier die Gemeinde dar, wie sie sich versammelt, um Maßnahmen gegen den Sünder zu ergreifen. Obwohl er nicht leiblich anwesend ist, so ist er doch im »Geist« anwesend, wenn sie sich »im Namen unseres Herrn Jesus Christus«  (V. 5)  versammeln.  Der  Herr Jesus hatte der Gemeinde und den Aposteln die Autorität verliehen, in all derartigen Fällen Gemeindezucht zu üben. Deshalb sagt Paulus, dass er mit der »Kraft« (oder Vollmacht) »unseres Herrn Jesus« handeln würde.
5,5 Paulus beabsichtigte, folgende Maßnahme zu ergreifen: Er wollte »einen solchen im Namen unseres Herrn Jesus dem Satan zu überliefern zum Verderben des Fleisches, damit der Geist errettet werde am Tage des Herrn.« Die Exegeten sind sich über die Bedeutung dieses Satzes nicht einig. Einige sind der Ansicht, dass es sich hier um einen Ausschluss aus der Ortsgemeinde handelt. Außerhalb der Gemeinde ist der Bereich der Herrschaft Satans  (1. Joh  5,19).  Deshalb  wäre  »dem Satan überliefern« einfach ein Gemeindeausschluss. Andere sind der Ansicht, dass die Macht, dem Satan zu übergeben, eine besondere Vollmacht der Apostel war, die aber heute nicht mehr existiert. Ferner besteht keine Übereinstimmung über die Bedeutung des Ausdrucks »zum Verderben des Fleisches«. Viele sind der Ansicht, dass hier leibliche Leiden beschrieben werden, die von Gott benutzt werden, um die Macht der sündigen Lüste und Gewohnheiten im Leben dieses Menschen zu brechen. Andere sind der Ansicht, dass mit dem Ausdruck »zum Verderben des Fleisches« ein langsamer Tod beschrieben wird, der einem Menschen Zeit gibt, Buße zu tun und verschont zu werden.
Jedenfalls sollten wir uns daran erinnern, dass Gemeindezucht immer darauf abzielt, eine Wiederherstellung der Gemeinschaft mit dem Herrn zu bewirken. Der Ausschluss ist nie Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Das Ziel besteht darin, dass »der Geist errettet werde am Tage des Herrn«. Mit anderen Worten, hier ist nicht daran gedacht, dass dieser Mann auf ewig verdammt ist. Er wird in seinem Leben wegen seiner Sünde gestraft, doch er wird »errettet … am Tage des Herrn«.
5,6 Paulus rügt die Korinther nun dafür,  dass  sie  sich  »rühmen«,  d. h.  überheblich sind. Vielleicht entschuldigten sie sich damit, dass es doch nur einmal geschehen sei. Sie hätten wissen müssen, »dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert«. »Sauerteig« ist hier ein Bild für moralische Sünde. Der Apostel sagt an dieser Stelle, dass die Tolerierung nur einer kleinen moralischen Sünde in der Gemeinde dazu führt, dass die Sünde wächst und sich ausdehnt, bis die gesamte Gemeinschaft ernsthaft betroffen ist. Gerechte, gottgemäße Gemeindezucht ist notwendig, um den Charakter der Gemeinde zu bewahren.
5,7 So wird den Korinthern befohlen, »den alten Sauerteig« auszufegen. Mit anderen Worten: Sie sollten sofort strenge Maßnahmen gegen das Böse ergreifen, damit sie ein »neuer«, reiner »Teig« würden. Und Paulus fügt hinzu: »… wie ihr ja bereits ungesäuert seid.« Gott sieht sie in Christus als heilig, gerecht und rein. Nun will der Apostel sagen, dass ihr Zustand mit ihrer Stellung übereinstimmen soll. Nach ihrer Stellung waren sie ungesäuert. Und nun sollten sie auch in ihrem Zustand ungesäuert sein. Ihr Wesen sollte ihrem Namen entsprechen, und ihr Verhalten ihrem Glauben.
»Denn auch unser Passah, Christus, ist geschlachtet.« Als Paulus an das ungesäuerte Brot denkt, wird er an das Passahfest erinnert, bei dem am Abend des ersten Festtags die Juden angewiesen waren, allen Sauerteig aus dem Haus zu entfernen. Sie gingen an ihre Knettröge und reinigten sie. Sie reinigten den Aufbewahrungsort des Sauerteigs, bis nichts mehr vorhanden war. Sie durchsuchten die Häuser mit Lampen, um sicherzustellen, dass auch nichts übrig geblieben war. Dann erhoben sie ihre Hände zu Gott und sagten: »O Gott, ich habe allen Sauerteig aus meinem Haus getan, und wenn es noch Sauerteig gibt, von dem ich nicht weiß, so tue ich auch ihn von ganzem Herzen hinaus.« Das ist ein Bild für die Art der Absonderung vom Bösen, zu der der Christ heute aufgerufen ist. Das Schlachten des Passahlamms versinnbildlichte bzw. veranschaulichte den Tod unseres Herrn Jesus Christus am Kreuz. Dieser Vers ist einer der vielen Stellen des NT, die das Prinzip der Typologie lehren. Damit meinen wir, dass die Personen und Ereignisse des AT Typen oder Schatten von noch zukünftigen Personen oder Ereignissen waren. Viele von ihnen wiesen direkt auf das Kommen des Herrn Jesus hin. Er kam, um unsere Sünden durch sein Opfer wegzunehmen.
5,8 Mit »Festfeier« ist hier nicht das Passah oder das Herrenmahl gemeint, sondern hier wird das ganze Leben des Gläubigen auf eine allgemeine Art bezeichnet. Unsere gesamte Existenz soll ein Freudenfest sein, und es soll »nicht mit dem alten Sauerteig« der Sünde und »auch nicht mit Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit« gefeiert werden. Wenn wir uns an Christus freuen, dürfen wir keine bösen Gedanken gegen andere in unseren Herzen hegen. Daraus können wir erkennen, dass Paulus hier nicht wörtlich vom Sauerteig beim Brotbacken spricht, sondern mit »Sauerteig« eine geistliche Wirklichkeit beschreibt. Sie besteht darin, dass nämlich Sünde alles verunreinigt, was mit ihr in Verbindung kommt. Wir sollen unser Leben »mit Ungesäuertem der Lauterkeit und Wahrheit« führen.
5,9 Nun erklärt Paulus ihnen, dass er ihnen schon in einem vorhergehenden Brief geschrieben hatte, »nicht mit Unzüchtigen Umgang zu haben«. Die Tatsache, dass dieser Brief verloren gegangen ist, rührt keinesfalls an der Tatsache der Inspiration der Bibel. Nicht jeder Brief aus der Feder des Paulus war inspiriert, sondern nur diejenigen, die Gott für geeignet erklärt hat, der Bibel hinzugefügt zu werden.
5,10 Der Apostel erklärt nun im Folgenden, was er mit dieser Warnung davor, Gemeinschaft »mit den Unzüchtigen« zu haben, nicht gemeint hat. Ihr zufolge müssten sie nicht vom Umgang mit allen gottlosen Menschen zurückschrecken. Solange wir in dieser Welt leben, ist es notwendig, dass wir mit unerretteten Menschen zu tun haben, und wir haben keine Möglichkeit zu wissen, in welche Tiefen der Sünde sie hinabgestiegen sind. Um ein Leben in absoluter Isolation von Sündern führen zu können, »müssten« wir »ja aus der Welt hinausgehen«. Deshalb erklärt Paulus, dass er hier keinesfalls vollkommene Absonderung von »den Unzüchtigen dieser Welt oder den Habsüchtigen und Räubern oder Götzendienern« meint. »Habsüchtige« sind diejenigen, die der Unehrlichkeit im Geschäft oder in finanziellen Angelegenheiten überführt sind. Wenn jemand sich zum Beispiel des Steuerbetrugs schuldig gemacht hat, dann unterliegt er der Gemeindezucht, die im Falle Habsüchtiger geübt wird. »Räuber« sind diejenigen, die sich durch Gewalt bereichern, etwa durch Androhung von Mord oder Gewaltanwendung. »Götzendiener« sind diejenigen, die jemanden oder etwas anderes als den wahren Gott verehren und die schrecklichen Sünden der Unmoral begehen, die fast immer mit dem Götzendienst einhergehen.
5,11 Paulus will die Korinther jedoch insbesondere vor einem Sachverhalt warnen. Es ist die Tatsache, mit einem bekennenden Bruder Gemeinschaft zu haben, der sich einer dieser furchtbaren Sünden schuldig macht. Wir könnten seine Worte folgendermaßen umschreiben: Ich wollte eigentlich sagen und hier wiederholen, dass ihr noch nicht einmal ein normales Mahl mit einem Christen einnehmen solltet, der unzüchtig, habgierig, dem Götzendienst verfallen, ein Trunkenbold, Wucherer oder Lästerer ist. Es ist oftmals nötig, dass wir Kontakt mit Ungläubigen haben, und wir können diese Kontakte oftmals benutzen, um ihnen Zeugnis zu geben. Ein solcher Kontakt ist für den Gläubigen nicht so gefährlich wie die Gemeinschaft mit denen, die zwar bekennen, Christen zu sein, aber in Sünde leben. Wir sollten niemals irgendetwas tun, das einen Ungläubigen zu der Annahme veranlasst, dass wir seine Sünde gutheißen würden.
Zu der Liste der erwähnten Sünder fügt Paulus in Vers 11 noch den Lästerer und den Trunkenbold hinzu. Ein »Lästerer« ist ein Mann, der bösartige, unanständige Reden gegen andere führt. Wir sollten hier jedoch zu Vorsicht mahnen und ein Wort anfügen. Sollten wir einen Menschen deshalb aus der Gemeinde ausschließen, wenn er bei einer einzigen Gelegenheit die Geduld verliert und unbedachte Worte äußert? Wir sind nicht dieser Ansicht, sondern der Meinung, dass sich diese Stelle auf gewohnheitsmäßige Lästerer bezieht. Mit anderen Worten, ein Lästerer ist jemand, der für seine Schmähworte anderen gegenüber bekannt ist. Jedenfalls sollte das für uns ein Anlass sein, unsere Wortwahl zu kontrollieren. Wie Dr. Ironside einmal angemerkt hat, sagen viele, dass sie einfach achtlos mit ihrer Zunge sind. Er weist jedoch darauf hin, dass sie genauso gut sagen könnten, sie seien mit einer Maschinenpistole achtlos umgegangen. Ein Trunkenbold ist jemand, der alkoholische Getränke bis zum Übermaß konsumiert.
Meint nun der Apostel Paulus, dass wir »mit einem solchen« Christen »nicht einmal … essen« sollten? Genau das lehrt uns dieser Vers. Wir sollen mit ihm nicht das Mahl des Herrn feiern, aber auch kein anderes Mahl mit ihm halten. Es mag hierbei Ausnahmen geben. Eine christliche Ehefrau z. B. wäre noch immer verpflichtet, mit ihrem Ehemann zu speisen, der aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden ist. Doch die allgemeine Regel lautet, dass bekennende Christen, die sich einer der aufgelisteten Sünde schuldig gemacht haben, aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen werden sollten. Damit soll ihnen gezeigt werden, wie schlimm sie sich vergangen haben. All dies dient dazu, sie zur Buße zu bringen. Wenn wir nun anmerken, dass der Herr mit Zöllnern und Sündern aß, dann sollten wir darauf hinweisen, dass diese Männer nicht zu seinen Nachfolgern gehörten. Außerdem erkannte er sie noch nicht als Jünger an, indem er mit ihnen aß. Dieser Abschnitt lehrt uns, dass wir keine Gemeinschaft mit Christen haben sollten, die in Sünde leben.
5,12 Die beiden Fragen des Paulus in Vers 12 bedeuten, dass Christen niemals für das Gericht über die Ungläubigen verantwortlich sind. Böse Menschen aus unserer Umwelt werden am letzten Tag vom Herrn selbst gerichtet werden. Doch wir haben eine Verantwortung, diejenigen, »die drinnen sind« (nämlich in der Gemeinde), zu richten. Es ist die Pflicht der Ortsgemeinde, Gemeindezucht nach dem Willen Gottes zu üben.
Und wieder wird eingewandt, dass der Herr gelehrt habe: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.« Doch wir sind der Ansicht, dass es hier um die Motive geht. Wir dürfen nicht die Motive eines anderen Menschen beurteilen, weil wir dazu nicht kompetent sind. Doch das Wort Gottes macht genauso klar, dass wir bekannte Sünde in der Gemeinde richten sollen, um ihren Ruf als Gemeinschaft der Heiligen zu bewahren und den Sünder wieder in die Gemeinschaft mit den Herrn bringen zu können.
5,13 Paulus erklärt, dass »Gott« das Gericht derer »die … draußen sind«, übernehmen  wird,  d. h.  das  Gericht  an den Ungläubigen. In der Zwischenzeit sollten die Korinther die ihnen von Gott übertragene Vollmacht gebrauchen, um Sünde in den eigenen Reihen zu richten: Es ging darum, »den Bösen« aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Das bedeutet, dass öffentlich in der Gemeinde angekündigt wird, dass der Bruder nicht mehr zur Gemeinde gehört. Diese Ankündigung sollte in echter Trauer und Beugung geschehen. Anschließend sollte ständig für die geistliche Wiederherstellung des Ausgeschlossenen gebetet werden. C. Rechtsstreit unter den Gläubigen (6,1-11) Die ersten elf Verse von Kapitel 6 beschäftigen sich mit Rechtsstreitigkeiten unter Gläubigen. Paulus hatte erfahren, dass einige Christen mit ihren Mitchristen vor Gericht gehen wollten – und zwar vor ein weltliches Gericht. Deshalb legt er hier diese Anweisungen nieder, die für die Gemeinde von bleibendem Wert sind. Man beachte die Wiederholungen in V. 2.3.9.15.16.19: »Wisst ihr nicht?«
6,1 Die erste Frage drückt das Erstaunen des Paulus aus, dass jemand von ihnen daran dachte, »vor den Ungerechten« mit einem Gläubigen »zu streiten«, d. h.  vor  Richtern  und  Schöffen,  die  ungläubig sind. Er findet es reichlich inkonsequent, dass diejenigen, die die wahre Gerechtigkeit kennen, vor Richter treten sollten, die sich nicht durch Gerechtigkeit ausz eichnen. Man stelle sich vor, wie diese Christen von denjenigen Rechtfertigung erwarten, die ihnen keine geben können!
6,2 Eine zweite unvorstellbare Inkonsequenz besteht darin, dass diejenigen, die eines Tages »die Welt richten werden«, nicht imstande sein sollten, die alltäglichen Fälle zu richten, die unter ihnen geklärt werden müssen. Die Schrift lehrt, dass Gläubige mit Christus über die Welt herrschen werden, wenn er in Macht und Herrlichkeit wiederkehren wird, und dass ihnen dann richterliche Aufgaben übertragen werden. Wenn Christen einmal »die Welt richten werden«, sollten sie dann nicht in der Lage sein, belanglose Streitereien zu regeln, die ihnen jetzt zusetzen?
6,3 Paulus erinnert die Korinther daran, dass sie »Engel richten« werden. Es ist fast erstaunlich zu sehen, wie Paulus ein solch schlagendes Argument in die Diskussion wirft. Ohne viel Aufh ebens zu machen oder uns darauf vorzubereiten, erklärt er einfach die unvorstellbare Tatsache, dass die Christen dereinst »Engel richten« werden. Aus Judas 6 und 2. Petrus 2,4.9 wissen wir, dass Engel gerichtet werden. Wir wissen auch, dass Christus der Richter sein wird (Joh 5,22). Weil wir mit ihm eins sind, ist es möglich, davon zu sprechen, dass wir am letzten Tag die Engel richten werden. Wenn wir aus der Sicht des Herrn die Voraussetzungen dafür haben, Engel zu richten, dann sollten wir imstande sein, mit den kleinen Problemen, die sich im »Alltäglichen« ergeben, fertig zu werden.
6,4 »Wenn ihr nun über alltägliche Dinge Rechtshändel habt, so setzt ihr die zu Richtern ein, die in der Gemeinde nichts gelten?« Ungläubige Richter können in der Ortsgemeinde keine Ehrenoder angesehene Stellung erhalten. Sie werden natürlich für die Arbeit, die sie in der Welt tun, respektiert, doch soweit es Gemeindeangelegenheiten betrifft, haben sie keinerlei Recht, Urteile zu fällen. Deshalb fragt Paulus die Korinther: Wenn sich Auseinandersetzungen zwischen euch ergeben, in denen das unparteiische Urteil eines Dritten benötigt wird, geht ihr dann zu Menschen außerhalb der Gemeinde, um Menschen zu Richtern über euch einzusetzen, die in der Gemeinde nicht für geistliches Urteilsvermögen bekannt sind?
6,5 Paulus stellt diese Frage, um in den Korinthern »Beschämung« hervorzurufen. War es denn möglich, dass in einer Gemeinde, die sich der reichlichen Gaben und der Weisheit ihrer Glieder rühmte, »nicht einer« weise genug war, um diese Streitigkeiten »zwischen Bruder und Bruder« zu schlichten?
6,6 Offensichtlich war kein solch weiser Mann vorhanden, weil ein christlicher »Bruder« sich mit einem »Bruder … vor Ungläubigen« streiten und damit Familienangelegenheiten vor die ungläubige Welt zerren wollte. Eine wirklich beklagenswerte Situation!
6,7 Der hier befindliche Ausdruck (»es ist nun schon überhaupt ein Fehler an euch«) zeigt uns, dass sie in dieser Angelegenheit absolut falsch handelten. Sie hätten noch nicht einmal auf die Idee kommen sollen, gegeneinander gerichtlich vorzugehen. Doch vielleicht würde einer der Christen an diesem Punkt einwenden: »Aber Paulus, du verstehst das nicht. Bruder Soundso hat mich im Geschäft betrogen.« Die Antwort des Paulus lautet: »Warum lasst ihr euch nicht lieber unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen?« Das wäre die wirklich christliche Einstellung. Es ist viel besser, Unrecht einzustecken, als es zu tun.
6,8 Doch das entsprach nicht der Einstellung der Korinther. Statt bereit zu sein, das Unrecht zu erdulden und betrogen zu werden, taten sie sich gegenseitig »Unrecht«, sogar gegenüber ihren eigenen »Brüdern« in Christus!
6,9 Hatten sie vergessen, dass Menschen, die von ihrem Wesen her »Ungerechte« sind, »das Reich Gottes nicht erben werden«? Sollten sie es vergessen haben, so liefert Paulus ihnen hier eine Liste von Sündern, die keinen Teil am »Reich Gottes« haben werden. Er will damit nicht andeuten, dass Christen, die solche Sünden tun, verlorengehen könnten. Vielmehr sagt er, dass Menschen, die in solchen Sünden leben, keine Christen sind.13
In dieser Liste werden die »Eheb recher« von den »Unzüchtigen« unterschieden. Hier bedeutet Unzucht vorehelicher Geschlechtsverkehr, während mit Ehebruch unerlaubter sexueller Umgang eines Verheirateten gemeint ist. »Götzend iener« werden auch hier erneut aufgeführt, wie in den zwei vorhergehenden Listen in Kapitel 5. Mit »Lustknaben« (Wollüstlingen) sind Menschen gemeint, die sich in sexuell perverser Weise missbrauchen lassen; »Knabenschänder« bezeichnet diejenige, die andere sexuell pervers missbrauchen.
6,10 Dieser Liste werden noch »Diebe, Habsüchtige, Trunkenbolde, Lästerer« und »Räuber« hinzugefügt. »Diebe« sind Menschen, die an sich nehmen, was ihnen nicht gehört. Man beachte, dass die Habgier eine Sünde ist, die immer unter den schlimmsten Lastern mit aufgeführt ist. Obwohl Menschen sie entschuldigen mögen und für nicht so schwerwiegend halten, verurteilt Gott diese Sünde aufs Schärfste. Ein »Habsüchtiger« ist ein Mensch mit einem unnormalen Verlangen nach Besitz, das ihn oft dazu führt, ihn mit ungerechten Mitteln erlangen zu wollen. »Trunkenbolde« sind, wie schon gesagt, in erster Linie Alkoholabhängige. »Lästerer« sind diejenigen, die über andere Menschen schimpfen und sie beleidigen. »Räuber« sind diejenigen, die die Armut und Not anderer Menschen ausnützen, um sich selbst damit zu bereichern.
6,11 Paulus will nicht andeuten, dass diese Sünden von den korinthischen Gläubigen begangen worden sind, sondern warnt sie, weil ein solches Verhalten für sie vor ihrer Bekehrung charakteristisch war – »das sind manche von euch gewesen«. Doch sie sind »abgewaschen … geheiligt« und »gerechtfertigt«. Sie sind von ihrer Sünde und Unreinheit durch das kostbare Blut Christi »abgewaschen« worden. Sie sind durch das Eingreifen des Heiligen Geistes »geheiligt« worden, indem sie für Gott aus der Welt ausgesondert wurden. Sie sind »gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes«, d. h. sie wurden von Gott als gerecht angesehen weil der Herr Jesus seines Kreuzeswerk für sie vollbracht hat. Wie argumentiert Paulus hier? Einfach so, wie Godet es so treffend ausgedrückt hat: »Eine solch bodenlose Tiefe kann nicht nochmals überquert werden.« D. Moralische Laxheit unter den Gläubigen (6,12-20)
6,12 In den Schlussversen dieses Kapitels legt der Apostel einige Prinzipien dar, mit deren Hilfe man zwischen Richtig und Falsch unterschieden kann. Das erste Prinzip lautet, dass eine Handlung vom Gesetz her erlaubt und trotzdem nicht hilfreich sein kann. Wenn Paulus sagt, »alles ist mir erlaubt«, so meint er damit nicht alles im absoluten Sinne. Es wäre für ihn nicht erlaubt, irgendeine der Sünden zu begehen, die er weiter oben erwähnt hat. Hier spricht er nur über die moralisch neutralen Punkte. Zum Beispiel war die Frage, ob ein Christ Schweinefleisch essen sollte, eine wirkliche Streitfrage unter den Christen dieser Zeit. Tatsächlich ist diese Frage jedoch wertneutral. Vor Gott zählt es nicht, ob jemand nun Schweinefleisch isst oder nicht. Paulus sagt hier lediglich, dass es gewisse Dinge gibt, die zwar erlaubt, aber nicht »nützlich« sind. Es mag vielleicht bestimmte Dinge geben, die für mich erlaubt sind, die jedoch einen anderen zu Fall bringen, wenn er sieht, wie ich sie tue. In solch einem Fall wäre mir dies »nicht … nützlich«.
Das zweite Prinzip lautet, dass es bestimmte erlaubte Handlungen gibt, die mich jedoch versklaven. Paulus stellt fest: »Ich will mich von nichts beherrschen lassen.« Das hat nun einen sehr direkten Bezug zur heutigen Zeit, nämlich die Fragen nach Alkohol, Tabak und Drogen. Diese machen, wie viele andere Dinge, abhängig, und der Christ sollte es nicht zulassen, auf diese Weise in Knechtschaft zu geraten.
6,13 Ein drittes Prinzip lautet, dass manches vollkommen dem Gesetz entspricht und doch nur zeitlichen Wert haben kann. Paulus sagt: »Die Speisen sind für den Bauch und der Bauch für die Speisen; Gott aber wird sowohl diesen als auch jene zunichtemachen.« Das bedeutet, dass der menschliche »Bauch« so geschaffen worden ist, dass er Nahrung aufnehmen und verdauen kann. Auf die gleiche Weise hat Gott die Speisen geschaffen, sodass der menschliche Magen sie aufnehmen kann. Und doch sollten wir nicht für die Speise leben, weil sie nur zeitlichen Wert hat. Das Essen sollte im Leben des Gläubigen keinen unrechtmäßigen Platz einnehmen. Leben Sie nicht so, als ob es das Wichtigste in Ihrem Leben sei, Ihren Appetit zu befriedigen. Obwohl der Leib von Gott für die Aufnahme und Verdauung von Speisen wunderbar geschaffen ist, ist doch eines sicher: »Der Leib aber ist nicht für die Hurerei, sondern für den Herrn und der Herr für den Leib.« Gott als der Schöpfer des menschlichen Körpers hatte nie im Sinn, dass dieser Leib zu abscheulichen oder unreinen Zwecken missbraucht würde. Vielmehr sollte er zur Ehre des Herrn in dessen glückseligen Dienst gestellt werden.
Es gibt in diesem Vers etwas Erstaunliches, das wir auf alle Fälle erwähnen wollen: »Der Leib« ist nicht nur »für den Herrn«, sondern »der Herr« ist auch »für den Leib«. Dieser Gedanke ist noch wundervoller als der erste und bedeutet, dass der Herr an unserem Leib interessiert ist, an seinem Wohlergehen und an seiner zweckmäßigen Verwendung. Gott möchte, dass unsere Leiber ihm als ein lebendiges, heiliges und wohlgefälliges Opfer dargebracht werden (Röm 12,1). Erdman hat dazu gesagt: »Ohne den Herrn kann der Leib niemals seine wahre Würde erhalten noch sein unverwesliches Ziel erreichen.«14
6,14 In diesem Vers wird die Tatsache weiter erklärt, dass der Herr für den Leib da ist. »Gott« hat nicht nur »den Herrn« Jesus aus den Toten auferweckt, sondern er »wird auch uns auferwecken durch seine Macht«. Sein Interesse an unserem Leib hört nicht mit dem Tod auf. Er wird den Leib jedes Gläubigen »auferwecken«, um ihn umzugestalten, damit er dem verherrlichten Leib des Herrn Jesus gleich wird. Wir werden nicht in alle Ewigkeit entleibte Seelen bleiben. Vielmehr werden unser Geist und unsere Seele mit unserem verherrlichten Leib wiedervereinigt, damit sie gemeinsam auf ewig die Herrlichkeit des Himmels genießen können.
6,15 Um die Notwendigkeit persönlicher Reinheit in unserem Leben und der Bewahrung unseres Leibes vor Unreinheit zu betonen, erinnert uns der Apostel, dass unsere »Leiber Glieder Christi sind«. Jeder Gläubige ist ein Glied des Leibes Christi. Wäre es also angebracht, »die Glieder Christi« zu »nehmen und zu Gliedern einer Hure« zu »machen«? Eine solche Frage beantwortet sich von selbst, wie die entrüstete Antwort des Paulus (»Das sei ferne!«) erkennen lässt.
6,16 Bei einer sexuellen Vereinigung werden zwei Leiber eins. Das wurde schon zu Beginn der Schöpfung festgelegt: »›Denn es werden‹, heißt es, ›die zwei ein Fleisch sein‹« (1. Mose 2,24). Weil das so ist, würde man ein Glied Christi zur Hure machen, wenn ein Gläubiger »der Hure anhängt«. Die beiden würden »ein Leib« werden.
6,17 So wie in der leiblichen Verbindung eine Einheit zweier Wesen entsteht, so entsteht eine solche Einheit, wenn ein Mensch an den Herrn Jesus Christus glaubt und »dem Herrn anhängt«. Der Gläubige und Christus werden so eng verbunden, dass man fortan von »einem Geist« sprechen kann. Das ist die vollkommenste Verbindung zweier Personen, die denkbar ist. Es ist die engste Form der Einheit. Paulus argumentiert hier also, dass derjenige, der »dem Herrn anhängt«, niemals ein Einssein tolerieren darf, das im Konflikt mit dieser innigen geistlichen Zweierbeziehung steht. A. T. Pierson schreibt:
Die Schafe mögen sich vom Hirten entfernen, und die Rebe mag vom Weinstock abgeschnitten werden. Das Glied mag vom Leib getrennt und das Kind vom Vater entfremdet werden. Sogar die Frau mag von ihrem Ehemann entfremdet werden, doch wenn zwei Geister zu einem werden, was soll die beiden trennen? Keine äußere Verbindung oder Einheit, noch nicht einmal die Ehe, kann zwei Leben so vollkommen miteinander verbinden.15
6,18 Und deshalb ermahnt der Apostel die Korinther, vor der »Unzucht« zu fliehen. Sie sollen sich mit ihr nicht einlassen, sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie sollen sich nicht mit ihr befassen – ja, noch nicht einmal davon reden. Sie sollen vielmehr vor ihr fliehen! Ein schönes Beispiel dafür findet sich im biblischen Bericht über Josef, als er von Potifars Frau zur Sünde verführt werden sollte (1. Mose 39). Auch wenn man nicht allein ist und andere Gleichgesinnte an seiner Seite hat, ist es manchmal sicherer, die Flucht zu ergreifen! Dann fügt Paulus hinzu: »Jede Sünde, die ein Mensch begehen mag, ist außerhalb des Leibes; wer aber Unzucht treibt, sündigt gegen den eigenen Leib.« Die meisten Sünden haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Leib, doch sexuelle Unzucht ist in dem Sinne einzigartig, da sie den Leib des Betroffenen direkt beeinträchtigt: Ein Mensch erntet die Konsequenzen seiner Sünde an seinem eigenen Leib. Die Schwierigkeit besteht darin, dass dieser Vers aussagt, dass jede andere Sünde, die ein Mensch begeht, außerhalb des Körpers bleibt. Doch wir sind der Ansicht, dass der Apostel hier »außerhalb« im relativen Sinne meint. Es stimmt zwar, dass Trunkenheit und Völlerei  z. B.  auch  den  Leib  betreffen,  aber bei den meisten Sünden ist dies nicht der Fall. Und selbst Völlerei und Trunkenheit beeinträchtigen den Leib nicht so direkt, umfassend und mit solch zerstörerischen Auswirkungen wie die Unzucht. Sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe werden unausweichlich dem betroffenen Sünder schwer schaden.
6,19 Und wieder erinnert Paulus die Korinther daran, dass sie eine heilige und ehrenvolle Berufung besitzen. Haben sie denn vergessen, dass ihr »Leib ein Tempel des Heiligen Geistes« ist? Eine ernst zu nehmende Wahrheit der Schrift besteht darin, dass in jedem Gläubigen der Geist Gottes wohnt. Wie können wir nur daran denken, den Leib, in dem der Heilige Geist wohnt, zu nehmen und in den Dienst des Bösen zu stellen? Es geht nicht nur darum, dass unser Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist. Vielmehr gehören wir auch nicht uns »selbst«. Es steht uns nicht zu, unseren Leib zu nehmen und zu gebrauchen, wie wir es wollen. Unser Leib gehört, wenn wir es genau nehmen, nicht uns, sondern unserem Herrn.
6,20 Wir gehören dem Herrn, weil er uns sowohl erschaffen als auch erlöst hat. Hier ist in besonderer Weise das Letztere angesprochen. Sein Eigentumsrecht im Blick auf uns geht bis auf Golgatha zurück. Wir wurden »um einen Preis erkauft«. Am Kreuz sehen wir das Preisschild, das der Herr Jesus uns gleichsam angesteckt hat. Er hielt uns für so wertvoll, dass er bereit war, für uns den Preis seines eigenen kostbaren Blutes zu zahlen. Wie sehr musste Jesus uns doch lieben, dass er unsere Sünden an seinem Leib auf das Kreuz hinaufgetragen hat! Wenn die Dinge so stehen, kann ich meinen Leib nicht länger als mein Eigentum ansehen. Wenn ich ihn nehme und damit so umgehe, wie es mir gefällt, dann handle ich wie ein Dieb und nehme mir, was mir nicht gehört. Ich sollte aber mit meinem »Leib … Gott« verherrlichen, dem der Leib gehört.
Bates ruft aus:
O Kopf! Denke an ihn, dessen Stirn mit Dornen gekrönt wurde. O ihr Hände! Wirkt für den, dessen Hände ans Kreuz genagelt wurden. O ihr Füße! Beeilt euch, den Willen dessen zu tun, dessen Füße durchgraben wurden. O mein Leib! Sei ein Tempel dessen, dessen Leib sich unter unaussprechlichen Leiden wand.16
Wir sollten Gott auch »in« unserem »Geist«  (Schl 2000)  verherrlichen,  weil sowohl die leiblichen als auch die geistlichen Anteile »Gott gehören« (Schl 2000).17 III. Apostolische Antworten auf Gemeindefragen (Kap. 7 – 14) A. Über Ehe und Ehelosigkeit (Kap. 7)
7,1 Bis zu diesem Punkt hat sich Paulus mit den verschiedenen Unsitten der korinthischen Gemeinde beschäftigt, von denen er durch einen direkten Bericht erfahren hat. Nun will er die Fragen beantworten, die die Heiligen in Korinth ihm geschickt hatten. In der ersten geht es um die Ehe und die Ehelosigkeit. Er legt deshalb zunächst den allgemeinen Grundsatz fest, dass »es gut für einen Menschen« ist, »keine Frau zu berühren«. Mit der Wendung »eine Frau berühren« ist in diesem Fall eine körperliche Vereinigung der beiden gemeint. Der Apostel behauptet hier nicht, dass der Unverheiratete in irgendeiner Weise heiliger sei als ein Verheirateter. Vielmehr ist es einfach besser, unverheiratet zu sein, wenn man das Verlangen hat, sich ohne Ablenkung dem Dienst des Herrn hinzugeben.
7,2 Paulus erkennt jedoch, dass die Ehelosigkeit enorme Versuchungen zur Unreinheit in sich birgt. Deshalb relativiert er seine erste Aussage, indem er erklärt: »Aber um der Unzucht willen habe jeder seine eigene Frau, und jede habe ihren eigenen Mann.« Wenn »jeder seine eigene Frau« hat, so ist damit die Einehe gemeint. Vers 2 begründet das Prinzip, dass Gottes Anweisung für sein Volk weiterhin gilt wie bisher. Sie besagt, dass ein Mensch jeweils nur einen Ehepartner haben sollte.
7,3 Die Verheirateten sollten einander die Pflichten des Ehelebens »leisten«, weil sie aufeinander angewiesen sind. Wenn es heißt: »Der Mann leiste der Frau die eheliche Pflicht«, so bedeutet dies, dass er ihr gegenüber seinen Pflichten als Ehemann nachzukommen hat. Für sie gilt das natürlich »ebenso«. Man beachte, wie behutsam und angemessen Paulus dieses Thema behandelt. Da finden wir nichts Ordinäres oder Vulgäres. Wie anders als in der Welt ist dies doch!
7,4 In der ehelichen Gemeinschaft existiert eine Abhängigkeit der »Frau« vom »Mann« und umgekehrt. Um Gottes Anweisungen für diese heilige Gemeinschaft zu befolgen, müssen sowohl Mann als auch Frau ihre gegenseitige Abhängigkeit erkennen.
7,5 Christenson schreibt: Kurz gesagt heißt das: Wenn ein Partner die sexuelle Beziehung wünscht, dann sollte der andere diesen Wunsch erfüllen. Diejenigen Eheleute, die diese nüchterne Haltung in der Frage der Sexualität einnehmen, werden sie wundervoll erfüllend finden – aus dem einfachen Grund, weil die Beziehung auf den schöpfungsmäßigen Gegebenheiten beruht, und nicht auf einem realitätsfernen oder unmöglichen Ideal.18
Vielleicht dachten einige dieser Korinther, als sie errettet wurden, dass die Intimitäten einer Ehe nicht mit der christlichen Heiligung übereinstimmten. Paulus will ihre Gedanken von solchen Vorstellungen befreien. Hier befiehlt er ihnen, dass christliche Paare sich einander nicht »entziehen«, d. h. dem Partner die Rechte am eigenen Leib nicht verw eigern sollen. Es gibt nur zwei Ausnahmen. Erstens sollte eine solche Abstinenz nur erfolgen, wenn sie durch »Übereinkunft« von beiden festgelegt wurde. Dann können sich der Mann und die Frau »dem Gebet« und dem  »Fasten«  (LU 1912)  widmen.  Die zweite Bedingung ist, dass die Enthaltsamkeit immer nur auf Zeit vereinbart wird. Mann und Frau sollten »wieder zusammen« sein, damit Satan sie nicht versuchen kann, »weil« sie sich »nicht enthalten« können.
7,6 Dieser Vers hat zu vielen Spekulationen und Auseinandersetzungen Anlass gegeben. Paulus sagt: »Dies aber sage ich als Zugeständnis, nicht als Befehl.« Einige Ausleger haben das so aufgefasst, dass der Apostel die vorhergehenden Worte als nicht von Gott inspiriert ansieht. Solch eine Auslegung ist unhaltbar, weil er in 1. Korinther 14,37 behauptet, dass alles, was er den Korinthern geschrieben hat, die Gebote Gottes seien. Wir sind der Ansicht, dass der Apostel sagen wollte, dass es für ein Paar unter bestimmten Umständen richtig sein mag, sich der ehelichen Gemeinschaft zu enthalten, doch dass diese Enthaltsamkeit eine Erlaubnis, nicht jedoch einen »Befehl« darstellt. Christen müssen sich nicht der ehelichen Gemeinschaft enthalten, um sich ungeteilt dem Gebet widmen zu können. Andere Ausleger sind der Ansicht, dass sich Vers 6 auf die gesamten Ausführungen zur Ehe bezieht, d. h. dass Christen heiraten dürfen, aber es ihnen nicht befohlen wird.
7,7 Paulus beginnt nun mit seinem Rat an die Ledigen. Zunächst einmal wird deutlich, dass Paulus die Ehelosigkeit vorzog, doch er erkannte, dass man in ihr nur leben kann, wenn Gott einen dazu befähigt. Wenn er sagt: »Ich wünsche aber, alle Menschen wären wie ich«, so geht aus dem Zusammenhang hervor, dass er damit »unverheiratet« meint. Es gibt viele verschiedene Meinungen, ob Paulus immer Junggeselle war, oder ob er zu der Zeit, als er den Brief schrieb, Witwer war. Doch es ist für uns heute nicht wesentlich, diesen strittigen Punkt zu klären, selbst wenn wir das könnten. Wenn Paulus sagt: »Doch jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so«, dann meint er, dass Gott den einen die Gnade schenkt, unverheiratet zu bleiben, während er andere ausdrücklich in den Ehestand beruft. Es ist eine ausgesprochen individuelle Angelegenheit, und es gibt kein allgemeines Gesetz, das auf alle anwendbar wäre.
7,8 Deshalb weist er die »Unverheirateten« und die »Witwen« an, so zu »bleiben, wie« er selbst war.
7,9 Doch »wenn sie sich aber« als Ledige »nicht enthalten können«, so ist es ihnen erlaubt zu »heiraten, denn es ist besser, zu heiraten, als vor Verlangen zu brennen«. Dieses Brennen ist eine große Gefahr, weil man dadurch leicht in Sünde geraten kann.
7,10 Die nächsten beiden Verse sind an »Verheiratete« gerichtet, wenn beide Partner gläubig sind. »Den Verheirateten aber gebiete nicht ich, sondern der Herr« bedeutet einfach, dass das, was Paulus hier lehrt, auch schon vom »Herrn« Jesus gelehrt wurde, als er hier auf der Erde lebte. Christus hatte zu diesem Thema schon konkrete Anweisungen gegeben. Er  hatte  z. B.  Scheidung  außer  bei  Ehebruch verboten (Matth 5,32; 19,9). Die allgemeine, von Paulus hier gegebene Anweisung lautet, »dass eine Frau sich nicht vom Mann scheiden lassen soll«.
7,11 Doch er erkennt, dass es einige Extremfälle gibt, wo es notwendig sein mag, dass eine Frau ihren Ehemann verlässt. In solch einem Fall ist sie verpflichtet, »unverheiratet« zu bleiben »oder … sich mit dem Mann« zu versöhnen. Trennung hebt nicht die eheliche Bindung auf; sie gibt vielmehr dem Herrn die Möglichkeit, die Differenzen als Ursache der Trennung zu beseitigen und beide Seiten wieder in die Gemeinschaft mit ihm und untereinander zu bringen. Dem »Mann« wird geboten, »seine Frau nicht« zu entlassen. In seinem Fall wird keine Ausnahme gemacht.
7,12 Die Verse 12-24 befassen sich mit dem Problem einer Ehe, wenn nur ein Partner gläubig ist. Paulus leitet seine Bemerkungen mit der Feststellung ein: »Den übrigen aber sage ich, nicht der Herr.« Und wieder möchten wir energisch betonen, dass dies nicht bedeutet, das von Paulus Gesagte sei nur seine eigene Ansicht, ohne dem Willen des Herrn zu entsprechen. Er will nur erklären, dass seine Aussagen noch »nicht« vom »Herrn« so gelehrt wurden, als er noch auf der Erde war. Es gibt keine Anweisung in den Evangelien, die dieser Belehrung hier entspricht. Der Herr Jesus hat das Thema einer Ehe, in der nur einer von beiden gläubig ist, nicht aufgenommen. Doch nun hat Christus seinen Apostel in dieser Angelegenheit unterwiesen. Deshalb ist das, was Paulus hier sagt, das inspirierte Wort Gottes.
»Den übrigen« bedeutet denjenigen, deren Partner nicht gläubig sind. Dieser Abschnitt rechtfertigt nicht, dass ein Christ einen Unerlösten heiratet. Es geht hier wahrscheinlich um die Situation, wenn einer der Partner nach der Eheschließung errettet wurde. »Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat, und sie willigt ein, bei ihm zu wohnen, so entlasse er sie nicht.« Um diese Schriftstelle wirklich beurteilen zu können, ist es hilfreich, uns daran zu erinnern, was Gott seinem Volk im AT gesagt hatte. Wenn Juden heidnische Frauen heirateten und Kinder von ihnen hatten, wurde ihnen aufgetragen, dass sie Frauen und Kinder wegschicken sollten. Das sieht man eindeutig in Esra 10,2.3 und Nehemia 13,23-25.
Nun hatte sich in Korinth die Frage erhoben, wie sich eine Frau, die sich bekehrt hatte, ihrem Mann und ihren Kindern gegenüber verhalten sollte. Oder wie sollte sich ein zum Glauben gekommener Mann seiner ungläubigen Frau gegenüber verhalten? Sollte er sie wegschicken? Die Antwort lautet offensichtlich: Nein. Das Gebot des AT gilt nicht mehr für das Volk Gottes unter der Gnade. Wenn ein Christ eine ungläubige Frau hat, und »sie willigt ein, bei ihm zu wohnen«, dann sollte er sie nicht verlassen. Dies bedeutet nicht, dass es richtig ist, einen Ungläubigen oder eine Ungläubige zu heiraten. Vielmehr geht es darum, dass der Betreffende seine Partnerin nicht verlassen soll, wenn er verheiratet ist und dann gläubig wird.
7,13 Ebenso gilt, dass »eine Frau, die einen ungläubigen Mann hat«, der einwilligt, »bei ihr zu wohnen«, bei ihrem Mann bleiben sollte. Vielleicht gewinnt sie ihn durch ihr demütiges und gottesfürchtiges Zeugnis für den Herrn.
7,14 Es ist wirklich so, dass die Anwesenheit eines Gläubigen in einer ungläubigen Familie einen heiligenden Einfluss hat. Wie schon früher angemerkt, bedeutet »heiligen« aussondern. Hier ist nicht gemeint, dass der ungläubige Ehemann durch seine Frau gerettet wird, auch nicht, dass er durch sie heilig würde. Es heißt nur, dass er in dem Sinne ausgesondert ist, dass er ein äußerliches Vorrecht hat. Er hat das Glück, eine christliche Ehefrau zu haben, die für ihn betet. Ihr Leben und ihr Zeugnis sind ein göttlicher Einfluss auf ihre Familie. Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, gläubig zu werden, für diesen Mann größer, wenn er eine gottesfürchtige, christliche Frau hat, als wenn er mit einer ungläubigen Frau verheiratet ist. Vine hat dazu gesagt: »Er wird einem geistlichen Einfluss ausgesetzt, der in sich die Möglichkeit zur wirklichen Bekehrung birgt.«19 Dasselbe gilt natürlich im Falle einer »ungläubigen Frau« und eines christlichen Ehemanns. Die »ungläubige Frau« ist in diesem Fall ebenfalls »geheiligt«.
Dann fügt der Apostel hinzu: »Sonst wären ja eure Kinder unrein, nun aber sind sie heilig.« Wir haben schon erwähnt, dass im AT die Kinder mit ihren heidnischen Müttern weggeschickt werden mussten. Nun erklärt Paulus, dass im Zeitalter der Gnade die Kinder, die einer Ehe entstammen, worin ein Partner gläubig ist und der andere nicht, »heilig« sind. Das Wort »heilig« kommt von demselben Wort, das in diesem Vers mit »geheiligt« übersetzt wird. (Im Original werden hier zwei Begriffe mit verschiedenen Wortwurzeln verwendet, und zwar holy und sanctified. Deshalb ist diese Anmerkung eingefügt worden; Anm. d. Übers.) Damit ist keinesfalls gemeint, dass die Kinder  als  solche  heilig  würden,  d. h. dass sie unbedingt ein reines Leben führen. Es bedeutet jedoch, dass sie eine Vorrechtsstellung erhalten. Sie haben wenigstens einen Elternteil, der den Herrn liebt und ihnen das Evangelium vermittelt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie gerettet werden. Sie haben das Vorrecht, in einer Familie aufzuwachsen, in der ein Elternteil den Geist Gottes hat. In diesem Sinne sind sie geheiligt. Dieser Vers enthält auch die Aussage, dass es nicht falsch ist, Kinder zu haben, wenn ein Elternteil Christ ist und der andere nicht. Gott erkennt die Ehe an, wobei die Kinder nicht unehelich sind.
7,15 Doch wie sollte der Christ handeln, wenn sein ungläubiger Partner sich scheiden lassen will? Die Antwort lautet, dass er oder sie einwilligen sollte. Der hier befindliche Ausdruck (»der Bruder oder die Schwester ist in solchen Fällen nicht gebunden«) ist nur sehr schwer endgültig zu erklären. Einige glauben, dass er Folgendes bedeutet: Dann, wenn der ungläubige Teil den Gläubigen verlässt und man durchaus annehmen kann, dass sich die Trennung als endgültig erweist, ist der Gläubige frei, sich scheiden zu lassen. Diejenigen, die dieser Ansicht sind, lehren, dass Vers 15 ein Einschub ist und Vers 16 sowie Vers 14 folgendermaßen verbunden sind:
1. Vers 14 sagt aus, dass die Idealsituation ist, wenn ein Gläubiger bei dem ungläubigen Partner bleibt, weil dann der heiligende Einfluss eines Christen auf die Familie besteht. 2. Vers 16 legt nahe, dass der Gläubige den Ungläubigen für Christus gewinnen könnte, wenn er in der Familie bleibt.
3. Vers 15 ist ein Einschub, der es dem Gläubigen erlaubt, sich scheiden zu lassen (und eventuell wieder zu heiraten), wenn er oder sie vom Ungläubigen verlassen wird.
Die Hoffnung, dass der Ungläubige schließlich errettet wird, steht eher im Zusammenhang damit, dass die Beziehung bestehen bleibt, als dass er die Familie verlässt.
Doch andere Bibelausleger betonen, dass sich Vers 15 nur mit dem Thema der Trennung und nicht mit Scheidung sowie Wiederheirat beschäftigt. Für sie bedeutet es einfach, dass der Gläubige den Ungläubigen in Frieden ziehen lassen soll, wenn er gehen möchte. Die Frau hat nicht die Verpflichtung, die Ehe über das hinaus aufrechtzuerhalten, was sie bereits getan hat. »Zum Frieden hat uns Gott doch berufen«, und es wird von uns nicht verlangt, durch emotionalen Druck oder Gerichtsverfahren zu versuchen, den Ungläubigen von einer Trennung abzuhalten.
Welche ist nun die richtige Auslegung? Wir finden es unmöglich, das abschließend zu beurteilen. Es scheint uns so zu sein, dass der Herr in Matthäus 19,9 lehrte, dass Scheidung erlaubt ist, wenn sich ein Teil der Untreue (des Ehebruchs) schuldig gemacht hat. Wir glauben, dass in einem solchen Fall der unschuldige Teil frei ist, wieder zu heiraten. Soweit 1. Korinther 7,15 betroffen ist, können wir nicht eindeutig sagen, dass der Vers die Scheidung und Wiederheirat erlaubt, wenn ein Ungläubiger seinen christlichen Partner verlassen hat. Doch wird jeder, der seinen Ehepartner verlässt, fast unausweichlich schon bald eine neue Beziehung eingehen, und so wird die ursprüngliche Ehe sowieso bald gebrochen. J. M. Davies schreibt:
Der Ungläubige, der sich scheiden lässt, wird wahrscheinlich bald wieder heiraten, was automatisch die Ehebeziehung bricht. Wenn man darauf bestehen wollte, dass der Verlassene unverheiratet bleibt, würde man ihm oder ihr in den meisten Fällen ein Joch auflegen, das sie wohl nicht tragen könnten.20
7,16 Die Auslegung von Vers 16 kann unterschiedlich sein, je nachdem, wie man Vers 15 ausgelegt hat. Wenn man glaubt, dass Vers 15 die Scheidung nicht erlaubt, so weist man auf diesen Vers als Beweis hin. Man argumentiert, dass der Gläubige in die Trennung einwilligen, doch sich nicht vom Ungläubigen scheiden lassen sollte, weil das die Möglichkeit einer Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft verhindern und die Wahrscheinlichkeit, dass der Ungläubige gerettet wird, herabsetzen würde. Wenn man andererseits der Auffassung ist, dass Scheidung erlaubt ist, wenn der Gläubige verlassen worden ist, dann ist dieser Vers mit Vers 14 verbunden, und Vers 15 wird als Einschub gewertet.
7,17 Es gibt manchmal bei Neubekehrten die Auffassung, dass sie sich von jedem Abschnitt ihres früheren Lebens trennen sollten. Dazu rechnen sie solche Einrichtungen wie die Ehe, die an sich nicht sündhaft ist. In der neu gefundenen Freude der Erlösung besteht die Gefahr, gewaltsam alles über den Haufen zu werfen, was man bisher kannte. Das Christentum wird jedoch keinen gewaltsamen Umsturz benutzen, um seine Ziele zu erreichen. Es erreicht seine Ziele auf friedliche Weise. In den Versen 17-24 erklärt Paulus die allgemeine Regel, dass es nicht notwendigerweise zum Christsein gehört, gewaltsam alle bestehenden Verbindungen abzubrechen. Zweifellos hat er in erster Linie die ehelichen Bindungen im Blick, doch es geht auch um volksgruppenbezogene und soziale Beziehungen. Jeder Gläubige sollte entsprechend der Berufung des Herrn leben. Wenn er jemanden zur Ehe berufen hat, dann sollte er diesem Ruf in der Furcht Gottes folgen. Wenn Gott jemandem die Gnade geschenkt hat, ein eheloses Leben zu führen, dann sollte der Betreffende dieser Berufung folgen. Wenn außerdem jemand zur Zeit seiner Bekehrung mit einer ungläubigen Frau verheiratet ist, dann braucht er diese Beziehung nicht zu beenden, sondern sollte seine ganzen Fähigkeiten dazu einsetzen, die Errettung seiner Frau anzustreben. Was Paulus hier den Korinthern sagt, gilt nicht nur für sie, denn so hat er »es in allen Gemeinden« verordnet. Vine schreibt:
Wenn Paulus sagt: »So verordne ich es in allen Gemeinden«, so spricht er nicht von einem Dekret, das von einer Zentralmacht erlassen wird. Vielmehr informiert er die Gemeinde in Korinth einfach darüber, dass die Anweisungen, die er ihnen gegeben hat, denjenigen entsprachen, die er auch allen anderen Gemeinden gegeben hat.21
7,18 Paulus behandelt nun das Thema volksgruppenbezogene Beziehungen in den Versen 18 und 19. Wenn jemand zur Zeit seiner Bekehrung Jude ist und das Zeichen der Beschneidung an seinem Leib trägt, so muss er nicht gewaltsam versuchen, dieses rein äußerliche Zeichen seines alten Lebenswandels loszuwerden. Genauso braucht jemand, der zur Zeit seiner Wiedergeburt ein Heide ist, seinen heidnischen Hintergrund nicht zu verleugnen, indem er das Zeichen des Juden annimmt.
Wir können diesen Vers auch so auslegen, dass ein Jude, wenn er sich bekehrt, keine Angst davor haben sollte, weiter mit seiner jüdischen Frau zusammenzuleben. Gleiches gilt für einen Heiden: Wenn er sich bekehrt, soll er nun nicht versuchen, aus seinem nichtjüdischen Hintergrund auszubrechen. Diese äußerlichen Unterschiede sind von untergeordneter Bedeutung.
7,19 Wenn es um das Wesen des christlichen Glaubens geht, so ist »die Beschneidung … nichts, und das Unbeschnittensein … nichts«. Was wirklich zählt, ist »das Halten der Gebote Gottes«. Mit anderen Worten, Gott interessiert sich für die innere Wirklichkeit, nicht für Äußerlichkeiten. Die Beziehungen des Alltags müssen nicht mit Gewalt abgebrochen werden, wenn man Christ wird. »Stattdessen«, sagt Kelly, »wird der Gläubige durch den christlichen Glauben in eine Position erhoben, in der er über alle Umstände erhaben ist.«22
7,20 Die allgemeine Regel lautet, dass »jeder« mit Gott »in dem Stand« bleiben soll, »in dem er berufen worden ist«. Das bezieht sich natürlich nur auf Berufe, die an sich nicht sündig sind. Wenn jemand zur Zeit seiner Bekehrung in unehrliche Geschäfte verwickelt ist, dann wird natürlich erwartet, dass er damit aufhört! Doch der Apostel behandelt hier Beschäftigungen, die an sich nicht falsch sind. Das zeigt sich in den folgenden Versen, in denen das Thema »Sklaven« besprochen wird.
7,21 Was sollte ein Sklave tun, wenn er errettet ist? Sollte er gegen seinen Herrn aufbegehren und seine Freiheit verlangen? Fordert uns das Christentum auf, unsere »Rechte« einzufordern? Paulus gibt uns hier die Antwort: »Bist du als Sklave berufen worden, so lass es dich nicht kümmern.« Mit anderen Worten: »Du warst bei deiner Bekehrung Sklave? Du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen. Du kannst Sklave sein und trotzdem die höchsten Segnungen des christlichen Glaubens genießen.« »Wenn du aber auch frei werden kannst, mach umso lieber Gebrauch davon.« Es gibt zwei Auslegungen für diesen Satz. Einige sind der Ansicht, dass Paulus hier sagen will: »Wenn du freikommen kannst, dann mache von dieser Möglichkeit auf jeden Fall Gebrauch.« Andere sind der Ansicht, dass ein Sklave, auch wenn er frei werden könnte, nicht durch das Christentum verpflichtet ist, von dieser Freiheit auch Gebrauch zu machen. Er sollte seine Knechtschaft eher als Zeugnis für den Herrn Jesus nutzen. Die meisten bevorzugen die erste Auslegung (die wahrscheinlich die richtige ist), doch sollten sie nicht die Tatsache übersehen, dass die zweite Möglichkeit eher dem Beispiel entspricht, das uns der Herr Jesus Christus selbst gegeben hat.
7,22 »Denn der als Sklave im Herrn Berufene ist ein Freigelassener des Herrn.« Das bezieht sich nicht auf einen frei Geborenen, sondern auf jemanden, der frei gemacht wurde, d. h. auf einen Sklaven, der seine Freiheit erlangt hat. Mit anderen Worten, wenn jemand zur Zeit seiner Bekehrung Sklave war, dann sollte er sich darüber keine Sorgen machen, weil er der »Freigelassene des Herrn« ist. Er ist von seinen Sünden und der Knechtschaft Satans befreit. Andererseits sollte jemand, der zur Zeit seiner Bekehrung »frei« war, erkennen, dass er von nun an ein »Sklave« ist, der mit Händen und Füßen an den Heiland gebunden ist.
7,23 Jeder Christ ist »um einen Preis erkauft«. Von nun an gehört er dem Einen, der ihn erkauft hat, nämlich dem Herrn Jesus. Wir sollen Christi Knechte sein und »nicht Sklaven von Menschen« werden.
7,24 Deshalb kann jeder – ganz gleich, welche gesellschaftliche Stellung er einnimmt – »vor Gott« in dieser Stellung bleiben. Die beiden Worte »vor Gott« sind der Schlüssel zur ganzen Wahrheit dieses Abschnitts. Wenn jemand »vor Gott« steht, dann kann sogar die Sklaverei zur wahren Freiheit werden. »Diese Freiheit erhebt in einen höheren Stand und heiligt jede Stellung im Leben.«
7,25 In den Versen 25-38 richtet sich der Apostel an die Unverheirateten, ob männlich oder weiblich. Das Wort »Jungfrau« kann sich auf beide beziehen. Vers 25 ist ein weiterer Vers, der von einigen für die Lehre benutzt worden ist, dass der Inhalt dieses Kapitels nicht unbedingt inspiriert sei. Sie gehen sogar so weit zu sagen, dass Paulus als Junggeselle ein Chauvinist gewesen sei und sich hier seine persönlichen Vorurteile zeigen würden! Wenn wir solch eine Haltung akzeptieren, so finden wir hier natürlich einen heftigen Angriff auf die Inspiration der Schrift vor. Wenn Paulus sagt, er »habe … kein Gebot des Herrn … über die Jungfrauen«, so meint er einfach, dass der Herr während seines irdischen Dienstes keine ausdrückliche Anweisung zu diesem Thema gegeben hat. Deshalb sagt er hier nun seine »Meinung als einer, der vom Herrn die Barmherzigkeit empfangen hat, vertrauenswürdig zu sein«, und diese »Meinung« ist von Gott inspiriert.
7,26 Im Allgemeinen ist es »gut«, unverheiratet zu sein, und zwar »um der gegenwärtigen Not willen«. »Die gegenwärtige Not« bezieht sich auf die Leiden in unserem irdischen Leben allgemein. Vielleicht gab es eine besondere Leidenszeit, als Paulus diesen Brief schrieb. Doch Leid hat immer existiert und wird existieren, bis der Herr wiederkommt.
7,27 Der Rat des Paulus an diejenigen, die bereits verheiratet sind, lautet: Versucht  nicht,  »los  zu  werden«,  d. h.  sich von der Frau oder dem Mann zu trennen. Wenn er andererseits »von einer Frau« »frei« ist, so soll er »keine Frau« suchen. Mit dem Ausdruck »frei von einer Frau« ist hier nicht nur das Verwitwetsein oder der Stand als Geschiedener gemeint. Er bedeutet einfach »frei« von allen ehelichen Bindungen und könnte auch diejenigen umfassen, die nie geheiratet haben.
7,28 Keine der Aussagen des Paulus darf für die Behauptung missbraucht werden, dass Heiraten eine Sünde sei. Schließlich wurde die Ehe von Gott bereits im Garten Eden eingesetzt, bevor die Sünde in die Welt kam. Gott selbst hatte bestimmt: »Es ist nicht gut, dass der Mensch  allein  sei«  (1. Mose  2,18).  »Die Ehe ist ehrbar in allem, und das Ehebett unbefleckt« (Hebr 13,4). Paulus sagt an anderer Stelle, dass diejenigen, die die Ehe verbieten, ein Zeichen des Abfalls der letzten Tage sein werden (1. Tim 4,1-3). Deshalb stellt Paulus fest: »Wenn du aber doch heiratest, so sündigst du nicht; und wenn die Jungfrau heiratet, so sündigt sie nicht.« Neubekehrte sollten nie annehmen, dass an der Ehe etwas falsch sein könnte. Doch fügt Paulus hinzu, dass die Frauen, die heiraten, »Trübsal für das Fleisch haben« werden. Das könnte sich auf die Schmerzen beziehen, die mit Geburt usw. verbunden sind. Wenn Paulus sagt: »Ich aber schone euch«, so kann er damit meinen: 1. Ich will euch vor den leiblichen Schmerzen schonen, die mit der Ehe zusammenhängen, insbesondere den Problemen eines Familienlebens; oder 2. Ich will den Leser mit der Aufzählung dieser Schmerzen verschonen.
7,29 Paulus möchte hier betonen, dass wir, weil »die Zeit … begrenzt« ist, auch diese an sich legitimen Lebensbeziehungen dem gesamten Dienst für den Herrn unterordnen sollen. Das Kommen Christi ist nahe, und obwohl die Eheleute ihre jeweiligen Pflichten treu erfüllen sollen, sollten sie versuchen, Christus die erste Stelle in ihrem Leben einzuräumen. Ironside drückt das so aus:
Jeder sollte sich bei seinem Handeln die Tatsache vor Augen halten, dass die Zeit unaufhaltsam verfliegt, die Wiederkunft des Herrn naht und keine Überlegungen zur eigenen Bequemlichkeit die Hingabe an den Willen Gottes behindern darf.23 W. E. Vine sagt:
Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Verheirateter nun auf einmal aufhören sollte, sich wie ein Ehemann zu verhalten. Das Verhältnis zu seiner Frau sollte jedoch völlig seiner darüber hinausgehenden Beziehung zum Herrn untergeordnet werden, … der den ersten Platz im Herzen einnehmen sollte. Der Betreffende darf einer natürlichen Beziehung nicht gestatten, seinen Gehorsam Christus gegenüber zu gefährden.24
7,30 Die Sorgen, Freuden und Besitztümer dieses Lebens sollten in unserem Leben nicht über Gebühr Beachtung finden. Sie alle müssen unseren Bemühungen untergeordnet werden, die Gelegenheiten, dem Herrn zu dienen, auszukaufen, während es noch Tag ist.
7,31 Wenn wir unser Leben auf der Erde führen, dann ist es unausweichlich, dass wir einen gewissen Kontakt mit weltlichen Dingen haben. Wenn wir als Gläubige in unserem Leben so mit diesen Dingen umgehen, ist dies gerechtfertigt. Doch Paulus weist uns nachdrücklich darauf hin, dass wir sie zwar »nutzen«, jedoch nicht missbrauchen dürfen. So sollte ein Christ z. B. nicht für Essen, Kleidung und Vergnügen leben. Er darf Essen und Kleidung als Lebensnotwendigkeiten genießen, doch sollten sie nicht sein Gott werden. Ehe, Besitz, Geld oder politische, wissenschaftliche, musikalische bzw. künstlerische Aktivitäten haben ihren Platz in der Welt, aber sie alle können sich als Ablenkung im geistlichen Leben erweisen, wenn wir das zulassen. Der hier befindliche Ausdruck (»denn die Gestalt dieser Welt vergeht«) ist aus dem Theaterleben entliehen und bezieht sich auf die wechselnden Szenerien. Es spricht von der Vergänglichkeit all dessen, das wir heute um uns sehen. Diese Kurzlebigkeit wird in den berühmten Zeilen Shakespeares ausgedrückt: »Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Frau’n und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab, sein Leben lang spielt einer manche Rollen.«
7,32 Paulus möchte, dass die Christen »ohne Sorge« sind. Er meint die Sorgen, die sie unnötigerweise daran hindern könnten, dem Herrn zu dienen. Und so fährt er fort, indem er erklärt, dass »der Unverheiratete … für die Sache des Herrn besorgt« ist, »wie er dem Herrn gefallen möge«. Das bedeutet nicht, dass alle unverheirateten Gläubigen sich selbst wirklich völlig dem Herrn hingeben. Vielmehr bietet die Ehelosigkeit die Gelegenheit zur völligen Hingabe auf eine Weise, wie es im Blick auf den Ehestand nicht der Fall ist.
7,33 Es ist allerdings falsch, daraus zu folgern, dass ein »Verheirateter« nicht intensiv nach dem Willen des Herrn fragt. Vielmehr ist es eine allgemeine Beobachtung hinsichtlich der Anforderungen des Ehelebens, dass ein Mann »der Frau gefallen« möchte. Er hat zusätzliche Verpflichtungen, an die er denken muss. Vine betont diesbezüglich: »Im Allgemeinen kann ein Mann, der verheiratet ist, seinen Dienst nur in einem begrenzten Umfeld tun. Wenn er unverheiratet ist, kann er bis an die Enden der Erde reisen und das Evangelium predigen.«25 »Die unverheiratete Frau und die Jungfrau ist für die Sache des Herrn besorgt, damit sie heilig sei an Leib und Geist; die Verheiratete aber ist für die Sache der Welt besorgt, wie sie dem Mann gefallen möge.« Auch hier ist ein Wort der Erklärung nötig. »Die unverheiratete Frau« oder »die Jungfrau« ist in der Lage, einen größeren Teil ihrer Zeit »für die Sache des Herrn« zu verwenden. Der hier stehende Ausdruck (»damit sie heilig sei an Leib und Geist«) bedeutet nicht, dass die Ehelosigkeit heiliger sei. Vielmehr ist lediglich gemeint, dass sie besser »an Leib und Geist« für das Werk des Herrn ausgesondert sein kann. Sie ist nicht von ihrem Wesen her reiner, sondern sie hat mehr Zeit zur Verfügung.
Und wiederum gilt: »Die Verheiratete aber ist für die Sache der Welt besorgt«. Das bedeutet nicht, dass sie notwendigerweise weltlicher gesinnt ist als die Unverheiratete. Paulus meint damit nur, dass ihr Tag teilweise weltlichen Verpflichtungen wie der Haushaltsführung gewidmet sein muss. Die Erfüllung dieser Aufg aben ist legitim und richtig. Paulus kritisiert hier die Frauen nicht, noch will er sie schlecht machen. Er möchte nur einfach festhalten, dass eine unv erheiratete Frau mehr Möglichkeiten für den Dienst und mehr Zeit hat als ein verh eiratete Frau.
7,35 Paulus legt diese Lehre nicht dar, um die Menschen unter ein strenges Knechtschaftssystem zu zwingen. Er will sie nur zu ihrem »Nutzen« lehren, damit sie, wenn sie ihr Leben und ihren Dienst für den Herrn bedenken, Gottes Führung im Lichte all dieser Anweisungen beurteilen können. Die Haltung des Paulus lautet, dass die Ehelosigkeit gut ist. Sie ermöglicht einem Menschen, »ohne Ablenkung beim Herrn« zu bleiben. Laut Paulus ist der Mensch frei, das Unverheiratetsein oder die Ehe zu wählen. Der Apostel möchte niemandem »eine Schlinge überwerfen«, um ihn zu knechten.
7,36 Die Verse 36-38 sind vielleicht die am meisten missverstandenen in diesem Kapitel, möglicherweise sogar im ganzen Brief. Sie werden gewöhnlich wie folgt erklärt: Zur Zeit des Paulus übte der Mann eine strenge Kontrolle über seine Familie aus. Es hing von ihm ab, ob seine Töchter heirateten oder nicht. Sie konnten ohne seine Einwilligung nicht heiraten. Deshalb werden diese Verse so ausgelegt, dass es gut sei, wenn ein Mann sich weigert, seine Töchter zu verheiraten, es jedoch keine Sünde sei, wenn er ihnen die Ehe erlaubt.
Solch eine Auslegung scheint fast bedeutungslos in Bezug auf die heutige Gemeinde. Die Interpretation missachtet den Zusammenhang des restlichen Kapitels und scheint hoffnungslos verwirrend zu sein.
GN übersetzt »Jungfrau« mit »Braut«. In diesem Fall ginge es darum, dass es keine Sünde ist, wenn ein Mann seine Verlobte heiratet. Er handelt jedoch besser, wenn er sie nicht heiratet. Eine solche Sichtweise ist jedoch ebenfalls voller Schwierigkeiten.
In seinem Kommentar zum 1. Korintherbrief vertritt William Kelly eine andere Ansicht, die uns von großem Wert zu sein scheint. Kelly glaubt, dass das Wort »Jungfrau« (parthenos) auch mit »Jungfrauenschaft« übersetzt werden kann.26 Deshalb spricht dieser Abschnitt nicht von den jungfräulichen Töchtern eines Mannes, sondern von seiner eigenen Jungfräulichkeit. Nach dieser Auslegung sagt dieser Abschnitt aus, dass ein Mann richtig handelt, wenn er unverheiratet bleibt, doch wenn er sich zur Ehe entschließt, »sündigt er nicht«.
John Nelson Darby übernahm diese Auffassung, wie man in der unrevidierten Elberfelder Bibel sieht, an der er maßgeblich mitgearbeitet hat. Dort wird V. 36-38 folgendermaßen übersetzt: Wenn aber jemand denkt, er handle ungeziemend mit seiner Jungfrauenschaft, wenn er über die Jahre der Blüte hinausgeht, und es muss also geschehen, so tue er, was er will; er sündigt nicht: Sie mögen heiraten. Wer aber im Herzen feststeht und keine Not, sondern Gewalt hat über seinen eigenen Willen und dies in seinem Herzen beschlossen hat, seine Jungfrauenschaft zu bewahren, der tut wohl. Also, wer heiratet, tut wohl, und wer nicht heiratet, tut besser.
Bei genauerer Betrachtung von Vers 36 verstehen wir ihn so, dass ein Mann, wenn er das volle Mannesalter erreicht hat und nicht denkt, die Gabe der Ehelosigkeit zu haben, keineswegs sündigt, wenn er heiratet. Er merkt, dass sein Verlangen es erfordert, und deshalb sollte er in diesem Fall tun, »was er will«, d. h. heiraten.
7,37 Nun geht es um den anderen Fall: Jemand hat beschlossen hat, dem Herrn ohne Ablenkung zu dienen. Er besitzt genügend Selbstbeherrschung, sodass es für ihn in dieser Hinsicht »keine Not« gibt. Außerdem ist er entschlossen, ledig zu bleiben, und zwar mit dem Ziel, Gott durch seinen Dienst zu verherrl ichen. Wenn er dann unverheiratet bleibt, so »handelt« er »gut«.
7,38 Die Schlussfolgerung lautet, dass, wer sich27 »verheiratet« (Schl 2000), richtig handelt. Jedoch handelt derjenige »besser«, der um des Dienstes des Herrn willen ledig bleibt.
7,39 Die letzten beiden Verse des Kapitels enthalten Ratschläge für Witwen. »Eine Frau« ist an ihren Mann »durch das  Gesetz«  (Schl 2000)  gebunden,  »solange ihr Mann lebt«. Das »Gesetz«, das hier genannt wird, ist das Ehegesetz, wie es von Gott eingesetzt wurde. »Wenn« jedoch »der Mann« dieser Frau »entschlafen ist, so ist sie frei, sich« mit einem anderen Mann »zu verheiraten«. Dieselbe Wahrheit wird in Römer 7,1-3 gelehrt, nämlich die Tatsache, dass der Tod die Ehebeziehung beendet. Dennoch fügt der Apostel hier noch eine Bedingung ihrer Ehe an, dass sie nämlich »frei« ist, »sich zu verheiraten, an wen sie will, nur im Herrn muss es geschehen«. Das bedeutet als Erstes, dass derjenige, den sie heiratet, auch ein Christ sein muss, doch bedeutet es noch mehr. »Im Herrn« bedeutet »im Willen des Herrn«. Mit anderen Worten, sie könnte einen Christen heiraten und doch nicht im Willen des Herrn leben. Sie muss die Führung des Herrn in dieser Angelegenheit suchen und den Gläubigen heiraten, den der Herr für sie bestimmt hat.
7,40 Paulus’ ehrliche Beurteilung besteht nun darin, dass eine Witwe »glückseliger ist, wenn sie so bleibt«, nämlich unverheiratet. Das ist kein Widerspruch zu 1. Timotheus 5,4 – einer Stelle, wo Paulus den Rat gibt, dass jüngere Witwen heiraten sollten. In unserer Schriftstelle spricht er von allgemeinen Grundsätzen, in 1. Timotheus dagegen von einer Ausnahme.
Dann fügt er noch hinzu: »Ich denke aber, dass auch ich Gottes Geist habe.« Einige haben diese Worte missverstanden. Sie glauben, dass Paulus sich nicht sicher gewesen sei, als er diese Anweisungen gab! Wieder wehren wir uns sehr gegen eine solche Auslegung. Es kann keinen Zweifel an der Inspiration der Worte des Paulus in diesem Abschnitt geben. Er spricht hier ironisch. Seine Apostelschaft und seine Lehre wurden von einigen in Korinth angegriffen. Sie gaben vor, die Gedanken des Herrn zu kennen, wenn sie sprachen. Paulus sagt hier nun im Grunde: »Was immer andere von mir sagen mögen, ich denke, dass ich auch den Geist Gottes habe. Sie geben vor, ihn zu haben, doch sicherlich sind sie nicht der Ansicht, ein Monopol auf den Heiligen Geist zu haben.«
Wir wissen, dass Paulus natürlich »Gottes Geist« bei allem hatte, was er uns geschrieben hat. Wenn wir seine Anweisungen beachten, bedeutet dies für uns, dem Glaubensweg zu folgen, der für uns Glück mit sich bringt.
B. Über das Essen von Fleisch, das zuvor den Götzen geopfert wurde (8,1 – 11,1) In  8,1 – 11,1  wird  die  Frage  aufgegriffen, ob man Fleisch essen dürfe, das zuvor Götzen geopfert wurde. Diese Frage stellte für die Christen, die sich erst kürzlich vom Heidentum zu Christus bekehrt hatten, ein echtes Problem dar. Vielleicht wurden sie zu einem Fest in einem Tempel eingeladen, wo es ein großes Festmahl gab, bei dem vor allem Fleisch angeboten wurde, das den Göttern geopfert worden war. Oder möglicherweise gingen sie auf den Markt, um Fleisch zu kaufen und fanden heraus, dass der Metzger Fleisch verkaufte, das den Götzen geopfert worden war. Das hatte zwar nichts mit der Qualität des Fleisches zu tun, aber sollte ein Christ es kaufen? Ein anderes Szenario spielte sich vielleicht so ab: Ein Gläubiger wurde in ein Haus eingeladen, wo man ihm Essen vorsetzte, das einem Götzen geopfert worden war. Wenn er wusste, dass das der Fall war, sollte er an dem Essen teilnehmen? Paulus beschäftigt sich nun mit diesen Fragen.
8,1 Der Apostel beginnt mit der Feststellung, dass in der Frage des »Götzenopferfleisches« sowohl die Korinther als auch er selbst »Erkenntnis haben«. Es war kein Thema, bei dem sie völlig unwissend gewesen wären. Sie wussten z. B. »alle«, dass der bloße Akt der Opferung das Fleisch an sich nicht verändert hatte. Sein Geschmack und sein Nährwert waren derselbe geblieben. Doch Paulus weist nun darauf hin, dass »Erkenntnis« aufbläht, »Liebe aber erbaut«. Damit meint er, dass Wissen allein in dieser Frage keine ausreichende Führung bietet. Wenn nur das Wissen allein als Maßstab benutzt wird, dann führt das zu Stolz. In Wirklichkeit muss ein Christ in allen diesen Fragen nicht nur sein Wissen einsetzen, sondern auch Liebe üben. Er darf nicht nur daran denken, was für ihn selbst richtig ist, sondern muss auch berücks ichtigen, was für die anderen am besten ist.
8,2.3 Vine hat Vers 2 folgendermaßen umschrieben: »Wenn jemand meint, dass er völliges Wissen habe, dann hat er noch nicht einmal begonnen zu erkennen, wie er es erlangen sollte.« Ohne Liebe kann es kein echtes Wissen geben. Auf der anderen Seite gilt: »Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt«, und zwar in dem Sinne, dass Gott ihn anerkennt. In gewissem Sinne kennt Gott natürlich jeden Menschen, aber in einem anderen Sinne kennt er nur die Gläubigen. Doch hier wird das Wort »kennen« gebraucht, um Gunst oder Zustimmung zu bezeichnen. Wenn jemand seine Entscheidung in solchen Angelegenheiten wie Götzenopferfleisch aus der Liebe zu Gott und Menschen heraus trifft, und nicht nur aus seinem Wissen heraus, dann gewinnt der Mensch das Wohlwollen Gottes.
8,4 Was das »Essen von Götzenopferfleisch« betrifft, verstehen die Gläubigen, dass ein »Götze« kein echter Gott mit Macht, Erkenntnis und Liebe ist. Paulus will hier nicht die Existenz von Götzen an sich bestreiten, denn er wusste, dass es solche Bilder aus Holz oder Stein gab. Später erkennt er noch an, dass hinter diesen Bildern dämonische Mächte stehen. Doch hier betont er, dass die Götter, die diese Götzen angeblich repräsentieren sollen, nicht existieren. Es ist »kein Gott als nur einer«, d. h. der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus.
8,5 Paulus gibt zu, dass es in der heidnischen Mythologie viele »sogenannte Götter« gibt, etwa Jupiter, Juno oder Merkur. Einige dieser Götter sollten angeblich »im Himmel« wohnen, während der Aufenthaltsort anderer, wie etwa von Ceres und Neptun, hier »auf Erden« gewesen sein soll. In diesem Sinne gibt es »viele Götter und viele Herren«, d. h. mythologische Wesen, die die Menschen verehrten und in deren Abhängigkeit sie sich begaben.
8,6 Die Gläubigen wissen, dass es doch nur »ein Gott« ist, »der Vater, von dem alle Dinge sind und wir auf ihn hin«. Das bedeutet, dass Gott, unser Vater, der Ursprung oder der Schöpfer »aller Dinge« ist und »wir« für ihn geschaffen wurden. Mit anderen Worten, er ist das Ziel oder der Sinn unserer Existenz. Wir wissen auch, dass es nur »einen Herrn« gibt, nämlich den, »durch den alle Dinge sind und wir durch ihn«. Der Ausdruck »durch den alle Dinge sind«, beschreibt die Tatsache, dass der Herr Jesus der Vermittler Gottes ist, während der Ausdruck »und wir durch ihn« uns sagt, dass wir durch ihn geschaffen und erlöst wurden. Wenn Paulus sagt, dass es nur einen Gott – den Vater – gibt, so will er damit nicht sagen, dass der Herr Jesus Christus nicht Gott ist. Er zeigt hier nur die jeweiligen Aufgaben, die diese beiden Personen der Gottheit bei der Schöpfung und Erlösung wahrgenommen haben.
8,7 Aber nicht alle Christen, insbesondere unter den Neubekehrten, verstehen die Freiheit, die sie in Jesus Christus haben. Da sie aus einem Umfeld des Götzendienstes gekommen und an Götzen »gewöhnt« sind, meinen sie, dass sie den Götzen dienen, wenn sie »Götzenopferfleisch« essen. Sie sind der Ansicht, dass der Götze eine Realität darstellt. Deshalb wird »ihr Gewissen, da es schwach ist, … befleckt«.
Der Ausdruck »schwach« bedeutet hier keine körperliche oder sogar geistliche Schwäche. Es handelt sich um einen Ausdruck, der diejenigen beschreibt, die in moralisch neutralen Fragen überempfindlich sind. So ist es z. B. von Gott her gestattet, dass ein Gläubiger Schweinefleisch isst. Während des AT wäre dies für einen Juden falsch gewesen, doch der Christ hat die volle Freiheit, solche Speisen zu sich zu nehmen. Aber ein Jude, der sich zum Christentum bekehrt, kann noch immer Skrupel haben, Schwein zu essen. Er mag der Ansicht sein, dass es falsch ist, einen schönen Schweinebraten zu verspeisen. Er ist dann der in der Bibel genannte »schwache Bruder«. Das bedeutet, dass er nicht im Genuss seiner vollen christlichen Freiheit lebt. Und er würde auch wirklich sündigen, solange er der Ansicht ist, dass es falsch ist, Fleisch zu essen, und er es trotzdem isst. Das ist gemeint, wenn gesagt wird: »Ihr Gewissen, da es schwach ist, wird befleckt.« Wenn mir mein Gewissen eine bestimmte Sache verbietet und ich dann hingehe und gegen mein Gewissen handle, so ist das Sünde. »Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde« (Röm 14,23).
8,8 »Speise« an sich hat keine großen Auswirkungen auf unsere Beziehung zu Gott. Wenn wir uns gewisser Speisen enthalten, so macht es uns in Gottes Augen nicht besser. Auch lässt uns die Tatsache, dass wir bestimmte Speisen verzehren, nicht zu besonders guten Christen werden.
8,9 Doch obwohl wir nichts damit gewinnen, solche Speisen zu uns zu nehmen, gibt es doch viel dabei zu verlieren, wenn ich mit meinem Verhalten einen »Schwachen« zu Fall bringe. Hier ist nun das Prinzip der christlichen Liebe anzuwenden. Ein Christ hat die Freiheit, Fleisch zu essen, das zuvor den Götzen geopfert worden ist. Es wäre jedoch ausgesprochen falsch, wenn er damit seinem schwachen Bruder oder seiner schwachen Schwester zum »Anstoß« würde.
8,10 Die Gefahr ist, dass der schwache Bruder dazu gebracht wird, etwas zu tun, das sein Gewissen verurteilt, wenn er einen anderen Christen etwas tun »sieht«, das er selbst für fragwürdig hält. In diesem Vers verurteilt der Apostel das Essen »im Götzentempel« wegen der Auswirkungen, die es auf jemand anders haben mag. Wenn hier Paulus davon spricht, »im Götzentempel zu Tisch« zu »liegen«, dann meint er damit solche geselligen Veranstaltungen wie Hochzeiten etc. Es wäre niemals richtig, in einem solchen Tempel zu essen, wenn das Essen Teilhabe am Götzendienst beinhalten würde. Das wird von Paulus später verurteilt (10,15-26). Der hier vorkommende Ausdruck (»wenn jemand dich, der du Erkenntnis hast, … sieht«) bedeutet Folgendes: Wenn jemand dich, der du die volle christliche Freiheit genießt und weißt, dass das Götzenopferfleisch weder unrein noch verderblich ist, sieht etc. Das wichtige Prinzip hier besteht darin, dass wir nicht nur bedenken müssen, welche Auswirkungen eine Handlung auf uns selbst hat, sondern dass es noch viel wichtiger ist, über die Auswirkungen auf andere nachzudenken.
8,11 Jemand kann so mit seiner »Erkenntnis« oder mit dem prahlen, was einem Christen erlaubt ist, dass er einen Bruder in Christus zum Straucheln bringt. Das Wort »umkommen« bedeutet nicht, dass er seine ewige Erlösung verlieren würde. Es bedeutet nicht den Verlust seines Lebens, sondern vielmehr seines Wohlergehens. Das Zeugnis dieses schwachen Bruders würde unmöglich gemacht, und sein Leben würde nicht mehr in dem Maße wie früher für Gott nützlich sein können. Wie schlimm eine solche Verletzung eines schwächeren Bruders in Christus ist, wird durch die hier angefügten Worte angedeutet (»um dessentwillen Christus gestorben ist«). Paulus argumentiert hier wie folgt: Wenn der Herr Jesus diesen Menschen so sehr geliebt hat, dass er bereit war, für ihn zu sterben, dann sollten wir es nicht wagen, seinen geistlichen Fortschritt zu behindern, indem wir etwas tun, das ihn zu Fall bringen könnte. Ein paar Scheiben Fleisch sind es wahrhaftig nicht wert!
8,12 Es geht hierbei nicht nur darum, dass man gegen einen Bruder in Christus sündigt oder sein »schwaches Gewissen verletzt«, sondern es handelt sich um eine Sünde »gegen Christus« selbst. Was immer wir einem seiner geringsten Brüder tun, tun wir ihm. Was ein Glied des Leibes verletzt, schmerzt auch das Haupt. Vine weist darauf hin, dass der Apostel bei der Behandlung jedes Themas seine Leser dazu bringt, die jeweilige Ang elegenheit im Licht des Sühnetodes Christi zu sehen. Barnes sagt: »Es handelt sich um eine Ermahnung aus tiefer, mitfühlender Liebe, die uns die Leiden und die Todesseufzer des Sohnes Gottes vor Augen stellt.«28 Sünde »gegen Christus« ist »das schlimmste aller Verbrechen«, wie Godet sagt. Wenn wir das erkannt haben, dann sollten wir alle unsere Taten sehr sorgfältig im Lichte ihrer Auswirkungen auf andere Menschen untersuchen und uns all dessen enthalten, was unserem Bruder zum Anstoß werden könnte.
8,13 Weil es eine Sünde gegen Christus ist, seinem »Bruder Ärgernis« zu geben, stellt Paulus hier fest, dass er nie mehr »Fleisch essen« will, wenn das seinem »Bruder« zum Fallstrick werden könnte. Das Werk Gottes im Leben eines anderen Menschen ist wesentlich wichtiger als ein zartes Stück Filet! Obwohl das Thema Götzenopferfleisch heute für die meisten Christen kein Problem mehr darstellt, so behalten doch die Prinzipien, die uns der Geist Gottes in diesem Abschnitt an die Hand gibt, ihren Wert. Es gibt heute im christlichen Leben viele Dinge, die zwar im Wort Gottes nicht verboten sind, doch unnötigerweise für schwächere Christen ein Anstoß werden könnten. Wir hätten zwar das Recht, an diesen Dingen teilzuhaben, doch gibt es ein größeres Recht, das hier Vorrang hat. Es ist das Recht des geistlichen Wohlergehens derer, die wir in Christus lieben – unsere Mitchristen.
9,1 Auf den ersten Blick scheint mit Kapitel 9 ein neues Thema zu beginnen. Doch die Frage des Götzenopferfleisches wird uns noch zwei weitere Kapitel beschäftigen. Paulus macht hier nur einen Einschub, um sein eigenes Beispiel der Selbstverleugnung zum Wohl anderer darzustellen. Er war bereit, sein Recht auf finanzielle Unterstützung als Apostel im Einklang mit dem Prinzip von 8,13 aufzugeben. Deshalb ist dieses Kapitel mit Kapitel 8 aufs Engste verbunden. Wie wir wissen, gab es in Korinth Brüder, die die Autorität des Paulus anzweifelten. Sie sagten, dass er keiner der Zwölf und deshalb kein echter Apostel sei. Paulus wendet ein, dass er nicht unter menschlicher Autorität stehe und sehr wohl ein echter »Apostel« des Herrn Jesus sei. Er begründet diesen Anspruch mit zwei Tatsachen. Erstens hatte er »Jesus, unseren Herrn«, in seiner Auferstehungsherrlichkeit »gesehen«. Das geschah auf der Straße nach Damaskus. Außerdem weist er auf die Korinther selbst als Beweis seiner Apostelschaft hin, indem er die Frage stellt: »Seid nicht ihr mein Werk im Herrn?« Wenn sie irgendwelche Zweifel an seiner Apostelschaft hatten, dann brauchten sie nur sich selbst zu prüfen. Waren sie gerettet? Natürlich, würden sie diese Frage mit Ja beantworten. Und wer hat sie denn nun auf Christus hingewiesen? Natürlich der Apostel Paulus! Deshalb waren sie selbst ein Beweis für die Tatsache, dass er ein echter Apostel des Herrn war.
9,2 »Andere« mochten ihn nicht als »Apostel« anerkennen, doch die Korinther selbst sollten das auf alle Fälle tun. Sie waren »das Siegel« seines »Apostelamtes … im Herrn«.
9,3 Vers 3 bezieht sich wahrscheinlich auf etwas Vorhergegangenes. Paulus sagt hier Folgendes: Das, was er soeben gesagt hat, ist seine »Verteidigung vor denen, die« ihn »zur Untersuchung ziehen«, bzw. vor denen, die seine Autorität als Apostel infrage stellen.
9,4 In den Versen 4-14 spricht der Apostel von seinem »Recht«, finanziellen Unterhalt zu erhalten. Als jemand, der von dem Herrn Jesus ausgesandt worden war, war Paulus berechtigt, von den Gläubigen finanziellen Ausgleich zu erhalten. Doch er hatte dieses Recht nicht immer in Anspruch genommen. Er hatte oft mit seinen Händen gearbeitet, indem er Zelte machte, damit er in der Lage war, das Evangelium den Menschen frei und ohne Verpflichtungen zu predigen. Zweifellos nützten seine Gegner diese Tatsache aus. Ihren Ansichten zufolge bestand der Grund, warum er keinen Unterhalt nahm, in Folgendem: Er wisse, dass er kein richtiger Apostel sei. Paulus führt sein Thema fort, indem er eine Frage stellt: »Haben wir etwa kein Recht, zu essen und zu trinken?« – d. h. ohne selbst dafür arbeiten zu müssen? Haben wir kein Recht, von der Gemeinde unterstützt zu werden?
9,5 »Haben wir etwa kein Recht, eine Schwester als Frau mitzunehmen wie die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn und Kephas?« Vielleicht behaupteten einige der Kritiker des Völkerapostels, dass Paulus nicht geheiratet habe, weil er gewusst habe, dass er und seine Frau nicht berechtigt waren, von den Gemeinden unterhalten zu werden. Petrus und die anderen Apostel waren verheiratet, wie auch »die Brüder des Herrn«. Hier stellt der Apostel fest, dass er genau dasselbe Recht habe, verheiratet zu sein und von der Gemeinde für sich und seine Frau Unterhalt zu verlangen. Der hier stehende Ausdruck (»eine Schwester als Frau mitzunehmen«) bezieht sich nicht nur auf das Recht zur Heirat, sondern auch auf das Anrecht auf Unterhalt für Ehemann und Ehefrau. »Die Brüder des Herrn« sind wahrscheinlich seine wirklichen Halbbrüder oder möglicherweise seine Vettern. Dieser Text allein löst das Problem nicht, obwohl andere Schriftstellen darauf hinweisen, dass Maria noch andere Kinder nach Jesus, ihrem Erstgeborenen, hatte (Lk 2,7; s. Matth 1,25; 12,46; 13,55; Mk 6,3; Joh 2,12; Gal 1,19).
9,6 Es hat den Anschein, dass »Barnabas« wie Paulus gearbeitet hatte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, während er das Evangelium predigte. Paulus fragt nun, ob nur sie allein das »Recht« haben, »nicht zu arbeiten« und sich vom Volk Gottes versorgen zu lassen.
9,7 Der Apostel hat seinen Anspruch auf Unterhalt zunächst mit dem Beispiel der anderen Apostel begründet. Er wendet sich nun einem Argument aus dem Bereich der menschlichen Erfahrung zu. Ein Soldat wird nicht »auf eigenen Sold« in den »Kriegsdienst« geschickt. Niemand erwartet, dass jemand, der »einen Weinberg« pflanzt, keinen Nutzen aus seiner »Frucht« zieht. Schließlich wird von keinem Hirten erwartet, »eine Herde« zu hüten und nicht »von der Milch der Herde« nicht zu trinken. Der christliche Dienst gleicht in gewisser Hinsicht der Kriegsführung, dem Ackerbau und dem Hirtenleben. Es gehört dazu, dass man gegen den Feind kämpft, die Pflanzungen Gottes beschützt und als Unterhirte seinen Schafen dient. Wenn das Recht auf Unterhalt in diesen irdischen Berufen anerkannt wird, wie viel mehr sollte dasselbe für den Dienst des Herrn gelten!
9,8 Als Nächstes wendet sich Paulus dem AT zu, um weitere Beweise für seine Argumente zu erhalten. Soll er seine Argumente nur auf diese irdischen Dinge wie Kriegsführung, Ackerbau und Viehzucht gründen? »Sagt das nicht auch das Gesetz?«
9,9 In 5. Mose 25,4 wird deutlich ausgesagt, dass »dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul« verbunden werden solle. Das heißt, wenn das Tier bei der Ernte hilft, dann sollte es einen Anteil an dieser Ernte erhalten. »Ist Gott etwa um die Ochsen besorgt?« Natürlich sorgt er sich um die Ochsen, doch ließ er diese Angaben im AT nicht nur um der vernunftlosen Tiere willen geben. Hier finden wir ein geistliches Prinzip, das man auf unser Leben und unseren Dienst anwenden soll.
9,10 »Oder spricht er nicht durchaus um unsertwillen?« Die Antwort lautet »ja«, unser Wohlergehen lag ihm am Herzen, als diese Worte »geschrieben« wurden. Wenn jemand pflügt, dann sollte er in der Erwartung eines Lohnes »pflügen«. Ebenso gilt: Wenn er drischt, so sollte er als Ausgleich dafür »am Ertrag teilhaben«. Ein Teil des christlichen Dienstes gleicht dem Pflügen und Dreschen, und Gott hat bestimmt, dass diejenigen, die sich an diesen Arbeiten in seinem Dienst beteiligen, nicht auf eigene Kosten arbeiten sollen.
9,11 Paulus sagt von sich selbst, er habe für die Christen in Korinth »das Geistliche gesät«. Mit anderen Worten, er war nach Korinth gekommen, hatte den dortigen Bewohnern das Evangelium gepredigt und sie wertvolle geistliche Wahrheiten gelehrt. War es nun zu viel, dass sie ihm als Gegenleistung ein wenig mit ihren Finanzen oder anderem »Irdischen« dienen sollten? Das Argument lautet hier: »Der Lohn des Predigers ist sehr viel weniger wert als das, was er euch gegeben hat. Materieller Nutzen ist gegenüber geistlichen Segnungen vergleichsweise klein.«
9,12 Paulus war sich bewusst, dass die Gemeinde in Korinth »andere« unterstützt hat, die in der Gemeinde predigten oder lehrten. Sie erkannten diese Verpflichtung anderen gegenüber an, nicht jedoch gegenüber Paulus. Deshalb fragt er: »Wenn andere an dem Verfügungsrecht über euch Anteil haben, nicht erst recht wir?« Wenn sie das Recht anderer auf finanzielle Unterstützung anerkannten, wollten sie dann nicht erkennen, dass er, ihr Vater im Glauben, dieses Recht auch habe? Zweifellos waren einige, die sie unterstützten, Verfechter judaistischer Gedanken. Paulus fügt nun hinzu, dass er, obwohl er »dieses Recht« gehabt hat, bei den Korinthern davon keinen Gebrauch gemacht habe, »sondern … alles ertragen« habe, »damit« er »dem Evangelium Christi kein Hindernis bereite«. Statt auf seinem Recht zu bestehen, von ihnen unterhalten zu werden, ertrug er lieber alle möglichen Härten und Entbehrungen, damit das Evangelium nicht gehindert wurde.
9,13 Paulus führt nun als nächstes Argument an, dass diejenigen, die im jüdischen Tempel Dienst taten, auch unterstützt wurden. Diejenigen, die von Amts wegen Pflichten im Zusammenhang mit dem Tempeldienst hatten, wurden von dem Einkommen des Tempels unterhalten. In diesem Sinne lebten sie »aus dem Tempel«. Auch die Priester selbst, die »am Altar« dienten, erhielten einen »Anteil« des Opfers, das »am Altar« gebracht wurde. Mit anderen Worten, sowohl die Leviten, die untergeordnete Dienste im Tempel taten, als auch die Priester, denen die heiligsten Verrichtungen anvertraut waren, lebten von ihrem Dienst.
9,14 Schließlich führt Paulus noch das direkte Gebot des »Herrn« selbst an. Er hatte »denen, die das Evangelium verkündigen, verordnet, vom Evangelium zu leben«. Das allein hätte schon als Beweis genügen sollen, dass Paulus das Recht hatte, von den Korinthern den Unterhalt zu fordern. Doch damit erhebt sich die Frage, warum er nicht darauf bestanden hatte, von ihnen Unterstützung zu erhalten. Die Antwort erhalten wir in den Versen 15-18.
9,15 Er erklärt, dass er »von keinem dieser Dinge Gebrauch gemacht« habe, d. h.  er  bestand  nicht  auf  seinem  Recht. Auch hat er davon jetzt nicht »geschrieben«, weil es ihm nicht darum ging, von ihnen Geld zu haben. Er würde lieber »sterben als – meinen Ruhm soll mir niemand zunichtemachen«.
9,16 Paulus sagt hier, dass er sich nicht der Tatsache rühmen könne, dass er »das Evangelium verkündige«. Ihm war in dieser Hinsicht ein göttlicher »Zwang« auferlegt. Es war nicht eine Berufung, die er sich selbst ausgesucht hätte. Er wäre unglücklich geworden, wenn er nicht dem göttlichen Auftrag gehorcht hätte. Das bedeutet nicht, dass der Apostel keine Bereitschaft erkennen ließ, das Evangelium zu predigen. Vielmehr ist damit gemeint, dass die Entscheidung zur Evangeliumsverkündigung nicht von ihm selbst, sondern vom Herrn stammte.
9,17 Wenn der Apostel nun »freiwillig« das Evangelium predigte, dann hätte er den »Lohn zu erwarten«, der mit diesem Dienst verbunden ist, nämlich das Recht auf Unterstützung. Im ganzen Alten und Neuen Testament wird eindeutig gelehrt, dass diejenigen, die dem Herrn dienen, berechtigt sind, vom Volk Gottes unterhalten zu werden. In diesem Abschnitt meint Paulus nun nicht, dass er dem Herrn nur widerwillig diene. Vielmehr legt er einfach dar, dass er zu seiner Apostelschaft von Gott gedrängt wurde. Dies will er nun im zweiten Teil dieses Verses weiter ausführen. Wenn er nun aus »Zwang« predigt (weil nämlich ein Feuer in ihm brennt und er das Predigen nicht lassen kann), dann ist er »mit einer Verwaltung« des Evangeliums »betraut« worden. Er war jemand, der nur Anweisungen ausführte, und deshalb konnte er sich dessen nicht rühmen. Vers 17 ist zugegebenermaßen schwierig, und doch scheint die Bedeutung zu sein, dass Paulus sein Recht auf Unterhalt von den Korinthern nicht einfordern wollte, weil der Dienst keine Berufung war, die er sich selbst ausgesucht hatte. Er wurde von Gott in diesen Dienst gestellt. Die Irrlehrer in Korinth mochten das Recht beanspruchen, von den Heiligen unterhalten zu werden, doch der Apos tel Paulus würde seinen Lohn an anderer Stelle suchen. Knox hat den Vers folgendermaßen umschrieben: »Ich kann eine Belohnung für etwas fordern, das ich aus eigenem Antrieb getan habe, doch wenn ich unter Zwang handle, dann führe ich nur einen Auftrag aus.« Ryrie kommentiert:
Paulus konnte sich der Verantwortung zur Predigt des Evangeliums nicht entziehen, weil ihm eine »Verwaltung« (Verantwortung) anvertraut worden war und er die Anweisung zum Predigen hatte, auch wenn ihm nie etwas dafür gezahlt werden würde (vgl. Lk 17,10).29
9,18 Wenn er sich nun der Tatsache nicht rühmen konnte, dass er das Evangelium predigte, wessen konnte er sich dann rühmen? Er konnte sich dessen rühmen, dass er es freiwillig tat. Es ging um die Tatsache, dass er bei seiner »Verkündigung das Evangelium kostenfrei« weitergab. In dieser Hinsicht konnte er frei entscheiden. Er predigte also den Korinthern das Evangelium und verdiente sich gleichzeitig noch seinen Unterhalt, sodass er sein Recht zum Unterhalt durch das Evangelium nicht nutzte. Wir wollen die Argumentation des Apostels an dieser Stelle zusammenfassen: Er unterscheidet hier zwischen dem, was er aus Zwang tut, und dem, was er freiwillig tut. Es geht hier nicht darum, dass er das Evangelium unwillig predigte. Er tat es voller Freude. Doch in einem sehr realen Sinne musste er eine ernsthafte Verpflichtung erfüllen. Deshalb hatte er keinen Grund zum Rühmen, wenn er diese Verpflichtung erfüllte. Als er das Evangelium predigte, hätte er darauf bestehen können, finanziell unterstützt zu werden. Er tat dies jedoch nicht, sondern entschied sich stattdessen, »das Evangelium kostenfrei« an die Korinther weiterzugeben. Weil er dies aus eigenem Entschluss tat, wollte er sich nun dessen rühmen. Wir haben schon angedeutet, was die Kritiker des Paulus behaupteten. Ihren Aussagen zufolge zeigte seine Arbeit als Zeltmacher, dass er sich selbst nicht für einen echten Apostel hielt. Hier nun lässt er erkennen, dass seine Apostelschaft dennoch echt war, und zwar von sehr hochstehender und edler Art.
9,19 In den Versen 19-22 führt Paulus sein Beispiel dafür an, dass er seine Rechte um des Evangeliums willen aufgab. Wenn wir diesen Abschnitt untersuchen, ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Paulus hier nicht meint, er hätte jemals wichtige Schriftprinzipien geopfert. Er war nie der Ansicht, dass der Zweck die Mittel heilige. In diesem Vers spricht er über moralisch neutrale Dinge. Er passte sich den Gebräuchen und Gewohnheiten der Menschen an, unter denen er arbeitete, damit er ein offenes Ohr für das Evangelium fand. Doch er tat nie etwas, das die Wahrheit des Evangeliums verleugnet hätte.
In gewissem Sinne war er »frei« von allen Menschen. Niemand konnte zu Gericht über ihn sitzen oder ihn zu etwas zwingen. Doch er selbst begab sich in die Sklaverei »aller« Menschen, »damit« er »immer mehr gewinne«. Wenn er ein Zugeständnis machen konnte, ohne eine göttliche Wahrheit dabei zu verraten, dann tat er dies, um Menschen für Christus zu gewinnen.
9,20 »Den Juden« ist er »ein Jude geworden, damit« er »die Juden gewinne«. Das heißt nicht, dass er sich selbst wieder unter das Gesetz des Mose stellte, damit sich Juden bekehrten. Was dieser Satz bedeutet, könnte man mit der Vorgehensweise verdeutlichen, derer Paulus sich bediente, als es um die Beschneidung von Timotheus und Titus ging. Im Falle des Titus gab es Leute, die der Ansicht waren, dass er erst gerettet werden könne, wenn er beschnitten war. Als Paulus diese Ansicht als frontalen Angriff auf das Evangelium der Gnade Gottes erkannte, weigerte er sich standhaft, Titus beschneiden zu lassen (Gal 2,3). Doch im Falle des Timotheus scheint dieser Aspekt nicht berücksichtigt worden zu sein. Deshalb war der Apostel bereit, Timotheus beschneiden zu lassen, wenn das dazu führen würde, dass das Evangelium bereitwilliger angenommen wurde (Apg 16,3). »Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden, als wäre ich unter dem Gesetz«,30 »damit ich die unter dem Gesetz gewinne« (jeweils Schl 2000). Mit denen, »die unter dem Gesetz sind«, meint er die Juden. Doch Paulus hat schon im ersten Teil des Verses von seinem Umgang mit den Juden gesprochen. Warum greift er dann dieses Thema hier noch einmal auf? Es wurde oft erklärt, dass er sich, wenn er im ersten Teil von den Juden spricht, auf ihre Volksbräuche bezieht, während er hier auf ihr religiöses Leben anspielt.
An diesem Punkt ist ein kurzes Wort der Erklärung notwendig. Als Jude war Paulus unter dem Gesetz geboren worden. Er versuchte, vor Gott angenehm zu sein, indem er das Gesetz hielt, doch merkte er, dass er dazu nicht fähig war. Das Gesetz zeigte ihm, was für ein verdorbener Sünder er war, und verurteilte ihn radikal. Schließlich erkannte er, dass das Gesetz kein Heilsweg, sondern nur Gottes Mittel ist, um dem Menschen seine Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit zu zeigen. Paulus glaubte daraufhin dem Herrn Jesus Christus und wurde damit frei von der Verurteilung durch das Gesetz. Die Strafe für das gebrochene Gesetz wurde vom Herrn Jesus am Kreuz auf Golgatha getragen.
Nach seiner Bekehrung erkannte der Apostel, dass das Gesetz weder einen Weg zum Heil noch eine Lebensregel für die Geretteten darstellt. Der Gläubige steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Das bedeutet nicht, dass er handeln kann, wie es ihm gefällt. Es bedeutet eher, dass ein echtes Verstehen der Gnade Gottes ihn davon abhalten wird, etwas zu tun, was Gott nicht gefällt. Weil der Heilige Geist in einem Christen wohnt, wird er auf eine neue Ebene des Verhaltens gehoben. Er möchte ein heiliges Leben führen, nicht aus Furcht vor der Strafe für den Gesetzesbruch, sondern aus Liebe zu Christus, der für ihn gestorben und wiederauferstanden ist. Im Rahmen des Gesetzes gehorchte der Betreffende aus Gehorsam, unter der Gnade gehorcht er aus Liebe. Die Liebe umfasst einen weit besseren Beweggrund als die Furcht. Die Menschen werden aus Liebe Dinge tun, die sie nie täten, wenn sie nur den Schrecken des Gesetzes kennen würden.
Arnot sagt:
Wenn Gott Menschen im Gehorsam an sich bindet, geht er ähnlich vor wie in seiner Eigenschaft als Schöpfer, wenn er die Planeten auf ihren Bahnen hält: Er lässt sie frei ihre Kreise ziehen. Wir sehen keine Kette, die diese strahlenden Welten davon abhält, sich von ihrem Zentrum zu entfernen. Sie werden von einem unsichtbaren Gesetz gehalten … Und so werden erlöste Menschen durch das unsichtbare Band der Liebe (der Liebe zu dem Herrn, der sie erkauft hat) gehalten und zu einem gerechten, gottesfürchtigen und nüchternen Leben gebracht.31 Mit dieser kurzen Erklärung im Hinterkopf sollten wir uns nun dem zweiten Teil von Vers 20 zuwenden. »Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden, als wäre ich unter dem Gesetz, damit ich die unter dem Gesetz gewinne« (Schl 2000).  Wenn  er  mit  Juden  zusammen war, dann verhielt sich Paulus in moralisch neutralen Fragen wie ein Jude. Er aß z. B. die Speisen, die die Juden erlaubt waren, und enthielt sich solcher Speisen wie Schweinefleisch, die ihnen verboten waren. Vielleicht arbeitete Paulus auch am Sabbat nicht, weil er erkannte, dass das Evangelium von den Menschen bereitwilliger gehört wurde, wenn er so handelte.
Als wiedergeborener Gläubiger an den Herrn Jesus stand der Apostel nicht unter dem Gesetz als Lebensregel. Er passte sich nur den Gebräuchen, Gewohnheiten und Einstellungen an, die die Menschen hatten, um sie für den Herrn zu gewinnen.
9,21 Ryrie schreibt: Paulus ist hier nicht doppelzüngig, sondern legt vielmehr von einer ständigen strengen Selbstdisziplin Zeugnis ab. Er hielt sie aufrecht, um vielen verschiedenen Menschen dienen zu können. So wie ein schmaler kanalisierter Fluss kräftiger ist als ein uferloser, schlammiger Strom, so führt eine beschränkte Freiheit zu einem vollmächtigeren Zeugnis für Christus.32
Gegenüber »denen, die ohne Gesetz sind«, handelte Paulus »wie einer ohne Gesetz« (auch wenn er selbst »nicht ohne Gesetz« war). »Die ohne Gesetz sind« sind keine Verbrecher oder Gesetzlose, die sich nicht an die Gesetze halten, sondern es handelt sich bei dem Ausdruck um eine allgemeine Bezeichnung für die Heiden. Das Gesetz als solches war den Juden und nicht den Angehörigen der Nationen gegeben. Wenn also Paulus bei den Heiden war, passte er sich ihren Gewohnheiten und Gefühlen an, soweit es ihm möglich war, ohne den Herrn dabei zu verleugnen. Der Apostel erklärte, dass er »nicht ohne Gesetz vor Gott« war, auch wenn er »wie einer ohne Gesetz« handelte. Er war nicht der Ansicht, frei zu sein, um tun zu können, was ihm gefiel, »sondern« stand »unter dem Gesetz Christi«. Mit anderen Worten: Er war dara n gebunden, den Herrn Jesus zu lieben, zu ehren, ihm zu dienen und zu gefallen, aber nicht durch das Gesetz des Mose, sondern durch das Gesetz der Liebe. Er war an Christus gebunden. Wir haben das Sprichwort: »Andere Länder, andere Sitten«. Damit meinen wir, dass man sich den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten anpassen muss. Paulus sagt hier, dass er, wenn er bei den Heiden war, sich an ihre Lebensweise so weit anpasste, wie er es konnte, ohne Christus zu verleugnen. Doch wir müssen uns immer daran erinnern, dass es sich hier nur um kulturelle Gegebenheiten handelt, die keine lehrmäßige oder moralische Bedeutung haben.
9,22 Vers 22 spricht von denen, die »schwach« sind oder zu viele Bedenken haben. Sie waren in Bereichen sehr empfindlich, die wirklich nebensächlich waren. »Den Schwachen« ist Paulus »wie33 ein Schwacher« geworden, um sie zu gewinnen. Er wollte lieber vegetarisch leben, als ihnen Anstoß zu geben, indem er Fleisch aß. Kurz gesagt wurde Paulus »allen alles, damit« er »auf alle Weise einige errette«. Diese Verse sollten niemals missbraucht werden, um das Aufgeben eines schriftgemäßen Grundsatzes zu rechtfertigen. Sie beschreiben nur die Bereitschaft, sich den Gewohnheiten und Gebräuchen der Menschen anzupassen, um ein offenes Ohr für die gute Nachricht von der Erlösung zu gewinnen. Wenn Paulus sagt: »… damit ich auf alle Weise einige errette«, so ist er nicht einen Augenblick lang der Meinung, dass er einen anderen Menschen erretten könnte. Er wusste nämlich, dass nur der Herr Jesus jemanden retten kann. Gleichzeitig ist es wundervoll zu sehen, dass diejenigen, die Christus am Evangelium dienen, mit ihm so eng verbunden sind, dass er ihnen sogar gestatten kann, das Wort »erretten« zu benutzen, wenn sie von ihrer eigenen Arbeit sprechen. Wie sehr erhöht, ehrt und erhebt das doch den Dienst am Evangelium!
Die Verse 23-27 beschreiben das Schicksal, das man erleidet, wenn man durch mangelnde Selbstdisziplin seinen Lohn verliert. Für Paulus war die Zurückweisung finanzieller Hilfe von den Korinthern eine Form strenger Disziplin.
9,23 »Ich tue aber alles um des Evangeliums willen, um an ihm Anteil zu bekommen.« In den vorhergehenden Versen hatte Paulus beschrieben, wie er seine eigenen Rechte und Wünsche dem Werk des Herrn unterordnete. Warum tat er das? Er tat es »um des Evangeliums willen«, damit er eines Tages Anteil am Sieg des Evangeliums haben würde.
9,24 Zweifellos erinnerte sich der Apostel an die Isthmischen Spiele, die in der Nähe von Korinth ausgetragen wurden, als er die Worte von Vers 24 niederschrieb. Die korinthischen Gläubigen waren mit diesen sportlichen Wettkämpfen wohlvertraut. Paulus erinnert sie daran, dass zwar viele »in der Rennbahn laufen«, jedoch nicht alle »den Preis« erringen. Das christliche Leben ist wie ein Wettlauf. Es erfordert Selbstdisziplin. Es verlangt dem Betreffenden fortwährende Anstrengungen ab. Man braucht Zielstrebigkeit. Der Vers sagt jedoch nicht aus, dass das christliche Rennen nur von einem Einzigen gewonnen werden kann. Er lehrt einfach, dass wir alle wie Gewinner laufen sollten. Wir sollten alle dieselbe Selbstverleugnung praktizieren, die der Apostel Paulus übte. Hier ist der Preis natürlich nicht die Heil, sondern der Lohn für treuen Dienst. Vom Heil wird nirgends ausgesagt, dass es das Ergebnis unserer Treue im Rennen ist. Die Erlösung ist ein Geschenk Gottes durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus.
9,25 Nun wendet sich der Apostel einem neuen Bild zu: dem Ringen. Er erinnert seine Leser daran, dass »jeder, der« in den Spielen »kämpft«, d. h. an den Ringkämpfen teilnimmt, »in allem« Selbstkontrolle übt. Ein Ringer fragte einmal seinen Trainer: »Kann ich nicht rauchen und trinken sowie es mir gut gehen lassen und trotzdem noch ringen?« »Das kannst du sicherlich«, sagte der Trainer, »aber du kannst nicht mehr gewinnen!« Als Paulus an die Teilnehmer der Spiele dachte, sah er den Gewinner, wie er hina ufsteigt, um seinen Preis in Empfang zu nehmen. Was für ein Preis ist das? Ein »vergänglicher Siegeskranz«, eine Blumengirlande oder ein Blätterkranz, der schon bald verwelkt. Paulus erwähnt nun im Vergleich dazu den »unvergänglichen« Siegesk ranz, der all denen geg eben wird, die in ihrem Dienst für Christus treu gewesen sind.
So groß der König ist, dem ihr gedienet, in heißem Ringen, Not und Kampf und Streit,
so reich der unverwelklich Kranz, der für euch grünet,
so reich die Freudenkron’ in Herrlichkeit.
Verfasser unbekannt
9,26 Angesichts der unvergänglichen Krone stellt Paulus fest, dass er deshalb nicht »ins Ungewisse« läuft und nicht wie einer kämpft, »der in die Luft schlägt«. Sein Dienst war weder ziellos noch unwirksam. Er hatte ein genaues Ziel vor Augen, und seine Absicht war, dass jede seiner Handlungen zählen sollte. Er erlaubte sich keine Zeit- oder Energieverschwendung. Der Apostel war nicht an unkontrollierten, ins Leere gehenden Schlägen interessiert.
9,27 Stattdessen disziplinierte er seinen »Leib« und »knechtete« ihn, damit er nicht, nachdem er »anderen gepredigt« hatte, »selbst verwerflich« oder abgelehnt werden würde. Im christlichen Leben brauchen wir Selbstbeherrschung, Mäßigung und Disziplin. Wir müssen Selbstzucht üben.
Der Apostel Paulus erkannte die schreckliche Möglichkeit, »selbst verwerflich« zu werden, nachdem er »anderen gepredigt« hat. Man hat über diesen Vers viel diskutiert. Einige sind der Ansicht, er lehre, dass ein Mensch gerettet werden und wieder verlorengehen kann. Das steht natürlich im Gegensatz zur allgemeinen Lehre des NT, die aussagt, dass kein Schaf Christi je verlorengehen wird. Andere sagen, dass das Wort, das hier mit »verwerflich«34 übersetzt wird, ein sehr hartes Wort ist und sich auf die ewige Verdammnis bezieht. Sie legen den Vers jedoch so aus, dass nach der Lehre des Paulus niemand, der errettet worden ist, je verwerflich werden kann. Vielmehr sei jemand, der keine Selbstdisziplin erkennen lässt, niemals wirklich errettet worden. Wenn man an die falschen Lehrer denkt, wie sie jeder Leidenschaft und Begierde folgten, zeigt uns Paulus nach dieser Auffassung hier ein allgemeines Prinzip auf: Wenn jemand seinen Leib nicht in Unterordnung halten kann, ist dies ein Beweis dafür, dass dieser Mensch niemals wiedergeboren worden ist. Er mag zwar anderen predigen, wird jedoch selbst verworfen werden.
Eine dritte Erklärung lautet, dass Paulus hier nicht vom Heil, sondern vom Dienst spricht. Er will hier nicht andeuten, dass er selbst je verlorengehen könnte, sondern zeigen, dass er die Prüfung seines Dienstes nicht bestehen und deshalb nicht den Preis erhalten könnte. Diese Auslegung passt genau zur Bedeutung des Wortes »disqualifiziert« und zu dem Zusammenhang, worin es um Wettkämpfe geht. Paulus erkennt die schreckliche Möglichkeit, dass er selbst, der »anderen gepredigt« hat, vom Herrn auf die Ersatzbank gesetzt werden könnte, weil er für ihn nicht mehr brauchbar ist. Jedenfalls sollten wir diesen Abschnitt sehr ernst nehmen. Er sollte jeden von uns, der dem Herrn Christus dienen will, zu tiefster Herzensprüfung führen. Jeder sollte sich entschließen, dass er durch die Gnade Gottes niemals dieses Wort am eigenen Leib erfahren will. Während Paulus über die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung nachdenkt, erinnert er sich an das Beispiel der Israeliten. In Kapitel 10 erinnert er uns daran, wie sie durch mangelnde Selbstdisziplin des Leibes Maßlosigkeit sowie Nachlässigkeit erkennen ließen und so »verwerflich« bzw. disqualifiziert wurden. Zunächst spricht er von den Vorrechten Israels (V. 1-4), dann von der Bestrafung  Israels  (V. 5)  und  schließlich  von den Ursachen des Niedergangs Israels (V. 6-10). Dann erklärt er, wie diese Ereignisse auf uns anzuwenden sind (V. 11-13).
10,1 Der Apostel erinnert die Korinther, dass die jüdischen »Väter alle unter der Wolke waren und alle durch das Meer hindurchgegangen sind«. Die Bet onung liegt auf dem Wort »alle«. Er denkt an die Zeit der Befreiung aus Ägypten und dara n zurück, wie die Israeliten auf wundersame Weise tagsüber durch eine Wolkensäule und nachts durch eine Feuersäule geführt wurden. Er denkt an die Zeit zurück, als sie durch das Rote Meer zogen und in die Wüste entkommen konnten. Jeder von ihnen hatte das Vorrecht der göttlichen Führung und Befreiung.
10,2 Doch damit hatte es nicht sein Bewenden. Vielmehr wurden auch »alle in der Wolke und im Meer auf Mose getauft«. »Auf Mose getauft« zu werden, bedeutet, sich mit ihm zu identifizieren und seine Führerschaft anzuerkennen. Als Mose die Kinder Israel aus Ägypten ins Gelobte Land führte, schwor ihm das ganze Volk zunächst Treue und erkannte ihn als den von Gott eingesetzten Befreier an. Man hat vorgebracht, dass der Ausdruck »unter der Wolke« auf das hinweist, was sie mit Gott verband, während der Ausdruck »durch das Meer« beschreibt, was sie von Ägypten trennte.
10,3 Sie aßen »alle dieselbe geistliche Speise«. Das bezieht sich auf das Manna, das durch ein Wunder den Angehörigen des Volkes Israel geschenkt wurde, als sie durch die Wüste zogen. Der Ausdruck »geistliche Speise« bedeutet nicht, dass es sich nicht um echtes Essen gehandelt hätte. Auch bedeutet es nicht, dass die Speise unsichtbar oder immateriell gewesen wäre. »Geistlich« bedeutet hier nur, dass das materielle Essen ein Bild oder Typus der geistlichen Nahrung war, wobei es die geistliche Realität war, die der Autor in erster Linie im Sinn hatte. Der Ausdruck kann aber auch die Vorstellung beinhalten, dass die Speise auf übernatürliche Weise geschenkt wurde.
10,4 Auf all ihren Reisen schenkte Gott den Israeliten auf wunderbare Weise Trinkwasser. Es war echtes Wasser, doch auch hier hören wir vom »geistlichen Trank« in dem Sinne, dass er ein Typus der geistlichen Erquickung war und durch ein Wunder gegeben wurde. Sie wären oft vor Durst umgekommen, wenn der Herr ihnen nicht dieses Wasser auf wunderbare Weise zur Verfügung gestellt hätte. Der hier befindliche Ausdruck (»sie tranken aus einem geistlichen Felsen, der sie begleitete«) bedeutet nicht, dass ein sichtbarer Felsen im wörtlichen Sinne hinter ihnen herzog, als sie reisten. Der Fels steht vielmehr für das Wasser, das aus ihm floss und den Israeliten folgte. »Der Fels aber war der Christus« in dem Sinne, dass Christus derjenige war, der das Wasser spendete. Außerdem ist der Fels ein Bild für Christus, der sein Volk mit lebendigem Wasser tränkt.
10,5 Nachdem der Apostel all die wunderbaren Vorrechte aufgezählt hat, die den Israeliten zuteilwurden, muss er nun die Korinther daran erinnern, dass Gott »an den meisten von ihnen … kein Wohlgefallen« hatte, »denn sie sind in der Wüste hingestreckt worden«. Obwohl die Israeliten Ägypten verlassen hatten und bekannten, ein Herz und eine Seele mit ihrem Führer Mose zu sein, bestand doch die traurige Wahrheit darin, dass ihre Leiber zwar in der Wüste waren, sie aber in ihren Herzen Ägypten verhaftet blieben. Sie genossen die leibliche Befreiung aus der Knechtschaft des Pharao, doch gelüstete es sie noch immer nach den sündigen Vergnügungen dieses Landes. Von allen Kriegern über zwanzig Jahren, die Ägypten verließen, haben nur zwei, nämlich Kaleb und Josua, den Preis errungen – sie erreichten das Gelobte Land. Die Leiber der restlichen von ihnen sind als Zeichen des Missfallens Gottes »in der Wüste hingestreckt worden«.
Man beachte den Gegensatz zwischen dem Worte »alle« in den ersten vier Versen und dem Wort »die meisten« in Vers 5. Alle hatten die gleichen Vorrechte, doch die »meisten von ihnen« kamen in der Wüste um. Godet wundert sich: Welch ein Schauspiel bietet sich hier, das der Apostel den selbstzufriedenen Korinthern vor Augen stellt: All die Leiber, von wunderbarer Speise gesättigt und von wunder barem Trank erquickt, liegen verstreut auf dem Wüsten boden umher!35
10,6 In den Ereignissen zur Zeit des Auszuges sehen wir eine Lehre, die wir auf uns anwenden können. Die Kinder Israel waren in Wirklichkeit »Vorbilder« für uns, die uns zeigen, was geschehen wird, wenn uns auch »nach bösen Dingen gelüstet, wie es jene gelüstete«. Wenn wir das AT lesen, sollten wir es nicht nur als Geschichtsbuch lesen, sondern auch beachten, dass es praktisch relevante Lektionen für unser jetziges Leben enthält. In den folgenden Versen wird der Apostel einige besondere Sünden nennen, denen die Israeliten verfielen. Es ist besonders interessant, dass viele ihrer Sünden damit zu tun hatten, die leiblichen Begierden zu befriedigen.
10,7 Vers 7 bezieht sich auf die Anbetung des Goldenen Kalbes und das darauffolgende Fest, wie dies in 2. Mose  32 festgehalten worden ist. Als Mose vom Berg Sinai hinabstieg, sah er, dass das Volk ein solches Kalb gemacht hatte und es anbetete. Wir lesen in 2. Mose 32,6, wie sich »das Volk« niedersetzte, »zu essen und zu trinken, und sie standen auf, zu spielen«, d. h. um zu tanzen und ausgelassen zu sein.
10,8 Die in Vers 8 erwähnte Sünde bezieht sich auf die Zeit, als sich die Kinder Israel mit den Töchtern Moabs verheirateten  (4. Mose  25).  Von  Bileam  (einem falschen Propheten) angestiftet, wurden die Moabiter zum Fallstrick für viele Israeliten. Diese gehorchten daraufhin dem Wort des Herrn nicht mehr und verfielen der Sittenlosigkeit. Wir lesen in Vers 8, dass »an einem Tag dreiundzwanzigtausend« fielen. Im AT heißt es, dass vierundzwanzigtausend bei der Plage umkamen (4. Mose 25,9). Bibelkritiker haben diese Tatsache oft missbraucht, um zu zeigen, welche Widersprüche in der Heiligen Schrift zu finden sind. Hätten sie den Text jedoch etwas genauer angesehen, hätten sie erkannt, dass hier kein Widerspruch besteht. Hier heißt es einfach, dass dreiundzwanzigtausend an einem Tag fielen. Im AT steht die Zahl Vierundzwanzigtausend jedoch für alle Menschen, die bei der gesamten Plage gestorben sind.
10,9 Paulus spielt als Nächstes auf die Zeit an, als sich die Israeliten über die Speisen beschwerten und an der Güte des Herrn zweifelten. Zu diesem Zeitpunkt sandte Gott »Schlangen« unter sie, und viele starben (4. Mose 21,5.6). Hier sehen wir wieder, wie das Verlangen nach Essen ihren Niedergang einleitete.
10,10 In diesem Vers ist die Sünde Korachs, Datans und Abirams gemeint (4. Mose 16,14-17,12). Und wieder ging es ums Essen, als sie gegen den Herrn klagten  (4. Mose  16,14).  Die  Israeliten  übten keine Selbstzucht, was ihre körperlichen Begierden betraf. Sie disziplinierten ihre Leiber nicht, noch beherrschten sie diese. Stattdessen waren sie auf die Begierden des Fleisches bedacht, und dies erwies sich als ihr Fallstrick.
10,11 Die nächsten drei Verse zeigen uns die praktische Anwendung dieser Ereignisse. Als Erstes erklärt uns Paulus, dass die Bedeutung dieser Vorgänge sich nicht auf ihren historischen Wert beschränkt. Sie haben heute für uns eine Bedeutung. All das »ist geschrieben worden« als Ermahnung für uns, die wir nach der Beendigung des jüdischen Zeitalters und während des Zeitalters des Evangeliums leben. Es gilt uns, »die wir von den Erträgen aller vergangenen Zeitalter leben«, wie Rendall Harris es so treffend ausdrückt.
10,12 Diese Worte sind eine Warnung für die Selbstzufriedenen: »Daher, wer zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht falle.« Vielleicht bezieht sich das besonders auf den starken Gläubigen, der meint, er könne mit der Befriedigung seiner eigenen Wünsche spielen und davon nicht beeinflusst werden. Solch ein Mensch befindet sich in der großen Gefahr, unter die züchtigende Hand Gottes zu geraten.
10,13 Doch dann fügt Paulus ein wunderbares Wort der Ermutigung für diejenigen hinzu, die angefochten werden. Er lehrt, dass die Erprobungen, Prüfungen und Versuchungen, die uns begegnen, »menschlich«  sind,  d. h.  für  alle  Menschen gelten. Doch »Gott … ist treu, der nicht zulassen wird«, dass wir »über« unser »Vermögen versucht« werden. Gott verheißt uns nicht, dass er uns Versuchungen und Prüfungen erspart, doch er verspricht, ihre Schwere zu begrenzen. Außerdem verheißt er uns, »den Ausgang« zu »schaffen, sodass« wir »sie ertragen« können. Wenn wir diesen Vers lesen, dann können wir nur vollkommen sprachlos sein angesichts des enormen Trostes, den er seinen angefochtenen Heiligen gespendet hat. Junge Gläubige haben sich an diesen Vers als Rettungsleine geklammert, während sich ältere Gläubige auf ihm als auf einem sanften Kissen niedergelassen haben. Vielleicht waren zu dieser Zeit einige der Leser des Paulus schwer versucht, dem Götzendienst zu verfallen. Paulus tröstete sie mit dem Gedanken, dass Gott nicht erlauben würde, dass eine unerträgliche Versuchung in ihrem Leben entstehen würde. Gleichzeitig sollten sie jedoch gewarnt werden, dass sie sich nicht selbst der Versuchung aussetzten.
10,14 Im Abschnitt von 10,14 bis 11,1 kehrt Paulus nun wieder zum eigentlichen Thema des Götzenopferfleisches zurück. Zunächst nimmt er die Frage auf, ob Gläubige an Festen in Götzentempeln teilnehmen sollten (V. 14-22). »Darum, meine Geliebten, flieht den Götzendienst.« Vielleicht war es für die Gläubigen in Korinth eine echte Versuchung, wenn sie zu einem Götzenfest in einem der Tempel eingeladen wurden. Einige mochten sich erhaben über jede Versuchung glauben. Vielleicht sagten sie: »Einmal ist keinmal.« Der inspirierte Rat des Apostels lautet, »den Götzendienst« zu »fliehen«. Er sagt nicht, dass wir uns damit beschäftigen sollten, um ihn besser kennenzulernen, oder dass wir damit leichtfertig umgehen sollten. Wir werden vielmehr aufgerufen, in die entgegengesetzte Richtung laufen.
10,15.16 Paulus weiß, dass er sich an intelligente Menschen wendet, die verstehen können, was er sagt. In Vers 16 erwähnt er das Herrenmahl. Er sagt zunächst: »Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus?« »Der Kelch der Segnung« ist der »Kelch« mit Wein, der beim Herrenmahl verwendet wird. Er ist ein »Kelch«, der von der besonderen »Segnung« spricht, die uns durch den Tod Christi zugeeignet geworden ist. Deshalb wird er »der Kelch der Segnung« genannt. Der hier vorkommende Nebensatz (»den wir segnen«) bedeutet: »… für den wir Dank sagen.« Wenn wir diesen Kelch nehmen und an unsere Lippen führen, dann sagen wir damit im Grunde, dass wir an dem Segen teilhaben, den uns das Blut Christi schenkt. Daher können wir diesen Vers wie folgt umschreiben: Der Kelch, der von den besonderen Segnungen spricht, die uns durch das Blut des Herrn Jesus zuteilgeworden sind, ist ebenjener Kelch, für den wir danken: Was ist er anderes als ein Zeugnis für die Tatsache, dass alle Gläubigen Teilhaber am Segen des Blutes Christi sind?
Dasselbe gilt für »das Brot, das wir brechen«. Es ist das Brot, das beim Herrenmahl weitergereicht wird. Wenn wir das Brot essen, sagen wir im Grunde, dass wir alle durch das Opfer seines Leibes am Kreuz von Golgatha errettet worden und deshalb Glieder an seinem Leib sind. Kurz gesagt künden der Kelch und das Brot von der Gemeinschaft mit Christus und von der Teilhabe an seinem herrlichen Dienst für uns.
Es ist die Frage aufgeworfen worden, warum das Blut in diesem Vers zuerst genannt wird, während bei der Einsetzung des Herrenmahls das Brot zuerst erwähnt wird. Eine mögliche Antwort lautet, dass Paulus hier von der Reihenfolge der Ereignisse spricht, wenn wir in die christliche Gemeinschaft eintreten. Normalerweise versteht ein Neubekehrter zunächst den Wert des Blutes Christi, ehe er die Wahrheit des einen Leibes erkennt. Deshalb könnte dieser Vers die zeitliche Reihenfolge angeben, in der wir die Errettung verstehen.
10,17 Alle Gläubigen, obwohl sie »die vielen« sind, bilden »einen Leib« in Christus, was durch das »eine Brot« dargestellt wird. »Alle nehmen teil an dem einen Brot« in dem Sinne, dass alle gemeinsam den Segen erlangen, der uns aufgrund der Dahingabe des Leibes Christi zu gutekommt.
10,18 Paulus sagt in diesen Versen, dass das Essen am Tisch des Herrn die Gemeinschaft mit dem Herrn darstellt. Dasselbe galt für die Israeliten, die von den »Schlachtopfern« gegessen haben. Das bedeutete, dass sie »Gemeinschaft« mit dem »Altar« hatten. Der Vers bezieht sich zweifellos auf das Friedensopfer. Ein Teil des Opfers wurde auf dem Altar verbrannt, ein anderer Teil war den Priestern vorbehalten, doch der dritte Teil gehörte dem Opfernden und seinen Freunden. Sie aßen das Opfer am gleichen Tag. Paulus betont hier, dass alle, die von dem Opfer aßen, sich mit Gott und dem Volk Israel sowie mit allem, von dem der »Altar« kündete, eins machten.
Doch wie gehört dieses Schriftzitat in den Zusammenhang dessen, womit wir uns soeben beschäftigen? Die Antwort ist ganz einfach. So wie die Teilhabe am Mahl des Herrn von der Gemeinschaft mit dem Herrn spricht, und so wie die Teilnahme der Israeliten am Friedensopfer von der Gemeinschaft mit dem Altar Jahwes kündet, so zeugt das Essen eines Götzenopfers in einem Tempel von der Gemeinschaft mit dem Götzen.
10,19 »Was sage ich nun? Dass das einem Götzen Geopferte etwas sei? Oder dass ein Götzenbild etwas sei?« Will Paulus hier sagen, dass das Opfern des Fleisches das Wesen oder die Qualität des Fleisches verändert? Oder meint er, dass ein Götze ein wirklicher Gott ist, der hören und sehen kann sowie Macht hat? Die offensichtliche Antwort auf beide Fragen ist »Nein«.
10,20 Paulus will hier betonen, »dass« die Heiden »das, was« sie »opfern … den Dämonen opfern«. Auf sehr seltsame und mysteriöse Weise ist der Götzendienst mit den Dämonen verbunden. Indem sie die Götzen benutzen, kontrollieren die Dämonen Herz und Sinn derer, die an sie glauben. Es gibt nur einen Teufel, nämlich Satan, doch es gibt viele Dämonen, die seine Boten und Werkzeuge sind. Paulus fügt hinzu: »Ich will aber nicht, dass ihr Gemeinschaft habt mit den Dämonen.«
10,21 »Ihr könnt nicht des Herrn Kelch trinken und der Dämonen Kelch; ihr könnt nicht am Tisch des Herrn teilnehmen und am Tisch der Dämonen.« In diesem Vers ist »des Herrn Kelch« ein bildlicher Ausdruck, der die Segnungen beschreibt, die uns durch Christus zuteilwerden. Wir haben es hier mit einem sprachlichen Bild zu tun, das als Metonymie bekannt ist, wo das Gefäß benutzt wird, um dessen Inhalt zu bezeichnen. Auch der Ausdruck »Tisch des Herrn« ist solch ein bildlicher Ausdruck. Obwohl er nicht in jeder Beziehung dem Herrenmahl entspricht, ist dieses Mahl in dem Bild enthalten. Ein Tisch ist ein Möbelstück, wo man Essen austeilt und Gemeinschaft miteinander genießt. Hier steht der »Tisch des Herrn« stellvertretend für die Gesamtheit der Segnungen, die wir in Christus genießen. Paulus sagt hier, dass wir »nicht des Herrn Kelch … und der Dämonen Kelch« trinken und »nicht am Tisch des Herrn … und am Tisch der Dämonen« teilnehmen können. Wenn er dies sagt, so meint er damit nicht, dass uns das leiblich unmöglich ist. Es ist natürlich möglich, dass ein Gläubiger in einen Götzentempel geht und dort an einem Festmahl teilnimmt. Doch Paulus meint hier die moralische Unvereinbarkeit. Es wäre Verrat und Untreue gegenüber dem Herrn, wenn wir einerseits bekennen, dass wir ihm anhängen und treu sind, und dann hingingen und mit denen Gemeinschaft haben, die den Götzen dienen. Es wäre moralisch unpassend und eine Versündigung gegen den Herrn.
10,22 Aber nicht nur das: Würden wir so handeln, würden wir unweigerlich »den Herrn zur Eifersucht reizen«. William Kelly sagte einmal dazu: »Die Liebe kann bei geteilter Zuneigung nicht anders als eifersüchtig werden, sie wäre keine Liebe mehr, wenn sie Untreue nicht übel nehmen würde.«36 Der Christ sollte sich davor fürchten, Gott so zu missfallen oder seinen gerechten Zorn herauszufordern. Oder »sind wir etwa stärker als er«? D. h. wagen wir es, ihn zu betrüben und sein züchtigendes Gericht über uns zu bringen?
10,23 Der Apostel wendet sich nun vom Thema der Teilnahme an Götzenopferfesten ab und erklärt einige allgemeine Prinzipien, die die Christen in ihrem alltäglichen Leben leiten sollten. Wenn er sagt: »Alles ist erlaubt«, so meint er das nicht  absolut.  Er  will  z. B.  nicht  im  Geringsten andeuten, dass es ihm erlaubt sei, zu morden oder sich sinnlos zu betrinken! Hier müssen wir wieder verstehen, dass sich dieser Ausdruck auf Angelegenheiten bezieht, die wertneutral sind. Es gibt einen großen Bereich im christlichen Leben, worin Dinge an sich völlig legitim sind und es doch aus anderen Gründen für einen Christen nicht gut wäre, daran teilzuhaben. Deshalb sagt Paulus: »Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich.« So mag etwas zum Beispiel für einen Gläubigen durchaus erlaubt sein. Dennoch kann es sein, dass es nicht gut ist, angesichts der Gebräuche des Landes, in dem er lebt, so zu handeln. Auch gibt es Dinge, die zwar an sich nicht böse, aber auch nicht erbauend sind. Das heißt, meine Handlungsweise führt nicht dazu, dass ein Bruder in seinem Glauben erbaut wird. Sollte ich dann so hochmütig sein und meine eigenen Rechte einklagen? Oder sollte ich nicht lieber erwägen, was meinem Bruder in Christus helfen würde?
10,24 Bei allen Entscheidungen, die wir treffen, sollten wir nicht selbstsüchtig daran denken, was uns selbst guttut. Vielmehr sollten wir auf das Wohlergehen »des anderen« achten. Die Prinzipien, die wir in diesem Abschnitt studieren, kann man sehr gut auf Themen wie Kleidung, Essen und Trinken, Lebensstandard und Unterhaltungselemente, die wir uns gönnen, anwenden.
10,25 Wenn ein Gläubiger auf den »Fleischmarkt« ging, um etwas Fleisch zu kaufen, so wurde von ihm nicht erwartet, dass er den Händler fragte, ob das Fleisch vorher den Götzen geopfert worden war. Das Fleisch selbst wurde dadurch in keiner Weise beeinflusst, und in diesem Zusammenhang handelte es sich nicht um Untreue gegen Christus.
10,26 Als Erklärung dieses Rates zitiert Paulus aus Psalm 24,1: »Denn die Erde ist des Herrn und ihre Fülle.« Hier ist daran gedacht, dass uns die Speisen, die wir zu uns nehmen, vom Herrn in seiner Gnade bereitet sind. Sie sind insbesondere dazu bestimmt, dass wir sie zu uns nehmen. Heinrici berichtet uns, dass diese Worte aus Psalm 24 bei den Juden allgemein als Dankgebet bei Tisch benutzt werden.
10,27 Nun spricht Paulus von einer anderen Situation, die einen Gläubigen dazu führen könnte, Fragen zu stellen. Man stelle sich vor, ein Ungläubiger lädt einen Gläubigen in sein Haus zum Mahl ein. Ist ein Christ frei, eine solche Einladung anzunehmen? Ja. Wenn man zu einer Mahlzeit in das Haus eines Ungläubigen eingeladen ist und gehen möchte, dann hat man die Freiheit, »alles« zu essen, »was … vorgesetzt wird, ohne es um des Gewissens willen zu untersuchen«.
10,28 Wenn jedoch bei dem Mahl ein anderer Christ anwesend sein sollte, der ein schwaches Gewissen hat und uns informiert, dass das angebotene Fleisch »Opferfleisch« ist, darf man es dann essen? Nein. Man sollte nicht darauf bestehen, weil man damit vielleicht den anderen zu Fall bringt und sein Gewissen verletzt. Auch sollte man es nicht essen, wenn ein Ungläubiger durch diese Tat gehindert würde, den Herrn anzunehmen. Am Ende von V. 28 wird Psalm 24,1 in einigen Bibelübersetzungen erneut zitiert: »Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt« (Schl 2000).37
10,29 In dem eben angeführten Fall würde man sich nicht des eigenen Gewissens wegen zurückhalten. Natürlich würde man selbst als Gläubiger die vollkommene Freiheit haben, das Fleisch zu essen. Doch dem schwachen Bruder, der dabeisitzt, schlägt das »Gewissen«, und deshalb hält man sich aus Respekt vor seinem Gewissen zurück.
Die Frage: »Denn warum wird meine Freiheit von einem anderen Gewissen beurteilt?«, könnte man vielleicht folgendermaßen umschreiben:
Warum sollte ich meine Freiheit selbstsüchtig vor allen zeigen und das Fleisch essen, wenn ich damit vom Gewissen eines anderen verurteilt werde? Wieso sollte ich meine Freiheit der Verurteilung seines Gewissens aussetzen? Weshalb sollte ich zulassen, dass von dem, was für mich gut ist, von anderen schlecht geredet wird (vgl. Röm 14,16)? Ist denn ein Stück Fleisch so wichtig, dass ich einem Mitgläubigen solch einen Anstoß liefern sollte? (Doch viele Exegeten glauben, dass Paulus hier einen Einwand der Korinther zitiert oder eine rhetorische Frage stellt, ehe er sie in den folgenden Versen beantwortet.)
10,30 Hier sagt der Apostel anscheinend, dass es ihm sehr widersprüchlich erscheint, Gott einerseits »Dank« zu sagen, wenn man andererseits mit dieser Handlungsweise einen Bruder verletzt. Es ist besser, sich selbst ein legitimes Recht zu versagen, als Gott für etwas zu danken, um dessentwillen andere mich »schmähen«. William Kelly kommentiert, dass es besser sei, »sich selbst zu verleugnen und nicht zuzulassen, dass die eigene Freiheit von jemandem verurteilt wird. Auch soll nicht in übler Weise über etwas gesprochen werden, wofür man doch Dank sagt«. Warum sollten wir unsere Freiheit dazu missbrauchen, Anstoß zu erregen? Weswegen sollte ich meine Danksagung der Fehldeutung aussetzen oder als lästerliche Handlung bzw. als Skandal bezeichnen lassen?
10,31 Es gibt zwei wichtige Regeln, die uns alle in unserem christlichen Leben leiten sollten: Die erste handelt von der »Ehre Gottes«, die zweite vom Wohlergehen unserer Mitmenschen. Paulus nennt uns hier die erste der beiden: »Ob ihr nun esst oder trinkt oder sonst etwas tut, tut alles zur Ehre Gottes.« Junge Christen werden oft vor die Entscheidung gestellt, angesichts derer sie fragen, ob eine bestimmte Handlung für sie richtig oder falsch ist. Hier haben wir eine Regel, die wir anwenden können: Ist es »zur Ehre Gottes«? Kann ich mein Haupt vorher beugen und den Herrn bitten, dass er sich durch das, was ich tun werde, verherrlichen möge?
10,32 Die zweite Regel ist das Wohlergehen unserer Mitmenschen. Wir sollten »unanstößig« sein und niemandem Anlass zum Fall bieten, »sowohl für Juden als auch für Griechen als auch für die Gemeinde Gottes«. Hier teilt Paulus die Menschheit in drei Klassen ein. Die »Juden« sind natürlich die Menschen, die zum Volk Israel gehören. Die »Griechen« sind die unbekehrten Heiden, während zur »Gemeinde Gottes« alle diejenigen gehören, die echte Gläubige an den Herrn Jesus Christus sind, ob sie nun jüdischer oder heidnischer Herkunft sind. In gewisser Hinsicht wird unser Dienst immer wieder Anstoß erregen und den Zorn der Zuhörer hervorrufen, wenn wir ihnen gegenüber treu Zeugnis ablegen. Doch darum geht es hier nicht. Der Apostel spricht hier davon, unnötig Anstoß zu geben. Er warnt uns davor, unsere legitimen Rechte so zu nutzen, dass wir andere damit zu Fall bringen.
10,33 Paulus konnte ehrlich von sich sagen, dass er »in allen Dingen allen zu gefallen« strebte, nämlich »dadurch, dass« er nicht seinen Vorteil »suchte, sondern den der vielen«. Wahrscheinlich haben bisher nur wenige Menschen so selbstlos wie der Apostel Paulus für andere gelebt.
11,1 Vers 1 von Kapitel 11 gehört wahrscheinlich eher zu Kapitel 10. Paulus hat soeben davon gesprochen, wie er all seine Handlungen im Lichte ihrer Auswirkungen auf andere Menschen beurteilt. Nun gebietet er den Korinthern, seine »Nachahmer« zu sein, so wie auch er »Christi Nachahmer« war. Er gab große persönliche Vorteile und Rechte auf, um seinen Mitmenschen zu helfen. Die Korinther sollten dasselbe tun und nicht selbstsüchtig ihre Freiheit so zur Schau stellen, dass das Evangelium von Christus gehindert würde oder ein schwacher Bruder daran Anstoß nähme.
C. Über die Kopfbedeckung der Frau (11,2-16) Die Verse 2-16 sind dem Thema der Kopfbedeckung der Frau gewidmet. Die übrigen Verse beschäftigen sich mit Missbräuchen  beim  Herrenmahl  (V. 17-34).  Über den ersten Abschnitt des Kapitels ist viel diskutiert worden. Einige sind der Ansicht, dass die Anweisungen, die hier gegeben werden, nur für die Zeit des Paulus galten. Einige gehen sogar so weit zu behaupten, dass diese Verse ein Beweis für die Vorurteile des Paulus gegenüber Frauen seien, weil er Junggeselle war! Wieder andere nehmen die Lehre dieses Abschnitts einfach an, und versuchen, den Vorschriften hier zu gehorchen, auch wenn sie diese nicht ausnahmslos verstehen.
11,2 Der Apostel lobt zunächst die Korinther für die Art und Weise, wie sie »in allem« an ihn denken, und an den »Überlieferungen« festhalten, wie er sie ihnen »überliefert« hat. »Überlieferungen« bezieht sich hier nicht auf Gewohnheiten oder Praktiken, die sich in den Gemeinden über die Jahre hinweg entwickelt haben, sondern in diesem Fall auf die inspirierten Lehren des Apostels Paulus.
11,3 Paulus erwähnt nun das Thema »Kopfbedeckung der Frau«. Hinter diesen Anweisungen steht die Tatsache, dass jede geordnete Gesellschaft auf zwei Säulen gegründet ist: Autorität und Unterordnung unter diese Autorität. Es ist unmöglich, eine gut funktionierende Gesellschaft zu haben, wenn diese beiden Prinzipien nicht beachtet werden. Paulus erwähnt nun drei wichtige Beziehungen, die Autorität und Unterordnung beinhalten. Zuerst gilt, »dass der Christus das Haupt eines jeden Mannes ist«. Christus ist der Herr, der Mann ist der Untertan. Zweitens gilt, dass »das Haupt der Frau aber der Mann« ist. Die Führungsstellung ist dem Mann gegeben, die Frau steht unter seiner Autorität. Drittens gilt, dass »des Christus Haupt aber Gott« ist. Auch in der Gottheit gilt, dass eine Person die Führung hat und die andere willig die untergeordnete Stellung einnimmt. Diese Beispiele für die Herrschaft eines Hauptes, dem jeweils jemand unterstellt ist, gehen auf Gott selbst zurück und sind grundlegend für seine Weltordnung. Gleich zu Beginn sollte betont werden, dass Unterordnung nicht gleichbedeutend mit Stellungsminderung ist. Christus ist Gott untergeordnet, aber er ist von der Stellung her dem Vater gleich. Auch im Falle der Frau bedeutet Unterordnung nicht Stellungsminderung.
11,4 »Jeder Mann, der betet oder weissagt und dabei das Haupt bedeckt, entehrt  sein  Haupt«,  d. h.  Christus.  Er  sagt damit im Grunde, dass er Christus nicht als »sein Haupt« akzeptiert. Deshalb handelt er damit sehr unehrerbietig.
11,5 »Jede Frau aber, die mit unverhülltem Haupt betet oder weissagt, entehrt  ihr  Haupt«,  d. h.  ihren  Mann.  Sie sagt im Grunde, dass sie nicht die von Gott eingesetzte Stellung des Mannes als Haupt über sie anerkennt und sich ihr nicht unterstellt.38
Wenn wir nur diese Texte zum betreffenden Thema in der Bibel hätten, dann wäre es richtig zu schließen, dass es einer Frau erlaubt ist, in der Gemeinde zu beten bzw. zu weissagen, solange sie ihr Haupt dabei bedeckt. Doch Paulus lehrt an anderer Stelle, dass die Frauen in der Gemeinde  schweigen  sollen  (1. Kor  14,34). Er sagt, dass es ihnen nicht erlaubt ist, zu lehren oder über den Mann zu herrschen. Vielmehr sollen sie sich still zurückhalten (1. Tim 2,12). Die Zusammenkünfte der Gemeinde werden erst in Vers 17 erwähnt. Deshalb können die Anweisungen über die Kopfbedeckung in den Versen 2-16 nicht auf Gemeindeversammlungen (Gottesdienste) beschränkt werden. Sie gelten für jede Frau, wann immer sie betet oder weissagt. Sie betet im Stillen in der Gemeinde, denn 1. Timotheus 2,8 beschränkt das öffentliche Gebet auf Männer (wörtl. auf Männliche). Zu anderen Zeiten betet sie hörbar oder still. Sie weissagt, wenn sie andere Frauen (Tit 2,3-5) oder Kinder in der Sonntagschule lehrt.
11,6 »Denn wenn eine Frau sich nicht verhüllt«, so könnte man »ihr auch das Haar« ganz abschneiden. »Wenn es aber für eine Frau schändlich ist, dass ihr das Haar abgeschnitten oder geschoren wird, so soll sie sich verhüllen.« Der unverhüllte Kopf einer Frau ist so »schändlich«, als wäre ihr Haar ganz abgeschnitten. Der Apostel will hier nicht befehlen, Frauen zu scheren, sondern will sagen, was hier in moralischer Konsequenz erforderlich wäre!
11,7 In den Versen 7-10 lehrt Paulus, dass die Unterordnung der Frau unter den Mann auf die Schöpfung zurückgeht. Diese Verse sollten ein für alle Mal die Idee begraben, dass seine Lehre über die Bedeckung des weiblichen Hauptes kulturell bedingt war und auf uns heute nicht mehr anwendbar ist. Die Stellung des Mannes als Haupt und die Unterordnung der Frau entsprachen von Anfang an Gottes Gebot.
Zunächst einmal ist der Mann »Gottes Bild und Abglanz«, während »die Frau aber … des Mannes Abglanz« ist. Das bedeutet, dass der Mann als Gottes Stellvertreter auf Erden eingesetzt wurde und über sie herrschen soll. Der unbedeckte Kopf des Mannes ist ein stilles Zeugnis davon. Die Frau wurde nie diese Stellung als Haupt gegeben, sondern sie ist in dem Sinne »des Mannes Abglanz«, dass sie »offensichtlich die Autorität des Mannes verdeutlicht«, wie Vine es ausgedrückt hat.39
»Denn der Mann freilich soll sich das Haupt nicht verhüllen«, wenn er betet, weil das einer Verhüllung von »Gottes Bild und Abglanz« gleichkommen würde, und dies wäre eine Beleidigung der himmlischen Majestät.
11,8 Paulus erinnert uns als Nächstes daran, dass »der Mann … nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann« geschaffen wurde. Der Mann war zuerst da, und dann wurde die Frau aus seiner Seite genommen. Dieser Vorrang des Mannes bestärkt den Apostel in seiner Argumentation hinsichtlich der Stellung des Mannes als Haupt.
11,9 Der Zielsetzung der Schöpfung wird nun als Nächstes erwähnt, um diese Ansicht zu stützen. Denn in erster Linie wurde »der Mann … auch nicht um der Frau willen …, sondern die Frau um des Mannes willen« geschaffen. Der Herr hat ausdrücklich in 1. Mose 2,18 gesagt: »Und Gott, der Herr, sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.«
11,10 Wegen ihrer untergeordneten Stellung gegenüber dem Mann »soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben, um der Engel willen«. Die »Macht« oder das »Symbol der Autorität« ist die Kopfbedeckung, und hier steht das Symbol nicht für ihre eigene Autorität, sondern für ihre Unterordnung unter die Autorität des Mannes.
»… um der Engel willen«. Warum fügt Paulus diese Worte hier an? Wir sind der Ansicht, dass »die Engel« Zuschauer aller Vorgänge auf Erden heute und zur Zeit der Schöpfung sind. In der ersten Schöpfung sahen sie, wie die Frau die Stellung der Hauptes über den Mann einnahm. Sie traf die Entscheidung, die eigentlich Adam zugekommen wäre. Als Ergebnis davon kam die Sünde mit all ihren schrecklichen Folgen des Leides und des Unglücks in die Welt. Gott möchte nicht, dass in der neuen Schöpfung dasselbe passiert wie bei der ersten Schöpfung. Wenn die Engel hinabblicken, dann möchte er, dass sie Frauen sehen, die in Unterordnung unter den Mann leben und dies nach außen hin zeigen, indem sie ihren Kopf bedecken.
Wir sollten hier innehalten, um festzustellen, dass die Kopfbedeckung nur ein äußeres Zeichen und lediglich dann von Wert ist, wenn es das äußere Zeichen einer inneren Haltung darstellt. Mit anderen Worten: Eine Frau kann ihren Kopf bedecken und sich ihrem Mann trotzdem nicht unterordnen. In solch einem Fall ist das Bedecken des Kopfes völlig wertlos. Das Wichtigste besteht darin, sich zu vergewissern, dass sich das Herz wirklich unterordnet. Dann erst hat die Kopfbedeckung der Frau wirklich eine Bedeutung.
11,11 Paulus will hier keineswegs andeuten, dass der Mann überhaupt nicht von der Frau abhängig wäre, deshalb fügt er an: »Dennoch ist im Herrn weder die Frau ohne den Mann, noch der Mann ohne die Frau.« Mit anderen Worten, Mann und Frau sind gegenseitig voneinander abhängig. Sie brauchen einander, und die Vorstellung der Unterordnung steht in keinerlei Konflikt mit dem Gedanken der gegenseitigen Abhängigkeit.
11,12 »Die Frau« ist durch die Schöpfung  »vom  Mann«,  d. h.  sie  wurde  aus Adams Seite erschaffen. Doch Paulus weist darauf hin, dass »auch der Mann durch die Frau« ist. Hier spielt er auf die Geburt an. Die Frau gebiert das männliche Kind. So hat Gott einen vollkommenen Ausgleich geschaffen, um damit zu zeigen, dass der eine ohne den anderen nicht existieren kann.
»Alles aber von Gott« bedeutet, dass Gott »alles« so in seiner Weisheit angeordnet hat. Es gibt deshalb keinen Grund dafür, sich zu beklagen. Dieses Verhältnis wurde von Gott nicht nur geschaffen, sondern darüber hinaus ist sein Zweck die Verherrlichung Gottes. All dies sollte den Mann zur Demut und die Frau zur Zufriedenheit führen.
11,13 Der Apostel fordert die Korinther nun auf, »bei« sich »selbst« zu urteilen, ob es »anständig« sei, »dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet«. Er appelliert an ihr moralisches Urteilsvermögen. Er geht davon aus, dass es nicht angemessen oder ordentlich ist, wenn eine Frau unverhüllt in die Gegenwart Gottes tritt.
11,14 Doch wie uns »die Natur selbst« lehrt, dass es für den Mann eine »Schande« ist, wenn er »langes Haar hat«, bleibt unklar. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass das Haar eines Mannes von Natur aus nicht so lang wächst wie dasjenige einer Frau. Wenn ein Mann langes Haar trägt, so lässt ihn das fraulich erscheinen. In den meisten Kulturen tragen die Männer ihr Haar kürzer als die Frauen.
11,15 Vers 15 ist von vielen ziemlich missverstanden worden. Einige sind der Ansicht, weil »das Haar« der Frau »anstatt eines Schleiers gegeben« ist, wäre es für sie nicht notwendig, noch eine weitere Kopfbedeckung zu haben. Doch eine solche Lehre vergewaltigt diesen Schriftabschnitt. Wenn man nicht versteht, dass hier zweierlei Bedeckung gemeint ist, dann wird das Kapitel hoffnungslos verwirrend. Das kann man zeigen, wenn man sich auf Vers 6 zurückbezieht. Dort lesen wir: »Wenn es aber für eine Frau schändlich ist, dass ihr das Haar abgeschnitten oder geschoren wird, so soll sie sich verhüllen.« Entsprechend der eben erwähnten Auslegung von Vers 15 würde das Folgendes heißen: »Wenn eine Frau ihr Haar nicht trägt«, könne sie doch gleich ges choren werden.« Aber das ist einfach lächerl ich. Wenn sie »ihr Haar nicht trägt«, kann man sie wohl kaum noch scheren!
Das eigentliche Argument in Vers 15 lautet, dass es eine echte Analogie zwischen dem Geistlichen und dem Natürlichen gibt. Gott gab der Frau eine natürliche Bedeckung der »Ehre«, und zwar auf eine Weise, wie der Mann sie nicht hat. Das hat eine geistliche Bedeutung. Es lehrt, dass eine Frau, wenn sie zu Gott betet, eine Kopfbedeckung tragen sollte. Was für den natürlichen Bereich gilt, sollte auch für den geistlichen gelten.
11,16 Der Apostel schließt diesen Abschnitt mit der Aussage: »Wenn es aber jemand für gut hält, streitsüchtig zu sein, so soll er wissen: Wir haben eine dera rtige Gewohnheit nicht, auch nicht die Gemeinden Gottes.« Meint Paulus nun, wie einige der Ansicht sind, dass das, was er soeben gesagt hat, nicht wichtig genug sei, um sich darüber zu streiten? Ist er der Ansicht, dass es bei den Frauen in der Gemeinde nicht Sitte war, das Haupt zu bedecken? Meint er, dass man diese Lehren nicht unbedingt beachten müsste und sie den Frauen nicht als Gebote des Herrn aufgezwungen werden sollten? Es scheint uns seltsam zu sein, dass solche Auslegungen jemals vorgeschlagen worden sind, doch werden sie heute oftmals gehört. Das würde bedeuten, dass diese Anweisungen in den Augen des Paulus nicht so wichtig waren, wo er doch gerade mehr als ein halbes Kapitel der Heiligen Schrift dafür verwendet hat, sie darzustellen!
Es gibt mindestens zwei mögliche Erklärungen für diesen Vers, die mit dem Rest der Schrift übereinstimmen. Der Apostel könnte erstens die Streitsucht bestimmter Menschen vorausgesehen haben, aber er fügt hinzu, dass »wir … eine derartige Gewohnheit nicht« haben. Das heißt, dass es bei ihnen nicht üblich war, über solche Angelegenheiten zu streiten. Wir streiten über solche Themen nicht, sondern nehmen sie als Lehre des Herrn an. Eine andere Auslegung, die von William Kelly befürwortet wird, lautet, Paulus wolle hier sagen, dass »die Gemeinden Gottes« diesen Brauch nicht haben, dass Frauen ohne Kopfbedeckung beten oder weissagen.
D. Über das Herrenmahl (11,17-34)
11,17 Der Apostel rügt die Korinther für die Tatsache, dass es unter ihnen Spaltungen gibt, wenn sie zusammenkommen (V. 17-19). Man beachte den wiederholten Ausdruck »wenn ihr zusammenkommt« oder ähnliche Worte (11,17.18.20.33.34; 14,23.26). In 11,2 hatte Paulus Anlass zum Lob gefunden, weil sie die Überlieferungen beachteten, die er ihnen weitergegeben hatte. Es gab jedoch eine Angelegenheit, in der er sie »nicht loben« konnte, und das ist das Thema, über das er jetzt sprechen will. Wenn sie in öffentlichen Versammlungen zusammenkamen, dann kamen sie »nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren« zusammen. Das ist eine ernst zu nehmende Erinnerung für uns alle, dass es möglich ist, aus einer Zusammenkunft der Gemeinde zu kommen, und einem eher Schaden als Nutzen zuteilgeworden ist.
11,18 Der »erste« Grund für die Rüge war die Existenz von »Spaltungen« oder Parteiungen. Das bedeutet nicht, dass sich diese Parteiungen von der Gemeinde abgespalten und eigene Gemeinschaften gebildet hätten, sondern es waren eher Gruppierungen oder Fraktionen in der Gemeinde. Eine »Spaltung« reißt Gräben innerhalb der Gemeinde auf, während eine Sekte außerhalb der Gemeinde zusammenkommt, um eine Sondergruppe zu bilden. Paulus konnte die Berichte über die Spaltungen »glauben«, weil er wusste, dass die Korinther fleischlich eingestellt waren. Er hatte schon vorher in diesem Brief Anlass gehabt, sie wegen ihrer Spaltungen zu tadeln. F. B. Hole schreibt:
Paulus war bereit, den Berichten über Spaltungen in Korinth zumindest teilweise Glauben zu schenken, weil er wusste, dass sie wegen ihres fleischlichen Zustandes sehr anfällig gegenüber solchen Gruppierungen in ihrer Mitte waren. Hier schließt Paulus von ihrem Zustand auf ihre Handlungen. Da sie fleischlich und weltlich gesinnt waren, wusste er, dass sie ganz sicher Opfer der tief verwurzelten Neigung des menschlichen Geistes werden würden, starrsinnig auf eigenen Meinungen zu beharren. Er wusste, dass sich um diese Meinungen Parteiungen bilden, die in Spaltung enden würden. Ihm war auch bekannt, dass Gott ihre Torheit überwinden und die Gelegenheit ergreifen könnte, diejenigen von ihm anerkannten Menschen zu offenbaren, die nach dem Geist und nicht nach Menschenweisheit handeln und deshalb dieses ganze Spaltungsunwesen meiden würden.40
11,19 Paulus sah voraus, dass sich diese Spaltungen, die in Korinth schon begonnen hatten, ausbreiten würden, bis sie wirklich schlimme Ausmaße erreichten. Obwohl dies im Allgemeinen der Gemeinde abträglich wäre, würde doch ein Gutes daraus erwachsen: Diejenigen, die wirklich geistlich und vor Gott »bewährt« waren, würden unter den Korinthern »offenbar werden. Wenn Paulus in diesem Vers sagt: »Denn es müssen auch Parteiungen41 unter euch sein«, dann meint er damit keine moralische42 Notwendigkeit. Gott will keine Spaltungen in der Gemeinde. Paulus meint hier, dass es wegen der Fleischlichkeit der Korinther unausweichlich war, dass »Parteiungen« entstanden. Die Spaltungen sind ein Beweis dafür, dass einige nicht die Meinung des Herrn erfragen.
11,20 Paulus richtet seine zweite Rüge nun gegen die Missbräuche im Zusammenhang mit dem Herrenmahl. Wenn sich die Christen versammelten, um »das Herrenmahl zu essen«, dann war ihr Verhalten äußerst beklagenswert. Ja, Paulus musste sagen, dass sie auf diese Weise kaum des Herrn gedenken könnten, wie er es beabsichtigt hatte. Sie könnten zwar die äußerliche Form einhalten, doch ihre ganze Haltung würde eine echte Erinnerung an den Herrn ausschließen.
11,21 In der frühen Gemeinde feierten die Christen »Agapen« oder Liebesmähler zusammen mit dem Herrenmahl. Das Liebesmahl war so etwas wie eine gewöhnliche Mahlzeit, die gemeinsam im Geist der Liebe und der Gemeinschaft eingenommen wurde. Zum Ende des Liebesmahles feierten die Christen dann oft noch das Gedächtnismahl des Herrn mit Brot und Wein. Doch es dauerte gar nicht lange, da schlichen sich Missbräuche ein. So wird etwa in diesem Vers angedeutet, dass das Liebesmahl seine wirkliche Bedeutung verlor. Die Christen warteten nicht mehr aufeinander, sondern die Reichen beschämten die ärmeren Brüder, indem sie üppige Mähler verzehrten und den Armen nichts abgaben. Einige mussten »hungrig« wieder gehen, andere dagegen waren sogar »betrunken«! Weil das Herrenmahl oft auf das Liebesmahl folgte, waren sie noch immer betrunken, wenn sie sich niedersetzten, um am Herrenmahl teilzunehmen.
11,22 Der Apostel rügt entrüstet ein solch entehrendes Verhalten. Wenn sie sich schon so schlimm verhalten mussten, so sollten sie zumindest die Ehrfurcht haben, das nicht in der »Gemeinde Gottes« zu tun. Trunkenheit und die ärmeren Brüder zu »beschämen«, ist mit dem christlichen Glauben auf keinerlei Weise zu vereinbaren. Paulus kann diese Heiligen für ihre Handlungsweise »nicht loben«. Vielmehr kommt er nicht umhin, sie scharf zurechtzuweisen.
11,23 Um ihnen den Unterschied zwischen ihrem Verhalten und der wahren Bedeutung des Herrenmahls zu zeigen, greift er nun auf die ursprüngliche Einsetzung zurück. Er zeigt, dass es hier nicht um ein normales Mahl oder eine Feier ging, sondern um eine ernst zu nehmende Anweisung des Herrn. Paulus hat sein Wissen über diese Vorgänge direkt »von dem Herrn empfangen«. Er erwähnt das, um zu zeigen, dass jedes Zuwiderhandeln in Wirklichkeit blanker Ungehorsam wäre. Damit lehrt er natürlich, dass er diese Information durch Offenbarung erhalten hat.
Als Erstes erwähnt er, wie »der Herr Jesus in der Nacht, in der er überliefert wurde, Brot nahm«. Die wörtliche Übersetzung lautet: »… während er gerade verraten wurde.« Während der schreckliche Plan zu seiner Festnahme draußen gefasst wurde, versammelte »der Herr Jesus« seine Jünger in dem Obersaal und »nahm Brot«.
Die Tatsache, dass dies »in der Nacht« geschah, bedeutet nicht, dass man das Herrenmahl deshalb notwendigerweise abends feiern müsste. Zu dieser Zeit war der Sonnenuntergang der Beginn des jüdischen Tages. Unser Tag beginnt mit dem Sonnenaufgang. Es ist auch angemerkt worden, dass es einen Unterschied zwischen apostolischen Beispielen und apo stolischen Anweisungen gibt. Wir sind nicht verpflichtet, genau so zu handeln, wie es die Apostel taten. Ganz gewiss sind wir jedoch verpflichtet, allem zu gehorchen, was sie lehrten.
11,24 Der Herr Jesus nahm als Erstes das Brot und »dankte« dafür. Weil das Brot für seinen Leib stand, dankte er damit im Grunde Gott, dass er ihm einen menschlichen Leib gegeben hat, in dem er auf die Erde kommen und für die Sünden der Welt sterben konnte. Als der Heiland sagte: »Dies ist mein Leib«, meinte er dann, dass das Brot im wirklichen Sinne zu seinem Leib wurde? Das römisch-katholische Dogma von der Transsubstantiation lehrt, dass Brot und Wein wörtlich in den Leib und das Blut Christi verwandelt werden. Die lutherische Lehre der Konsubstantiation besagt, dass der wahre Leib und das wahre Blut Christi in, bei und unter Brot und Wein auf dem Tisch stehen.
Wenn wir diese Ansichten widerlegen, sollte es ausreichen, sich daran zu erinnern, dass der Leib unseres Herrn Jesus bei der Einsetzung dieses Gedächtnismahls, noch nicht hingegeben und sein Blut noch nicht vergossen worden war. Als der Herr Jesus sagte: »Dies ist mein Leib«, meinte er: »Das versinnbildlicht meinen Leib«, bzw.: »Dies ist ein Bild für meinen Leib, der für euch gebrochen werden wird.« Wenn wir das Brot essen, so erinnern wir uns an seinen Sühnetod für uns. Es liegt eine unaussprechliche Liebe in dem Ausdruck »zu meinem Gedächtnis«.
11,25 »Ebenso« nahm der Herr Jesus »auch den Kelch nach dem« Passahmahl »und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis«. Das Herrenmahl wurde direkt nach dem Passahmahl eingesetzt. Deshalb heißt es hier, dass der Herr Jesus »den Kelch nach dem Mahl« nahm. Im Zusammenhang mit dem »Kelch« sagte er, dass er »der neue Bund in« seinem »Blut« sei. Das bezieht sich auf den Bund, den Gott dem Volk Israel in Jeremia 31,31-34 verheißen hat. Es geht hier um eine bedingungslose Verheißung, in deren Rahmen er zusagte, mit ihrer Ungerechtigkeit barmherzig zu sein und ihrer Sünden und Schuld nicht mehr zu gedenken. Die Bedingungen des neuen Bundes werden auch in Hebräer 8,10-12 angegeben. Der Bund ist zur Zeit in Kraft, doch der Unglaube hält das Volk Israel ab, bereits heute dessen Nutznießer zu sein. Alle diejenigen, die dem Herrn Jesus vertrauen, erben die Verheißungen, die hier gegeben wurden. Wenn das Volk Israel sich zum Herrn bekehrt, dann werden sie die Segnungen des neuen Bundes genießen. Das wird während der tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden sein. Der »neue Bund« wurde durch das »Blut« Christi unterzeichnet, und deshalb spricht Jesus davon, dass der »Kelch … der neue Bund in« seinem »Blut« ist. Die Grundlage für den neuen Bund wurde durch das Kreuz geschaffen.
11,26 Vers 26 behandelt die Frage, wie oft das Herrenmahl gefeiert werden soll. »Denn sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt«, heißt es. Damit wird kein Gesetz aufgestellt, auch wird kein festes Datum genannt. Es scheint aus Apostelgeschichte 20,7 hervorzugehen, dass es eine Praxis der Jünger war, sich am ersten Tag der Woche zu treffen, um des Herrn zu gedenken. Dass diese Anweisung nicht nur für die Tage der ersten Gemeinde galt, wird durch den Ausdruck »bis er kommt« hinreichend bewiesen. Godet weist sehr schön darauf hin, dass das Herrenmahl »die Verbindung seiner Erscheinungen auf Erden ist, eine Erinnerung an sein erstes Kommen und das Unterpfand für seine Wiederkunft«.43 Bei all diesen Anweisungen über das Herrenmahl ist es bemerkenswert, dass wir nirgends ein Wort über einen »Geistlichen« oder Priester lesen, der es austeilt. Es ist eine einfache, als Gedächtnismahl gefeierte Zusammenkunft, die dem ganzen Volk Gottes als Erbe hinterlassen wurde. Die Christen versammeln sich als gläubige Priester und verkündigen so des Herrn Tod, »bis er kommt«.
11,27 Nachdem der Apostel Ursprung und Zweck des Herrenmahls besprochen hat, wendet er sich nun den Konsequenzen zu, die es nach sich zieht, wenn man auf die falsche Weise daran teilnimmt. »Wer also unwürdig das Brot isst oder den Kelch des Herrn trinkt, wird des Leibes und Blutes des Herrn schuldig sein.« Wir sind alle unwürdig, an diesem ehrwürdigen Mahl teilzuhaben. In diesem Sinne sind wir auch der Gnade und Güte unseres Herrn in jeder Beziehung unwürdig. Doch darum geht es an dieser Stelle nicht. Der Apostel spricht hier nicht von unserer persönlichen Unreinheit. Wir können uns Gott in aller Reinheit nähern, weil wir durch das Blut Christi gereinigt sind. Doch Paulus spricht hier von dem ehrlosen Verhalten der Korinther bei den Zusammenkünften zum Herrenmahl. Sie machten sich des unehrerbietigen und achtlosen Umgangs mit diesen Dingen »schuldig«. Wer so handelt, der ist »des Leibes und Blutes des Herrn schuldig«.
11,28 Wenn wir zum Herrenmahl kommen, sollten wir dies tun, nachdem wir uns von Gott haben richten lassen. Wir sollten Sünde bekannt haben und Vergebung zugesprochen bzw. empfangen haben. Sollte irgendetwas zurückzugeben sein, sollte dies zuvor erledigt werden. Wir sollten uns bei denen entschuldigt haben, die wir mit unserem Verhalten gekränkt haben. Im Allgemeinen sollten wir darauf sehen, dass wir in einem angemessenen Seelenzustand am Mahl teilhaben.
11,29 Wer auf falsche Weise teilnimmt, der »isst und trinkt sich selbst Gericht«, indem er »den Leib des Herrn nicht richtig beurteilt«. Wir sollten erkennen, dass der Leib unseres Herrn geopfert wurde, damit unsere Sünden weggenommen werden konnten. Wenn wir weiterhin in Sünde leben, während wir am Mahl des Herrn teilnehmen, dann leben wir in der Lüge. F. G. Patterson schreibt: »Wenn wir das Mahl des Herrn zu uns nehmen und noch unbekannte Sünde in unserem Leben besteht, dann beurteilen wir den Leib des Herrn nicht richtig, der gebrochen wurde, um unsere Sünde wegzunehmen.«
11,30 Weil die Korinther sich nicht selbst richteten, musste Gott gegen einige in der Gemeinde von Korinth vorgehen, indem er sie züchtigte. »Viele« waren »schwach und krank«, und einige waren gestorben. Mit anderen Worten, einige waren leiblich erkrankt und einige waren schon in die himmlische Heimat gegangen. Weil sie die Sünde in ihrem Leben nicht gerichtet hatten, musste der Herr sie züchtigen.
11,31 Wenn wir andererseits dieses Selbstgericht über uns halten, dann ist es nicht notwendig, dass Gott uns so züchtigt.
11,32 Gott handelt mit uns wie mit seinen eigenen Kindern. Er liebt uns zu sehr, als dass er uns erlauben würde, in der Sünde zu verharren. Deshalb werden wir schon bald den Hirtenstab spüren, der uns zu Gott zurückzieht. Dazu hat jemand einmal gesagt: »Es ist möglich, dass ein Heiliger (in Christus) für den Himmel geeignet ist, aber nicht die Voraussetzungen dafür mitbringt, als Zeuge auf der Erde zu bleiben.«
11,33 »Wenn« die Gläubigen also zusammenkämen zu einem Liebesmahl, dann sollten sie »aufeinander« warten, und nicht schon selbstsüchtig anfangen, ohne auf die anderen Heiligen zu achten. Die Tatsache, dass sie »aufeinander« »warten« sollen, steht hier im Gegensatz zu Vers 21: »Jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg«.
11,34 »Wenn jemand hungert, der esse daheim.« Mit anderen Worten, das Liebesmahl, das mit dem Herrenmahl verbunden war, sollte nicht als normale Mahlzeit missverstanden werden. Wenn man seinen heiligen Charakter missachtet, so hieße das »zum Gericht« zusammenzukommen.
»Das Übrige aber will ich anordnen, sobald ich komme.« Zweifellos gab es noch einige andere nebensächliche Themen, die dem Apostel in dem Brief von den Korinthern genannt wurden. Er versichert ihnen hier, dass er sich dieser Themen annehmen werde, wenn er kommt, um sie zu besuchen.
E. Über die Geistesgaben und ihren Gebrauch in der Gemeinde (Kap. 12-14)
Die Kapitel 12-14 befassen sich mit den Geistesgaben. Es hatte in dieser Hinsicht in Korinth viel Missbrauch gegeben, insbesondere im Zusammenhang mit der Gabe der Zungenrede, und Paulus schreibt, um diese Missbräuche abzustellen.
Es gab in Korinth Gläubige, die die Gabe der »Sprachen« (in anderen Übersetzungen: Zungenrede) empfangen hatten, was bedeutet, dass sie in fremden Sprachen reden konnten, ohne diese vorher erlernt zu haben.44 Doch statt diese Gabe zu nutzen, um Gott zu verherrlichen und die Mitgläubigen aufzuerbauen, brüsteten sie sich damit. Sie standen in den Versammlungen auf und redeten in Sprachen, die niemand verstehen konnte, und hofften dabei, dass die anderen durch ihre Sprachenkenntnis beeindruckt wären. Sie erhoben die Zeichengaben über die anderen Geistesgaben und behaupteten, dass diejenigen geistlicher seien, die in Zungen reden können. Das führte auf ihrer Seite zu Stolz, bei den anderen aber zu Neid, Minderwertigkeits- und Unterlegenheitsgefühlen. Deshalb war es notwendig, dass der Apostel die falschen Haltungen korrigierte und Einschränkungen für die Ausübung der Gaben festlegte, insbesondere für die Gabe des Zungenredens und die Gabe der Weissagung.
12,1 Er wollte nicht, dass die Heiligen »ohne Kenntnis« über »geistliche« Erscheinungen und »Gaben« waren. Die wörtliche Übersetzung lautet hier: »Was aber Geistliches betrifft, Brüder, so will ich nicht, dass ihr ohne Kenntnis seid.« Die meisten Übersetzungen fügen hier das Wort »Gaben« ein, um den Sinn zu vervollständigen. Doch der nächste Vers legt uns nahe, dass er nicht nur an die Wirkung des Heiligen Geistes, sondern auch an die der bösen Geister gedacht hat.
12,2 Vor der Bekehrung waren die Korinther Götzenanbeter gewesen und damit durch böse Geister versklavt. Sie lebten in Furcht vor den Geistern und wurden von diesen teuflischen Einflüssen »fortgerissen«. Sie waren Zeugen übernatürlicher Erscheinungen der Geisterwelt und hörten Äußerungen, die von Geistern eingegeben waren. Unter dem Einfluss der bösen Geister verloren sie manchmal die Selbstkontrolle, indem sie Dinge sagten und taten, die über ihre bewussten Fähigkeiten hinausgingen.
12,3 Weil sie nun gerettet waren, mussten sie wissen, wie sie all diese Geistererscheinungen zu beurteilen hatten. Dies bedeutet, dass sie lernen mussten, zwischen der Stimme der bösen Geister und der Stimme des Heiligen Geistes zu unterscheiden. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden zeigt sich in dem Zeugnis, das der jeweilige Geist vom Herrn Jesus ablegt. Wenn ein Mensch sagt: »Fluch über Jesus!«, dann kann man sicher sein, dass er von einem Dämon inspiriert ist, weil böse Geister normalerweise den Namen Jesu lästern und verfluchen. Der »Heilige Geist« würde niemanden dazu führen, so vom Heiland zu reden. Seine Aufgabe ist es, den Herrn Jesus zu verherrlichen. Er lässt die Menschen sagen: »Herr Jesus!«, nicht nur mit ihren Lippen, sondern mit dem inständigen, vollen Bekenntnis ihres Herzens und ihres Lebens. Man beachte, dass die drei Personen der Dreieinheit in Vers 3 und auch in den Versen 4-6 genannt werden.
12,4 Paulus zeigt als Nächstes, dass es zwar viele verschiedene »Gnadengaben« des Heiligen Geistes in der Gemeinde, aber nur eine grundlegende Dreieinheit gibt, die aus den drei Personen der Gottheit besteht.
Erstens gibt es »Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber es ist derselbe Geist«. Die Korinther handelten, als gäbe es nur eine Gabe – die Gabe des Zungenredens. Paulus sagt: »Nein, eure Einheit besteht nicht in einer gemeinsamen Gabe, sondern darin, dass ihr den einen Geist habt, welcher der Geber aller Gaben ist.«
12,5 Als Nächstes weist der Apostel darauf hin, dass es in der Gemeinde »Verschiedenheiten von Diensten« gibt. Wir haben nicht alle dieselbe Aufgabe. Gemeinsam ist jedoch, dass wir alles, was wir tun, für denselben »Herrn« tun. Dabei sind wir bestrebt, anderen und nicht uns selbst zu dienen.
12,6 Und wiederum gibt es zwar »Verschiedenheiten von Wirkungen«, soweit es geistliche Gaben angeht, doch ist es »derselbe Gott«, der jedem Gläubigen dazu die Kraft gibt. Wenn eine Gabe erfolgreicher, spektakulärer oder vollmächtiger als eine andere ist, dann liegt das nicht an der Überlegenheit des Menschen, der die Gabe hat. Gott ist derjenige, der die Vollmacht gibt.
12,7 Der »Geist« offenbart sich im Leben jedes Gläubigen, indem er ihm eine Gabe gibt. Es gibt keinen Gläubigen, der nicht irgendeine Aufgabe zu erfüllen hätte. Und die Gaben werden »zum Nutzen« des gesamten Leibes gegeben. Sie sind nicht dazu da, sich selbst darzustellen oder zu befriedigen, sondern um anderen zu helfen. Das ist der zentrale Punkt der gesamten Erörterung. Dabei liegt es auf der Hand, nun eine Liste mit einigen dieser Geistesgaben folgen zu lassen.
12,8 Das »Wort der Weisheit« ist die übernatürliche Fähigkeit, mit göttlicher Erkenntnis zu sprechen. Dabei ist es belanglos, ob man schwierige Probleme löst, den Glauben verteidigt, Konflikte löst, praktischen Rat gibt oder sich vor seinen Verfolgern verteidigt. Stephanus ist solch ein Beispiel für das »Wort der Weisheit«, das so gewaltig war, dass seine Feinde »der Weisheit und dem Geist nicht widerstehen konnten, womit er redete« (Apg 6,10).
»Das Wort der Erkenntnis« ist die Fähigkeit, Informationen weiterzugeben, die von Gott offenbart wurden. Das zeigt  sich  z. B.  bei  Paulus,  wenn  er  solche Redew endungen verwendet wie etwa: »Siehe, ich sage euch ein Geheimnis« (1. Kor 15,51), oder: »… denn dies sagen wir euch in einem Wort des Herrn« (1. Thess  4,15).  In  dieser  Grundbedeutung, dass eine neue Wahrheit weitergegeben wird, gibt es das »Wort der Erkenntnis« heute nicht mehr, weil der christliche Glaube ein für alle Mal den Heiligen geoffenbart worden ist (Judas 3). Die christliche Lehre ist vollständig. In einem weiteren Sinne gibt es das »Wort der Erkenntnis« jedoch auch bei uns. Es gibt noch immer eine geheimnisvolle Weitergabe göttlichen Wissens an diejenigen, die in einer engen Gemeinschaft mi dem Herrn leben (s. Ps 25,14). Wenn wir dieses Wissen anderen mitteilen, so geben wir das »Wort der Erkenntnis« weiter.
12,9 Die Gabe des »Glaubens« ist die von Gott gegebene Fähigkeit, Berge von Schwierigkeiten zu versetzen, indem man bestrebt ist, den Willen Gottes zu tun degründung beschäftigt (Eph 2,20). Sie selbst waren nicht das Fundament, sondern legten vielmehr ein Fundament mit ihrer Lehre über den Herrn Jesus. Wenn diese Grundlage gelegt war, dann waren Propheten überflüssig. Ihr Dienst ist für uns im NT festgehalten. Weil die Bibel vollständig ist, lehnen wir jeden sogenannten Propheten ab, der behauptet, zusätzliche Wahrheiten von Gott empfangen zu haben.45
In einem weiteren Sinne benutzen wir das Wort »Prophet«, um einen Prediger zu beschreiben, der das Wort Gottes vollmächtig, deutlich und wirksam weitergibt. Eine »Weissagung« (Prophezeiung) kann auch vorliegen, wenn man zum Lobpreis Gottes anregt (Lk 1,67.68) und die Angehörigen des Volkes Gottes ermutigt sowie stärkt (Apg 15,32). »Unterscheidungen der Geister« beschreibt die Fähigkeit zu bestimmen, ob ein Prophet oder eine andere Person durch den Heiligen Geist bzw. durch Satan spricht. Ein Mensch mit dieser Gabe kann aufgrund dieser Fähigkeit bestimmen,  ob  jemand  z. B.  ein  Heuchler  oder Opportunist ist. So war Petrus fähig, Simon als einen bloßzustellen, der von Bitterkeit vergiftet und in den Fängen der Bosheit gefangen war (Apg 8,20-23). Wie schon erwähnt wurde, beinhaltet die Gabe der »Sprachen« die Fähigkeit, eine fremde Sprache zu sprechen, ohne sie vorher erlernt zu haben. Die Gabe der »Sprachen« wurde als Zeichen gegeben, und zwar insbesondere als Zeichen für Israel.
»Auslegung der Sprachen« ist die Fähigkeit, eine Sprache zu verstehen, die man nie zuvor gelernt hat, und die Botschaft in die ortsübliche Sprache zu übersetzen.
Es ist vielleicht auffällig, dass diese Liste der Gaben mit den Fähigkeiten beginnt, die in erster Linie mit dem Verstand zu tun haben, und mit denen aufhört, welche die Gefühle betreffen. Die Korinther hatten diese Ordnung in ihrem Denken umgekehrt. Sie erhoben die Gabe des Zungenredens über die anderen Gaben. Sie lehrten, dass man, je geistlicher man werde, umso mehr über die gewöhnlichen Fähigkeiten hinaus beschenkt werde. Sie verwechselten Fähigkeit mit geistlicher Gesinnung.
12,11 Alle Gaben, die in den Versen 8-10 angesprochen werden, werden von demselben »Geist« gegeben und gewirkt. Hier sehen wir wieder, dass er nicht jedem die gleiche Gabe gibt. Er verteilt sie, »wie er will«. Das ist ein wichtiger Punkt – der Geist ist in der Verteilung der Gaben souverän. Wenn wir das wirklich verstehen, dann wird uns das einerseits unseren Stolz nehmen, weil wir alles, was wir besitzen, empfangen haben. Und andererseits wird damit die Unzufriedenheit beendet werden, weil die unendliche Weisheit und Liebe Gottes entschieden hat, welche Gaben wir besitzen sollten, und seine Wahl vollkommen ist. Es ist falsch, wenn alle nach der gleichen Gabe streben. Wenn jeder dasselbe Instrument spielen würde, gäbe es nie ein Sinfonieorchester. Und wenn der Leib nur aus der Zunge bestünde, so wäre dieses Wesen ein Ungeheuer.
12,12 Der menschliche »Leib« ist ein Beispiel für diese Einheit und Verschiedenheit. Der »Leib« ist »einer« und hat doch »viele Glieder«. Obwohl alle Gläubigen unterschiedlich sind und verschiedene Aufgaben erfüllen, so bilden sie doch alle zusammen eine funktionierende Einheit – den »Leib«. »… so auch der Christus.« »Der Christus« bezieht sich nicht nur auf den verherrlichten Herrn Jesus Christus im Himmel, sondern auf das Haupt im Himmel und auf seine Glieder hier auf Erden. Alle Gläubigen sind Glieder am Leib Christi. So wie der menschliche Leib ein Mittel ist, womit eine Person sich anderen gegenüber verständlich machen kann, so ist der Leib Christi das Mittel auf Erden, wodurch sich Christus der Welt nach seinem Willen bekannt machen will. Es ist ein Beweis seiner wundervollen Gnade, dass der Herr erlaubt, den Ausdruck »der Christus« hier für uns zu verwenden, die Glieder seines Leibes sind.
12,13 Paulus erklärt nun weiter, wie wir zu Gliedern des Leibes Christi geworden sind. »In einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden.« »In46 einem Geist« könnte bedeuten, dass der Geist das Element ist, in dem wir getauft werden, so wie Wasser das Element ist, in das wir bei der Glaubenstaufe getaucht wurden. Es kann auch heißen, dass der Geist derjenige ist, der hier tauft, deshalb übersetzen einige »durch einen Geist« (LU 1984). Dies ist die wahrscheinlichere und besser verständlichere Bedeutung. Die Geistestaufe fand zu Pfingsten statt. Dieser Tag war die Geburtsstunde der Gemeinde. Wir haben am Segen dieser Taufe teil, wenn wir wiedergeboren werden. Wir werden dann zu Gliedern des Leibes Christi.
Man sollte hier einige wichtige Punkte anführen: Erstens ist die Geistestaufe die göttliche Handlung, die den Gläubigen in den Leib Christi einfügt. Sie ist nicht mit der Wassertaufe gleichzusetzen. Das geht aus Matthäus 3,11; Johannes 1,33 und Apostelgeschichte 1,5 hervor. Sie ist kein Gnadenwerk, das auf die Errettung folgt und wodurch ein Gläubiger »geistlicher« wird. »Alle« Korinther hatten die Geistestaufe, und doch tadelt Paulus sie, weil sie fleischlich und nicht geistlich gesinnt waren (3,1). Es ist nicht wahr, dass die Gabe des Zungenredens das Zeichen dafür ist, die Geistestaufe erhalten zu haben. »Alle« Korinther waren »mit einem Geist« getauft, doch nicht alle sprachen in Zungen (12,30). Es gibt besondere Erlebnisse mit dem Heiligen Geist, wenn ein Gläubiger sich ganz der Führung des Heiligen Geistes hingibt und dann besondere Kräfte von oben her erhält. Doch solch ein Erlebnis ist nicht dasselbe wie die Geistestaufe und sollte damit nicht verwechselt werden.
Der Vers sagt weiter, dass die Gläubigen »mit einem Geist getränkt worden« sind. Dies bedeutet, dass sie in dem Sinne am Geist Gottes Anteil haben, dass der Geist in ihnen wohnt und sie die Auswirkungen seines Dienstes in ihrem Leben erfahren.
12,14 Ohne die verschiedenen Glieder gäbe es keinen menschlichen »Leib«. Es muss »viele« Glieder geben, jedes von den anderen verschieden. Jedes einzelne Glied funktioniert im Gehorsam gegenüber dem Haupt und in Zusammenarbeit mit den anderen Gliedern.
12,15 Wenn wir sehen, dass Verschiedenartigkeit und Vielfalt in einem normalen, gesunden Leib wichtig sind, dann wird uns diese Erkenntnis vor zwei Gefahren bewahren: Wir werden uns dann  nicht  selbst  herabsetzen  (V. 15-20) und auch andere nicht herabwürdigen (V. 21-25).  Es  wäre  absurd,  wenn  »der Fuß« sich überflüssig fühlen würde, weil er nicht die Aufgaben der Hand erfüllen kann. Schließlich kann der Fuß stehen, gehen, laufen, klettern, tanzen und treten, und noch vieles andere mehr.
12,16 »Das Ohr« sollte nicht meinen, am Rande zu stehen, nur weil es kein »Auge« ist. Wir nehmen die Funktion unserer Ohren als ganz selbstverständlich hin, bis wir einmal taub werden. Dann erkennen wir erst, welch wichtige Aufgaben sie für uns erfüllen.
12,17 »Wenn der ganze Leib Auge wäre«, dann hätten wir ein taubes Etwas, das man vielleicht noch in einer Kuriositätenschau ausstellen könnte. Wenn der Leib nur aus Ohren bestünde, dann würde die Nase fehlen, um festzustellen, dass Gas aus einer Leitung austritt. Schon bald könnte dieser »Leib« nicht mehr hören, weil er bereits bewusstlos oder tot wäre.
Paulus zielt auf folgenden Punkt ab: Wenn der Leib nur Zunge wäre, dann hätte man ein Ungeheuer. Und doch überbetonten die Korinther die Gabe des Zungenredens derart, dass sie praktisch eine Ortsgemeinde schaffen wollten, die nur aus Zungen besteht. Aber eine solche Ortsgemeinde könnte nichts anderes als nur reden!
12,18 »Gott« hat sich solch einer Torheit natürlich nicht schuldig gemacht. In seiner unvergleichlichen Weisheit hat er die verschiedenen Glieder in den Leib eingesetzt, »wie er wollte«. Wir sollten ihm vertrauen, dass er wusste, was er tat. Wir sollten für jede Gabe, die er uns gegeben hat, dankbar sein und sie freudig zu seiner Ehre und zur Auferbauung anderer benutzen. Jemandem seine Gabe zu neiden, ist Sünde. Es ist Auflehnung gegen den vollkommenen Plan Gottes für unser Leben.
12,19 Es ist unmöglich, sich einen Leib mit nur »einem Glied« vorzustellen. Deshalb sollten die Korinther daran denken, dass sie keinen funktionsfähigen Leib bilden würden, wenn sie alle nur die Gabe der Zungenrede hätten. Andere Gaben, auch wenn sie weniger aufsehenerregend oder sensationell sind, sind dennoch unbedingt nötig.
12,20 Gott hat angeordnet, dass es »viele Glieder, aber« nur »einen Leib« gibt. Diese Tatsachen sind uns im Zusammenhang mit dem menschlichen Leib selbstverständlich, und sie sollten auf dem Gebiet unseres Dienstes in der Gemeinde gleichermaßen selbstverständlich sein.
12,21 So wie es töricht ist, wenn einer dem anderen eine Gabe neidet, so zeugt es ebenfalls von Torheit, wenn jemand die Gabe eines anderen abwertet oder meint, er habe die anderen nicht nötig. »Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht; oder wieder das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht.« Das Auge kann sehen, was zu tun ist, aber es kann selbst nichts tun. Es ist auf die Hand angewiesen. Und der Kopf mag wissen, dass es notwendig ist, einen bestimmten Platz aufzusuchen, doch er ist auf die Füße angewiesen, die ihn dorthin bringen.
12,22 Einige »Glieder des Leibes … scheinen … schwächer zu sein« als andere. Die Nieren etwa scheinen nicht so stark wie der Arm zu sein. Doch ohne Nieren kann der Leib gar nicht leben, während es durchaus möglich ist, ohne Arm auszukommen. Wir können ohne Arme und Beine leben, oder sogar ohne Zunge, aber wir können nicht ohne Herz, Lunge, Leber oder Gehirn leben. Und doch sieht man diese Organe nicht von außen. Sie funktionieren, ohne Beachtung zu finden.
12,23 Einige Glieder des Leibes sind anziehend, während andere weniger vornehm sind. Wir gleichen dies aus, indem wir diejenigen, die nicht so schön sind, mit Kleidern bedecken. So gibt es die gegenseitige Fürsorge der Glieder untereinander, indem die Unterschiede ausgeglichen werden.
12,24 Die »wohlanständigen« Körperteile brauchen keine besondere Beachtung. »Aber Gott« hat aus den ver schied enen Gliedern des Leibes ein organ isch zusammengefügtes Ganzes gebildet. Einige Glieder sind auff allend schön, andere unscheinbar. Einige sind für die Öffentl ichkeit geeignet, andere weniger. Und doch hat uns Gott den Trieb geg eben, alle Glieder zu schätzen, ihre gegenseitige Abhängigkeit voneinander zu erkennen und den Fehlern derer entg egenzusteuern, die nicht so vollkommen sind.
12,25 Die gegenseitige Fürsorge der Glieder untereinander verhindert »Spaltung im Leib«. Jeder gibt dem anderen, was dieser benötigt, und erhält im Gegenzug die Hilfe, die nur dieses eine andere Glied geben kann. So muss es in der Gemeinde sein. Wenn man eine Geistesgabe überbetont, führt das zu Konflikten und Spaltungen.
12,26 Was »ein Glied« betrifft, betrifft »alle«. Das ist eine wohlbekannte Tatsache über den menschlichen Leib. Fieber  z. B.  beschränkt  sich  nicht  auf  einen Teil des Leibes, sondern befällt den ganzen Körper. Genauso ist es mit anderen Krankheiten und mit Schmerzen. Ein Augenarzt kann oft einen Gehirntumor, eine Nierenkrankheit oder eine Leberinfektion durch einen Blick in die Augen erkennen. Der Grund dafür besteht darin, dass all diese Glieder Teil eines Leibes sind, obwohl sie voneinander getrennt und unt erscheidbar sind. Sie sind so sehr miteinander verbunden, dass eine Krankheit, die einen Teil beeinflusst, auch andere Teile in Mitleidenschaft zieht. Deshalb sollten wir, statt einerseits mit unserer Bestimmung unzufrieden zu sein oder andererseits uns unabhängig von den anderen zu fühlen, ein echtes Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir im Leib Christi einander brauchen und füreinander einstehen müssen. Alles, was einen anderen Christen schmerzt, sollte uns am meisten zu Herzen gehen. Ebenso sollten wir nicht neidisch sein, wenn ein anderer Christ »verherrlicht« wird, sondern uns mit ihm »freuen«.
12,27 Paulus erinnert die Korinther daran, dass sie »Christi Leib« sind. Das kann nicht bedeuten, dass sie der Leib Christi in seiner Vollständigkeit wären. Auch kann es nicht bedeuten, dass sie ein Leib Christi wären, weil es nur einen Leib gibt. Es kann nur bedeuten, dass sie als Gemeinde zusammen eine verkleinerte und auf die Ortsebene beschränkte Darstellung des Leibes Christi sind. »Einzeln genommen« ist jeder ein Glied dieser großen Gemeinschaft. Als solches sollte er seine Aufgabe ohne Stolz, Unabhängigkeit, Neid oder das Gefühl der Nutzlosigkeit erfüllen.
12,28 Der Apostel zählt nun eine weitere Gabenliste auf. Keine dieser Auflistungen ist vollständig. »Und die einen hat Gott in der Gemeinde gesetzt erstens zu Aposteln.« Das Wort »erstens« oder »aufs Erste« (LU 1912) zeigt an, dass nicht alle Apostel sind. Die Zwölf waren Männer, die durch den Herrn als seine Boten ausgesandt wurden. Sie waren während seines gesamten irdischen Dienstes bei ihm (Apg 1,21.22) und hatten ihn mit Ausnahme des Judas nach seiner Auferstehung gesehen (Apg 1,2.3.22). Aber außer den Zwölfen gab es noch andere Apostel. Der Bemerkenswerteste war sicherlich Paulus. Außerdem gab es noch Barnabas (Apg 14,4.14), Jakobus, der Bruder des Herrn (Gal 1,19), Silas und Timotheus  (1. Thess  1,1;  2,6).  Gemeinsam  mit den Propheten des NT legten die Apostel durch ihre Lehre vom Herrn Jesus Christus die lehrmäßigen Grundlagen der Gemeinde (Eph 2,20). In der eigentlichen Bedeutung des Wortes gibt es heute keine Apostel mehr. In einem weiteren Sinne haben wir jedoch noch immer Boten und Gemeindegründer, die vom Herrn ausgesandt werden. Indem wir sie Missionare statt Apostel nennen, wehren wir dem Eindruck, dass sie die außergewöhnliche Autorität und Vollmacht der ersten Apostel haben.
Als Nächstes gibt es »Propheten«. Wir haben schon erwähnt, dass Propheten Männer waren, die im Namen Gottes sprachen. Es waren Männer, die das Wort Gottes, ehe es vollständig schriftlich niedergelegt wurde, aussprachen. Weiter haben wir »Lehrer«, die das Wort Gottes den Menschen auf verständliche Weise erklären. »Wunderkräfte« kann sich auf Totenerweckungen, Dämonenaustreibungen usw. beziehen. »Heilungen« bezieht sich auf die sofortige Heilung leiblicher Krankheiten, wie wir schon weiter oben erläutert haben. »Hilfeleistungen« werden normalerweise mit den Aufgaben der Diakone verbunden, die für die materiellen Belange der Gemeinde zuständig sind. Die Gabe der »Leitung« andererseits hängt mit den Ältesten oder Bischöfen (im ursprünglichen neutestamentlichen Sinne) zusammen. Dies sind die Männer, die als gottgemäß Lebende für die geistlichen Belange der Ortsgemeinde sorgen. Zuletzt wird die »Sprachen«-Gabe genannt. Wir glauben, dass die Reihenfolge hier bedeutsam ist. Paulus erwähnt die Apostel zuerst und die Sprachengabe als Letztes. Die Korinther setzten die Gabe der Zungenrede jedoch an die erste Stelle, womit sie gleichzeitig die Apostel herabwürdigten!
12,29.30 Der Apostel hat gefragt, ob jeder Gläubige die gleiche Gabe habe: Ist jeder Apostel, Prophet oder Lehrer? Besitzt jeder Wunderkräfte oder die Heilungsgabe? Kann jeder Hilfestellung geben, Leitungsaufgaben wahrnehmen, in Zungen reden oder Zungenrede auslegen? Nun zeigt die Grammatik des Griechischen an dieser Stelle, dass er als Antwort ein »Nein« erwartet und verlangt.47 Deshalb ist jede Vorstellung, dass hier gemeint oder angedeutet sein könnte, jeder sollte die Gabe des Zungenredens haben, ein Widerspruch zum Wort Gottes und zur ganzen Vorstellung eines Leibes mit vielen verschiedenen Gliedern, die alle ihre eigene Aufgabe haben. Hier wird also ausgesagt, dass nicht jeder die Gabe des Zungenredens hat. Wenn dies der Fall ist, dann ist es verkehrt zu lehren, dass Zungenreden das Zeichen für die Geistestaufe sei. Denn in diesem Fall könnte nicht jeder erwarten, diese Taufe zu erhalten. Doch die Wahrheit ist, dass jeder Gläubige schon mit dem Geist getauft worden ist (V. 13).
12,31 Wenn Paulus sagt: »Eifert aber um die größeren Gnadengaben«, so spricht er zu den Korinthern als Ortsgemeinde und nicht zu ihnen als Einzelne. Deshalb steht das Verb hier im Plural. Er sagt damit, dass eine Gemeinde danach streben sollte, eine gute Auswahl der Gaben zu haben, die erbauen. Die besten Gaben sind diejenigen, die den größten Nutzen haben, nicht die spektakulärsten. Alle Gaben werden durch den Heiligen Geist gegeben, und keine sollte verachtet werden. Doch bleibt die Tatsache bestehen, dass einige für den Leib von größerem Nutzen sind als andere. Das sind diejenigen, um die jede Ortsgemeinde den Herrn bitten sollte.
»Und einen Weg noch weit darüber hinaus zeige ich euch.« Mit diesen Worten schließt Paulus das Gabenkapitel ab, um zum Kapitel mit dem Hohenlied der Liebe überzuleiten (1. Kor 13). Er will hier sagen, dass der bloße Besitz von Gaben nicht so wichtig wie die Verwendung dieser Gaben in Liebe ist. Die Liebe denkt an die anderen, nicht an sich selbst. Es ist wundervoll, einen Menschen zu sehen, der vom Geist Gottes auf ung ewöhnliche Weise begabt ist. Es ist jedoch noch wunderbarer, wenn der Betreffende die Gabe verwendet, um andere in ihrem Glauben zu erbauen, und damit nicht die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken will.
13,1 Die Menschen neigen dazu, Kapitel 13 aus seinem Zusammenhang zu reißen. Sie sind der Ansicht, dass es sich hier um einen Einschub handelt, der die Spannung wegen der Sprachengabe in den Kapiteln 12 und 14 etwas mildern soll. Doch das ist nicht der Fall. Das Kapitel ist ein wichtiger und wesentlicher Teil der Argumentation des Paulus.
Der Missbrauch der Sprachengabe hatte offensichtlich zu Eifersucht in der Gemeinde geführt. Die »Charismatiker« hatten ihre Gabe zur Selbstdarstellung, Selbsterbauung und Selbstbefriedigung missbraucht und damit nicht mehr in Liebe gehandelt. Sie gefielen sich darin, dass sie öffentlich in einer Sprache reden konnten, die sie nicht gelernt hatten, und es war für andere wirklich hart, dasitzen und unverständlichem Gerede zuhören zu müssen. Paulus besteht darauf, dass alle Gaben im Geist der Liebe ausgeübt werden müssen. Das Ziel der Liebe besteht darin, anderen zu helfen und nicht sich selbst zu gefallen. Und vielleicht hatten die »Nichtcharismatiker« überempfindlich und ebenso lieblos reagiert. Sie könnten sogar soweit gegangen sein, dass sie sagten, alle Sprachenrede sei vom Teufel. Sie hatten mit ihren Worten in griechischer Sprache aber Schlimmeres angerichtet als die unverständlichen Worte der »Charismatiker«! Ihre Lieblosigkeit war möglicherweise schlimmer als der Missbrauch der Sprachengabe an sich. Deshalb erinnert Paulus sie weise daran, dass auf beiden Seiten Liebe notwendig ist. Wenn sie liebevoll miteinander umgingen, könnte das Problem größtenteils gelöst werden. Es ist kein Problem, das zum Ausschluss oder zur Spaltung führen muss, sondern Liebe erfordert.
Angenommen, jemand könnte alle »Sprachen«, ob von Menschen oder Engeln, sprechen. Wenn er aber nicht die Fähigkeit hätte, diese Gabe zum Nutzen anderer einzusetzen, wäre dies nicht nützlicher oder schöner als das Zusammenschlagen von Metall, so wie es etwa bei einer Glocke der Fall ist. Wenn man das gesprochene Wort nicht verstehen kann, dann hat man keinen Nutzen davon. Es ist einfach ein nervenaufreibendes Getöse, das zum Allgemeinwohl nichts beiträgt. Damit Sprachenrede von Nutzen ist, muss sie ausgelegt werden. Und auch dann muss das Gesagte noch erbauen. »Sprachen der Engel« könnte ein bildl icher Ausdruck für eine gehobene Sprache sein, doch damit ist keinesfalls eine unbekannte Sprache gemeint. Wann immer nämlich Engel zu den Menschen in der Bibel sprachen, handelte es sich um eine normale Sprache, die einfach zu verstehen war.
13,2 In ähnlicher Weise kann jemand vielleicht wunderbare Offenbarungen von Gott empfangen. Er mag die größten »Geheimnisse« Gottes »wissen«, ungeheure Wahrheiten, die bisher noch nicht bekannt waren. Er mag eine große göttliche »Erkenntnis« haben, die er auf übernatürliche Weise empfangen hat. Er mag einen heroischen Glauben besitzen, der »Berge versetzen« kann. Doch wenn diese wunderbaren Gaben nur zu seinem eigenen Nutzen eingesetzt werden und nicht zur Erbauung der anderen Glieder des Leibes Christi, dann haben sie keinen Wert. Der Besitzer dieser Gaben ist dann »nichts«, d. h. er ist für die anderen keine Hilfe.
13,3 Wenn der Apostel »alle« seine »Habe zur Speisung der Armen austeilen« oder sogar seinen »Leib« hing eben würde, damit er »verbrannt werde«, so nützten ihm diese Taten nichts, es sei denn, sie wären im Geist der »Liebe« geschehen. Wenn er damit nur die Aufmerksamkeit auf sich selbst richten und sich einen Namen machen wollte, dann wären seine derartigen Tugendbeweise völlig nutzlos.
13,4 Jemand hat einmal gesagt: »Diese Verse sollten keine Abhandlung über die Liebe werden, sondern wurden – wie die meisten literarischen Edelsteine des NT – aufgrund einer bestimmten Si tuation vor Ort geschrieben.« Hodge hat betont, dass die Korinther ungeduldig, unzufrieden, neidisch, aufgeblasen, selbstsüchtig, unanständig, unachtsam gegenüber den Gefühlen und Interessen anderer, skeptisch, rachsüchtig und kritiksüchtig waren.
Und deshalb setzt der Apostel nun die Eigenschaften wahrer Liebe da gegen. Zunächst einmal ist die Liebe »langmütig« und »gütig«. Langmut ist das geduldige Ausharren, obwohl man ständig pro voziert wird. Güte erweist sich darin, dass man Gutes tut und in den Intere ssen anderer aufgeht. Die Liebe »neidet« anderen nichts, sondern freut sich daran, wenn andere geehrt und gelobt werden. »Die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf.« Sie erkennt, dass alle Gaben von Gott gegeben werden und kein Mensch Grund hat, stolz zu sein. Sogar die Gaben des Heiligen Geistes werden von Gott souverän ausgeteilt und sollten nie manden stolz oder hochmütig machen, ganz gleich, wie spektakulär die Gabe auch sein mag.
13,5 Die Liebe »benimmt sich nicht unanständig«. Wenn man wirklich liebevoll handelt, dann ist man höflich und aufmerksam. Die Liebe »sucht nicht« selbstsüchtig »das Ihre«, sondern ist an allem interessiert, was anderen helfen könnte. Liebe »lässt sich nicht erbittern«, sondern erträgt willig Beleidigungen und Kränkungen. Die Liebe »rechnet Böses nicht zu« (oder denkt nichts Böses; vgl. Anm. Elb, Anm. d. Übers.), d. h. sie unterstellt anderen keine bösen Beweggründe. Sie verdächtigt andere nicht und hat keine Hintergedanken.
13,6 Die Liebe »freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit«. Es gibt einen gewissen niederträchtigen Zug der menschlichen Natur, der sich an Ungerechtigkeiten erfreut, insbesondere dann, wenn das Unrecht einem selbst nützt. Das ist nicht der Geist der Liebe. Die Liebe »freut sich« über jeden Sieg »der Wahrheit«.
13,7 Der Ausdruck »erträgt alles« kann bedeuten, dass die Liebe geduldig »alles« erträgt oder die Fehler anderer verbirgt. Das Wort »ertragen« kann auch mit »bedecken« übersetzt werden. Die Liebe stellt nicht grundlos die Fehler anderer bloß, obwohl sie fest sein muss, wenn es darum geht, gottgewollte Zucht zu üben, sobald sich die Notwendigkeit dazu ergibt.
Die Liebe »glaubt alles«. Dies bedeutet, dass sie versucht, alle Handlungen und Geschehnisse zum Positiven hin auszulegen. Die Liebe »hofft alles« in dem Sinne, dass sie ehrlich darum bemüht ist, dass alles zum Besten ausgeht. Die Liebe »erträgt alles« an Verfolgung oder schlechter Behandlung.
13,8 Nachdem der Apostel die Eigenschaften derer beschrieben hat, die ihre Gabe in Liebe ausüben, wendet sich der Apostel nun der Beständigkeit der Liebe im Gegensatz zur Zeitlichkeit der Gaben zu. »Die Liebe vergeht niemals.« Auch in der Ewigkeit wird es die Liebe noch geben, denn wir werden den Herrn und einander lieben. Diese Gaben dagegen sind nur von begrenzter Dauer. Es gibt zwei grundsätzliche Auslegungen der Verse 8-13. Die traditionelle Ansicht lautet, dass die Gaben der Ewigkeit
Die Liebe wird niemals aufhören. Dagegen wird die Weissagung, die jetzt existiert, aufhören, wenn Gottes Volk im Himmel ist. Während es heute die Gabe der Erkenntnis gibt, wird es sie nicht mehr geben, wenn wir einmal in die Herrlichkeit aufgenommen werden (Wenn Paulus sagt, dass die Erkenntnis aufhören wird, dann meint er damit nicht, dass es im Himmel kein Wissen mehr gibt. Er muss sich auf die Gabe der Erkenntnis beziehen, wodurch die göttliche Wahrheit auf übernatürliche Weise weitergegeben wurde.).
13,9 In diesem Leben ist unsere Erkenntnis bestenfalls Stückwerk, genauso wie unsere Weissagung. Es gibt so vieles, das wir nicht verstehen, und es gibt so viele Geheimnisse im Ratschluss Gottes.
13,10 Doch wenn das Vollkommene eingetroffen ist, d. h. wenn wir den vollkommenen Zustand in der Ewigkeit erreicht haben, dann werden die Gaben des teilweisen Erkennens und der teilweisen Weissagung weggetan werden.
13,11 Dieses Leben kann man mit der Kindheit vergleichen, als unsere Sprache, unser Verständnis und unsere Gedanken Weissagung, der Sprachen und der Erkenntnis aufhören werden, wenn der Gläubige in die Ewigkeit kommt. Die andere Ausl egung besagt, dass diese Gaben schon aufgehört haben, als der Kanon der Schrift vollständig war. Um beide Ansichten darzustellen, werden wir die Verse 8 bis 12 unter den Überschriften »Ewigkeit« und »vollständiger Kanon« gegenüberstellen und umschreiben. Vollständiger Kanon
Die Liebe wird nie vergehen. Während es zur Zeit des Paulus Weissagung gab, sollte die Notwendigkeit für direkte Offenbarungen zu dem Zeitpunkt beendet werden, da das NT vervollständigt war. Zur Zeit des Paulus gab es noch die Sprachenrede, doch sie sollte aufhören, sobald die 66 Bücher der Bibel vollendet waren. Sie war nämlich nicht mehr nötig, um die Predigt der Apostel und Propheten zu bestätigen (Hebr 2,3.4). Die Erkenntnis göttlicher Wahrheit wurde den Aposteln und Propheten von Gott gegeben, doch sie sollte aufhören, sobald die Gesamtheit der christlichen Lehre ein für alle Mal festgehalten worden war. Wir, d. h. die Apostel, erkennen stückweise (in dem Sinne, dass wir durch direkte Offenbarung von Gott immer noch inspirierte Erkenntnis erhalten), und wir weissagen stückweise (denn wir können nur die bruchstückhaften Offenbarungen wiedergeben, die wir empfangen). Doch wenn das Vollkommene gekommen ist (d. h. wenn der Kanon einschließlich des letzten Buches des NT vervollständigt ist), dann werden zeitweilige und stückweise Enthüllungen göttl icher Wahrheit aufhören, und das weitere Offenb aren dieser Wahrheit wird weggetan werden. Es wird keine Notwendigkeit mehr für bruchstückhafte Offenbarungen geben, da das vollständige Wort Gottes nun vorhanden ist. Die Zeichengaben standen in Verbindung mit der Gemeinde in ihrer Frühzeit (gleichsam in ihrer Kindheit). Die beschränkt und unreif waren. Der himmlische Zustand entspricht dem Zustand des Erwachsenseins. Dann gehört unser kindlicher47 Zustand der Vergangenheit an.
13,12 Solange wir hier auf Erden leben, sehen wir alles nur verschwommen und undeutlich, als ob wir in einen schmutzigen Spiegel blicken würden. Im Himmel dagegen wird es so sein, dass wir die Dinge wirklich sehen, ohne dass irgendetwas unsere Wahrnehmung beeinträchtigen und verzerren kann. Heute haben wir nur teilweise Erkenntnis, doch dann werden wir so erkennen wie wir erkannt sind (d. h. umfassender). Wir werden niemals vollkommene Erkenntnis haben, auch im Himmel nicht, denn nur Gott ist allwissend. Aber unsere Erkenntnis wird doch wesentlich größer als jetzt sein.
13,13 »Glaube, Hoffnung und Liebe« sind, wie Kelly es nennt, »die moralischen Hauptprinzipien, die typisch für den christlichen Glauben sind«. Diese Gnaden gaben sind den anderen Geistesgaben überlegen, und sie sind auch dauer hafter. Kurz gesagt, die Frucht des Geistes ist wichtiger als die Gaben des Geistes.
Und »die Liebe« ist »die größte von diesen« drei Gaben. Sie ist nicht auf das Ich, sondern auf den Mitmenschen konzentriert.
Ehe wir nun dieses Kapitel verlassen, müssen wir noch einige Beobachtungen machen. Wie schon oben erwähnt, besteht eine weithin akzeptierte Auslegung der Verse 8-12 darin, dass hier der Gegensatz zwischen dem irdischen Zustand und der Ewigkeit beschrieben wird. Doch viele hingegebene Christen halten die Ansicht, dass es hier um die Vollständigkeit des Kanons geht, für die richtige. Sie glauben, dass der Zweck der Gaben an sich waren nicht kindisch; sie waren vielmehr notwendige Gaben des Heiligen Geistes. Doch da nun mit der Bibel die ganze Offenbarung Gottes zur Verf ügung stand, wurden die Wundergaben nicht mehr gebraucht und beiseitegetan. Mit dem Wort Kind48 ist an dieser Stelle ein Baby gemeint, das noch nicht richtig sprechen kann.
Jetzt (zur Zeit der Apostel) sehen wir mittels eines Spiegels, undeutlich. Kein Einziger von uns (Aposteln) hat Gottes vollständige Offenbarung empfangen. Sie wurde uns in Einzelteilen gegeben, wie die Teile eines Puzzles. Wenn der Kanon der Schrift vervollständigt ist, wird die Unklarheit weggetan sein, sodass wir das Bild in seiner ganzen Fülle sehen. Unsere Erkenntnis ist (für uns als Apos tel und Propheten) zur Zeit bruchstückhaft. Doch wenn das letzte Buch in den Kanon des NT aufgenommen worden ist, werden wir mehr und verständlicher erkennen als je zuvor.
Zeichengaben war, die Predigt der Apostel zu bestätigen, solange das Wort Gottes noch nicht in seiner schriftlichen Form vollständig war. Ihrer Überzeugung nach war die Notwendigkeit für diese Wundergaben nicht mehr gegeben, als das NT vollständig war. Während diese zweite Ansicht ernsthafter Überlegung wert ist, kann man sie doch kaum wirklich beweisen. Auch wenn wir glauben, dass die Zeichengaben größtenteils gegen Ende der apostolischen Zeit aufgehört haben, gilt: Wir können nicht sagen, dass Gott in seiner Souveränität nicht auch heute noch diese Gaben benutzen könnte. Welche Ansicht wir auch haben, die bleibende Lehre, die wir daraus ziehen sollten, lautet wie folgt: Die Gaben des Geistes sind immer nur Stückwerk und zeitlicher Art, während die Frucht des Geistes ewig und vortrefflicher ist. Wenn wir in der Liebe leben, dann wird uns dies vom Missbrauch der Gaben, von Eifersucht und Spaltungen abhalten, die sich aus dem schriftwidrigen Einsatz dieser Gaben bisher ergeben haben.
14,1 Die Verbindung zum vorhergehenden Kapitel ist eindeutig. Christen sollten »nach der Liebe« streben, und das bedeutet, dass sie immer versuchen sollten, anderen zu dienen. Sie sollten auch ernsthaft nach »geistlichen Gaben« für ihre Gemeinde »eifern«. Es stimmt zwar, dass der Heilige Geist die Gaben austeilt, wie es ihm gefällt. Es ist jedoch genauso wahr, dass wir um Gaben bitten können, die von großem Wert für unsere Gemeinde sind. Deshalb ist Paulus der Ansicht, dass die Gabe der Weissagung besonders wünschenswert ist. Er erklärt weiter, warum z. B. die Weissagung von größerem Nutzen ist als die Sprachengabe.
14,2 »Wer in einer Sprache redet«, ohne dass jemand auslegt, spricht nicht zum Nutzen der Versammelten. »Gott« versteht das Gesagte, doch die Menschen nicht, weil es für sie eine fremde Sprache ist. Der Redner mag vielleicht wunderbare Wahrheiten weitergeben, die bis dahin unbekannt sind, doch nützt das überhaupt nichts, weil es unverständlich bleibt.
14,3 Wenn jemand dagegen »weissagt«, so erbaut er die Gemeinde, er ermutigt und tröstet sie. Der Grund dafür ist, dass er in der Sprache der Menschen spricht, und das macht den Unterschied aus. Wenn Paulus sagt, dass der Prophet »zur Erbauung, Ermahnung und Tröstung« spricht, dann gibt er damit keine Definition. Er sagt einfach, dass sich diese Resultate einstellen werden, wenn die Botschaft in einer Sprache übermittelt wird, die die Menschen verstehen.
14,4 Vers 4 wird oft benutzt, um den privaten Gebrauch der Zungenrede zur Selbsterbauung zu rechtfertigen. Doch sollte man die Tatsache beachten, dass das Wort »Gemeinde« in diesem Kapitel neunmal zu finden ist (V. 4.5.12.19.23.28.33.34.35).  Dies  spricht eher dafür, dass Paulus sich hier nicht mit dem persönlichen Gebetsleben auseinandersetzt, sondern mit der Verwendung der Zungenrede in der Ortsgemeinde. Der Zusammenhang zeigt uns, worum es geht: Der Apostel ist weit davon entfernt, den Gebrauch der Zungenrede zur Selbsterbauung zu lehren. Daher spricht er sich hier gegen die Verwendung der Gabe in der Gemeinde aus, wenn sie nicht dazu führt, dass anderen geholfen wird. Die Liebe denkt an den anderen und nicht an sich selbst. Wenn die Gabe des Zungenredens in der Liebe geübt wird, dann werden auch andere und nicht nur der Zungenredner selbst davon Nutzen haben. »Wer aber weissagt, erbaut die Gemeinde.« Er brüstet sich nicht eigennützig mit seiner Gabe, sondern sagt Wesentliches in einer Sprache, die die Gemeinde verstehen kann.
14,5 Paulus verachtet die Gabe der Zungenrede nicht, denn er erkennt, dass es sich dabei um eine Gabe des Heiligen Geistes handelt. Er konnte und wollte nicht irgendetwas verachten, das vom Geist gewirkt ist. Wenn er sagt: »Ich möchte aber, dass ihr alle in Sprachen redet«, so will er damit jedem selbstsüchtigen Verlangen eine Absage erteilen, die Gabe auf sich selbst und einige Auserwählte zu beschränken. Sein Anliegen wird von Mose einmal so ausgedrückt: »Mögen doch alle im Volk des Herrn Propheten sein, dass der Herr seinen Geist auf sie lege!« (4. Mose 11,29b). Doch als er dies sagte, war Paulus sich bewusst, dass es nicht Gottes Wille war, allen Gläubigen jede Gabe zuzueignen (s. 12,29.30).
Es wäre ihm lieber, wenn die Korinther »weissagen« würden, um sich gegenseitig aufzuerbauen, weil ihre Zuhörer sie nicht verstehen könnten, wenn sie in Zungen ohne Auslegung sprechen würden und deshalb niemand einen Nutzen davon hätte. Paulus lag mehr an »Erbauung« als daran, eine Gabe zur Schau zu stellen. »Was uns erstaunt, ist für den geistlich Gesinnten wesentlich weniger wichtig als das Erbauliche«, hat Kelly gesagt.49 Der hier befindliche Ausdruck (»es sei denn, dass er es auslegt«) könnte bedeuten: »Es sei denn, der Zungenredner legt es selbst aus«, oder aber: »Es sei denn, dass jemand es auslegt.«
14,6 Auch wenn Paulus selbst nach Korinth käme und »in Sprachen« reden würde, so würde es den Korinthern nichts »nützen«, es sei denn, sie könnten ihn verstehen. Sie müssten feststellen können, ob das, was er sagen würde, eine »Offenbarung«, »Erkenntnis«, »Weiss agung« oder »Lehre« wäre. Die Exeg eten sind sich einig, dass »Offenbarung« und »Erkenntnis« mit innerem Wissen zu tun haben, während »Weissagung« und »Lehre« damit zu tun haben, dieses Wissen weiterzugeben. Paulus betont in diesem Vers, dass man eine Botschaft vers tehen muss, wenn sie für die Gemeinde von Nutzen sein soll. Er wird dies in den folgenden Versen beweisen.
14,7 Zunächst benutzt er das Bild der Musikinstrumente. Nur wenn eine »Flöte oder Harfe« (ER) »unterschiedliche Töne von  sich«  gibt  (LU 1984),  kann  man  erkennen, »was geflötet oder geharft wird«. Die Vorstellung schöner Musik beinhaltet immer den Gedanken an unterscheidbare Noten, einen festen Rhythmus und einen gewissen Grad an Klarheit.
14,8 Dasselbe gilt für »die Posaune«. Der Ruf zu den Waffen muss klar und deutlich erfolgen, sonst wird sich keiner »zum Kampf rüsten«. Wenn der Posaunist einfach aufsteht und irgendetwas vor sich hinbläst, dann wird sich keiner regen.
14,9 »So« ist es auch mit der menschlichen Sprache. Wenn man die Sprache, die wir sprechen, nicht versteht, dann wird keiner wissen, was gesagt wurde. Es wäre so sinnlos, als würde man »in den Wind reden«. (In Vers 9 ist mit »Sprache« das Organ zum Sprechen gemeint, nicht eine fremde Sprache.) Es gibt für all das eine praktische Anwendung, nämlich die Tatsache, dass Predigt und Lehre klar und einfach sein sollten. Wenn sie zu »tiefgründig« sind und über die Köpfe der Leute hinweggehen, dann wird ihnen das nichts nützen. Es mag dann zwar dem Sprecher einen gewissen Grad an Befriedigung schenken, doch für das Volk Gottes wird es keinen Nutzen haben.
14,10 Paulus geht zu einem anderen Bild über, um seine Aussage weiter zu erklären. Er spricht hier von den »vielen Arten von Sprachen in der Welt«. Hier ist das Thema nun breiter gestreut als beim Grundgedanken der menschlichen Sprache; es umfasst auch die Kommunikation anderer Lebewesen. Vielleicht denkt Paulus an die verschiedenen Vogelstimmen und die anderen Laute, die Tiere verwenden. Wir wissen z. B., dass es bestimmte Rufe bei Vögeln gibt, womit sich Partner finden, womit sie sich bei der Wanderung verständigen oder die sie beim Füttern ihrer Jungen verwenden. Auch gibt es gewisse Laute, mit denen sich Tiere bei Gefahr gegenseitig warnen. Paulus sagt hier einfach, dass all diese Stimmen eine eindeutige Bedeutung haben.
14,11 Das gilt auch für die menschliche Sprache. Wenn ein Mensch unartikulierte Laute von sich gibt, kann niemand ihn verstehen. Er könnte dann genauso gut bedeutungslosen Unsinn schwätzen. Es gibt nur wenige Erfahrungen, die für uns schwieriger sind als der Sachverhalt, dass jemand, der unsere Sprache nicht spricht, uns etwas mitteilen will.
14,12 Angesichts dessen sollten die Korinther ihren Eifer für »geistliche Gaben« mit dem Verlangen verbinden, die »Gemeinde« zu erbauen. Moffatt übersetzt hier folgendermaßen: »Ihr sollt die Erbauung der Gemeinde zu eurem Ziel machen, wenn ihr danach verlangt, euch auszuzeichnen.« Man beachte, dass Paulus sie niemals in ihrem Streben nach Geistesgaben behindern will, sondern sie so zu führen sucht, dass sie durch die Verwendung ihrer Gaben das höchste Ziel erreichen.
14,13 Wenn jemand »in einer Sprache redet«, so »bete« er, »dass er es auch auslege«. Die Bedeutung kann auch wie folgt sein: Er soll darum beten, dass jemand auslegen kann.50 Es ist möglich, dass jemand, der die Gabe der Zungenrede hat, auch die Gabe der Auslegung besitzt, aber das ist wohl eher die Ausnahme als die Regel. Das Bild des menschlichen Leibes legt es näher, dass verschiedene Funktionen von verschiedenen Organen übernommen werden.
14,1 Die Verbindung zum vorhergehenden Kapitel ist eindeutig. Christen sollten »nach der Liebe« streben, und das bedeutet, dass sie immer versuchen sollten, anderen zu dienen. Sie sollten auch ernsthaft nach »geistlichen Gaben« für ihre Gemeinde »eifern«. Es stimmt zwar, dass der Heilige Geist die Gaben austeilt, wie es ihm gefällt. Es ist jedoch genauso wahr, dass wir um Gaben bitten können, die von großem Wert für unsere Gemeinde sind. Deshalb ist Paulus der Ansicht, dass die Gabe der Weissagung besonders wünschenswert ist. Er erklärt weiter, warum z. B. die Weissagung von größerem Nutzen ist als die Sprachengabe.
14,14  Wenn  jemand  z. B.  im  Gottesdienst »in einer Sprache« betet, so »betet« sein »Geist« in dem Sinne, dass seine Gefühle Ausdruck finden, auch wenn er nicht die übliche Sprache benutzt. Doch sein »Verstand ist fruchtleer« in dem Sinne, dass niemand anders davon Nutzen hat. Die Gemeinde weiß nicht, was er sagt. Wie wir in den Bemerkungen zu
14,19 erklären werden, sind wir der Ansicht, dass der Ausdruck »mein Verstand« so viel bedeutet wie »das, was die anderen Leute von mir verstehen«.
14,15 »Was ist nun« hier die Schlussfolgerung? Einfach Folgendes: Paulus möchte nicht nur »beten mit dem Geist«, sondern »auch beten mit dem Verstand«, d. h. so, dass er verstanden wird. Es bedeutet nicht, dass er mit seinem eigenen Verstand betet. Vielmehr ist damit gemeint: Er betet so, dass andere ihn verstehen. Ebenso möchte er »lobsingen mit dem Geist«, aber er »will auch lobsingen«, sodass er verstanden wird.
14,16 Dass dies die richtige Bedeutung des Abschnitts ist, wird in Vers 16 ausreichend bewiesen. Wenn Paulus in seinem Geist beten würde, aber so, dass er von den anderen nicht verstanden wird, wie könnte jemand, der die Sprache nicht versteht, zum Schluss »das Amen sprechen«?
»… welcher die Stelle des Unkundigen einnimmt«. Damit ist ein Mensch gemeint, der unter den Zuhörern sitzt und die Sprache des Redenden nicht versteht. Dieser Vers weist nebenbei auch zum verständigen Gebrauch des Wortes »Amen« in öffentlichen Versammlungen der Gemeinde an.
14,17 Wenn man in einer fremden Sprache spricht, dann könnte man wirklich »Dank« sagen, aber andere werden dadurch »nicht erbaut«, wenn sie nicht wissen, was gesagt wurde.
14,18 Der Apostel hatte offensichtlich die Fähigkeit, »mehr« fremde Sprachen zu sprechen als »alle« anderen. Wir wissen, dass Paulus einige Fremdsprachen beherrschte, doch hier verweist er unzweifelhaft auf seine Sprachengabe.
14,19 erklären werden, sind wir der Ansicht, dass der Ausdruck »mein Verstand« so viel bedeutet wie »das, was die anderen Leute von mir verstehen«.
14,19 Trotz seiner überragenden Sprachkenntnisse sagt Paulus hier, dass er »lieber fünf Worte mit« seinem »Verstand reden« wolle (d. h. so, dass man ihn versteht), »als zehntausend Worte in einer« fremden »Sprache«. Er war alles andere als interessiert daran, seine Gabe zur Selbstdarstellung zu missbrauchen. Sein Hauptziel war es, dem Volk Gottes zu helfen. Deshalb beschloss er, so zu reden, dass die anderen ihn verstehen konnten. Der Ausdruck »mein Verstand« ist unter der Bezeichnung »Objekt-Genitiv« bekannt.51 Es geht hier nicht darum, was ich selbst verstehe, sondern darum, was die anderen verstehen, wenn ich spreche. Hodge zeigt, dass es in diesem Zusammenhang nicht um das geht, was Paulus selbst versteht, wenn er in Zungen redet, sondern was die anderen Leute dabei verstehen:
Würde Paulus Gott dafür danken, dass er selbst die Gabe der Zungenrede in größerem Maße empfangen hat? Es ist nicht anzunehmen, dass er dies täte, wenn diese Gabe darin bestünde, in Sprachen zu reden, die er selbst nicht verstand und deren Gebrauch dementsprechend weder ihm noch anderen nützen würde. Auch geht aus diesem Vers eindeutig hervor, dass das Zungenreden nicht in einem Zustand geschah, als er sich dessen von seinem Geist her nicht bewusst war. Die allgemeine Lehre über das Wesen dieser Gabe ist die einzige, die mit diesem Abschnitt übereinstimmt. Paulus sagte, dass er lieber fünf Worte verständlich als zehntausend in einer unverständlichen Sprache reden würde, auch wenn er im Vergleich zu den Korinthern besser in Zungen reden konnte. In der Gemeinde (d. h. in einer ihrer Zusammenkünfte) wollte er auch andere lehren (katecheo), d. h. mündlich unterweisen (Gal 6,6). Dies zeigt, was er meinte, als er davon sprach, dass er »mit« seinem »Verstand reden« wollte. Er spricht hier so, um eine Lehre weiterzugeben.52
14,20 Als Nächstes ermahnt Paulus die Korinther, weil sie sich von ihrer Gesinnung her als Unreife erwiesen. Kinder haben das Vergnügen lieber als den Nutzen, Glitzerkram lieber als Wertvolles. Paulus sagt: »Ergötzt euch nicht kindisch an diesen spektakulären Gaben, die ihr zur Selbstdarstellung benutzt. Nur in einer einzigen Hinsicht sollt ihr den Kindern gleichen, und zwar in Sachen ›Bosheit‹. Doch in anderen Dingen solltet ihr wie reife Menschen denken.«
14,21 Als Nächstes zitiert Paulus Jesaja, um zu zeigen, dass die Zungenrede eher ein Zeichen für die Ungläubigen als für die Gläubigen ist. Gott sagte, dass er zu seinem Volk in fremden Sprachen rede wolle, weil sie seine Botschaft abgelehnt und verspottet hatten (Jes 28,11). Die Erfüllung dieser Prophezeiung fand statt, als die assyrischen Invasoren nach Israel kamen und die Israeliten die assyrische Sprache in ihrer Heimat hörten. Das war für sie ein Zeichen, dass sie Gottes Wort abgelehnt hatten.
14,22 Das Argument hier lautet, dass die Korinther, weil »die Sprachen« nach Gottes Willen ein »Zeichen … für die Ungläubigen« sein sollten, sie nicht ständig in den Zusammenkünften der Gläubigen benutzen sollten. Es wäre besser, wenn sie weissagen würden, denn die Weissagung ist ein Zeichen »für die Glaubenden, … nicht für die Ungläubigen«.
14,23 »Wenn nun die ganze Gemeinde zusammenkommt und alle« Korinther »in Sprachen reden«, ohne dass jemand auslegt, was würde wohl ein Fremder von all dem halten? Es wäre für ihn kein Zeugnis, sondern er müsste denken, dass die Gläubigen verrückt sind. Es gibt einen scheinbaren Widerspruch zwischen Vers 22 und den Versen 23-25. In Vers 22 wird uns gesagt, dass die Zungenrede ein Zeichen für die Ungläubigen ist, während die Weissagung für die Gläubigen bestimmt ist. Doch in den Versen 23-25 sagt Paulus, dass die Zungenrede, die in der Gemeinde benutzt wird, die Ungläubigen nur verwirren und zu Fall bringen könnte, während Weissagung ihnen helfen könnte. Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch lautet folgendermaßen: Die Ungläubigen in Vers 22 sind diejenigen, die das Wort Gottes abgelehnt und ihr Herz vor der Wahrheit verschlossen haben. Die Zungen- oder Sprachenrede ist für sie ein Zeichen des Gerichts Gottes, wie dies auch für Israel in dem zitierten Jesajavers der Fall ist (V. 21). Die Ungläubigen in den Versen 23-25 sind diejenigen, die offen für Belehrung sind. Sie sind offen, das Wort Gottes zu hören, was ihre Anwesenheit bei einer christlichen Versammlung beweist. Wenn sie hören, wie die Christen ohne Auslegung in Zungen reden, dann hilft ihnen das nicht. Vielmehr hindert dies sie vielleicht daran, den Glauben anzunehmen.
Wenn Fremde in eine Versammlung kommen, in denen die Christen mehr weissagen als in Zungen sprechen, dann hören und verstehen die Besucher, was gesagt wird, und sie werden »von allen überführt, von allen beurteilt«. Der Apostel betont hier, dass es keine wirkliche Überführung von der Sünde gibt, wenn die Zuhörer nicht verstehen können, was gesagt wird. Wenn ohne Auslegung in fremden Sprachen geredet wird, dann wird den Besuchern auf keinen Fall geholfen. Diejenigen, die weissagen, würden das natürlich in der ortsüblichen Sprache tun, sodass infolgedessen die Zuhörer von dem Gehörten beeindruckt würden.
14,25 »Das Verborgene« des menschlichen »Herzens wird offenbar« durch Weissagung. Der Betroffene meint, dass der Prediger ihn direkt anspricht. Der Geist Gottes bewirkt, dass seine Seele überführt wird. »Und so wird er auf sein Angesicht fallen und wird Gott anbeten und verkündigen, dass Gott wirklich unter« diesen Menschen ist. Und deshalb lautet Paulus’ Argumentation in den Versen 22-25, dass Zungenrede ohne Auslegung keine Überführung von Sünde unter den Ungläubigen herbeiführt, Weissagung aber dazu imstande ist.
14,26 Wegen der Missbräuche, die in dieser Gemeinde im Zusammenhang mit der Sprachengabe entstanden waren, war es für den Geist Gottes notwendig, bestimmte Regeln einzusetzen, um den Gebrauch dieser Gabe in geordnete Bahnen zu lenken. In den Versen 26-28 finden wir solche Regeln.
Was geschah, wenn die frühe Gemeinde zusammenkam? Aus Vers 26 geht hervor, dass die Versammlungen sehr frei und ungezwungen waren. Es gab Freiheit für den Geist Gottes, die verschiedenen Gaben zu benutzen, die er der Gemeinde gegeben hatte. Einer z. B. las »einen Psalm«, und dann erklärte jemand anders wieder »eine Lehre«. Der Nächste kam mit einer »Sprachenrede«. Ein anderer stellte »eine Offenbarung« vor, die er unmittelbar vom Herrn erhalten hatte. Noch jemand anders legte die Zungenrede aus, die soeben zu hören war. Paulus billigt stillschweigend diese Praxis des offenen Zusammenkommens, wor in der Geist Gottes durch die verschiedenen Brüder sprechen konnte. Doch nachdem er dies festgestellt hat, erklärt er seine erste Regel für die Ausübung der Gaben. »Alles« muss zur »Erbauung« geschehen. Nur weil etwas aufsehenerregend und bewundernswert ist, heißt das noch lange nicht, dass es in der Gemeinde einen Platz hat. Um annehmbar zu sein, muss der Dienst darauf hinwirken, dass das Volk Gottes auferbaut wird. Das ist mit »Erbauung« gemeint – geistliches Wachstum.
14,27 Die zweite Regel lautet, dass in einer Versammlung nicht mehr als drei Leute in Zungen reden sollen. »Wenn nun jemand in einer Sprache redet, so sei es zu zweien oder höchstens zu dritt.« Es sollte nie so sein, dass es Versammlungen gibt, in der jede Menge Leute aufstehen, um zu zeigen, dass auch sie fremde Sprachen beherrschen.
Als Nächstes lernen wir, dass die zwei oder drei, die in einer Versammlung in Zungen reden durften, dies »nacheinander« tun sollten. Das bedeutet, dass sie nicht gleichzeitig, sondern einer nach dem anderen reden sollten. Dies würde das Durcheinander und die Unordnung als Folge der Tatsache vermeiden, dass mehrere gleichzeitig reden. Die vierte Regel lautet, dass jemand »auslegen« musste. »Einer lege aus.« Wenn ein Mann aufstand, um in Zungen zu reden, dann musste er zunächst feststellen, ob es jemanden gab, der übersetzen konnte.
14,28 »Wenn aber kein Ausleger« anwesend war, so sollte er »in der Gemeinde« schweigen. Er konnte dort sitzen und im Stillen »für sich und für Gott … reden«, aber er durfte es nicht öffentlich tun.
14,29 Regeln für die Weissagung werden uns in den Versen 29-33a gegeben. Zunächst einmal sollten »zwei oder drei … Propheten … reden und die anderen« sollten »urteilen«. Nicht mehr als »drei« sollten in jedem Gottesdienst sprechen, und die zuhörenden Christen sollten beurteilen, ob es sich wirklich um göttliche Eingebungen handelte oder der Sprecher vielleicht ein falscher Prophet war.
14,30 Wie wir schon früher erwähnt haben, empfing ein Prophet direkte Mitteilungen vom Herrn und gab sie an die Gemeinde weiter. Doch es war möglich, dass er nach dieser Offenbarung anschließend zu den Menschen predigte. Deshalb stellt der Apostel folgende Regel auf: Wenn ein Prophet spricht und »einem anderen, der dasitzt, eine Offenbarung zuteilwird«, sollte »der erste« schweigen, um demjenigen Raum zu geben, der die neueste Offenbarung empfangen hat. Der Grund dafür besteht nach einigen Auslegern in Folgendem: Je länger der Erste spricht, umso mehr wird er aus eigenem Antrieb statt als göttlich Inspirierter reden. In langen Ansprachen besteht immer die Gefahr, vom Wort Gottes zu eigenen Ausführungen überzugehen. Göttliche Offenbarung ist jedoch allem anderen überlegen.
14,31 Den Propheten sollte die Gelegenheit gegeben werden, »einer nach dem anderen« zu sprechen. Kein Prophet sollte die ganze Zeit reden. Auf diese Weise wird die Gemeinde den größten Nutzen haben – denn so können »alle lernen und alle getröstet« oder ermahnt werden.
14,32 Ein sehr wichtiges Prinzip wird in Vers 32 dargelegt. Wenn wir zwischen den Zeilen lesen, dann müssen wir vermuten, dass die Korinther eine falsche Vorstellung hatten: Ihnen zufolge war jemand umso mehr vom Geist Gottes ergriffen, je weniger Kontrolle er über sich selbst hatte. Sie glaubten, dass er in einen ekstatischen Zustand mitgerissen wurde. Laut Godet argumentierten sie, dass umso weniger Verstand und Selbstzurückhaltung vorhanden waren, je mehr der Geist wirkte. Für sie war jemand, der sich ganz unter der Herrschaft des Geistes befand, in einem passiven Zustand; er konnte weder seine Worte noch die Länge seiner Redezeit oder seine allgemeinen Handlungen kontrollieren. Solch eine Vorstellung wird in unserem Schriftabschnitt eindeutig abgelehnt. »Und die Geister der Propheten sind den Propheten untertan.« Das bedeutet, dass der Prophet nicht ohne seine Zustimmung oder gegen seinen Willen »Werkzeug der Prophetie« wird. Er darf die Anweisungen dieses Kapitels nicht umgehen, indem er behauptet, er habe nicht umhin können, als den Eingebungen des Geistes zu gehorchen. Er selbst kann festlegen, wann oder wie lange er spricht.
14,33 »Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.« Mit anderen Worten, wenn eine Zusammenkunft ein heilloses Durcheinander ist, dann kann man sicher sein, dass hier nicht der Geist Gottes am Werk ist!
14,34 Es ist allgemein bekannt, dass die Verseinteilungen und sogar die Interpunktion des NT erst viele Jahrhunderte nach dem Abfassungszeitpunkt der Urschriften eingefügt wurde. Der letzte Teilsatz von Vers 33 ergibt mehr Sinn, wenn er als nähere Bestimmung zu Vers 34 angesehen wird, statt als allgemeine Wahrheit hinsichtlich des allgegenwärtigen Gottes betrachtet zu werden (einige griechische Urtexte und mehrere deutsche Bibelausgaben verwenden diese Interpunktion). Deshalb heißt es in unserer Übersetzung: »Wie es in allen Gemeinden der Heiligen ist, sollen eure Frauen in den Gemeinden schweigen, denn es wird ihnen nicht erlaubt, zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.« Die Anweisungen, die Paulus den Korinthern gibt, gelten nicht nur für sie allein. Die gleichen Belehrungen sind »allen Gemeinden der Heiligen« gegeben worden. Das NT bezeugt an zahlreichen Stellen, dass die Frauen zwar viele wertvolle Dienste tun können, jedoch keine führende Stellung in der Gesamtgemeinde am Ort innehaben sollen. Ihnen sind die ungemein wichtigen Aufgaben in der Familie und in der Kindererziehung gegeben worden. Doch es ist ihnen nicht erlaubt, öffentlich in der Gemeinde zu reden. Ihre Stellung zeichnet sich durch Unterordnung unter den Mann aus. Wir glauben, dass der hinzugefügte Ausdruck (»wie auch das Gesetz sagt«) sich auf die Unterordnung der Frau unter den Mann bezieht. Diese Unterordnung wird im Gesetz, mit dem hier wahrscheinlich im Wesentlichen die 5 Bücher Mose gemeint sind, ausdrücklich gelehrt. In 1. Mose 3,16 heißt es etwa: »Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen!« Es wird oft behauptet, Paulus verbiete in diesem Vers, dass die Frauen während des Gottesdienstes untereinander schwatzen und den neuesten Klatsch austauschen. Doch ist eine solche Auslegung unhaltbar. Das Wort, das hier mit »reden« (laleo) übersetzt wird, bedeutet im KoinéGriechisch nicht »schwatzen«. Dasselbe Wort wird von Gott in Vers 21 desselben Kapitels und in Hebräer 1,1 benutzt. Es bedeutet: »mit Autorität sprechen.«
14,35 Frauen ist es auch nicht erlaubt, in der Gemeinde öffentlich Fragen zu stellen. »Wenn sie aber etwas lernen wollen, so sollen sie daheim ihre eigenen Männer fragen.« Einige Frauen wollten vielleicht dem vorherigen Verbot entgehen, indem sie Fragen stellten. Es ist möglich, durch solche einfachen Fragestellungen andere zu lehren. Deshalb schließt dieser Vers auch dieses Schlupfloch. Wenn man nun fragt, wie man dies auf eine unverheiratete Frau oder eine Witwe anwenden muss, so lautet die Antwort, dass die Schrift nicht jeden Einzelfall aufnimmt, sondern nur allgemeine Prinzipien aufstellt. Wenn eine Frau keinen Ehemann hat, kann sie ihren Vater, ihren Bruder oder einen der Ältesten der Gemeinde fragen. Man könnte dies auch übersetzen: »Sie sollen ihr Männervolk53 zu Hause fragen.« Die Grundregel, die man im Kopf behalten sollte, lautet: »Es ist schändlich für eine Frau, in der Gemeinde zu reden.«
14,36 Offensichtlich erkannte der Apostel Paulus, dass seine Lehre hier beträchtlichen Widerspruch herausfordern würde. Wie recht er doch hatte! Um solchen Gegenargumenten zu begegnen, fragt er in Vers 36 ironisch: »Oder ist das Wort Gottes von euch ausgegangen? Oder ist es zu euch allein gelangt?« Mit anderen Worten: Wollten die Korinther behaupten, mehr von dieser Sache zu verstehen als der Apostel? Dann fragte er sie, ob sie als Gemeinde »das Wort Gottes« geschrieben hätten oder ob sie die Einzigen seien, die es empfangen hätten. Durch ihre Haltung setzten sie sich selbst als Autorität in dieser Sache ein. Doch die Tatsache besteht, dass keine Gemeinde allein das Wort Gottes geschrieben hat und keine Gemeinde ein Exklusivrecht darauf besitzt.
14,37 Im Zusammenhang mit all den vorhergehenden Anweisungen betont hier der Apostel, dass sie nicht auf seinen eigenen Vorstellungen oder Deutungen zurückgehen, sondern »ein Gebot des Herrn« sind. Und jeder, der »ein Prophet« des Herrn oder wirklich ein »Geistbegabter« ist, wird das auch anerkennen. Dieser Vers ist eine ausreichende Antwort an diejenigen, die meinen, dass einige der Lehren des Paulus (insbesondere seine Anweisungen hinsichtlich der Frauen) seine eigenen Vorurteile widerspiegeln. Diese Anweisungen sind nicht die Privatansichten des Paulus, sondern das »Gebot des Herrn«.
14,38 Sicher wären einige nicht bereit, sie als solche anzunehmen, und deshalb fügt der Apostel hier an: »Wenn aber jemand unwissend ist, so sei er unwissend« (Elb). Wenn jemand sich weigert, die Inspiration dieser Schriften anzuerkennen und sich ihnen im Gehorsam zu beugen, dann gibt es für ihn keine Alternative, als weiter in Unwissenheit zu leben.
14,39 Um die vorhergehenden Anweisungen über die Ausübung der Gaben zusammenzufassen, fordert Paulus nun die »Brüder« auf, »danach« zu eifern, »zu weissagen«. »Das Reden in Sprachen« sollten sie jedoch »nicht« hindern. Dieser Vers zeigt die relative Bedeutung dieser beiden Gaben: Nach der einen Gabe sollte man »eifern«, während die andere nicht verhindert werden sollte. Die Weissagung war wertvoller als die Zungenrede, weil Sünder durch sie überführt und die Heiligen erbaut wurden. Zungenrede ohne Auslegung diente nur dazu, mit Gott und mit sich selbst zu reden und die eigene Fähigkeit erkennen zu lassen, eine Fremdsprache zu sprechen – eine Fähigkeit, die bestimmten Menschen von Gott gegeben wurde.
14,40 Das Ermahnungswort des Paulus zum Schluss lautet, dass »alles anständig und in Ordnung … geschehe«. Es ist bedeutsam, dass diese Regeln in diesem Kapitel stehen. Über die Jahre hinweg sind diejenigen, die sich zur Gabe der Zungenrede bekannten, nicht gerade dafür bekannt gewesen, sich an diese Ordnungsprinzipien zu halten. Viele ihrer Versammlungen waren vielmehr Orte unkontrollierter Gefühlsausbrüche und allgemeinen Durcheinanders. Zusammenfassend wäre zu sagen, dass der Apostel Paulus die folgenden Regeln für die Ausübung der Zungenrede in der Ortsgemeinde gibt: 1. Wir dürfen die Zungenrede nicht hindern (V. 39).
2. Wenn jemand in Zungen redet, muss es einen Ausleger geben (V. 27c.28). 3. In einem Gottesdienst dürfen nicht mehr als drei Leute in Zungen reden (V. 27a).
4. Sie müssen nacheinander reden (V. 27b).
5. Ihre Aussagen müssen erbauen (V. 26b).
6.  Die Frauen müssen schweigen (V. 34). 7. »Alles« muss »anständig und in Ordnung« geschehen (V. 40). Dies sind die bleibenden Regeln, die auch für die Gemeinden heute gelten. IV. Die Antwort des Paulus an die Leugner der Auferstehung (Kap. 15) Hier haben wir das Kapitel über die Auferstehung. Es gab in der Gemeinde in Korinth einige Lehrer, die die Möglichkeit einer leiblichen Auferstehung bestritten. Sie wollten nicht die Tatsache eines Lebens nach dem Tod bestreiten, sondern waren der Meinung, dass wir nur als Geistwesen weiter existieren würden und keine echten Leiber mehr besitzen würden. Der Apostel gibt hier seine klassische Antwort auf diese Leugnungen.
A. Die Gewissheit der Auferstehung (15,1-34)
15,1.2 Paulus erinnert sie an die Gute Nachricht, die er ihnen »verkündigt« hat, die sie »angenommen« haben und in der sie nun auch »stehen«. Hier ging es nicht um eine für die Korinther neue Lehre, sondern es war notwendig, dass sie in dieser kritischen Zeit daran erinnert wurden. Es war dieses »Evangelium« gewesen, wodurch sie »errettet« wurden. Dann fügt Paulus die Worte hinzu: »… wenn ihr festhaltet, mit welcher Rede ich es euch verkündigt habe, es sei denn, dass ihr vergeblich zum Glauben gekommen seid.« Sie waren durch das Evangelium von der Auferstehung gerettet worden – es sei denn, es gäbe keine Auferstehung. In diesem Fall wären sie natürlich nicht erlöst. Das »Wenn« in diesem Abschnitt drückt keinen Zweifel an ihrer Errettung aus; auch lehrt es nicht, dass sie durch das Festhalten erlöst werden. Paulus will hier einfach auss agen, dass sie nicht gerettet wären, wenn es die Auferstehung nicht gäbe. Mit anderen Worten, diejenigen, die die leibliche Auferstehung leugneten, griffen die gesamte Wahrheit des Evangeliums frontal an. Für Paulus war die Auferstehung grundlegend. Ohne sie gibt es keinen christlichen Glauben. Deshalb ist dieser Vers eine Aufforderung an die Korinther, das Evangelium angesichts der Angriffe, die momentan in der Gemeinde gegen die Auferstehung geführt wurden, festzuhalten.
15,3 Paulus hatte den Korinthern die Botschaft »überliefert«, die er durch göttliche Offenbarung »empfangen« hatte. Die erste Grundlehre dieser Botschaft lautet, »dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften«. Das betont den stellvertretenden Tod Christi für uns. Er starb nicht für eigene Sünden oder gar als Märtyrer, sondern »für unsere Sünden«. Er starb, um die Schuld »für unsere Sünden« zu bezahlen. »Nach den Schriften« bezieht sich hier auf das AT, weil das NT noch nicht in geschriebener Form existierte. Sagten die alttestamentlichen Schriften wirklich voraus, dass Christus für die Sünden des Volkes sterben würde? Die Antwort ist ein bestimmtes »Ja!« In Jesaja 53,5 und 6 wird dies hinreichend bewiesen.
15,4 Die Grablegung Jesu wurde in Jesaja 53,9 und seine Auferstehung in Psalm 16,9.10 vorausgesagt. Es ist wichtig festzuhalten, wie Paulus das Zeugnis der »Schriften« betont. Das sollte in allen Glaubensfragen der Maßstab sein: »Was sagt die Schrift?«
15,5 In den Versen 5-7 haben wir eine Liste der Augenzeugen der Auferstehung. Zuerst erschien der Herr »Kephas« (Petrus). Das ist sehr bewegend. Derselbe treulose Jünger, der seinen Herrn dreimal verleugnete, hat das Vorrecht, dass der Herr nach seiner Auferstehung ihm allein erscheint. Wie groß ist doch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus! »Dann« erschien der Herr auch »den Zwölfen«, seinen Jüngern. In Wirklichkeit waren nicht alle zwölf bei dieser Erscheinung anwesend, sondern der Ausdruck »die Zwölf« wird hier erwähnt, um den Kreis der Jünger zu bezeichnen, auch wenn sie nicht vollständig versammelt waren. Es sollte noch festgehalten werden, dass nicht alle Erscheinungen in dieser Liste aufgeführt sind, die in den Evangelien beschrieben wurden. Der Geist Gottes wählt die Erscheinungen des auferstandenen Christus aus, die für seinen Zweck am geeignetsten sind.
15,6 Die Erscheinung des Herrn vor »mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal« hat nach allgemeiner Auffassung wohl in Galiläa stattgefunden. Zu der Zeit, als Paulus schrieb, lebten die meisten dieser Brüder noch, obwohl schon einige zum Herrn heimgegangen waren. Mit anderen Worten, wenn irgendjemand die Zuverlässigkeit der Aussagen des Paulus infrage stellen wollte, so konnten die Zeugen noch befragt werden.
15,7 Es ist unmöglich festzustellen, welcher »Jakobus« hier gemeint ist, obwohl die meisten Exegeten davon ausgehen, dass es der Halbbruder des Herrn war. Vers 7 berichtet uns auch, dass der Herr »allen Aposteln« erschienen ist.
15,8 Als Nächstes spricht Paulus davon, wie er den auferstandenen Christus kennenlernte. Das geschah auf der Straße nach Damaskus, als er ein großes Licht vom Himmel und den verherrlichten Christus von Angesicht zu Ang esicht sah. Mit der »unzeitigen Geburt« ist ein abgetriebenes Kind oder eine vorzeitige Geburt gemeint. Nach Vines Erläuterungen bedeutet dies, dass Paulus zu diesem Zeitpunkt sich selbst als den and eren Aposteln unterlegen bezeichnet, so wie eine unreife Geburt nicht so volls tändig ist wie eine reife Geburt. Er benutzt diese Bezeichnung als Selbstanklage angesichts seiner Vergangenheit als Verfolger der Gemeinde.
15,9 Wenn der Apostel an das Vorrecht denkt, dass er den Heiland von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, wird er von einem Gefühl der Unwürdigkeit überwältigt. Er denkt daran, wie er »die Gemeinde Gottes verfolgt« hat und wie der Herr ihn trotz allem zum Apostel berief. Deshalb beugt er sich selbst in den Staub als »der geringste der Apostel« und fühlt sich »nicht würdig …, ein Apostel genannt zu werden«.
15,10 Er fügt schnell hinzu, dass er alles, was er jetzt ist, »durch Gottes Gnade« geworden ist. Und er betrachtete diese Gnade nicht als selbstverständlich. Sie legte ihm eine strenge Verpflichtung auf, und er arbeitete unermüdlich, um dem Christus zu dienen, der ihn erlöst hatte. Doch in Wirklichkeit war es nicht Paulus selbst, »sondern die Gnade Gottes, die mit« ihm ihr Werk tat.
15,11 Nun zeigt Paulus seine Verbindung zu den anderen Aposteln und sagt aus, dass sie alle in ihrem Zeugnis des Evangeliums und besonders in ihrem Zeugnis von der Auferstehung Christi vereint waren und es ganz gleich war, wer von ihnen predigte.
15,12 In den Versen 12-19 führt Paulus die Konsequenzen einer Leugnung der leiblichen Auferstehung an. Zunächst würde das heißen, dass Christus selbst nicht auferstanden ist. Die Logik des Paulus an dieser Stelle ist nicht zu widerlegen. Einige waren der Ansicht, dass es die leibliche Auferstehung nicht gäbe. Nun gut, sagt Paulus, wenn das stimmt, dann ist Christus auch nicht auferstanden. Wollt ihr Korinther dem zustimmen? Natürlich nicht. Um zu beweisen, dass etwas möglich ist, braucht man nur zu zeigen, dass es einmal stattgefunden hat. Um die Tatsache der leiblichen Auferstehung zu beweisen, ist Paulus bereit, seine Argumentation auf die einfache Tatsache zu bauen, dass »Christus« schon »aus den Toten auferweckt« ist.
15,13 »Wenn es aber keine Auferstehung der Toten gibt, so ist« offensichtlich »auch Christus nicht auferweckt«. Solch eine Schlussfolgerung würde jedoch dazu führen, dass die Korinther in hoffnungsloser Verzweiflung zurückbleiben müssten.
15,14 »Wenn aber Christus nicht auferweckt ist, so ist also auch« die »Predigt« der Apostel »inhaltslos«. Sie hat keinen Zweck mehr. Warum wäre sie dann »inhaltslos«? Zunächst deshalb, weil der Herr Jesus verheißen hatte, dass er am dritten Tag auferstehen würde. Wenn er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht auferstanden wäre, dann hätte er sich entweder geirrt oder er wäre ein Betrüger. In jedem Fall wäre er nicht vertrauenswürdig. Zweitens gäbe es ohne die Auferstehung Christi keine Erlösung. Wenn der Herr Jesus nicht aus den Toten auferstanden wäre, dann gäbe es keine Möglichkeit festzustellen, ob der Tod Jesu einen anderen Stellenwert gehabt hat als der Tod anderer Menschen. Doch durch seine Auferstehung aus den Toten bezeugte Gott die Tatsache, dass er mit dem Erlösungswerk Christi vollkommen zufriedengestellt war.
Offensichtlich wäre auch der »Glaube … inhaltslos«, wenn die apostolische Botschaft falsch wäre. Es wäre nutzlos, einer solchen Botschaft zu glauben, die falsch oder inhaltslos ist.
15,15 Es ginge nicht nur darum, dass die Apostel eine falsche Botschaft predigen würden, es würde sogar bedeuten, dass sie »gegen Gott« Zeugnis ablegen würden. Sie bezeugten »gegen Gott, … dass er Christus« aus den Toten »auferweckt« habe. Wenn Gott das nicht getan hätte, dann wären die Apostel »falsche Zeugen«.
15,16 Wenn die Auferstehung unmöglich wäre, dann könnte es keinerlei Ausnahme geben. Wenn andererseits die Auferstehung nur einmal stattgefunden hat, z. B. im Falle Christi, dann kann sie nicht länger für unmöglich gehalten werden.
15,17 »Wenn aber Christus nicht auferweckt« worden ist, dann ist der »Glaube« der Heiligen »nichtig« und hat keinerlei Macht. Und es gibt auch keine Vergebung der »Sünden«. Wenn wir die Auferstehung ablehnen, dann verwerfen wir gleichzeitig den Wert des Werkes Christi.
15,18 Für diejenigen, die im Glauben an »Christus« gestorben sind, wäre die Lage ebenfalls hoffnungslos. Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann wäre ihr Glaube völlig wertlos. Der Ausdruck »entschlafen« bezieht sich auf die Leiber der Gläubigen. Das Wort »Schlaf« wird im NT nie im Zusammenhang mit der Seele benutzt. Die Seele des Gläubigen verlässt bei Eintritt des Todes den Leib, um bei Christus zu sein, während der Leib im Grab schläft. Wir sollten auch etwas über das Wort »verlorengegangen« sagen. Dieses Wort bedeutet niemals Vernichtung oder Aufhören der Existenz. Vine hat darauf hingewiesen, dass es nicht um den Verlust des Lebens (im Sinne von Auslöschung), sondern um den Verlust des Wohlergehens geht. Es zeugt davon, dass die Zielsetzung, wofür ein Mensch oder ein Sachverhalt erschaffen worden ist, verfehlt wird.
15,19 Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann sind die noch lebenden Gläubigen in einem ebenso bedauernswerten Zustand wie diejenigen, die gestorbenen sind. Auch sie sind dann betrogen worden. Sie »sind die elendesten von allen Menschen«. Paulus denkt hier zweifellos an die Leiden, Versuchungen und Verfolgungen, denen Christen ausgesetzt sind. Wenn man solche Leiden für ein falsches Ziel erträgt, so ist das wirklich furchtbar.
15,20 Die Spannung wird gelöst, indem Paulus triumphierend die Tatsache der Auferstehung Christi und ihre wunderbaren Folgen verkündigt. »Nun aber ist Christus aus den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen.« Es gibt in der Schrift eine Unterscheidung zwischen der Auferstehung der Toten und der Auferstehung aus den Toten. In den vorhergehenden Versen ging es um die Auferstehung der Toten. Mit anderen Worten, Paulus hat ganz allgemein erörtert, ob die Toten wirklich auferstehen können. Doch Christus ist »aus« den Toten auferweckt worden. Das bedeutet, dass er bei seiner Auferstehung allein auferstanden ist, und nicht alle Toten. In diesem Sinne war es nur eine begrenzte Auferstehung. Jede Auferstehung ist eine Auferstehung der Toten, doch nur bei Christus und den Gläubigen geht es um eine Auferstehung aus den Toten.
15,21 Es war der Mensch, der ursprünglich den »Tod« in die Welt brachte. Dieser »Mensch« war Adam. Durch seine Sünde gelangte der Tod zu allen Menschen. Gott sandte seinen Sohn als »Mensch« in die Welt, damit er das Werk des ersten Menschen ungeschehen machen und die Gläubigen in einen Zustand der Glückseligkeit bringen konnte, der für Adam niemals erreichbar gewesen wäre. Deshalb kam »die Auferstehung der Toten« »auch durch« den »einen Menschen« Jesus Christus.
15,22 »Adam« und »Christus« werden als Oberhäupter dargestellt. Als solche handelten sie stellvertretend für andere Menschen, und alle, die mit ihnen verbunden sind, werden von ihren Handlungen betroffen. »Alle«, die von »Adam« abstammen, »sterben«. Auf diese Weise »werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden«. Dieser Vers ist manchmal als Beweis für die Lehre einer allgemeinen Erlösung herangezogen worden. Man argumentierte, dass dieselben, die in Adam sterben, in Christus lebendig gemacht werden und dereinst erlöst werden. Doch das ist nicht die Aussage dieses Verses. Die Schlüsselwörter sind »in Adam« und »in Christus«. »Alle«, die »in Adam« sind, »sterben«. Alle, die »in Christus« sind, werden »lebendig gemacht«,  d. h.  nur  an  den  Herrn  Jesus Christus Gläubige werden aus den Toten auferweckt, um mit ihm in Ewigkeit Gemeinschaft zu haben. Mit dem hier befindlichen Ausdruck (»alle«, die »lebendig gemacht werden«) werden in Vers 23 diejenigen definiert, die bei Christi Wiederkunft ihm gehören. Er umfasst nicht die Feinde Christi, denn sie werden »unter seine Füße gelegt« werden (V. 25). Wären sie darin eingeschlossen, wäre dies, wie jemand einmal gesagt hat, eine seltsame Beschreibung des Himmels.
15,23 Als Nächstes werden die Gruppen oder Klassen von Menschen bezeichnet, die an der ersten Auferstehung teilhaben werden. Als Erstes steht die Auferstehung Christi selbst. Von ihm wird hier als »Erstling« gesprochen. Die Erstlinge waren eine Handvoll reifen Korns vom Erntefeld, das dargebracht wurde, ehe die eigentliche Ernte begann. Sie waren ein Unterpfand, eine Garantie, ein Vorgeschmack dessen, was noch folgen sollte. Der Ausdruck bedeutet nicht notwendigerweise, dass Christus der Erste war, der auferstand. Wir haben Auferstehungen im AT, außerdem die Fälle des Lazarus, des Sohnes der Witwe und der Tochter des Jairus im NT. Aber die Auferstehung Christi war von allen diesen Auferstehungen verschieden, weil jene wieder sterben mussten, Christus jedoch auferstand, um den Tod nicht mehr zu sehen. Er erstand und lebt fortan in der Kraft eines unauflöslichen Lebens. Er erstand mit einem verherrlichten Leib. Die zweite Gruppe der ersten Auferstehung wird beschrieben als »die, welche Christus gehören bei seiner Ankunft«. Das umfasst diejenigen, die zur Zeit der Entrückung auferweckt werden, und auch diejenigen, die während der Trübsal sterben und am Ende dieser Drangsalszeit auferweckt werden, wenn Christus zurückkommt, um zu herrschen. Ebenso wie es Phasen des Kommens Christi gibt, so wird es Phasen der Auferweckung der Heiligen geben. Die erste Auferstehung wird nicht alle umfassen, die je gestorben sind, sondern nur diejenigen, die im Glauben an Christus starben. Einige lehren, dass nur diejenigen Christen, die Christus treu geblieben sind, oder diejenigen, die Überwinder waren, zu diesem Zeitpunkt auferweckt werden. Die Schrift ist in dieser Hinsicht jedoch eindeutig und lehnt eine solche Vorstellung ab. Alle, »welche Christus gehören«, werden bei seiner Wiederkunft auferweckt werden.
15,24 Der Ausdruck »dann das Ende« bezieht sich, wie wir glauben, auf »das Ende« der Auferstehung. Gegen Ende der tausendjährigen Herrschaft Christi, wenn er alle seine Feinde besiegt haben wird, wird die Auferstehung der gottlos Abgeschiedenen sein. Das ist die letzte Auferstehung, die stattfinden wird. Alle, die im Unglauben gestorben sind, werden zum Gericht vor dem großen weißen Thron stehen, um ihr Verdammungsurteil zu hören.
Nach dem Tausendjährigen Reich und der Vernichtung Satans (Offb 20,710) wird der Herr Jesus »das Reich dem Gott und Vater« übergeben. Zu dieser Zeit wird er »alle Herrschaft und alle Gewalt und Macht« besiegt haben. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Jesus Christus als Menschensohn geherrscht und als Gottes Mittler gedient. Gegen Ende seiner tausendjährigen Herrschaft werden die Pläne Gottes für die Erde vollkommen erfüllt sein. Aller Widerstand wird beseitigt und alle Feinde werden vernichtet sein. Die Herrschaft Christi als Menschensohn wird dann dem ewigen Reich der Himmel weichen. Seine Herrschaft als Sohn Gottes wird jedoch ewig weiter bestehen.
15,25 Vers 25 betont das eben Gesagte, nämlich die Tatsache, dass Christi Herrschaft so lange bestehen wird, bis jede Spur von Rebellion und Feindschaft beseitigt worden ist.
15,26 Auch während der tausendjährigen Herrschaft Christi werden Menschen noch sterben, besonders diejenigen, die sich offen gegen den Herrn erheben. Doch bei dem Gericht am großen weißen Thron werden der »Tod« und der Hades in den Feuersee geworfen werden.
15,27 Gott hat bestimmt, dass »alles« den »Füßen« des Herrn Jesus Christus »unterworfen« wird. Natürlich nimmt Gott sich selbst dabei aus. Vers 27 ist ziemlich schwer zu verstehen, weil es nicht so einfach ist festzustellen, auf wen sich das jeweilige Pronomen bezieht. Wir könnten hier wie folgt umschreiben: »Denn Gott hat alles Christus unterworfen. Doch wenn Gott sagt, alles ist Christus unterworfen, dann ist es offensichtlich, dass Gott selbst davon ausgeschlossen ist, der alles Christus unterworfen hat.«
15,28 Auch wenn »alles« Christus unterworfen worden ist, wird er selbst Gott immer noch »unterworfen sein«. Gott hat Christus zum Herrscher und Verwalter all seiner Pläne und Ratschlüsse gemacht. Alle Autorität und Macht ist in seine Hände gelegt. Es gibt einen Zeitpunkt, an dem er für seine Verwaltung Rechen schaft ablegen wird. Nachdem ihm alles unterworfen ist, wird er das Reich dem Vater zurückgeben. Die Schöpfung wird Gott in vollkommenem Zustand zurückgegeben werden. Nachdem er das Werk der Erlösung und Wieder herstellung vollendet hat, hinsichtlich dessen er Mensch wurde, wird er den untergeordneten Platz wiedereinnehmen, den er bei der Menschwerdung einnahm. Wenn er kein Mensch mehr wäre, nachdem er alle gött lichen Pläne und Absichten ausgeführt hat, würde das Band, das Gott und Mensch zusammengebracht hat, nicht mehr existieren (ohne Quellenangabe).
15,29 Vers 29 ist vielleicht einer der schwierigsten in der ganzen Bibel. Es gibt viele Erklärungen zu seiner Bedeutung. So besteht eine Auffassung etwa darin, dass man lebende Gläubige für die Gestorbenen taufen kann, die ohne Taufe gestorben sind. Doch solch eine Bedeutung ist der Bibel fremd. Solch eine Lehre würde auf einem einzigen Vers beruhen und ist abzulehnen, weil sie keinen allgemeinen Rückhalt durch andere Stellen hat. Nach Ansicht anderer Ausleger bedeutet die sogenannte Taufe für die Toten, dass wir uns durch die Taufe als gestorben betrachten. Das ist eine mögliche Bedeutung, doch passt sie nicht recht in den Zusammenhang.
Die Auslegung, die anscheinend am besten in den Zusammenhang passt, ist folgende: Zu der Zeit, als Paulus schrieb, wurden Menschen, die sich öffentlich zu Christus bekannten, hart verfolgt. Diese Verfolgung war zur Zeit ihrer Taufe am schlimmsten. Es geschah oft, dass diejenigen, die ihren Glauben an Christus mit der Wassertaufe bekannten, schon kurz danach ermordet wurden. Doch hielt dies andere davon ab, sich retten und taufen zu lassen? Keinesfalls. Es war wohl so, dass es immer wieder neue Bekehrte gab, welche die Lücken füllten, die die Märtyrer hinterließen. Als diese neuen Bekehrten nun getauft wurden, wurden sie im wahrsten Sinne des Wortes »für die Toten« oder anstelle (gr. hyper) der Toten getauft. Deshalb bezieht sich »die Toten« hier auf diejenigen, die als Blutzeugen für Christus gestorben waren. Nun argumentiert der Apostel hier, dass es töricht sei, sich taufen zu lassen, um die Reihen wieder zu schließen, wenn es so etwas wie eine Auferstehung aus den Toten nicht gäbe. Es wäre, als ob man einer Truppe, deren Lage aussichtslos ist, noch Nachschub schicken wollte. Es wäre wie ein hoffnungsloser Kampf. »Wenn überhaupt Tote nicht auferweckt werden, warum lassen sie sich denn für sie taufen?«
15,30 »Warum sind auch wir jede Stunde in Gefahr?« Der Apostel war ständig Gefahren ausgesetzt. Weil er Christus so furchtlos predigte, machte er sich Feinde, wo immer er hinkam. Geheime Pläne wurden gegen ihn ausgebrütet, um ihm das Leben zu nehmen. Er hätte all das vermeiden können, wenn er sein Zeugnis für Christus aufgegeben hätte. Es wäre sogar weiser für ihn gewesen, so zu handeln, wenn es keine Auferstehung aus den Toten gäbe.
15,31 »Täglich sterbe ich, so wahr ihr mein Ruhm seid, Brüder, den ich in Christus Jesus, unserem Herrn, habe.« Diesen Vers könnte man folgendermaßen umschreiben: »So sicher, wie ich mich über euch als meine Kinder in Christus Jesus freue, so sicher bin ich auch jeden Tag meines Lebens dem Tod ausgesetzt.«
15,32 Der Apostel ruft sich nun die schlimme Verfolgung ins Gedächtnis zurück, die er »zu Ephesus« erleiden musste. Wir glauben nicht, dass er wirklich in einer Arena den wilden Tieren vorgeworfen wurde, sondern sind der Meinung, dass er hier eher böse Menschen als »wilde Tiere« bezeichnet. Denn als römischer Bürger konnte Paulus nicht gezwungen werden, mit wilden Tieren zu kämpfen. Wir wissen nicht, auf welchen Vorfall er hier anspielt. Jedenfalls ist die Argumentation eindeutig, dass nämlich der Apostel töricht gewesen wäre, sich auf solch einen gefährlichen Kampf einzulassen, wenn er nicht von der Auferstehung aus den Toten überzeugt gewesen wäre. Es wäre für ihn sonst wesentlich weiser gewesen, nach der Philosophie zu leben: »Lasst uns essen und trinken, denn morgen sterben wir!«
Wir hören manchmal Christen sagen, dass sie auch gläubig sein könnten, wenn dieses Leben alles wäre. Doch Paulus ist mit einer solchen Vorstellung nicht einverstanden. Wenn es keine Auferstehung gäbe, dann sollten wir wirklich das Beste aus diesem Leben machen. Wir würden für Essen, Kleidung und Vergnügen leben. Das wäre der einzige Himmel, auf den wir uns freuen könnten. Doch weil es eine Auferstehung gibt, wagen wir es nicht, unser Leben mit solchen Angelegenheiten zu vertrödeln, die doch nur vorübergehend wichtig sind. Wir müssen für das Zukünftige, nicht für das Jetzt leben.
15,33 Die Korinther sollten sich in dieser Hinsicht nicht irren: »Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten.« Paulus bezieht sich auf die falschen Lehrer, die in die Gemeinde in Korinth gekommen waren und die Auferstehung leugneten. Die Christen sollten erkennen, dass es unmöglich ist, sich mit »schlechten« Menschen zusammenzutun, ohne von ihnen verdorben zu werden. Verderbliche Lehren haben auf jeden Fall Einfluss auf das Leben eines Menschen. Falsche Lehren führen nicht zur Heiligung.
15,34 Die Korinther sollten »rechtschaffen« und »nüchtern« werden, statt zu sündigen. Sie sollten sich von diesen verderblichen Lehren nicht einfangen lassen. »Manche sind in Unwissenheit über Gott; zur Beschämung sage ich es euch.« Dieser Vers wird allgemein so ausgelegt, dass es immer noch Männer und Frauen gibt, die noch nie das Evangelium gehört haben, und sich die Christen ihrer Unfähigkeit schämen sollten, die Welt zu evangelisieren. Das mag wohl stimmen, doch wir sind der Ansicht, dass es gemäß der Hauptbedeutung dieses Abschnitts in der Gemeinschaft in Korinth Menschen gab, die »in Unwissenheit über Gott« waren. Sie waren keine echten Gläubigen, sondern Wölfe im Schafspelz, Irrlehrer, die unbeachtet hatten eindringen können. Es war eine Schande für die Korinther, dass es diesen Männern erlaubt war, ihren Platz unter den Christen einzunehmen und diese schlimmen Lehren zu verbreiten. Aufgrund dieser Achtlosigkeit kamen gottlose Leute in die Gemeinde. Dies führte dazu, dass man die moralischen Maßstäbe in der Gemeinde herabsetzte und so ein Eingangstor für alle möglichen Irrtümer geschaffen wurde. B. Überlegungen zu Einwänden gegen die Auferstehung (15,35-57)
15,35 In den Versen 35-49 beschäftigt sich der Apostel genauer mit den Vorgängen bei der Auferstehung. Er sieht zwei Fragen voraus, die sich unausweichlich bei denen ergeben würden, die die Tatsache einer leiblichen Auferstehung infrage stellten. Die erste lautet: »Wie werden die Toten auferweckt?«, und die zweite: »Und mit was für einem Leib kommen sie?«
15,36 Die erste Frage wird in Vers 36 beantwortet. Ein viel verwendetes Bild aus der Natur wird hier benutzt, um zu zeigen, dass die Auferstehung möglich ist. Ein Samenkorn muss in die Erde fallen und sterben, ehe eine Pflanze daraus werden kann. Es ist wirklich wunderbar, dass das Geheimnis des Lebens in jedem noch so kleinen Samenkorn verborgen ist. Wir können das Samenkorn zerschneiden und es unter dem Mikroskop anschauen, doch das Gesetz des Lebens bleibt ein unergründbares Geheimnis. Wir wissen nur, dass das Samenkorn in die Erde fällt und aus diesem unscheinbaren Ursprung Leben aus dem Tod entsteht.
15,37 Als Nächstes wird die zweite Frage aufgenommen. Paulus erklärt, dass du, wenn du Samen »säst, nicht den Leib« säst, der daraus entstehen soll. Vielmehr säst du »ein nacktes Korn, es sei von Weizen oder von einem der anderen Samenkörner«. Was schließen wir daraus? Ist die Pflanze dasselbe wie der Same? Nein, die Pflanze ist nicht dasselbe, und doch besteht eine sehr wichtige Beziehung zwischen beiden. Ohne Samen gäbe es keine Pflanze. Auch erhält die Pflanze ihre Eigenschaften vom Samenkorn. Das Gleiche gilt nun für die Auferstehung. Der Auferstehungsleib gleicht von der Art her dem Gesäten und bewahrt den Fortbestand der körperlichen Wesensmerkmale. Er ist jedoch von Verderben, Unehre sowie Schwäche gereinigt und unverweslich, herrlich, machtvoll und geistlich gemacht worden. Es ist derselbe Leib, aber er wird in einer Form gesät und in einer anderen auferweckt (ohne Quellenangabe).
15,38 »Gott« schafft »einen Leib«, der dem gesäten Samen entspricht, wobei jeder »Same« eine andere Pflanze hervorbringt. Alle Faktoren, die die Größe, die Farbe, die Blätter und die Blüte der Pflanze bestimmen, sind auf irgendeine Weise in dem Samenkorn enthalten, das gesät wird.
15,39 Um die Tatsache zu veranschaulichen, dass die Herrlichkeit des Auferstehungsleibes anders sein wird als die Herrlichkeit unseres gegenwärtigen Körpers, weist der Apostel Paulus darauf hin, dass »nicht alles Fleisch … dasselbe Fleisch« ist. Es gibt z. B. das Fleisch »der Menschen … des Viehes, … der Vögel und … der Fische«. Diese sind alle unterschiedlich, obwohl es sich immer um Fleisch handelt. Sie sind ähnlich, ohne genau gleich zu sein.
15,40 Und so wie es einen Unterschied zwischen dem »Glanz« (ER) der Himmelskörper«  (Ei),  d. h.  der  Sterne  usw., und den »irdischen« Leibern gibt, so besteht ein Unterschied zwischen dem jetzigen Leib des Gläubigen und dem, den er nach seinem Tod erhalten wird.
15,41 Auch unter den himmlischen Leibern gibt es unterschiedlichen »Glanz«. So ist etwa die »Sonne« heller als der »Mond«, und »es unterscheidet sich Stern von Stern an Glanz«. Nach einhelliger Ansicht der meisten Exegeten geht es Paulus hier noch immer darum, dass die Herrlichkeit des Auferstehungsleibes eine andere ist als die Herrlichkeit des irdischen Leibes, den wir jetzt haben. Ihrer Meinung nach weist Vers 41 z. B. nicht darauf hin, dass es im Himmel für die Gläubigen unterschiedliche Grade an Herrlichkeit geben wird. Doch wir neigen dazu, Holsten recht zu geben. Er meint: »Die Art, in der Paulus die Unterschiedlichkeit der himmlischen Leiber betont, stützt die Annahme, dass es einen ähnlichen Unterschied bezüglich der Herrlichkeit bei den Auferstandenen geben wird.« Es geht aus anderen Schriftabschnitten hervor, dass wir im Himmel nicht alle gleich sein werden. Obwohl wir alle in moralischer Hinsicht dem Herrn Jesus gleich (d. h. frei von der Sünde) sein werden, folgt daraus nicht, dass wir alle leiblich wie der Herr Jesus aussehen werden. Er wird in alle Ewigkeit eindeutig als der Herr erkennbar bleiben. Genauso glauben wir, dass jeder einzelne Christ eine eigenständige Persönlichkeit bleiben wird, die als solche erkennbar ist. Doch es wird auch Unterschiede in der Belohnung geben, die wir am Richterstuhl Christi erhalten, und zwar entsprechend unserer Treue im Dienst. Während wir im Himmel alle überaus glücklich sein werden, werden sich einige mehr über den Himmel freuen können. Es wird ja auch Unterschiede im Leiden in der Hölle geben wird – je nach den Sünden, die jemand begangen hat. Dementsprechend wird es Unterschiede im Blick darauf geben, wie wir uns über den Himmel freuen können, und zwar entsprechend unserer Werke als Gläubige.
15,42 Die Verse 42-49 zeigen den Gegensatz zwischen der gegenwärtigen Beschaffenheit des Leibes eines Gläubigen und seinem ewigen Zustand. Der Leib »wird gesät in Verweslichkeit«, er »wird auferweckt in Unverweslichkeit«. Gegenwärtig sind unsere Leiber dem Verfall und dem Tod preisgegeben. Wenn sie ins Grab gelegt werden, werden sie sich auflösen und zu Staub werden. Doch das wird mit dem Auferstehungsleib nicht passieren. Er wird nicht der Krankheit und der Vergänglichkeit unterliegen.
15,43 Der gegenwärtige Leib »wird gesät in Unehre«. Es gibt nichts Majestätisches oder Herrliches an einer Leiche. Doch derselbe Leib »wird auferweckt in Herrlichkeit«. Er wird keine Falten, keine Narben, keine Kennzeichen des Alters, kein Übergewicht und keine Spuren der Sünde mehr tragen.
»Es wird gesät in Schwachheit, es wird auferweckt in Kraft.« Wenn wir alt werden, dann wird die »Schwachheit« immer größer, bis der Tod selbst dem Menschen alle Kraft nimmt. In der Ewigkeit wird der Leib diesen betrüblichen Beschränkungen nicht unterworfen sein, sondern wird Fähigkeiten haben, die er jetzt nicht hat. So konnte der Herr Jesus Christus  z. B.  nach  seiner  Auferstehung einen Raum betreten, dessen Türen verschlossen waren.
15,44 »Es wird gesät ein natürlicher Leib, es wird auferweckt ein geistlicher Leib.« Hier müssen wir sehr sorgfältig betonen, dass »geistlich« hier nicht immateriell bedeutet. Einige Menschen haben die Vorstellung, dass sie nach der Auferstehung entleibte Geister wären. Das ist jedoch weder in diesem Abschnitt gemeint, noch entspricht es sonst der Wahrheit. Wir wissen, dass der Auferstehungsleib des Herrn Jesus aus Fleisch und Bein bestand, weil er sagte: »Ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr seht, dass ich habe« (Lk 24,39). Der Unterschied zwischen einem »natürlichen Leib« und einem »geistlichen Leib« besteht darin, dass der erstere für das Leben hier auf Erden bereitet ist, während der zweite für das Leben im Himmel bestimmt ist. Der erstere Leib wird normalerweise von den seelischen Regungen beherrscht, während der letztere vom Geist regiert wird. Ein »geistlicher Leib« ist ein Körper, der dem Geist wirklich untertan ist. Gott hat den Menschen als Geist, Seele und Leib erschaffen. Er erwähnt immer den Geist zuerst, weil es seine Absicht war, dass der Geist den Vorrang und die Herrschaft haben sollte. Als die Sünde in die Welt kam, geschah etwas Seltsames. Gottes Ordnung scheint umgekehrt worden zu sein, und das Ergebnis ist, dass der Mensch immer sagt: »Leib, Seele und Geist«. Er hat dem Leib den Platz eingeräumt, der eigentlich dem Geist gebührt. In der Auferstehung wird das nicht mehr so sein: Der Geist wird dann den Herrschaftsplatz einnehmen, den Gott für ihn ursprünglich vorgesehen hatte.
15,45 »So steht auch geschrieben: Der erste Mensch, Adam, wurde zu einer lebendigen Seele, der letzte Adam zu einem lebendig machenden Geist.« Hier wird wieder »der erste Mensch« (»Adam«) mit dem Herrn Jesus Christus verg lichen. Gott hauchte Adam den Odem des Lebens ein, sodass dieser ein lebend iges Wesen wurde (1. Mose 2,7). Alle, die von ihm abstammen, haben seine Eigenschaften. »Der letzte Adam«, unser Heiland, wurde »zu einem lebendig machenden Geist« (Joh 5,21.26). Der Unterschied ist, dass im ersten Fall Adam das Leben gegeben wurde, während im zweiten Fall Christus anderen das ewige Leben gibt. Erdman erklärt:
Als Nachkommen Adams sind wir ihm ähnlich, lebendige Seelen, die in einem sterblichen Leib wohnen, und das Bild unserer irdischen Eltern tragen. Doch als Nachfolger Christi werden wir einmal mit unsterblichen Leibern bekleidet werden und das Bild unseres himmlischen Herrn tragen.54
15,46 Der Apostel erklärt nun ein grundlegendes Gesetz in Gottes Universum, nämlich, dass »das Geistliche … nicht zuerst« ist, »sondern« zuerst »das Natürliche, danach das Geistliche«. Das kann man auf verschiedene Weise verstehen. Adam, der »natürliche« Mensch, war in der menschlichen Geschichte der Erste, danach kam Jesus, der »geistliche« Mensch. Zweitens werden wir als »natürliche« Menschen in die Welt hineingeboren, und wenn wir dann wiedergeboren werden, werden wir zu »geistlichen« Wesen. Schließlich erhalten wir zuerst unsere »natürlichen« Leiber und erst später unsere »geistlichen«.
15,47 »Der erste Mensch ist von der Erde, irdisch.« Das bedeutet, dass sein Ursprung auf der »Erde« ist und er »irdische« Eigenschaften hat. Er wurde ursprünglich aus dem Staub der Erde geschaffen. Wer sagt, dass sein Leben erdgebunden ist, kommt der Wirklichkeit offenbar sehr nahe. »Der andere Mensch ist der Herr55 vom Himmel« (LU 1912).
15,48 Von den zwei Menschen, die in Vers 45 erwähnt wurden, war Jesus der zweite. Er existierte zwar schon vor aller Ewigkeit, doch als Mensch kam er nach Adam. Er kam vom Himmel, und alles, was er tat und sagte, war »himmlischen« und geistlichen Ursprungs, nicht irdischer oder seelischer Art. So wie es mit diesen beiden Oberhäuptern ist, ist es auch mit denen, die ihr Wesen übernommen haben. Diejenigen, die von Adam geboren sind, erben seine Eigenschaften. Und auch diejenigen, die aus Christus geboren sind, sind »Himmlische«.
15,49 »Wie wir« die Eigenschaften Adams durch unsere leibliche Geburt »getragen haben, so werden56 wir auch das Bild« Christi an unseren Auferstehungsleibern »tragen«.
15,50 Nun wendet sich der Apostel dem Thema der Verwandlung zu, die in allen Leibern der Gläubigen zur Zeit der Wiederkunft Christi stattfinden wird, und zwar sowohl bei den Lebenden als auch bei den Toten. Er leitet seine Erklärungen mit der Aussage ein, »dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht erben können«. Damit meint er, dass unser gegenwärtiger Leib nicht für das »Reich Gottes«  in  seiner  ewigen  Form,  d. h.  für unsere himmlische Heimat, geeignet ist. Es gilt auch, dass »die Verweslichkeit nicht die Unverweslichkeit« erben kann. Mit anderen Worten, unsere gegenwärtigen Leiber, die der Krankheit, dem Verfall und der Endlichkeit unterworfen sind, sind nicht für ein Leben in einem Zustand geeignet, wo es keine Vergänglichkeit gibt. Daraus ergibt sich das Problem, wie dann die Leiber der lebenden Gläubigen für das Leben im Himmel geeignet sein können.
15,51 Die Antwort wird uns in Form eines »Geheimnisses« gegeben. Wie schon weiter oben gesagt, ist ein »Geheimnis« eine Wahrheit, die bisher unbekannt war, aber jetzt von Gott den Aposteln offenbart wird und durch sie auch uns bekannt gemacht wird. »Wir werden nicht alle entschlafen«, d. h. nicht alle Gläubigen werden sterben. Einige werden noch leben, wenn der Herr wiederkommt. Doch ob sie nun gestorben sind oder noch leben: »Wir werden aber alle verwandelt werden.« Die Wahrheit der Auferstehung als solche ist kein Geheimnis, denn sie kommt schon im AT vor. Die Tatsache jedoch, dass nicht alle sterben und auch die lebenden Gläubigen bei der Wiederkehr des Herr verwandelt werden, ist etwas, das bis dahin nicht bekannt war.
15,52 Die Verwandlung wird sofort geschehen, »in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune«. »Die letzte Posaune« steht hier nicht für das Ende der Welt oder für die letzte, in der Offenbarung erwähnte Posaune. Vielmehr bezieht sie sich auf die »Posaune« Gottes, die erschallen wird, wenn Christus in der Luft für seine Heiligen wiederkommt (1. Thess  4,16).  Wenn  die  »Posaune«  erschallt, dann werden »die Toten … auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden«. Was wird das für ein gewaltiger Augenblick sein, wenn Erde und Meer den Staub aller hergeben werden, die durch die Jahrhunderte hindurch im Glauben an Christus gestorben sind! Es ist für den menschl ichen Geist fast unmöglich, die Großa rtigkeit eines solchen Augenblicks zu begreifen, doch der demütige Gläubige kann diese Wahrheit im Glauben annehmen.
15,53 Wir sind der Ansicht, dass sich Vers 53 auf die beiden Gruppen von Gläubigen bei der Wiederkunft Christi bezieht. »Dieses Verwesliche« bezieht sich auf die Leiber, die wieder zu Staub geworden sind. Sie werden »Unverweslichkeit anziehen«. »Dieses Sterbliche« dagegen bezieht sich auf diejenigen, die noch am Leben, aber doch dem Tod unterworfen sind. Solche Leiber werden »Unsterblichkeit« anziehen.
15,54 »Wenn« die Toten in Christus auferweckt und ihre Leiber mit ihnen verwandelt worden sind, »dann wird das Wort erfüllt werden, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod in Sieg« (Jes 25,8). Wie wunderbar! C. H. Mackintosh ruft aus:
Was sind Tod, Grab und Verwesung angesichts einer solchen Macht? Da sage man noch, dass es eine Schwierigkeit sei, wenn jemand schon vier Tage tot gewesen war und dann auferweckt wurde! Millionen, in Tausenden von Jahren zu Staub geworden, werden in einem Augenblick zu Leben erweckt werden und in Unsterblichkeit sowie ewiger Herrlichkeit leben, weil der Hochgelobte sie gerufen hat.57
15,55 Dieser Vers könnte durchaus ein Spottlied sein, das die Gläubigen singen, wenn sie entrückt werden und dem Herrn in der Luft begegnen. Es ist, als ob sie den »Tod« verspotten, weil er für sie seinen »Stachel« verloren hat. Sie verspotten  auch  die  »Hölle«  (LU 1912),  weil  sie die Schlacht um sie verloren hat, die sie führte, um die Gläubigen für sich zu behalten. Der »Tod« hat seinen Schrecken für die Gläubigen verloren, weil sie wissen, dass ihre Sünden vergeben sind und sie in all der Reinheit des geliebten Sohnes vor Gott stehen.
15,56 Der Tod hätte für niemanden einen »Stachel«, wenn es die »Sünde« nicht gäbe. Es ist das Bewusstsein der nicht bekannten und nicht vergebenen Sünde, das dem Menschen die Angst vor dem Tod einflößt. Wenn wir wissen, dass unsere Sünden vergeben sind, dann können wir dem Tod mutig entgegentreten. Wenn jedoch andererseits die Sünde das Gewissen des Betreffenden noch belastet, dann ist der Tod schrecklich – der Anfang der ewigen Strafe.
»Die Kraft der Sünde« ist »das Gesetz«, d. h. das Gesetz verurteilt den Sünder. Es verkündigt die Verdammnis aller, die Gottes heiligen Anordnungen nicht gehorcht haben. Es ist einmal sehr treffend gesagt worden, dass es ohne Sünde keinen Tod gäbe. Und wenn es kein Gesetz gäbe, gäbe es keine Verdammnis. Der Thron des Todes hat zwei Grundlagen: Die Sünde, die zur Verdammnis führt, und das Gesetz, das das Urteil darüber fällt. Daraus folgt, dass das Werk unseres Retters auf diesen beiden Mächten beruhte.58
15,57 Durch den Glauben an Christus haben wir »den Sieg« über Tod und Grab. Der Tod ist seines Stachels beraubt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass bestimmte Insekten ihren Stachel verlieren, wenn sie jemanden stechen und ihr Stachel in der Haut des Betroffenen stecken bleibt. Sie sterben dann. Man kommt der Wirklichkeit sehr nahe, wenn man davon spricht, dass der Tod sich selbst am Kreuz unseres »Herrn Jesus Christus« zu Tode gestochen hat. Nun ist der Schreckensherrscher seines Schreckens in Bezug auf die Gläubigen beraubt.
C. Abschließende Ermahnung angesichts der Auferstehung (15,58) Angesichts der Sicherheit der Auferstehung und der Tatsache, dass der Glaube an Christus nicht vergeblich ist, ermahnt der Apostel Paulus nun seine »geliebten Brüder, … fest, unerschütterlich, allezeit überströmend in dem Werk des Herrn« zu sein, »da ihr wisst, dass eure Mühe im Herrn nicht vergeblich ist«. Die Wahrheit der Auferstehung verändert alles. Sie gibt Hoffnung und Standfestigkeit und macht uns fähig, angesichts schlimmer und schwieriger Umstände weiterzugehen. V. Letzter Rat und Schlusswort des Paulus (Kap. 16)
A. Über die Sammlung (16,1-4)
16,1 Der erste Vers von Kapitel 16 handelt von einer »Sammlung«, die von der Gemeinde in Korinth durchgeführt werden sollte, damit das Geld zu den bedürftigen »Heiligen« in Jerusalem gesandt werden konnte. Die genaue Ursache der Armut ist nicht bekannt. Einige haben vorgeschlagen, dass es sich um die Folgen der Hungersnot gehandelt hat (Apg 11,28-30). Vielleicht bestand ein anderer Grund darin, dass diejenigen Juden, die ihren Glauben an Christus bekannten, von ihren ungläubigen Verwandten, Freunden und Landsleuten geächtet und boykottiert wurden. Sie verloren zweifellos ihre Arbeit und standen unter starkem wirtschaftlichem Druck, der auf sie ausgeübt wurde, um sie dazu zu zwingen, das Bekenntnis ihres Glaubens an Christus aufzugeben. Paulus hatte schon in den »Gemeinden von Galatien« eine solche Sammlung angeordnet. Nun weist er die Korinther an, in gleicher Weise zu rea gieren, wie die Galater angewiesen waren.
16,2 Obwohl die Anweisungen in Vers 2 für eine besondere Sammlung galten, bleiben doch die hier genannten Prinzipien von bleibendem Wert. Zunächst sollte die Sammlung »an jedem ersten Wochentag« durchgeführt werden. Hier haben wir einen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die ersten Christen den Sabbat oder siebten Tag nicht länger als eine für sie geltende Regel betrachteten. Der Herr war am ersten Tag der Woche auferstanden, und Pfingsten fand ebenfalls am ersten Tag der Woche statt. Die Jünger versammelten sich am ersten Tag der Woche, um das Brot zu brechen (Apg 20,7). Nun sollten sie »an jedem ersten Wochentag« etwas zurücklegen.
Das zweite wichtige Prinzip lautet, dass die Unterweisung über die Sammlung für jeden gelten sollte. Reiche und Arme, Sklaven und Freie sollten sich alle an der Opfersammlung beteiligen, indem sie etwas von ihrem Besitz abgaben. Weiter sollte die Sammlung systematisch geschehen. »An jedem ersten Wochentag« sollte »jeder« von ihnen etwas »bei sich« zurücklegen und ansammeln. Es sollte nicht halbherzig oder nur bei bestimmten Gelegenheiten gespendet werden. Die Gabe sollte von dem anderen Geld getrennt werden und zum besonderen Gebrauch zur Verfügung stehen, ganz wie die Gelegenheit es erforderte. Ihr Geben sollte auch ihrem Einkommen entsprechen, was durch die hier befindlichen Worte (»je nachdem er Gedeihen hat«) angedeutet wird.
»… damit nicht erst dann, wenn ich komme, Sammlungen geschehen.« Der Apostel wollte nicht, dass erst in letzter Minute gesammelt werde. Er erkannte die ernst zu nehmende Möglichkeit, dass man etwas gab, ohne sein Herz und seine Brieftasche genügend vorbereitet zu haben.
16,3 Die Verse 3 und 4 geben uns wertvolle Einblicke in die Sorgfalt, womit man im Blick auf das Geld umgehen soll, das in einer christlichen Gemeinde gesammelt wird. Es ist als Erstes bemerkenswert, dass das Geld nicht einer einzelnen Person anvertraut werden sollte. Noch nicht einmal Paulus sollte es allein empfangen. Zweitens bemerken wir, dass die Anordnungen, wer nun das Geld überbringen sollte, vom Apostel Paulus nicht eigenmächtig getroffen wurden. Diese Entscheidung wurde stattdessen der Ortsgemeinde überlassen. Wenn sie Boten ausgesucht hätten, würde er sie »nach Jerusalem … senden«.
16,4 Falls entschieden werden sollte, dass der Apostel auch nach Jerusalem »hinreisen« sollte, dann würden ihn die Brüder aus der Ortsgemeinde dorthin begleiten. Man beachte, dass er sagt: »Sie sollen mit mir reisen«, statt: »Ich werde mit ihnen reisen.« Vielleicht ist das eine Anspielung auf die apostolische Autorität des Paulus. Einige Exegeten sind der Ansicht, dass die Entscheidung, ob Paulus mitgehen würde, davon abhinge, wie groß die Gabe werden würde. Wir glauben jedoch kaum, dass dieser große Apostel sich von solch einem Prinzip leiten lassen würde.
B. Über seine persönlichen Pläne (16,5-9)
16,5 Paulus bespricht seine persönlichen Pläne in den Versen 5-9. Von Ephesus, dem Abfassungsort seines Briefes, wollte er »Mazedonien durchziehen«. Danach hoffte er, nach Korinth zu kommen.
16,6-8 Vielleicht könnte Paulus bei den Heiligen in Korinth »überwintern« und sie würden ihn dann auf seinem Weg begleiten, »wohin« er dann auch »reisen« würde. Vorläufig würde er sie nicht auf seinem Weg nach Mazedonien besuchen, sondern er wollte später eine Weile bei ihnen bleiben, »wenn der Herr es erlaubt«. Ehe er Mazedonien verlassen würde, erwartete Paulus »bis Pfingsten in Ephesus« zu bleiben. Aus Vers 8 entnehmen wir, dass der Brief in Ephesus geschrieben wurde.
16,9 Paulus erkannte, dass hier die Gelegenheit für ihn bestand, Christus zu dieser Zeit in Ephesus zu dienen. Gleichzeitig erkannte er, dass er dort »viele … Widersacher« hatte. Welch ein unverändertes Bild wird uns hier vom christlichen Dienst vermittelt! Einerseits sind die Felder reif zur Ernte, andererseits gibt es den unermüdlichen Feind, der hindern, spalten und auf jede nur erdenkliche Weise dem entgegenarbeiten will, was der Christ aufbauen möchte!
C. Abschließende Ermahnungen und Grüße (16,10-24)
16,10 Der Apostel fügt nun ein Wort über »Timotheus« hinzu. Wenn dieser hingegebene junge Diener des Herrn nach Korinth kommen würde, dann sollten sie ihn »ohne Furcht« aufnehmen. Vielleicht bedeutet das, dass Timotheus von Natur aus eher schüchtern war und sie nichts tun sollten, was dieser Eigenschaft Vorschub leisten könnte. Möglicherweise ist damit aber auch andererseits gemeint, dass es ihm vergönnt sein sollte, »ohne Furcht« zu ihnen zu kommen. Er sollte nicht befürchten müssen, als Diener des Herrn nicht angenommen zu werden. Das Letztere ist die wahrscheinlichere Bedeutung, wie auch die weiteren Worte des Paulus bestätigen: »… denn er arbeitet am Werk des Herrn wie auch ich.«
16,11 Weil Timotheus im Dienst Christi so treu war, durfte »niemand« ihn »verachten«. Sie sollten sich stattdessen ernsthaft bemühen, »ihn … in Frieden« zu geleiten, damit er rechtzeitig zu Paulus zurückkehren konnte. Der Apostel freute sich auf ein Wiedersehen mit Timotheus und »den Brüdern«.
16,12 »Was aber den Bruder Apollos betrifft«, so hatte Paulus »ihm vielfach zugeredet, … mit den Brüdern« nach Korinth zu reisen. Apollos war nicht der Ansicht, dass dies zu diesem Zeitpunkt dem Willen Gottes entsprach, sondern meinte, dass er nach Korinth reisen würde, »sobald er Gelegenheit« finden würde. Vers 12 ist für uns wertvoll, weil er den liebevollen Geist zeigt, der unter den Dienern des Herrn herrschte. Jemand hat es einmal ein schönes Bild »neidloser Liebe und neidlosen Respekts genannt«. Der Vers zeigt auch die Freiheit, die jeder Diener des Herrn hatte, sich vom Herrn leiten zu lassen, ohne sich von anderen etwas vorschreiben zu lassen. Sogar der Apostel Paulus selbst war nicht berechtigt, Apollos vorzuschreiben, was er tun musste. In diesem Zusammenhang hat Ironside kommentiert: »Ich möchte dieses Kapitel nicht aus meiner Bibel entfernen. Es hilft mir, Gottes Art zu verstehen, wie er seine Diener in ihrem Dienst für ihn leitet.«59
16,13.14 Nun gibt Paulus den Heiligen einige prägnante Ermahnungen mit. Sie sollten ständig »wachen« und »im Glauben« feststehen. Weiterhin sollten sie »mannhaft« oder mutig und »stark« sein. Vielleicht denkt Paulus hier wieder an die Gefahr durch Irrlehrer. Die Heiligen sollten immer aufmerksam sein. Sie sollten keinen Millimeter wertvollen Glaubensterrains aufgeben. Sie sollten immer mit rechtem Mut vorgehen. Und schließlich sollten sie »stark« in dem Herrn sein. Doch in allem, was sie tun, sollten sie »Liebe« zeigen. Das bedeutet, dass ihr Leben in Hingabe an Gott und andere Menschen geführt werden sollte. Es bedeutet, dass sie sich selbst hingeben sollten.
16,15 Als Nächstes folgt eine Ermahnung in Bezug auf »das Haus des Stephanas«. Die lieben, zur dieser Hausgemeinschaft gehörenden Christen waren »der Erstling von Achaja«, d. h. Stephanas war der erste Bekehrte in Achaja. Offensichtlich hatten sich die Angehörigen dieser Familie seit der Zeit ihrer Bekehrung »in den Dienst für die Heiligen gestellt«. Sie standen ganz im Dienst des Herrn. Das »Haus des Stephanas« wurde schon in 1,16 erwähnt. Dort sagt Paulus, dass er dieses Haus getauft hat. Viele haben darauf bestanden, dass das »Haus des Stephanas« auch Kleinkinder umfasste. Damit haben sie versucht, die Kindertaufe zu begründen. Doch es scheint aus diesem Vers deutlich hervorzugehen, dass es in diesem Haus keine kleinen Kinder gab, weil hier ausdrücklich gesagt wird, »dass sie sich in den Dienst für die Heiligen gestellt haben«.
16,16 Der Apostel ermahnt die Christen, sich »solchen« unterzuordnen. Dazu gehört »jeder«, der am Werk des Herrn »mitwirkt und sich abmüht«. Wir erfahren aus der allgemeinen Lehre des NT, dass denjenigen, die sich für den Dienst Christi aussondern, vom Volk Gottes besonders liebevoller Respekt entgegengebracht werden sollte. Wenn dies überall geschehen würde, dann könnte ein Großteil an Spaltungen und Eifersucht verhindert werden.
16,17 »Die Ankunft des Stephanas und Fortunatus und Achaikus« hatte bei Paulus wahre Freude bewirkt. Sie ersetzten dasjenige, was Paulus an Gemeinschaft mit den Korinthern fehlte. Dies könnte bedeuten, dass sie dem Apostel die Freundlichkeit erwiesen haben, die die Korinther ihm nicht hatten zukommen lassen. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass diese Männer möglicherweise ihm die Gemeinschaft boten, die die Korinther nicht mit Paulus haben konnten, weil sie so weit von ihm entfernt waren.
16,18 Sie brachten Paulus Neuigkeiten aus Korinth, bevor sie im Anschluss daran Nachrichten von Paulus wieder mit in ihre Heimatgemeinde nahmen. Und wieder empfiehlt Paulus sie dem liebevollen Respekt ihrer Ortsgemeinde.
16,19 »Die Gemeinden Asiens« bezieht sich auf die Gemeinden in der Provinz Asien (dem heutigen Kleinasien), deren Hauptstadt Ephesus war. Offensichtlich lebten »Aquila und Priszilla« zu dieser Zeit in Ephesus. Sie hatten einmal in Korinth gelebt und waren daher den Gläubigen dort bekannt. »Aquila« war von Beruf Zeltmacher und hatte mit Paulus in diesem Beruf gearbeitet. Der Ausdruck »Gemeinde in ihrem Hause« gibt uns einen Einblick in die Einfachheit des Gemeindelebens zu dieser Zeit. Die Christen versammelten sich in ihren Häusern, um zu beten, Gott anzubeten und Gemeinschaft miteinander zu haben. Dann gingen sie hinaus, um das Evangelium an ihrem Arbeitsplatz, auf dem Markt, im Gefängnis vor Ort und überall dort zu predigen, wo sie hingestellt waren.
16,20 Alle »Brüder« der Gemeinde senden gemeinsam ihre liebevollen Grüße an die Gläubigen in Korinth. Der Apostel ermutigt seine Leser, sich gegenseitig »mit« dem »heiligen Kuss« zu grüßen. Zu dieser Zeit umfasste der »Kuss« eine normale Grußform, auch unter Männern. Mit dieser Wendung (»heiliger Kuss«) ist ein Gruß ohne Unreinheit oder Schande gemeint. In unserer sexbesessenen Gesellschaft, wo es überall Perversion gibt, könnte der Kuss als normaler Gruß zu schweren Versuchungen und moralischem Versagen führen. Aus diesem Grund hat ein herzliches Händeschütteln die Aufgabe des Kusses in den meisten westlichen Ländern übernommen. Normalerweise sollten wir keine kulturellen Überlegungen als Ausrede benutzen, um das Wort der Schrift zu ignorieren. Doch in einem derartigen Fall, wo Gehorsam im wörtlichen Sinne zur Sünde oder sogar zu einer Erscheinungsform des Bösen führen könnte, ist es aufgrund der kulturellen Gegebenheiten vor Ort wohl gerechtfertigt, die Hände zu schütteln, statt einander zu küssen.
16,21 Normalerweise diktierte Paulus seine Briefe einem seiner Mitarbeiter. Doch am Schluss nahm er selbst die Feder zur Hand, um einige Worte in seiner eigenen Handschrift anzufügen und ihnen seinen besonderen »Gruß« zu übermitteln. Das tut er nun hier.
16,22 »Verflucht« ist eine Übersetzung des griechischen Wortes anathema. Wer »den Herrn nicht lieb hat«, der ist schon verurteilt, doch das Urteil wird erst dann vollstreckt, wenn der Herr Jesus Christus wiederkommt. Ein Christ ist jemand, der den Heiland liebt. Er liebt den Herrn Jesus über alles andere in der Welt. Wer Gottes Sohn nicht liebt, der sündigt gegen Gott selbst. Ryle kommentiert: Paulus lässt demjenigen, der Christus nicht liebt, keinen Ausweg. Es gibt kein Schlupfloch der Entschuldigung. Es kann jemandem an Wissen fehlen, und doch wird er gerettet. Er kann feige sein, und er kann von Menschenfurcht überwältigt werden, wie es Petrus geschah. Er kann wie David schlimm sündigen und doch wieder aufstehen. Aber wenn jemand Christus nicht liebt, dann ist er nicht auf dem Weg des Lebens. Der Fluch liegt noch über ihm. Er ist auf dem breiten Weg, der in die Verdammnis führt. »Maranatha« bedeutet »Herr, komme bald!« Es handelt sich hier um einen aramäischen Ausdruck, den die ersten Christen benutzten. Wenn man ihn »maran-atha« trennt, dann bedeutet er: »Unser Herr ist gekommen«, wenn man ihn »marana-tha« trennt, dann bedeutet er: »Herr, komme!« ser Herr ist gekommen«, wenn man ihn
16,23 Die »Gnade« war das Lieblingsthema des Paulus. Er liebte es, mit ihr seine Briefe zu beginnen und zu beenden. Das ist ein sicheres Kennzeichen für seine Verfasserschaft.
16,24 Im gesamten vorliegenden Brief haben wir den Herzschlag dieses hingegebenen Apostels Christi gehört. Wir haben ihm zugehört, als er seine Kinder im Glauben trösten, auferbauen und ermahnen wollte. An seiner »Liebe« konnte kein Zweifel bestehen. Wenn die Korinther diese Schlussworte lesen würden, dann würden sie sich vielleicht schämen, dass sie das Eindringen von Irrlehrern in die Gemeinde zugelassen, die Apostelschaft des Paulus infrage gestellt und sich von ihrer ursprünglichen Liebe zu ihm ab­ gewendet hatten.
1,1 »Paulus« stellt sich zu Beginn seines Briefes als »Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen« vor. Es ist wichtig, dass er schon zu Anfang dieses Thema anspricht, weil es einige in Korinth gab, die infrage stellten, ob Paulus wirklich vom Herrn beauftragt worden war. Seine Antwort lautet, dass er sich diesen Dienst nicht selbst ausgesucht habe und auch nicht von Menschen dazu bestimmt worden sei, sondern von Jesus Christus selbst »durch Gottes Willen« in das Werk des Herrn gesandt wurde. Er wurde auf der Straße nach Damaskus in die Apostelschaft berufen. Das war ein unvergessliches Ereignis in seinem Leben, und es war dieses Bewusstsein eines göttlichen Rufes, das den Apostel während vieler schwerer Stunden aufrecht hielt. Wenn er im Dienst Christi oft über die Maßen beschwert wurde, hätte er wohl aufgeben und heimreisen können, wäre da nicht die Sicherheit gewesen, von Gott berufen zu sein.
Die Tatsache, dass »Timotheus« in Vers 1 genannt wird, bedeutet nicht, dass er an dem Brief mitgeschrieben hat. Damit ist nur gemeint, dass er zu der Zeit der Abfassung des Briefes bei Paulus war. Über diese Tatsache hinaus bestehen große Unsicherheiten bezüglich der Reisen des Timotheus zu dieser Zeit. Der Brief ist an die »Gemeinde Gottes, die in Korinth ist, samt allen Heiligen, die in ganz Achaja sind«, gerichtet. Der Ausdruck »Gemeinde Gottes« bedeutet, dass es sich hier um eine Versammlung von Gläubigen handelte, die »Gott« gehören. Es war keine heidnische Versammlung und auch keine säkulare Zusammenkunft von Menschen, sondern eine Gemeinschaft von wiedergeborenen Christen, die aus der Welt heraus berufen wurden, um dem Herrn zu gehören. Zweifellos erinnerte sich Paulus beim Schreiben dieser Worte daran, wie er zum ersten Mal nach Korinth kam und dort das Evangelium verkündigte. Männer und Frauen, die dem Götzendienst und den Begierden verfallen waren, hatten sich dem Herrn Jesus Christus anvertraut und waren durch seine wunderbare Gnade gerettet worden. Trotz aller Schwierigkeiten, die später in der Gemeinde auftraten, freute sich das Herz des Apostels zweifellos, als er daran dachte, welch eine gewaltige Veränderung im Leben dieser Menschen vorgegangen war, die ihm sehr am Herzen lagen. Der Brief ist nicht nur an die Korinther adressiert, sondern auch an alle »Heiligen, die in ganz Achaja sind«. »Achaja« ist Südgriechenland, während Mazedonien, von dem wir in diesem Brief auch lesen werden, im Norden des Landes liegt.
1,2 »Gnade … und Friede von Gott« lautet der schöne Gruß, den wir normalerweise mit dem Apostel Paulus verbinden. Wenn er versucht, sein größtes Verlangen für das Volk Gottes zu beschreiben, dann wünscht er ihnen nichts Materielles wie Silber oder Gold. Er weiß nur zu gut, wie schnell diese vergehen können. Er wünscht ihnen lieber geistlichen Segen, nämlich »Gnade« und »Friede«. In diesen beiden Worten ist alles Gute enthalten, das ein armer Sünder vom Himmel empfangen kann. Denney sagt: »Gnade ist das erste und das letzte Wort des Evangeliums; und Friede – der Zustand vollkommenen geistlichen Heils – ist das vollbrachte Werk Christi an der Seele des Menschen.«1 Diese Segnungen erhalten wir »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Gott, unser Vater, ist die Quelle, und der Herr Jesus Christus ist der Kanal. Paulus zögert nicht, den »Herrn Jesus Christus« und »Gott« den »Vater« nebeneinanderzustellen, weil Jesus als Person der Dreieinheit mit dem »Vater« stellungsgleich ist. B. Der Dienst des Trostes im Leiden (1,3-11)
1,3 Von Vers 3 bis Vers 11 ist der Apos tel überwältigt vom Dank angesichts des »Trostes«, den er mitten in Verzweiflung und Anfechtung erfahren hat. Zweifellos bestand der »Trost« in der guten Nachricht, die Titus ihm nach Mazedonien gebracht hatte. Der Apostel zeigt dann im Folgenden, dass sich alles zum Guten für die Gläubigen auswirkt, denen er dient – ganz gleich, ob er nun angefochten oder getröstet wird. Der Dank ist an den »Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« gerichtet. Dies ist der volle Titel Gottes im NT. Er wird nun nicht mehr der Gott Abrahams, Isaaks oder Jakobs genannt. Nun ist er »der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus«. Dieser Name steht übrigens für die große Wahrheit, dass Jesus sowohl Gott als auch Mensch ist. Gott ist der Gott »unseres Herrn Jesus Christus« – das bezieht sich auf seine Beziehung zu Jesus, dem Menschensohn. Doch Gott ist auch der Vater »unseres Herrn Jesus Christus« – das bezieht sich auf seine Beziehung zu Christus, dem Sohn Gottes. Weiter wird Gott hier als »der Vater der Erbarmungen und Gott allen Trostes« beschrieben. Von ihm allein empfangen wir alle Barmherzigkeit und allen Trost.
1,4 In all seinen Anfechtungen war sich Paulus doch der tröstenden Gegenwart Gottes bewusst. Hier nennt uns Paulus einen der Gründe, weshalb Gott ihn tröstete. Es geschah, damit er andere mit demselben »Trost, mit dem« er »von Gott getröstet« wurde, »trösten könne«. Für uns bedeutet »Trost« normalerweise Tröstung in Zeiten des Leides. Doch im NT hat das Wort eine weitergehende Bedeutung. Es bedeutet auch Ermutigung und Ermahnung, die wir durch Menschen erhalten, die in Notzeiten bei uns sind. In diesem Vers steckt eine praktische Anwendung für uns alle. Wir sollen uns daran erinnern, dass wir, wenn wir getröstet werden, diesen Trost anderen weitergeben sollen. Wir sollen das Kranken- und Sterbebett nicht meiden, sondern zu denen eilen, die unsere Ermutigung brauchen. Wir werden nicht getröstet, damit wir uns wohlfühlen, sondern um Tröster zu sein.
1,5 Paulus kann deshalb andere trösten, weil die Tröstungen »des Christus« den »Leiden« gleich sind, die man seinetwegen erduldet. Unter »Leiden des Christus« ist auf keinen Fall das Sühneleiden Christi zu verstehen. Das war einzigartig, und daran kann niemand teilhaben. Doch die Christen können und werden leiden, weil sie zum Herrn Jesus gehören. Sie werden geschmäht, abgelehnt, angefeindet, gehasst, verleugnet, verraten usw. Diese werden auch »die Leiden des Christus« genannt, weil er sie erdulden musste, als er auf der Erde war, und sie noch immer erduldet, wenn Glieder seines Leibes sie erfahren. In all unseren Bedrängnissen wird er bedrängt (s. Jes 63,9; Elb). Doch Paulus argumentiert hier, dass es für alle diese Leiden eine reiche Entlohnung gibt, nämlich die Tatsache, dass man entsprechend auch Anteil am »Trost« Christi hat, und dieser »Trost« ist überreich.
1,6 Der Apostel durfte erkennen, dass sowohl aus seinen Bedrängnissen als auch aus seinem Trost Gutes hervorging. Beides wurde durch das Kreuz geheiligt. Wenn er »bedrängt« wurde, dann führte das zu »Trost und Heil« für die Heiligen – nicht zur Erlösung ihrer Seele, sondern zur Stärkung, die sie durch ihre Bedrängnisse hindurchtragen konnte. Sie wurden durch das Ausharren des Paulus ermutigt und herausgefordert. Daraus sollten sie schlussfolgern, dass Gott auch ihnen die Gnade zum Erdulden von Leiden geben könnte, wenn er Paulus diese Gnade zueignete. Als sich Samuel Rutherf ord im »Keller der Not« befand, wie es recht oft geschah, fing er an, sich nach den »besten Weinen« umzus ehen, womit der Herr seinen Kelch füllen würde. Vielleicht lernte er dies durch das Beispiel des Paulus, der wohl immer imstande war, trotz seiner Tränen noch den Regenbogen zu entdecken. Der Trost, den der Apostel empfing, sollte die Korinther mit »Trost« erfüllen und sie zu geduldigem Ausharren anregen, wenn sie durch dieselben Verfolgungen gehen müssten wie er. Nur diejenigen, die durch die tiefsten Erprobungen hindurchgehen mussten, können anderen ein angemessenes Wort sagen, wenn diese berufen sind, dasselbe zu durchleiden. Eine Mutter, die ihr einziges Kind verloren hat, kann einer anderen Mutter, die gerade die gleiche schmerzvolle Erfahrung durchlebt, besser helfen als jeder andere. Oder nehmen wir das treffendste Beispiel: Ein Vater, der (wie der himmlische Vater) seinen einzigen Sohn verloren hat, kann am besten diejenigen trösten, die einen ihrer Lieben verloren haben.
1,7 Der Apostel gibt nun seiner Gewissheit Ausdruck, dass die Korinther nicht nur wussten, was es heißt, für Christus zu leiden, sondern ebenso auch die tröstende Hilfe Christi erfahren würden. »Leiden« kommt für den Christen nie allein. Es geht immer mit dem »Trost« Christi einher. Auch wir können uns dieser Tatsache sicher sein, wie Paulus es war. Hfa übersetzt die Verse 3-7 folgendermaßen:
Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater voller Barmherzigkeit, der Gott, der uns in jeder Not tröstet! In allen Schwierigkeiten ermutigt er uns und steht uns bei, sodass wir auch andere trösten können, die wegen ihres Glaubens zu leiden haben. Wir trösten sie, wie Gott auch uns getröstet hat. Weil wir zu Christus gehören und ihm dienen, müssen wir viel leiden, aber in ebenso reichem Maße erfahren wir auch seine Hilfe. Deshalb kommt es euch zugute, wenn wir leiden; und wenn wir ermutigt werden, dann geschieht auch das zu eurem Besten. Das gibt euch Kraft, die gleichen Leiden wie wir geduldig zu ertragen. Darum sind wir zuversichtlich und haben keine Angst um euch. Denn ihr werdet zwar leiden müssen wie wir, aber ihr werdet auch von Gott getröstet werden.
1,8 Nachdem nun Paulus allgemein über Bedrängnis und Trost gesprochen hat, erwähnt er nun genauer eine Zeit der härtesten Erprobung, die er erst kürzlich durchlitten hat. Er will die Korinther »nicht in Unkenntnis lassen … über« seine »Drangsal«, die ihm in »Asien« begegnete (mit »Asien« ist hier nicht der gleichnamige Kontinent gemeint, sondern eine Provinz im Westen des damaligen Kleinasiens und der heutigen Türkei). Auf welche »Drangsal« bezieht sich der Apostel hier? Vielleicht bezieht sich das auf den gefährlichen Aufruhr in Ephesus (Apg 19,23-41). Einige halten die »Drangsal« für eine tödliche Krankheit, und wieder andere sind der Ansicht, dass Paulus sich auf die enttäuschenden Nachr ichten aus Korinth beziehen könnte. Erf reulicherweise hängt der Wert eines solchen Abschnitts und der daraus zu ziehende geistliche Nutzen nicht davon ab, dass wir die genauen Einzelh eiten kennen.
Die Bedrängnis lastete jedenfalls so schwer auf Paulus, dass es »über« sein Vermögen ging. Seine Kraft zum Ausharren war erschöpft, sodass er »sogar am Leben verzweifelte«.
Phillips hat diesen Text sehr hilfreich umschrieben: »Zu dieser Zeit waren wir völlig überfordert, die Last war mehr, als wir ertragen konnten, und wir sagten uns schon, dass dies das Ende sei.«
1,9 Die Aussichten des Apostels waren so schlimm, dass er das Gefühl hatte, zum »Tode« verurteilt zu sein. Wenn ihn jemand gefragt hätte: »Führt es zum Leben oder zum Tod?«, so hätte er geantwortet: »Zum Tod«. Gott erlaubte es, dass sein Diener in diese Extremsituation geriet, »damit« er »nicht auf« sich »selbst«, »sondern auf Gott« vertrauen sollte, »der die Toten auferweckt«. Der Ausdruck »Gott, der die Toten auferweckt«, ist hier zweifellos gleichbedeutend mit dem Begriff »allmächtiger Gott«. Derjenige, der die Toten auferwecken kann, ist die einzige Hoffnung eines Mannes, der den Tod erwartet, wie es der Apostel zu diesem Zeitpunkt tat.
1,10 Nach der Mehrheit der Handschriften spricht Paulus hier in drei Zeitformen vom Erretten: »errettet hat« (Vergangenheit), »errettet« (Gegenwart) und »erretten wird« (Zukunft; Elb).2 Wenn er an den Aufruhr in Ephesus denkt, dann bezieht sich Paulus darauf, wie der Tumult plötzlich beendet war und er entkommen konnte (Apg 20,1). Der Apostel weiß, dass derselbe Gott, der ihn in der Vergangenheit »errettet hat«, ihn Tag für Tag »erretten« kann und ihn auch weiterhin »erretten wird« bis zu dem großen Tag, an dem er vollständig von allen Anfechtungen und Verfolgungen dieser Welt erlöst sein wird.
1,11 Hier nimmt Paulus großherzig an, dass die korinthischen Christen für ihn gebetet haben, als er diese schlimme Zeit der Erprobung durchleben musste. In Wirklichkeit waren viele Gläubige zu Kritikern des bekannten Apostels geworden, und es war fraglich, ob sie ihn vor dem Thron der Gnade überhaupt noch erwähnt haben. Doch da er nichts Gegenteiliges weiß, nimmt er bereitwillig das Beste an. Der Ausdruck »das uns verliehene Gnadengeschenk … durch viele für uns« bezieht sich auf das Geschenk der Errettung des Paulus, die durch die Gebete von »vielen« bewirkt wurde. Er sieht seine Befreiung als ein direktes Ergebnis dessen, dass die Heiligen für ihn eingetreten sind. Er sagt, weil viele gebetet haben, können nun »viele Personen« danken, weil ihre Gebete erhört worden sind. C. Erklärung der Änderung von Paulus’ Plänen (1,12–2,17)
1,12 Paulus ist der Ansicht, dass er sich auf die Gebete der Gläubigen verlassen kann, weil er immer ehrlich mit ihnen umgegangen ist. Er kann sich seiner Aufrichtigkeit ihnen gegenüber rühmen, und sein Gewissen bezeugt die Tatsache, dass sein Verhalten immer von »Einfalt und Lauterkeit Gottes« gekennzeichnet war. Damit ist eine von Gott kommende Durchschaubarkeit und Offenheit gemeint. Er erniedrigte sich nicht so weit, die »fleischlichen« Methoden der Welt zu übernehmen, sondern handelte vor allen Menschen offen mit der unverdienten Kraft (»Gnade«), die Gott ihm schenkte. Das hätte besonders den Korinthern einleuchten müssen.
1,13 Die Aufrichtigkeit, die sein vergangenes Handeln an den Korinthern kennzeichnet, gilt auch für seinen Brief. Er schreibt genau das, was er auch meint. Es gibt nichts zwischen den Zeilen zu lesen. Die Bedeutung liegt immer einfach und offensichtlich an der Oberfläche. Sie entspricht genau dem, was sie »lesen« oder auch »erkennen«. Dabei hofft er, dass sie fortfahren werden, es auch »bis ans  Ende«  (d. h.  solange  sie  leben)  »erkennen« werden.
1,14 Die Gemeinde in Korinth hatte Paulus »zum Teil« anerkannt, d. h. einige der Gläubigen, aber nicht alle. Die Treuen verstanden diese beiden Tatsachen – dass sie sich »am Tag unseres Herrn Jesus« seiner würden rühmen können und er sich wiederum ihrer rühmen konnte. Der »Tag unseres Herrn Jesus« bezieht sich insbesondere auf den Richterstuhl Christi, wenn der Dienst der Erlösten beurteilt und belohnt werden wird. Wenn Paulus dieses Gericht betrachtet, sieht er unausweichlich die Gesichter derjenigen, die durch seinen Dienst erlöst wurden. Sie werden sein Jubel und seine Freudenkrone sein, und sie wiederum werden sich freuen, dass er Gottes Werkzeug war, sie zu Christus zu führen.
1,15 Der Ausdruck »in diesem Vertrauen« bedeutet, mit dem »Vertrauen«, dass sie sich an ihm als einem wahren Apostel Jesu Christi und als einem fraglos Aufrichtigen freuen würden. Er wollte mit der Sicherheit »zu« ihnen »kommen«, dass sie ihm vertrauten, ihn schätzten und liebten. Er hatte beabsichtigt, »vorher« zu ihnen zu »kommen«, ehe er nach Mazedonien reiste, und dann noch einmal bei der Rückkehr aus Mazedonien. Sie hätten so »eine zweite Gnade« in dem Sinne erhalten, dass sie zweimal statt einmal besucht worden wären.
1,16 Die »zweite Gnade« wird in Vers 16 weiter erklärt. Wie schon erwähnt, war es bei der Abreise aus Ephesus Paulus’ Plan gewesen, nach Achaja überzusetzen, wo Korinth liegt. Dann erst wollte er nordwärts nach »Mazedonien« reisen. Nachdem er dort gepredigt hätte, wollte er wieder Richtung Süden nach Korinth zurückkehren. Er hoffte, dass die Korinther ihm dann auf seinem Weg »nach Judäa« helfen würden – durch ihre Gebete und ihre Gastfreundschaft, jedoch nicht durch ihr Geld, weil er später mit Bestimmtheit erklärt, dass er von ihnen keine Spenden annehmen werde (11,7-10).
1,17 Der ursprüngliche Plan des Paulus wurde nie verwirklicht. Er reiste von Ephesus nach Troas, und als er Titus dort nicht fand, reiste er direkt weiter nach Mazedonien, indem er Korinth aus seinen Reiseplänen strich. Deshalb fragt er hier: »Habe ich nun, indem ich mir dieses vornahm, etwa leichtfertig gehandelt?« Das behaupteten wahrscheinlich seine Gegner. »Dieser unbeständige, wetterwendische Paulus! Er sagt etwas, tut aber das Gegenteil! Wie kann ein solcher Mann ein echter Apostel sein?« Der Apostel fragt nun die Korinther offen, ob er unzuverlässig sei. Wenn er plant, handelt er dann etwa nach fleischlichen Motiven mit dem Ergebnis, dass es einmal »Ja« und das nächste Mal »Nein« heißt? Lässt er sich nur durch die Aussicht auf Bequemlichkeit und Nützlichkeit leiten? Man könnte hier sehr gut so umschreiben: »Weil wir unsere Pläne ändern mussten, heißt das, dass wir unzuverlässig sind? Denkt ihr, dass ich mit Hintergedanken plane und ›Ja‹ sage, aber ›Nein‹ meine?«
1,18 Paulus geht nun von seinem »Wort« über seine Reisepläne auf seine Predigt über. Vielleicht sagten seine Kritiker, dass man seiner Predigt kaum trauen könne, wenn er im normalen Umgang so unzuverlässig sei.
1,19 Paulus argumentiert, dass seine Handlungsweise nicht unzuverlässig war, weil der von ihm verkündigte Heiland der Göttliche und Unveränderliche war, in dem weder Unentschlossenheit noch Veränderlichkeit ist. Als Paulus das erste Mal mit »Silvanus und Timotheus« nach Korinth kam (Apg 18,5), hatten sie den vertrauenswürdigen »Sohn Gottes« verkündigt. »Die Predigt konnte nicht schwankend sein, weil sie auf dem ›Sohn Gottes‹ beruhte, der nicht schwankte.« Das Argument lautet hier, dass jemand, der den Herrn Jesus im Geist predigt, unmöglich so handeln kann, wie Paulus’ Gegner es ihm vorwarfen. Denney sagt: »Das Argument des Paulus hätte von einem Heuchler gebraucht werden können, doch kein Kritiker konnte es je erfunden haben.« Wie hätte er einen treuen Gott predigen und selbst seinem Wort untreu werden können?
1,20 Alle »Verheißungen Gottes«, ganz gleich, wie viele es sein mögen, finden ihre Erfüllung in Christus. Alle, die »in ihm« die Erfüllung der »Verheißungen Gottes« finden, fügen ihr »Amen« hinzu: Wir öffnen unsere Bibel bei einer Verheißung, sehen zu Gott auf, und Gott sagt uns: »Du kannst all das durch Christus haben.« Wenn wir Christus vertrauen, dann sagen wir »Amen« zu Gott. Gott spricht durch Christus, und wir glauben an ihn. Christus beugt sich herab, und der Glaube streckt sich nach oben, wobei jede Verheißung Gottes in Jesus Christus erfüllt wird. In ihm und durch ihn können wir sie für uns in Anspruch nehmen und sagen: »Ja, Herr, ich vertraue dir.« Das ist das »Ja« des Glaubens.3 All das dient »Gott zur Ehre durch uns«. Denney schreibt: »Er wird verherrlicht, wenn Menschen erkennen, dass er über sie Gutes beschlossen hat, das über ihre Vorstellungskraft hinausgeht. Auch wird er verherrlicht, wenn sie dieses Gute als in seinem Sohn unzweifelhaft sicher ansehen.«
Die beiden Worte »durch uns« erinnern die Korinther daran, dass sie nur durch die Predigt von Männern wie Silvanus, Timotheus und Paulus dazu kamen, die Verheißungen Gottes in Christus für sich in Anspruch zu nehmen. Wenn der Apostel ein Betrüger war, wie ihm seine Feinde vorwarfen, konnte es dann sein, dass Gott einen solchen Lügner und Betrüger benutzt hatte, um solch wundervolle Ergebnisse zu erzielen? Die Antwort lautet natürlich »Nein«.
1,21 Paulus zeigt als Nächstes, dass die Korinther und er im gleichen Boot saßen. »Gott« hatte ihnen den Glauben geschenkt und sie »in Christus« durch den Dienst am Wort Gottes befestigt. Er hat sie sogar mit dem Geist »gesalbt«, durch den er sie bevollmächtigte, ihnen Kraft gab und sie lehrte.
1,22 Er hat sie »auch versiegelt« und ihnen »das Unterpfand des Geistes in« ihre »Herzen gegeben«. Hier haben wir zwei weitere Dienste des Heiligen Geistes. Das Siegel ist das Kennzeichen des Eigentümers und steht für Sicherheit. Der »Geist« im Gläubigen ist das Kennzeichen, dass der Gläubige nun Gott gehört und auf ewig sicher ist. Das Siegel ist natürlich unsichtbar. Die Menschen erkennen nicht an einer Plakette, dass wir Christen sind, sondern nur durch die Beweise eines geisterfüllten Lebens. Gott hat ihnen auch »das Unterpfand des Geistes in« ihre »Herzen gegeben«. Das Unterpfand ist eine Anzahlung auf das Gesamterbe, das einmal folgen wird. Wenn Gott einen Menschen errettet, gibt er ihm den Heiligen »Geist«. Genauso sicher, wie er den »Geist« empfängt, wird er das gesamte Erbe Gottes antreten. Die gleiche Art des Segens, die der Heilige Geist heute in unserem Leben verwirklicht, wird uns eines Tages in vollem Maße geschenkt werden.
1,23 Von Vers 23 bis Kapitel 2,4 kehrt Paulus zu der Anklage zurück, die gegen ihn erhoben wurde. Man warf ihm vor, unzuverlässig zu sein. Nun gibt er eine einfache Erklärung dafür, warum er Korinth nicht wie geplant besucht hat. Weil kein Mensch die wirklichen Motive des Paulus beurteilen kann, ruft er »Gott zum Zeugen« für diese Tatsache auf. Hätte der Apostel »Korinth« zur geplanten Zeit besucht, hätte er dort sehr hart durchgreifen müssen. Er hätte die Heiligen sehr scharf zurechtweisen müssen, weil sie so achtlos Sünde in der Gemeinde tolerierten. Er wollte sie »schonen« und ihnen Leid und Traurigkeit ersparen. Deshalb hat Paulus seine Reise »nach Korinth« verschoben.
1,24 Der Apostel wollte natürlich nicht, dass irgendjemand durch das Gesagte auf die Idee käme, er wolle als Diktator über die Korinther herrschen. Deshalb fügt er hier an: »Nicht dass wir über euren Glauben herrschen, sondern wir sind Mitarbeiter an eurer Freude; denn ihr steht durch den Glauben.« Der Apostel wollte nicht »über« ihren christlichen »Glauben« urteilen. Er wollte nicht, dass sie ihn für einen Tyrannen hielten. Er war seiner Ansicht nach nur »Mitarbeiter« oder Gehilfe ihrer »Freude«, d. h. er wollte ihnen nur auf ihrem christlichen Weg helfen und so zu ihrer Freude beitragen.
Der letzte Teil von Vers 24 kann auch folgendermaßen übersetzt werden: »Denn ihr steht fest im Glauben.« Das hieße, es war nicht nötig, ihren Glauben zu korrigieren, denn auf diesem Gebiet hatten sie einen festen Stand. Paulus ging es um Lehrfragen ebenso wie um praktisches Verhalten in der Gemeinde.
2,1 Dieser Vers führt den Gedanken der letzten zwei Verse von Kapitel 1 fort. Paulus erklärt weiter den Grund, warum er nicht wie geplant nach Korinth reiste. Er wollte den dortigen Gläubigen die »Traurigkeit« ersparen, die unausweichlich der Ermahnung durch ihn gefolgt wäre. Die hier befindlichen Worte (»Ich habe … für mich beschlossen, nicht wieder in Traurigkeit zu euch zu kommen«) scheinen nahezulegen, dass er nach seinem ersten Besuch in Apostelg eschichte 18,1-17 noch einen sehr schmerzlichen zweiten Besuch bei ihnen gemacht hat. Solch ein Zwischenbesuch  könnte  auch  in  2. Korinther 12,14 und 13,1 ang edeutet sein.
2,2 Wenn der Apostel mit einer persönlichen Ermahnung nach Korinth gekommen wäre, hätte er die Korinther traurig gemacht. In diesem Fall wäre er selbst auch traurig geworden, weil er gerade diesen Menschen Freude wünschte. Ryrie drückte es so aus: »Wenn ich euch verletzen würde, wen hätte ich dann noch, der mich mit Ausnahme von traurigen Leuten froh machen könnte? Das wäre kein Trost für mich.«
2,3 Statt einen Besuch zu machen, der beiderseitig Traurigkeit hervorgerufen hätte, entschied Paulus sich, einen Brief zu schreiben. Er hoffte, dass der Brief das erwünschte Resultat erbringen würde, nämlich die Tatsache, dass die Korinther gegenüber dem gefallenen Bruder Gemeindezucht üben würden. Außerdem hoffte er, dass sein nächster Besuch nicht von angespannten Beziehungen zwischen diesen Menschen, die er so liebte, und ihm selbst überschattet würde. Ist der genannte Brief nun der 1. Korintherbrief oder ein anderer, der heute nicht mehr existiert? Viele sind der Ansicht, dass nach der Beschreibung in Vers 4 der 1. Korintherbrief nicht gemeint sein kann, weil der von Paulus erwähnte Brief in viel Bedrängnis und Herzensangst sowie unter Tränen geschrieben wurde. Andere Ausleger sind der Ansicht, dass die Beschreibung hier den 1. Korintherbrief sehr gut beschreibt. Es ist jedoch möglich, dass Paulus einen sehr harten Brief nach Korinth ges chrieben hat, der nicht überliefert ist. Wahrscheinlich schrieb er ihn nach  dem  traurigen  Besuch  (2. Kor  2,1) und ließ ihn durch Titus überbringen. Auf solch einen Brief könnte er in 2,4.9; 7,8.12 hinweisen.
Welche Ansicht auch richtig sein mag, der Gedanke von Vers 3 lautet folgendermaßen: Paulus schrieb ihnen, dass er, wenn er sie besuchen würde, keine »Traurigkeit« über die Traurigkeit derer haben würde, die ihm doch »Freude« machen sollten. Er war sicher, dass alles, was ihm »Freude« bringt, auch ihnen »Freude« bringen würde. In diesem Zusammenhang ist gemeint, dass man Gemeindezucht in gottesfürchtiger Weise üben sollte und daraus gegenseitige Freude entspringen würde.
2,4 In diesem Vers finden wir einen tiefen Einblick in das Herz eines großartigen Hirten. Paulus schmerzte es sehr, dass in der Gemeinde von Korinth Sünde toleriert wurde. Der Gedanke daran verursachte »viel Drangsal und Herzensangst«, und heiße »Tränen« flossen über seine Wangen. Es ist offensichtlich, dass der Apostel durch den Gedanken an die Sünde in der Gemeinde in Korinth bewegter war als die Korinther selbst. Sie sollten diesen Brief nicht als Versuch deuten, ihre Gefühle zu verletzen, sondern als einen Beweis seiner »Liebe« zu ihnen sehen. Er hoffte, dass sie durch sein Schreiben genügend Zeit erhalten würden, damit sein darauffolgender Besuch ein freudiger würde. »Treu gemeint sind die Schläge dessen, der liebt« (Spr 27,6). Wenn wir in gottesfürchtiger Weise beraten oder ermahnt werden, sollten wir nicht ablehnend sein, sondern erkennen, dass nur jemand, der wirklich an uns interessiert ist, diese Aufgabe übernehmen wird. Gerechten Tadel sollten wir ann ehmen, als käme er vom Herrn selbst. Wir sollten dankbar dafür sein.
2,5 Von Vers 5 bis Vers 11 geht der Apostel etwas direkter auf den Anlass ein, der die Schwierigkeiten verursacht hat. Man beachte den besonderen Takt und die christliche Sorgfalt, die er zeigt. Kein einziges Mal nennt er den Namen des Sünders. Der Ausdruck »wenn aber jemand traurig gemacht hat« kann sich auf den Mann aus 1. Korinther 5,1 beziehen, der Blutschande begangen hat, oder auch auf jemand anderen, der in der Versammlung für Schwierigkeiten gesorgt hat. Wir werden hier voraussetzen, dass es sich um den Ersteren handelt. Paulus sah das Ganze nicht als Angriff auf sich selbst. »Alle« Gläubigen wurden dadurch »zum Teil … traurig gemacht«.
2,6 Die Gläubigen in Korinth hatten sich zu Maßnahmen der Gemeindezucht entschlossen. Wahrscheinlich hatten sie den Betreffenden aus der Gemeinde ausgeschlossen. Als Ergebnis davon hatte er wirklich Buße getan und war wieder zum Herrn zurückgekommen. Nun weist Paulus darauf hin, dass »diese Strafe« genüge. Sie sollten sie nicht unnötig ausdehnen. Im zweiten Teil des Verses heißt es, dass die Strafe von »den vielen« (so wörtl.) ausgesprochen wurde. Einige sind der Ansicht, dass »die vielen« dasselbe wie »die meisten« bedeutet (ER). Andere meinen, es gehe hier um alle Gemeindeglieder außer demjenigen, der ausgeschlossen wurde. Die Vertreter dieser Ansicht meinen, dass eine Mehrheitsentscheidung in Gemeindeangelegenheiten nicht ausreicht. Sie sagen, dass dort, wo dem Geist die Führungsrolle eingeräumt wird, einmütige Entscheidungen getroffen werden sollten.
2,7.8 Nun, da der Mann völlige Buße getan hatte, sollten ihm die Korinther »vergeben« und versuchen, ihn zu stärken, indem sie ihn wieder in ihre Gemeinschaft aufnahmen. Wenn sie das nicht tun würden, dann wäre die Gefahr groß, dass er »durch übermäßige Traurigkeit verschlungen« würde. Dies bedeutet, dass er an der Echtheit der ihm gewährten Vergebung zweifeln könnte und in fortwährende Schwermut und Entmutigung fallen könnte.
Die Korinther konnten »beschließen«, ihm wieder ihre »Liebe« zu erweisen, indem sie ihre Arme weit öffneten und ihn mit Freude und Sanftheit wiederaufnahmen.
2,9 Als Paulus den ersten Korintherbrief schrieb, hat er die Korinther einer Bewährungsprobe unterzogen. Hier war ihnen die Gelegenheit gegeben zu zeigen, ob sie dem Wort des Herrn, wie Paulus es ihnen verkündigte, »gehorsam« wären. Er hatte ihnen damals nahegelegt, den Mann aus der Gemeinschaft auszuschließen. Genau das taten sie und erwiesen sich als wirklich »gehorsam«. Nun wollte Paulus, dass sie noch einen Schritt weiter gingen: Sie sollten den Mann nämlich wiederaufnehmen.
2,10 J. B. Phillips hat Vers 10 so umschrieben: »Wenn ihr jemandem vergebt, dann könnt ihr sicher sein, dass ich ihm auch vergebe. Wenn ich ihm persönlich etwas zu vergeben habe, dann vergebe ich ihm im Namen Christi.« Nach dem Willen des Paulus sollen die Heiligen wissen, dass er mit ihnen volle Gemeinschaft hat, wenn sie dem bußfertigen Sünder vergeben. Wenn er persönlich etwas »zu vergeben« hätte, so würde er es um der Korinther willen »vergeben«, und zwar so, als stehe er »vor dem Angesicht Christi«. Die Wichtigkeit, die dieser Brief der Gemeindezucht beimisst, zeigt, welche Bedeutung sie hat. Doch handelt es sich hier um ein Thema, das von vielen evangelikalen Gemeinden heute sehr vernachlässigt wird. Hier haben wir wieder einmal ein Gebiet, auf dem wir zwar betonen, dass wir an die Inspiration der Heiligen Schrift glauben, uns aber trotzdem weigern, ihr zu gehorchen, wenn eine solche Vorgehensweise unseren Zielen dient.
2,11 Es besteht also die Gefahr, dass eine Gemeinde keine Gemeindezucht übt, wenn es nötig ist. Ebenso gibt es aber auch die Gefahr, dass keine Vergebung gewährt wird, wenn jemand wirklich Buße getan hat. »Satan« ist immer bereit, solche Situationen mit seinen hinterhältigen Methoden auszunutzen. Im ersten Fall wird er das Zeugnis einer Gemeinde zunichtemachen, wenn bekannt wird, dass dort Sünde toleriert wird. Im zweiten Fall wird er die betroffene Person mit Traurigkeit überschütten, wenn eine Gemeinde sie nicht wiederaufnimmt. Wenn Satan jemanden nicht durch Sittenlosigkeit zugrunde richten kann, dann versucht er, ihn durch übermäßige Traurigkeit niederzudrücken, die auf die Buße folgt.
Sidlow Baxter sagt im Hinblick auf die hier befindlichen Worte (»denn seine Gedanken sind uns nicht unbekannt«): Satan hat alle möglichen Strategien auf Lager, um Menschen von der Wahrheit abzuwenden. Er kann sie mit einem Sieb sichten (Lk 22,31), mit »Anschlägen« (Schl) übervorteilen bzw. überlisten (wie im vorliegenden Text) und die gute Saat mit »Unkraut« »ersticken« (Matth 13,22). Er kann gegen die jeweiligen Menschen mit »List« hinterhältige Pläne schmieden (vgl. Eph 6,11), sie mit dem Brüllen eines Löwen ängstigen (1. Petr 5,8), sie durch seine Verstellung als Engel des Lichts täuschen bzw. verführen (2. Kor 11,14) und sie mit »Fallstricken« zum Straucheln bringen (2. Tim 2,26).4
2,12 Paulus nimmt noch einmal das Thema seiner geänderten Pläne auf, das er in Vers 4 verlassen hat. Er ist nicht nach Korinth gereist, wie er es vorher angekündigt hatte. Die vorhergehenden Verse haben erklärt, dass er Korinth deshalb nicht besuchte, weil er vermeiden wollte, dies im Geist strenger Ermahnung tun zu müssen. In den Versen 12 bis 17 erklärt Paulus genau, was ihm an diesem wichtigen Punkt seines Dienstes begegnete. Wie schon vorher erwähnt, hatte Paulus Ephesus verlassen und reist in der Hoffnung »nach Troas«, dort Titus zu treffen und Nachrichten von Korinth zu erhalten. Als er nach Troas kam, wurde ihm »im Herrn … eine« wunderbare »Tür aufgetan«, das »Evangelium Christi« zu predigen.
2,13 Trotz dieser guten Gelegenheit war der »Geist« des Paulus besorgt. »Titus« war nicht da, um ihn zu treffen. Die Last, die durch die korinthische Gemeindesituation verursacht wurde, lag Paulus schwer auf dem Herzen. Sollte er in Troas bleiben und das Evangelium von Christus predigen? Oder sollte er nach Mazedonien weiterreisen? Er entschied sich, nach »Mazedonien« zu reisen. Man fragt sich, wie die Korinther reagierten, als sie diese Worte lasen. Erkannten sie vielleicht mit ein wenig Beschämung, dass es ihr Verhalten gewesen war, das solche Ruhelosigkeit im Leben des Paulus verursacht hatte? War ihnen bewusst, dass er eine wundervolle Gelegenheit zur Evangeliumsverkündigung ausließ, nur um zu erfahren, wie es ihnen geistlich ging?
2,14 Paulus streckte nicht die Waffen. Ganz gleich, wo er im Dienst Christi hinging, gab es Sieg. Und so kann er in die Dankesworte ausbrechen: »Gott aber sei Dank, der uns allezeit im Triumphzug umherführt in Christus.« A. T. Robertson sagt:
Ohne ein Wort der Erklärung springt Paulus aus dem Sumpf der Verzagtheit (Der Autor greift hier auf ein Bild aus der Pilgerreise von John Bunyan zurück; Anm. d. Übers.) und fliegt wie ein Vogel in die Höhen der Freude. Er eilt wie ein Adler in die Lüfte, mit stolzer Verachtung des Tales unter ihm.5 Paulus entlehnt hier das Bild der Triumphzüge der römischen Eroberer. Wenn sie nach großen Siegen heimkamen, führten sie ihre Gefangenen durch die Straßen der Hauptstadt. Männer, die Räucherwerk verbrannten, marschierten auf beiden Seiten mit, wobei der »Geruch« dieses Räucherwerks die Luft erfüllte. So stellt Paulus den Herrn vor, der als Eroberer von Troas nach Mazedonien reist und den Apostel in seinem Zug mitführt. Wo immer der Herr durch seine Diener hingeht, gibt es Sieg. Der »Geruch« der »Erkenntnis« Christi wird durch den Apos tel überall verbreitet. F. B. Meyer schreibt: Wo immer Paulus und seine Mitarbeiter hingingen, lernten Menschen Jesus besser kennen, die Schönheit des Wesens un seres Meisters wurde deutlicher. Die Menschen wurden sich eines feinen Duftes bewusst, der in der Luft lag und sie zum Mann von Nazareth zog.6
Daher hat Paulus nicht das Gefühl, dass er eine Niederlage im Kampf gegen Satan erlitten hat. Vielmehr hat der Herr einen Sieg errungen, wobei Paulus daran beteiligt ist.
2,15 In dem Triumphzug, den Paulus erwähnt, bedeutete der Duft des Räucherwerks für die Eroberer den herrlichen Sieg, doch für die Gefangenen war dieser Duft verhängnisvoll. So erklärt der Apostel nun, dass die Predigt des Evangeliums immer eine doppelte Auswirkung hat: Für diejenigen, »die errettet werden«, bedeutet der Duft das eine. Für diejenigen jedoch, »die verlorengehen«, bedeutet er etwas ganz anderes. Wer das Evangelium annimmt, dem bedeutet der Duft die Zusicherung einer herrlichen Zukunft. Für andere ist es jedoch ein Vorzeichen des nahenden Gerichts. Doch »Gott« wird in jedem Fall verherrlicht, für ihn ist es der »Wohlgeruch« der Gnade in dem einen Fall und der Gerechtigkeit im anderen Fall. F. B. Meyer drückt dies treffend aus: Uns wird hier gesagt, dass wir für Gott ein Wohlgeruch Christi sind. Deshalb muss damit gemeint sein, dass wir so leben dürfen, dass wir Gott in Erinnerung rufen, was Jesus in seinem irdischen Leben als Mensch war. Es ist, als ob uns Gott von Tag zu Tag beobachtet und Jesus an uns sieht und damit (menschlich gesprochen) an das wunderbare Leben erinnert wird, das als Opfer für Gott zu einem duftenden Wohlgeruch wurde.7
2,16 Für die Geretteten sind Christen »ein Geruch vom Leben zum Leben«, doch den Verlorengehenden sind sie »ein Geruch vom Tod zum Tode«. Wir sind – um mit Phillips zu sprechen – »der erfrischende Duft des Lebens, so wie es ist«, der denen das Leben bringt, die glauben. Dagegen bringt er den »tödlichen Geruch des Gerichts« für diejenigen, die nicht glauben wollen. Diese zweifache Auswirkung wird sehr schön in einem Vorgang des AT versinnbildlicht. Als die Bundeslade von den Philistern erobert wurde, verursachte sie Tod und Zerstörung, solange sie bei ihnen war (1. Sam 5). Doch als sie zurück in das Haus ObedEdoms gebracht wurde, brachte sie ihm und seinem Haus Segen und Reichtum (2. Sam 6,11). Als nun Paulus an die gewaltige Verantwortung bei der Predigt dieses Evangeliums mit solch weitreichenden Auswirkungen denkt, ruft er aus: »Und wer ist dazu tüchtig?«
2,17 Die Beziehung zwischen Vers 17 und Vers 16 wird deutlicher, wenn wir das Wort »wir« noch einfügen. »Und wer ist dazu tüchtig?« »Wir, denn wir treiben keinen Handel mit dem Wort Gottes« usw. (Doch das muss immer im Zusammenhang mit 3,5 gesehen werden, wo Paulus sagt, dass all seine Tüchtigkeit von Gott kommt.) Die Worte »die meisten«8 beziehen sich auf die Lehrer, die das Judentum wiedereinführen wollten und die Korinther vom Apostel Paulus abzuwenden versuchten. Was für Menschen waren das? Paulus sagt, sie »treiben Handel« und sie schachern mit dem Wort Gottes oder machen ein Geschäft damit. Sie haben die Absicht, mit dem Evangelium Geld zu verdienen. Das Wort, das hier für »Handel treiben« steht, wurde auch für Menschen gebraucht, die Wein panschten, oftmals mit schädlichen Zusätzen. Und so versuchten diese falschen Lehrer, das Wort mit ihren eigenen Lehren  zu  verfälschen.  Sie  versuchten  z. B., Gesetz und Gnade zu vermischen. Paulus war keiner von denen, die das Wort Gottes verfälschten oder damit Hand el trieben. Stattdessen konnte er seinen Dienst mit vier bezeichnenden Ausdrücken beschreiben. Der erste lautet: »… wie aus Lauterkeit.« Damit ist Durchschaubarkeit gemeint. Paulus tat seinen Dienst in Aufrichtigkeit. Er wollte damit niemanden austricksen oder übervorteilen. Alles geschah ganz offen. Robertson erklärt die Bedeutung dieses Ausdrucks humorvoll: »Bei Paulus gab es kein ›oben hui, unten pfui‹.«9
Zweitens beschreibt er seinen Dienst mit den Worten »aus Gott«. Mit anderen Worten, alles, was er sagte, war göttlich inspiriert. Gott war der Ursprung seiner Botschaft, und »von Gott her« (Ei) erhielt Paulus die Kraft zum Weitermachen. Weiter fügt er hinzu, dass alles »vor Gott« geschah. Damit ist Folgendes gemeint: Der Apostel diente dem Herrn in dem Bewusstsein, dass Gott immer auf ihn sah. Er hatte ein echtes Verantwortungsgefühl gegenüber Gott und erkannte, dass nichts vor den Augen Gottes verborgen werden kann. Und schließlich fügt er noch hinzu, dass er »in Christus« redete. Das bedeutet, dass er im Namen Christi sprach, mit der Vollmacht Christi und als ein Sprecher für »Christus«.
D. Bevollmächtigung des Dienstes des Paulus (3,1-5)
3,1 Im letzten Teil von 2,17 hatte der Apostel vier verschiedene Ausdrücke gebraucht, um seinen Dienst zu beschreiben. Er erkannte, dass dies für einige, insbesondere für seine Kritiker, wie Eigenlob klingen könnte. Also beginnt er das folgende Kapitel mit der Frage: »Fangen wir wieder an, uns selbst zu empfehlen?« Mit dem Ausdruck »wieder« ist nicht gemeint, dass er sich schon vorher selbst empfohlen hatte. Vielmehr bedeutet dies, dass er schon einmal angeklagt worden war, das zu tun. Er sieht nun die Wiederholung einer solchen Anklage gegen ihn voraus.
»Oder brauchen wir etwa wie gewisse Leute Empfehlungsbriefe an euch oder Empfehlungsbriefe von euch?« Das »gewisse Leute« bezieht sich auf die falschen Lehrer in 2,17. Sie kamen mit »Empfehlungsbriefen« nach Korinth. Und als sie Korinth wieder verließen, nahmen sie wahrscheinlich »Empfehlungsbriefe von« dieser Gemeinde mit. Empfehlungsbriefe wurden in der frühchristlichen Zeit von Gläubigen auf Reisen verwendet. Der Apostel möchte eine solche Praxis mit diesem Vers nicht unterbinden. Er will hier nur andeuten, dass das Einzige, das diese Leute als Empfehlung hatten, diese Briefe waren! Andere Zeugnisse hatten sie nicht anzubieten.
3,2 Diese Lehrer, die das Judentum mit dem Christentum vermischen wollten, waren nach Korinth gekommen und hatten die apostolische Autorität des Paulus infrage gestellt. Sie leugneten, dass er ein wahrer Knecht Christi war. Vielleicht verursachten sie diese Zweifel in den Korinthern, damit diese das nächste Mal, wenn Paulus kam, von ihm einen Empfehlungsbrief verlangten. Er hat sie schon gefragt, ob er einen solchen Brief nötig hätte. War er nicht nach Korinth gekommen, als sie noch heidnische Götzenanbeter gewesen waren? Hatte er sie nicht zu Christus geführt? Hatte der Herr nicht den Dienst des Apostels besiegelt, indem er ihm wertvolle Seelen in Korinth schenkte? Deshalb lautet die Antwort: Die Korinther selbst waren der »Brief« des Paulus, »eingeschrieben in« sein »Herz«, doch »erkannt und gelesen von allen Menschen«. In seinem Fall brauchte man keinen Brief, der mit Feder und Tinte geschrieben war. Die Korinther waren die Frucht seines Dienstes, und sie hatten einen festen Platz in seinem Herzen. Und nicht nur das, sie wurden »von allen Menschen … erkannt und gelesen« in dem Sinne, dass ihre Bekehrung in der ganzen Umgegend bekannt geworden war. Ihre Mitbewohner in Korinth erkannten, dass diese Menschen verändert worden waren, dass sie sich von den Götzen zu Gott gewandt hatten und nun in Absonderung lebten. Sie waren der Beweis für den göttlichen Dienst des Paulus.
3,3 Auf den ersten Blick scheinen sich Vers 3 und Vers 2 zu widersprechen. Paulus hat gesagt, dass die Korinther sein Brief seien, aber hier sagt er, dass sie ein »Brief Christi« seien. In Vers 2 sagt er, dass der Brief in sein Herz geschrieben ist, doch aus dem 2. Teil von Vers 3 geht hervor, dass Christus selbst den Brief in die Herzen der Korinther geschrieben hat. Wie können diese Unterschiede erklärt werden? Die Antwort lautet wie folgt: In Vers 2 erklärt Paulus, dass die Korinther selbst sein Empfehlungsbrief seien. Vers 3 gibt dazu die Erklärung. Vielleicht sehen wir den Zusammenhang etwas besser, wenn wir die beiden Verse folgendermaßen verbinden: »Ihr seid unser Brief … weil ›von euch … offenbar geworden‹ ist, dass ihr ein ›Brief Christi‹ seid.« Mit anderen Worten, die Korinther waren der Empfehlungsbrief des Paulus, weil allen deutlich war, dass der Herr sein Gnadenwerk an ihren Herzen getan hat. Sie waren offensichtlich Christen. Weil Paulus das menschliche Werkzeug gewesen war, um sie zum Herrn zu bringen, waren sie sein Empfehlungsbrief. Das ist der Gedanke des Ausdrucks »ausgefertigt von uns im Dienst«. Der Herr Jesus wirkte in ihrem Leben, doch er tat es durch den Dienst des Paulus.
Während die Empfehlungsbriefe, die die Feinde des Paulus verwendeten, »mit Tinte« geschrieben war, war der Brief des Paulus »mit dem Geist des lebendigen Gottes« geschrieben. »Tinte« verblasst, wird ausradiert und gelöscht, doch wenn »der Geist des lebendigen Gottes« in menschliche Herzen schreibt, dann hält dies ewig. Dann fügt Paulus noch hinzu, dass der Empfehlungsbrief Christi »nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf Tafeln, die fleischerne Herzen sind«, geschrieben wurde. Die Menschen in Korinth sahen nicht einen Brief Christi, der auf einem großen Denkmal in der Mitte des Marktplatzes geschrieben stand. Vielmehr war der betreffende Brief in die Herzen und in das Leben der dortigen Christen geschrieben.
Als Paulus die »steinernen« Tafeln den »Tafeln, die fleischerne Herzen sind«, gegenüberstellte, dachte er zweifellos auch an den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium. Das Gesetz ist natürlich auf Steintafeln geschrieben worden, die auf dem Berg Sinai gegeben wurden. Demgegenüber versichert sich Gott im Zeitalter des Evangeliums des Gehorsams durch die Botschaft der Gnade und der Liebe, die in die menschlichen Herzen hineingeschrieben ist. Paulus wird dieses Thema in Kürze noch ausführlicher behandeln, deshalb lässt er es hier nur anklingen.
3,4 Wir haben nun gehört, wie zuversichtlich Paulus über seine Apostelschaft und den Dienst spricht, den der Herr ihm übertragen hat. Wir könnten nun fragen: »Wie wagst du es, mit einer solchen Zuversicht über diese Angelegenheit zu sprechen, Paulus?« Die Antwort darauf erhalten wir in Vers 4. Die Verteidigung seiner Apostelschaft mag wie ein Zeugnis aussehen, das man über sich selbst ausstellt, doch hier bestreitet er das. Er sagt, dass er Zuversicht »zu Gott« hat. Dies bedeutet, dass er mit Zuversicht der Überprüfung seines Werkes durch Gott entgegensah: Es würde vor ihm bestehen. Er vertraut nicht auf sich selbst oder seine Fähigkeiten, doch »durch Christus« und durch das Werk Christi, das Gott im Leben der Korinther getan hat, findet er den Beweis für die Echtheit seines Dienstes. Der bemerkenswerte Wandel im Leben der Korinther war eine Empfehlung für den Apostel.
3,5 Hier bestreitet Paulus nun wieder, dass er selbst irgendwie »tüchtig« wäre und durch diese Tüchtigkeit in der Lage wäre, sich selbst als Apostel Jesu Christi zu bezeichnen. Die Kraft für seinen Dienst erhielt er »nicht … von« innen, sondern von oben. Der Apostel wollte nicht selbst die Anerkennung dafür ernten. Er erkannte, dass er nichts ausgerichtet hätte, wenn nicht Gott selbst ihn für den Dienst ausgerüstet hätte. E. Gegenüberstellung des alten und des neuen Bundes (3,6-18)
3,6 Nachdem er seine eigene Bevollmächtigung und seine Qualifikation für den Dienst besprochen hat, gibt er nun ausführlich Rechenschaft über den Dienst selbst. In den folgenden Versen vergleicht er den alten Bund (das Gesetz) mit dem »neuen Bund« (dem Evangelium). Es liegt ein wichtiger Grund vor, der ihn jetzt dazu führt. Diejenigen, die ihn kritisierten, versuchten Judentum und Christentum zu vermischen. Sie wollten Gesetz und Gnade zusammenfügen. Sie lehrten andere Gläubige, dass sie bestimmte Teile des mosaischen Gesetzes halten müssten, damit sie wirklich von Gott angenommen würden. Und deshalb bezeugt der Apostel hier die Überlegenheit des neuen Bundes über den alten. Er leitet seine Bemerkung ein, indem er sagt, dass Gott ihn als »Diener des neuen Bundes« befähigt hat. Ein Bund ist natürlich ein Versprechen, ein Vertrag oder ein Testament. Der alte Bund umfasste die Gesetzesordnung, die Gott dem Mose offenbart hatte. Unter dem Gesetz war der Segen vom Gehorsam abhängig. Der Bund war ein Bund der Werke. Es handelte sich um einen Vertrag zwischen Gott und Mensch. Ihm zufolge würde Gott, wenn der Mensch seinen Teil erfüllte, auch dasjenige erfüllen, was er zugesagt hatte. Doch weil dieser Bund vom Menschen abhing, konnte er keine Gerechtigkeit hervorbringen. Der »neue Bund« ist das Evangelium. Im Zeitalter des Evangeliums sichert Gott zu, dass er den Menschen aus Gnaden segnet, indem er ihnen die Erlösung in Christus Jesus zueignet. Alles im Rahmen des neuen Bundes hängt von Gott und nicht vom Menschen ab. Deshalb ist der neue Bund imstande, das zu erreichen, was der alte niemals hätte erreichen können. Paulus zeigt nun mehrere scharfe Kontraste zwischen Gesetz und Evangelium auf. Er beginnt hier in Vers 6, indem er sagt: »… nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.« Die meisten Ausleger deuten diese Worte folgendermaßen: Angenommen, jemand nimmt einfach die äußerlichen Worte der Schrift, so wie sie dastehen, und sucht sich an den Buchstaben zu halten, ohne danach zu verlangen, der Gesamtaussage des Abschnitts zu gehorchen. Dies bringt eher Schaden als Nutzen. Die Pharisäer waren ein Beispiel dafür. Sie waren äußerst genau in der Einhaltung des Zehnten, erwiesen sich aber anderen Menschen gegenüber als unbarmherzig und lieblos (Matth 23,23). Dies ist zwar eine richtige Anwendung des Abschnitts, nicht jedoch die Auslegung. In Vers 6 bezieht sich das Wort »Buchstabe« auf das Gesetz des Mose und das Wort »Geist« auf das Evangelium von der Gnade Gottes. Wenn Paulus sagt, dass »der Buchstabe tötet«, dann spricht er von der Aufgabe des Gesetzes. Das Gesetz verurteilt alle, die seinem heiligen Anspruch nicht gerecht werden können. »Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde« (Röm 3,20). »Denn alle, die aus Gesetzeswerken sind, die sind unter dem Fluch; denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun« (Gal 3,10). Gott hat das Gesetz nie als Mittel bestimmt, wodurch der Mensch das Leben erhalten konnte. Es sollte vielmehr Sündenerkenntnis bewirken. Der neue Bund wird hier »Geist« genannt. Er steht für die geistliche Erfüllung der Vorbilder und Schatten des alten Bundes. Was das Gesetz verlangte, aber selbst nicht hervorbringen konnte, wird nun durch das Evangelium erreicht. J. M. Davies fasst zusammen: Dieser Dienst des »Buchstabens«, der tötet, zeigt sich in den 3000, die am Sinai bei der Einsetzung des alten Bundes getötet wurden; und der Dienst des Geistes, des Lebensspenders, zeigt sich in den 3000, die am Pfingsttag errettet worden sind.10
3,7 Die Verse 7 und 8 führen das Thema des Unterschieds zwischen den beiden Bündnissen weiter. Hier stellt der Apostel besonders die »Herrlichkeit« der Gesetzgebung und die »Herrlichkeit« des Evangeliums einander gegenüber. Die Worte herrlich und Herrlichkeit finden sich in den Kapiteln 3 und 4 in der revidierten Elberfelder Bibel insgesamt sechzehnmal. Der alte Bund wird hier »Dienst des Todes, mit Buchstaben in Steine eingegraben«, genannt. Das kann sich nur auf die Zehn Gebote beziehen. Sie bedrohten alle mit dem Tode, die sie nicht hielten In mindestens einem Punkt hat der alte Bund keinerlei Herrlichkeit, weil die Herrlichkeit des neuen Bundes so groß ist.«12 Denney kommentiert: »Wenn die Sonne in ihrer Macht scheint, so findet sich am Himmel keine andere Herrlichkeit.«13
3,11 »Denn wenn das Vergehende in Herrlichkeit (wörtl. durch Herrlichkeit) war, wie viel mehr besteht das Bleibende in Herrlichkeit (wörtl. herrlich in Herrlichkeit)!« Wir sollten die beiden Präpositionen durch und in beachten. Der Gedanke dabei ist, dass Herrlichkeit die Gesetzgebung zwar begleitete, dass der neue Bund dagegen wesensmäßig herrlich ist. Die »Herrlichkeit« unterstützte den Abschluss den alten Bundes, doch das Evangelium von Gottes Gnade ist herrlich in sich selbst.
Dieser Vers stellt auch das vergängliche, zeitliche Wesen des Gesetzes und das ewige Wesen des Evangeliums einander gegenüber. »Das Vergehende« kann sich nur auf die Zehn Gebote beziehen – auf den »Dienst des Todes, mit Buchstaben in Steine eingegraben« (V. 7). Deshalb widerlegt dieser Vers die Behauptung der Siebenten-Tags-Adventisten, wonach nur das Zeremonialgesetz aufgehoben sei, nicht jedoch die Zehn Gebote.
3,12 Die »Hoffnung«, die Paulus hier zitiert, ist die feste Überzeugung, dass die Herrlichkeit des Evangeliums nie verblassen oder verschwinden wird. Weil Paulus sich dessen so sicher ist, predigt er das Wort »mit großer Freimütigkeit«. Er hat nichts zu verbergen. Es gibt keinen Grund, über irgendetwas einen Schleier zu breiten. In vielen Religionen der heutigen Welt gibt es sogenannte Mysterien. Neubekehrte müssen in diese tiefen Geheimnisse eingeweiht werden. Sie steigen von einer Stufe zur nächsten. Doch beim Evangelium ist das nicht so. Alles ist klar und offen. Das Evangelium spricht schlicht und mit voller Gewissheit über solche Themen wie Heil, Dreieinheit, Himmel und Hölle.
3,13 »Nicht wie Mose, der eine Decke über sein Angesicht legte, damit die Söhne Israels nicht auf das Ende des Vergehenden blicken sollten.« Den Hintergrund dieses Verses finden wir in 2. Mose 34,29-35. Dort erfahren wir, dass Mose nach seiner Begegnung mit dem Herrn vom Berg Sinai herabkam und nicht wusste, dass sein Gesicht leuchtete. Die Kinder Israel hatten Angst, zu ihm zu kommen, weil sie die Herrlichkeit auf seinem Gesicht sahen. Doch als er sie herangewinkt hatte, kamen sie zu ihm. Dann gab er ihnen alle Gebote, die der Herr ihm gegeben hatte. In 2. Mose 34,33 lesen wir: »Als nun Mose aufgehört hatte, mit ihnen zu reden, legte er eine Decke auf sein Gesicht.« In 2. Korinther 3,13 erklärt der Apostel, warum Mose so handelte. Er tat es, »damit die Söhne Israels nicht auf das Ende des Vergehenden blicken sollten«. Die Herrlichkeit auf seinem Gesicht verging. Mit anderen Worten, das Gesetz, das Gott ihm gegeben hat, hatte eine nur zeitweilige Herrlichkeit. Es verlor schon damals an Leuchtkraft, und Mose wollte nicht, dass sie »das Ende« dieser Herrlichkeit miterleben sollten. Es ging nicht darum, dass Mose die Herrlichkeit selbst verbergen wollte. Vielmehr wollte er das Vergehen der Herrlichkeit verhüllen. F. W. Grant hat das treffend ausgedrückt: »Die Herrlichkeit auf dem Gesicht des Mose musste der Herrlichkeit in einem anderen Gesicht weichen.«14 Dies ist mit dem Kommen des Herrn Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Das Ergebnis ist, dass der Diener des neuen Bundes sein Gesicht nicht verhüllen muss. Die Herrlichkeit des Evangeliums wird niemals verblassen oder vergehen.
3,14 »Aber ihr Sinn ist verstockt worden.« Die Kinder Israel erkannten nicht die wahre Bedeutung dessen, was Mose tat. Und das gilt für die meisten Juden über die Jahrhunderte hinweg. Auch zu der Zeit, zu der Paulus schrieb, hielten sie sich immer noch an das Gesetz als Heilsweg und wollten den Herrn Jesus Christus nicht annehmen.
»Denn bis auf den heutigen Tag bleibt dieselbe Decke auf der Verlesung des Alten Testaments.« Mit anderen Worten: Zu der Zeit, als der Apostel schrieb, entdeckten die Juden, wenn sie das »Alte Testament« lasen, nicht das Geheimnis, das Mose vor ihren Vorvätern unter der »Decke« verborgen hat. Sie erkannten nicht, dass die Herrlichkeit des Gesetzes vergeht und das Gesetz seine Erfüllung in dem Herrn Jesus Christus gefunden hat. Die Decke wird »in Christus beseitigt«. Das Wort »sie« steht im Grundtext nicht, und einige Ausleger sind der Ansicht, dass es hier nicht um die Decke, sondern um das Alte Testament geht. Noch wahrscheinlicher ist folgende Möglichkeit: Die Schwierigkeit, das Alte Testament zu verstehen, verschwindet, wenn ein Mensch zu Christus kommt. Hodge hat das treffend ausgedrückt: Die Schriften des Alten Testaments können nur verstanden werden, wenn man sieht, dass sie Christus vorhersagen und als Vorbild darstellen. Die Erkenntnis Christi nimmt die Decke vom Alten Testament.15
3,15 Hier wandelt sich nun das Bild etwas. In dem Beispiel aus dem AT lag die Decke über dem Gesicht des Mose, doch nun »liegt eine Decke auf ihrem Herzen«, d. h. auf dem Herzen der Juden. Sie versuchen immer noch durch das Vollbringen guter Werke Gerechtigkeit zu erlangen, und erkennen dabei nicht, dass das Werk durch den Erlöser am Kreuz von Golgatha schon längst vollbracht ist. Sie versuchen, ihre Erlösung durch eigene Verdienste zu erlangen, und erkennen nicht, dass das Gesetz sie völlig verurteilt. Sie sollten in die Arme des Herrn fliehen, um dort Barmherzigkeit und Gnade zu empfangen.
3,16 Das Wort »es« aus Vers 16 kann sich entweder auf einen einzelnen Juden oder auf das gesamte Volk Israel beziehen. Doch ganz gleich, wer »sich zum Herrn wendet« und Jesus als den Messias annimmt: Dem Betreffenden »wird die Decke weggenommen« werden, und alle Unklarheit ist beseitigt. Dann geht ihm die Wahrheit auf, dass all die Vorbilder und Schatten des Gesetzes ihre Erfüllung in Gottes geliebtem Sohn, dem Messias Israels, gefunden haben. Wenn das Volk Israel jedoch im Mittelpunkt steht, dann bezieht sich der Vers auf einen noch zukünftigen Zeitpunkt, zu dem ein gläubiger Überrest sich »zum Herrn« wenden wird, wie schon in Römer 11,25.26.32 vorausgesagt wird.
3,17 Paulus hat betont, dass Christus der Schlüssel zum AT ist. Hier betont er diese Wahrheit erneut, indem er sagt: »Der Herr aber ist der Geist.« »Geist« deuten die meisten als »Heiligen Geist«. Doch der Zusammenhang macht deutlich, dass der Herr der Geist des AT ist, genau wie »das Zeugnis Jesu der Geist der Weissagung« ist (Offb 19,10). Alle Bilder und Schatten des AT finden ihre Erfüllung in Christus. »Wo aber der Geist16 des Herrn ist, ist Freiheit.« Das bedeutet, dass überall da, wo Jesus Christus als Herr oder Jahwe anerkannt wird, »Freiheit« ist, d. h. Freiheit von der Gebundenheit des Gesetzes, Freiheit von der Decke über der Schrift und Freiheit, Gottes Angesicht ohne eine dazwischenliegende Decke sehen zu dürfen.
3,18 Im alten Bund war es nur Mose erlaubt, die Herrlichkeit des Herrn zu sehen. Im Rahmen des neuen Bundes haben »wir alle« das Vorrecht, »die Herrlichkeit des Herrn« zu »schauen«. Mose musste sein Gesicht verhüllen, nachdem er mit den Menschen gesprochen hatte, doch wir dürfen ein »aufgedecktes Angesicht« haben. Wir können unser Gesicht »unverhüllt« lassen, indem wir Sünde bekennen sowie ihr entsagen und indem wir völlig ehrlich vor Gott und uns selbst sind. Ein alter Missionar in Indien hat einmal dazu gesagt: Wir müssen »den Schleier der Sünde fallen lassen, den Schleier der Heuchelei, der Schauspielerei, alle Fassadenfrömmigkeit, alle Versuche, Kompromisse zu schließen, alle halbherzigen Maßnahmen, alles, was gleichzeitig Ja und Nein ist«.
Der nächste Schritt besteht darin, dass wir »die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel … schauen« (LU 1984). Der Spiegel ist das Wort Gottes. Wenn wir in die Bibel schauen, dann sehen wir den Herrn Jesus in all seiner Herrlichkeit offenbart. Wir sehen ihn noch nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern nur in der Widerspiegelung des Wortes. Wir sollten beachten, dass wir »die Herrlichkeit des Herrn« sehen. Paulus denkt hier nicht an die moralische Schönheit Jesu als Mensch hier auf Erden, sondern an seine gegenwärtige Herrlichkeit, die er zur Rechten Gottes besitzt. Die Herrlichkeit Christi besteht, wie Denney herausstellt, in Folgendem: Er befindet sich in der Throngemeinschaft mit dem Vater, er ist das Haupt der Gemeinde, der Eigner und Geber der Fülle göttlicher Gnade, der kommende Richter der Welt, der Bezwinger aller feindlichen Mächte. Er ist der Fürsprecher für die Seinen und, kurz gesagt, derjenige, den alle Majestät auszeichnet, die zu seinem königlichen Amt gehört.17 Wenn wir mit der Herrlichkeit des auferstandenen, aufgefahrenen und erhöhten Herrn Jesus Christus beschäftigt sind, »werden« wir »in dasselbe Bild … verwandelt«. Hier liegt, kurz gesagt, das Geheimnis der christlichen Heiligung – in der Beschäftigung mit Christus. Es geht nicht um die Beschäftigung mit dem eigenen Ich, denn das bereitet uns nur Niederlagen. Nicht die Beschäftigung mit anderen, denn sie bringt nur Enttäuschung. Doch durch die Beschäftigung mit der »Herrlichkeit des Herrn« werden wir ihm immer ähnlicher.
Dieser wunderbare Umwandlungsprozess findet »von Herrlichkeit zu Herrlichkeit«  statt,  d. h.  von  einem  Grad  der Herrlichkeit zum nächsten. Es ist also keine sofortige Veränderung. Es gibt keine Erfahrung im Leben als Christ, das in einem Augenblick Jesu Bild in uns prägt. Es geht um einen Prozess, nicht um ein einmaliges Erlebnis. Es geht nicht um die vergehende Herrlichkeit des Gesetzes, sondern um eine sich immer mehr verstärkende Herrlichkeit. Die Triebkraft hinter diesem wunderbaren Prozess ist der Heilige Geist Gottes, »wie (es) vom Herrn, dem Geist, (geschieht)«. Wenn wir den Herrn der Herrlichkeit betrachten, ihn studieren, ihn anbetend anblicken, dann bewirkt der »Herr« in der Person des »Geistes« in unserem Leben das erstaunliche Wunder der zunehmenden Ähnlichkeit mit Christus. Darby zeigt, wie Stephanus durch das Anblicken verändert wurde: Wir sehen es bei Stephanus, als er gesteinigt wird. Er sieht auf und schaut die Herrlichkeit Gottes und Jesu. Christus hatte gesagt: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Und der Anblick Jesu in der Herrlichkeit Gottes veranlasst Stephanus zu dem Gebet: »Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!« Und am Kreuz sagte Christus: »Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!« Und Stephanus sagt: »Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!« Er wird hier in das Bild Christi verwandelt.18 Wir sollten nun die übernatürliche Herrlichkeit des neuen Bundes bedenken. Während im alten Bund nur ein einziges Gesicht die Herrlichkeit ausstrahlte, ist dies heute ein bluterkauftes Vorrecht eines jeden Kindes Gottes. Und wir spiegeln nicht nur einfach die Herrlichkeit Gottes wider, sondern »wir alle«, die wir zum neuen Bund gehören, »werden so« tatsächlich »in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht … verwandelt« (wörtl. einer Metamorphose unterworfen). Während Moses Angesicht die Herrlichkeit nur widerspiegelt, strahlen unsere Gesichter diese Herrlichkeit von innen aus.
So beendet Paulus seine mit vielen Geheimnissen verknüpfte, tief geistliche Darstellung des neuen Bundes im Vergleich mit dem alten Bund. F. Die Verpflichtung, ein klares Evangelium zu predigen (4,1-6)
4,1 In den ersten sechs Versen von Kapitel 4 betont Paulus die hohe Verantwortung jedes Dieners Christi, die Botschaft des Evangeliums deutlich zu machen. Es darf nichts geben, was diese Botschaft verhüllt. Nichts darf verborgen oder rätselhaft bleiben. Alles muss klar, aufrichtig und eindeutig sein.
Paulus hat davon gesprochen, auf welch wunderbare Weise Gott ihn dazu ausgerüstet hat, ein fähiger Diener des neuen Bundes zu sein. Er nimmt diesen Faden hier nun wieder auf. Die Erkenntnis der großen Würde des christlichen Dienstes verhindert, dass ein solcher Mann wie Paulus »ermattet«. Natürlich gibt es immer wieder entmutigende und deprimierende Erfahrungen im christlichen Dienst, doch der Herr gibt Barmherzigkeit und Gnade, die zu jeder Notzeit helfen. So ist es gleichgültig, welche Entmutigungen man durchlebt, weil die Ermutigung im Vergleich dazu immer größer ist.
Paulus wurde »nicht mutlos« (Zü; vgl. Anm. ER). Er handelte nicht feige, sondern mutig angesichts scheinbar unüberwindlicher Hindernisse.
4,2 Phillips hat Vers 2 ausdrucksvoll umschrieben:
Wir brauchen weder Hokuspokus oder schlaue Tricks noch unlautere Manipulationen des Wortes Gottes. Wir sprechen die reine Wahrheit und empfehlen uns so vor Gott jedermanns Gewissen. Hier denkt der Apostel zweifellos wieder an die Irrlehrer, die in die korinthische Gemeinde eingedrungen waren. Ihre Methoden entsprachen denjenigen, die von bösen Mächten immer benutzt werden: Es geht um schändliche Verlockungen zur Sünde, um geschicktes Verdrehen der Wahrheit, um den Gebrauch raffinierter Argumente und um die Verzerrung des Wortes Gottes. Der Ausdruck »noch verfälschen wir das Wort Gottes« bezieht sich zweifellos auf den liebsten Zeitvertreib dieser Menschen – den Versuch, Gesetz und Gnade miteinander zu vermengen.
Die Methoden des Apostels waren völlig anders. Paulus drückt das durch die Worte aus: »… sondern durch die Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns jedem Gewissen der Menschen vor Gott.« »Offenbarung der Wahrheit« kann zwei Formen annehmen. Wir offenbaren die »Wahrheit«, wenn wir sie in einfacher und verständlicher Weise weitergeben. Doch wir offenbaren sie auch, indem wir sie vor anderen ausleben, sodass sie diese an uns beispielhaft erkennen können. Paulus verwendete beide Methoden. Er verkündigte das Evangelium und gehorchte ihm in seinem eigenen Leben. Indem er das tat, suchte er sich »jedem Gewissen der Menschen vor Gott« zu »empfehlen«.
4,3 Der Apostel hat uns von der großen Sorgfalt berichtet, die er aufwandte, um die Wahrheit Gottes den Menschen durch die Weitergabe biblischer Anordnungen und durch sein praktisches Verhalten zu verdeutlichen. Wenn das Evangelium nun einigen »doch verdeckt ist«, so liegt das sicherlich nicht an Gott, wobei Paulus auch nicht möchte, dass es an ihm liegt. Und doch ist er sich sogar während der Niederschrift dieser Worte der Tatsache bewusst, dass es Menschen gibt, die die Botschaft scheinbar nicht verstehen können. Wer sind sie? Es sind diejenigen, »die verlorengehen«. Warum werden sie so verblendet? Die Antwort gibt uns der folgende Vers.
4,4 Satan ist der Schuldige. Hier wird er als »Gott dieser Welt« bezeichnet. Ihm ist es gelungen, den Ungläubigen eine Decke über den Verstand zu breiten. Er will sie in ewiger Finsternis halten, »damit sie den Lichtglanz des Evangeliums von der Herrlichkeit des Christus, der Gottes Bild ist, nicht sehen« und errettet werden. In unserem sichtbaren Universum scheint die Sonne jederzeit. Wir sehen sie zwar nicht immer, doch liegt der Grund darin, dass etwas zwischen uns und der Sonne steht. Genauso ist es mit dem Evangelium. »Der Lichtglanz des Evangeliums« scheint immer. Gott versucht fortwährend, Licht in die Herzen von Menschen zu bringen. Doch Satan schiebt verschiedene Trennmauern zwischen die Ungläubigen und Gott. Es kann sich um eine Wolke voller Stolz, Auflehnung und Selbstgerechtigkeit oder um irgendeine von Hunderten anderer Sünden handeln. Doch alle dienen dazu, den »Lichtglanz des Evangeliums« wirksam daran zu hindern, diese Menschen zu erleuchten. Satan möchte ganz einfach nicht, dass Menschen gerettet werden.
Das »Evangelium« handelt von dem verherrlichten »Christus«. Hier wird dem Gläubigen nicht der Zimmermann aus Nazareth vor Augen gestellt. Auch nicht Christus, dessen Arme am Fluchholz ausgestreckt sind. Es geht hier um den Herrn Jesus Christus, der gestorben, begraben und auferweckt worden ist und nun sogar zur Rechten Gottes im Himmel sitzt. Auf ihn richtet sich der Glaube der Erlösten – auf den verherrlichten Sohn Gottes im Himmel.
4,5 In diesem einen Vers finden wir, wie das schlechteste und das beste Thema für einen Prediger vereint sind. Das schlechteste Thema sind wir »selbst«, das beste ist Christus Jesus, der Herr. Offensichtlich predigten die zum Judaismus neigenden Verkündiger viel über sich selbst. Paulus unterscheidet sich von dieser Gesellschaft. Er will nicht die Zeit der Menschen verschwenden, um über ein so unwürdiges Thema zu predigen. Sein Thema war »Christus Jesus«, der »Herr«. Er wollte Männer und Frauen an den Punkt bringen, wo sie bereitwillig ihre Knie vor Jesus Christus beugen und ihm die Ehre als dem Herrn ihres Lebens geben.
Der Apostel stellte sich und seine Mitarbeiter als »eure Sklaven um Jesu willen« vor. Damit gelang es ihm, mit seinen Mitarbeitern im Hintergrund zu bleiben. Sie waren nur Sklaven – bereit, auf jede Art zu helfen, die Menschen zum Herrn Jesus führen würde.
4,6 Paulus vergleicht hier die Bekehrung eines Sünders mit der Erschaffung des Lichtes zu Beginn der Schöpfung. Gott befahl anfangs: »Aus Finsternis soll Licht leuchten!« Er sagte: »Es werde Licht! Und es wurde Licht« (1. Mose 1,3). Nun sagt Paulus hier, dass derselbe »Gott«, der im Anfang befahl: »Aus Finsternis soll Licht leuchten! … in unseren Herzen aufgeleuchtet ist.« Das ist eine sehr schöne Aussage. Bei der ersten Schöpfung befahl Gott, dass das Licht scheinen solle. Doch in der neuen Schöpfung scheint »Gott« selbst in unsere Herzen hinein. Wie viel persönlicher ist das doch!
Die Ereignisse zu Beginn des 1. Buches Mose sind ein Bild für die neue Schöpfung. Gott schuf den Menschen ursprünglich im Zustand der Unschuld. Doch die Sünde kam in die Welt, und mit ihr große Finsternis.
Wenn das Evangelium gepredigt wird, dann bewegt der Geist Gottes das Herz des Menschen. In ähnlicher Weise schwebte er nach der Schöpfung über der Fläche der Tiefe (vgl. Anm. Elb zu 1. Mose 1,2; Anm. d. Übers.). Dann erleuchtet Gott das Herz dieses Menschen und zeigt ihm, dass er ein schuldiger Sünder ist und einen Heiland braucht. »Die materielle Schöpfung im 1. Buch Mose begann mit dem Licht. Dasselbe gilt auch für die geistliche Schöpfung. Durch den Heiligen Geist ›leuchtet Gott in unsere Herzen‹, und damit beginnt das geistliche Leben« (ohne Quellenangabe).
Der Vers erklärt nun weiter, warum Gott »in unseren Herzen aufgeleuchtet ist«. Es geht nicht nur darum, dass uns der »Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes« geschenkt wird, sondern dass dieser Lichtglanz auch andere erhellt. Das wird in LU 1984 deutlicher, wo es heißt: »… dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi«. »Wir sind nicht die Empfangsstationen des Segens und der Erziehung Gottes, sondern ihre Kanäle« (ohne Quellenangabe).
Eine Veranschaulichung dieses Vorgangs in der Bibel ist das Leben des Paulus selbst. Auf der Straße nach Damaskus leuchtete Gott in sein Herz. Paulus erkannte, dass derjenige, den er gehasst hatte und von dem er meinte, dass er in einem jüdischen Grab begraben sei, der Herr der Herrlichkeit ist. Von diesem Tag an ging er hinaus, um den »Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes«, wie er »im Angesicht Jesu Christi« zu finden ist, zu verbreiten.
G. Ein irdenes Gefäß mit himmlischer Bestimmung (4,7-18)
4,7 Nachdem er über seine Verpflichtung gesprochen hat, die Botschaft zu verdeutlichen, denkt der Apostel Paulus nun an das menschliche Werkzeug, dem der wunderbare Schatz des Evangeliums übergeben wird. Der »Schatz« ist die herrliche Botschaft des Evangeliums. Dagegen ist das »irdene Gefäß« der verletzliche menschliche Leib. Der Gegensatz zwischen beiden ist groß. Das Evangelium ist wie ein wertvoller Diamant, der wundervoll glitzert – ganz gleich, wie man ihn dreht. Es ist erstaunlich, dass solch ein wertvoller Diamant einem solch schwachen, zerbrechlichen Tongefäß anvertraut wird!
Herr, wir loben Deine Gnade, dass du uns für Dich gewannst, rein’gend, rettend und erfüllend, sodass Du uns brauchen kannst. Refrain:
Nur Gefäße, heil’ger Meister, doch gefüllt mit Deiner Kraft, lass dein Leben durch uns strömen, Deiner Liebe Geist und Macht. Nur Gefäße, doch von Segen, für die Durst’gen rings umher lass uns sein, geliebter Heiland, mach dazu uns täglich mehr. Leer, damit Du ganz uns füllest als Gefäße Deiner Hand,
und mit keinem andern Siegel als nur dem: Von Dir gesandt. Von der Rettermacht zu zeugen, die von Sünd’ uns selbst befreit, dazu sind wir ausgesondert, dazu hast Du uns geweiht. Nachdichtung unter Verwendung des Originals von M. E. Maxwell Warum hat Gott es so bestimmt, dass »dieser Schatz in irdenen Gefäßen« sein soll? Die Antwort lautet: »… damit die überragende Größe der Kraft von Gott sei und nicht aus uns.« Gott möchte nicht, dass man sich mit dem menschlichen Werkzeug statt mit Gottes Macht und Größe beschäftigt. Deshalb übergibt er die Botschaft des Evangeliums absichtlich schwachen, oftmals unansehnlichen Menschen. Alles Lob und alle Ehre sollen dem Schöpfer gelten und nicht dem Geschöpf.
Gott sendet uns, wir sollen geh’n, gehorsam dienen ihm allzeit. Doch auch wenn unsre Kraft zu klein, so wissen wir: Der Herr regiert, weil, wenn draus Gutes wird entsteh’n, nur ihm – nicht uns – das Lob gebührt. Nachdichtung unter Verwendung des Originals von Houghton Jowett sagt:
Etwas stimmt nicht, wenn das Gefäß den Schatz seiner Herrlichkeit beraubt, wenn die Hülle mehr Aufmerksamkeit erregt als das Juwel, das darin verborgen liegt. Alles ist verdreht, wenn das Bild erst den zweiten Platz nach dem Rahmen einnimmt und wenn das Geschirr, das beim Fest benutzt wird, an die Stelle des Mahls tritt. Es liegt eine Art Todeshauch über einem christlichen Dienst, wenn die »überragende Größe der Kraft« von uns und nicht von Gott ist. Solche Größe ist sehr vergänglich, und sie wird wie das grüne Gras schnell verdorren und in Verwesung übergehen.19
Als Paulus Vers 7 niedergeschrieben hat, hat er höchstwahrscheinlich an ein Ereignis in Richter 7 gedacht. Dort wird berichtet, wie Gideon sein Heer mit Hörner und Fackeln, die in leeren Krügen verborgen waren, ausrüstete. Beim vereinbarten Signal mussten seine Männer die Hörner blasen und die Krüge zerbrechen. Als die Krüge zerbrachen, leuchteten die Fackeln hell. Das erschreckte den Feind. Sie waren der Ansicht, dass eine riesige Streitmacht hinter ihnen her war, nicht nur 300 Mann. Die Lehre daraus ist, dass es sich in Bezug auf das Evangelium ebenso verhält wie in Gideons Fall, als das Licht erst leuchten konnte, nachdem die Krüge zerbrochen waren. Nur wenn menschliche Werkzeuge zerbrochen und dem Herrn hingegeben sind, kann das Evangelium durch uns in all seiner Herrlichkeit erstrahlen.
4,8 Der Apostel erklärt nun im Folgenden, was es damit auf sich hat: Dadurch, dass der Schatz irdenen Gefäßen anvertraut worden ist, gibt es einerseits scheinbare Niederlagen, doch andererseits auch fortwährenden Sieg. Dem äußeren Anschein nach sieht man nichts als Schwäche, aber in Wirklichkeit finden wir unvergleichliche Kraft. Wenn Paulus sagt: »In allem sind wir bedrängt, aber nicht erdrückt«, so meint er damit, dass er zwar ständig durch Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten »bedrängt« ist, aber nicht völlig daran gehindert wird, die Botschaft weiterzusagen.
»Keinen Ausweg sehend, aber nicht ohne Ausweg.« Vom menschlichen Standp unkt aus gesehen, wusste Paulus oft nicht, ob es überhaupt eine Lösung für seine Probleme gab, und doch ließ es der Herr nicht zu, dass er in eine wirklich ausweglose Lage geriet. Er brauchte nie zu verzweifeln.
4,9 »Verfolgt, aber nicht verlassen.« Manchmal konnte Paulus die Speerspitze des Feindes im Rücken fühlen, doch der Herr überließ ihn nie seinen Feinden. »Niedergeworfen, aber nicht vernichtet«, bedeutet, dass Paulus oft im Kampf verwundet wurde, der Herr ihn jedoch immer wieder aufrichtete, damit er für die herrliche Nachricht des Evangeliums weiter kämpfen konnte.
Hfa übersetzt die Verse 8 und 9 folgendermaßen: »Denn obwohl uns die Schwierigkeiten von allen Seiten bedrängen, lassen wir uns nicht von ihnen überwältigen. Wir sind oft ratlos, aber nie verzweifelt. Von Menschen werden wir verfolgt, aber bei Gott finden wir Zuflucht. Wir werden zu Boden geschlagen, aber wir kommen dabei nicht um.« Wir mögen uns fragen, warum der Herr es zuließ, dass sein Knecht sich solchen Prüfungen und Anfechtungen unterziehen musste. Wir würden meinen, er hätte dem Herrn besser dienen können, wenn sein Weg von Hindernissen frei gewesen wäre. Doch die Schrift lehrt genau das Gegenteil. Gott hält es in seiner wunderbaren Weisheit für angebracht zuzulassen, dass seine Knechte durch Krankheit, Leid, Anfechtung, Verfolgung, Schwier igkeiten und ausweglos scheinende Situationen gehen müssen. All das ist dazu bestimmt, die irdenen Krüge zu zerbrechen, damit das Licht des Evangeliums noch heller scheint.
4,10 Das Leben eines Knechtes Gottes besteht im ständigen »Sterben«. So wie der Herr Jesus selbst zu seiner Zeit auf der Erde ständig der Gewalt und der Verfolgung ausgesetzt war, so werden diejenigen, die in seine Fußstapfen treten, dieselbe Behandlung erfahren. Doch das bedeutet keine Niederlage. Das ist der Weg des Siegers. Andere Menschen werden durch unser tägliches »Sterben« gesegnet.
Nur auf diese Weise kann das »Leben Jesu« an unseren Leibern offenbar werden. »Das Leben Jesu« bedeutet hier nicht in erster Linie sein Leben als Mensch auf Erden, sondern sein gegenwärtiges Leben als der erhöhte Sohn Gottes im Himmel. Wie kann die Welt das Leben Christi sehen, wenn er heute nicht mehr persönlich oder leiblich in dieser Welt zugegen ist? Die Antwort lautet, dass sein Leben, wenn wir als Christen im Dienst des Herrn leiden, »an unserem Leibe offenbar« wird.
4,11 Dieser Gedanke des Lebens, das aus dem »Tod« entspringt, wird in Vers 11 nun weitergeführt. Das ist eines der tiefgründigsten Prinzipien unserer Existenz. Das Fleisch, das wir essen und von dem wir leben, erhalten wir durch den Tod von Tieren. Genauso ist es auf geistlichem Gebiet. »Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.« Je mehr eine Gemeinde verfolgt und angefochten wird, desto mehr verbreitet sich das Evangelium. Und doch ist diese Wahrheit für uns nur schwer anzunehmen. Wenn ein Diener des Herrn angegriffen wird, dann denken wir meist, dass es sich um eine Tragödie handelt. In Wirklichkeit ist das Gottes normale Handlungsweise. Es ist keine Ausnahme. Wir werden von Gott ständig »dem Tod … um Jesu willen« ausgesetzt, weil er auf diese Weise »das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch« offenbart.
4,12 Hier fasst der Apostel alles zusammen, was er darüber gesagt hat, dass durch sein ständiges Leiden »das Leben« zu den Korinthern gekommen ist. Damit Paulus überhaupt das Evangelium nach Korinth bringen konnte, musste er unzählige Leiden auf sich nehmen. Doch er ertrug es, weil die Korinther ihr Leben dem Herrn Jesus anvertraut hatten und nun ewiges Leben besaßen. Alle körperlichen Leiden und Verluste des Paulus bedeuteten geistlichen Gewinn für andere. Robertson sagt. »Sein Sterben wirkte sich zum Guten derer aus, denen sein Dienst galt.«20
Oftmals tendieren wir dazu, den Herrn in Krankheit anzurufen, ihn zu bitten, uns von der Krankheit zu befreien, damit wir ihm besser dienen können. Vielleicht sollten wir Gott manchmal für solche Anfechtungen in unserem Leben danken und uns der eigenen Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf uns ruhen kann.
4,13 Der Apostel hat von der dauernden Zerbrechlichkeit und Schwäche des menschlichen Gefäßes gesprochen, dem das Evangelium anvertraut ist. Welche Haltung nimmt er nun dazu ein? Ist er besiegt, entmutigt oder verzweifelt? Die Antwort lautet: Nein. Der Glaube ermöglicht es ihm, weiterhin das Evangelium zu predigen, weil er weiß, dass hinter den Leiden seines Lebens eine unaussprechliche Herrlichkeit auf ihn wartet. In Psalm 116,10 sagt der Psalmist: »Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet.« Er hat auf den Herrn vertraut, und deshalb war das, was er sagte, das Ergebnis eines tief gegründeten Glaubens. Paulus sagt hier nun, dass dasselbe für ihn gilt. Er hat denselben Geist des Glaubens wie der Psalmist, als er diese Worte sprach. Paulus sagt: »So glauben auch wir, daru m reden wir auch.«
Die Anfechtungen und Verfolgungen im Leben des Paulus versiegelten seine Lippen nicht. Wo immer wir echten Glauben finden, muss er sich ausdrücken. Er kann nicht schweigen.
Wenn du auf Jesus Christus vertraust musst du ganz gewiss von ihm reden, auch wenn es dich bis in den Staub demütigt,
wenn du ihn liebst, dann sage es auch. Wenn du an Jesus glaubst, und den Heiland angenommen hast, dann zög’re nicht, sondern sag es, sonst wirst du den Geist betrüben.
4,14 Wenn es uns seltsam erscheint, dass Paulus nicht von der ständigen Todesgefahr erschüttert war, dann finden wir die Lösung dieses Problems in Vers 14. Das ist das Geheimnis seiner Furchtlosigkeit bei der Verbreitung der christlichen Botschaft. Er wusste, dass dieses Leben nicht alles ist. Er wusste, dass auf den Gläubigen mit Sicherheit die Auferstehung wartet. Derselbe Gott, »welcher den Herrn Jesus auferweckt hat«, würde »auch« den Apostel Paulus »mit Jesus auferwecken und« ihn zusammen mit den Korinthern »vor sich stellen«.
4,15 Mit der sicheren und festen Hoffnung auf die Auferstehung vor Augen war der Apostel gewillt, sich auch schrecklichen Entbehrungen zu unterziehen. Er wusste, dass solches Leiden eine zweifache Folge haben würde. Entbehrungen würden für die Korinther zum Segen werden, und damit würde »durch eine immer größere Zahl die Danksagung zur Ehre Gottes überströmen«. Diese beiden Gründe trieben Paulus in seinem Handeln an. Ihm war es ein Anliegen, dass »Gottes Ehre« vermehrt und andere Menschen gesegnet wurden. Paulus erkannte, dass, je mehr er selbst litt, andere umso mehr »die Gnade« Gottes erfahren würden. Je mehr Menschen gerettet werden, desto mehr »Danksagung« wird zu »Gott« aufsteigen. Und je mehr »Danksagung« zu Gott aufsteigt, desto mehr wird Gott auch verherrlicht. Hfa scheint den Sinn dieses Abschnittes besonders gut zu umschreiben: Alle Entbehrungen aber ertragen wir für euch. Denn je mehr Menschen für Christus gewonnen werden, umso mehr werden Gott danken und ihn über alles ehren.
4,16 Paulus hat seine Bereitschaft erklärt, sich allen Arten von Leid und Gefahr zu unterziehen, weil er vor sich die sichere Hoffnung auf die Auferstehung sah. »Deshalb« ermattete er »nicht«. Obwohl einerseits der Prozess des leiblichen Verfalls ständig fortschritt, so stand doch auf der anderen Seite die geistliche Erneuerung, die es ihm ermöglichte, trotz aller widriger Umstände weiterzumachen. Die Tatsache, dass »unser äußerer Mensch aufgerieben wird«, benötigt keine Erklärung. Wir sehen es alle nur zu deutlich an unserem eigenen Leib! Paulus freut sich hier über die Tatsache, dass Gott täglich Nachschub an Kraft für unseren christlichen Dienst liefert. Deshalb stimmt es, was Michelangelo einmal gesagt hat: »Je mehr Marmor ich wegschlage, desto weiter wächst das Kunstwerk.«
Ironside kommentiert:
Man sagt, dass unsere Körperzellen alle 7 Jahre einmal vollständig ausgetauscht werden. Doch wir haben das Bewusstsein, dieselbe Person zu sein. Unsere Persönlichkeit bleibt über die Jahre hinweg unverändert, und das wird auch bei der noch viel größeren Veränderung, die wir noch erwarten, so sein. Im Schmetterling ist dasselbe Leben wie in der Raupe.21
4,17 Nachdem wir von den schrecklichen Anfechtungen und Bedrängnissen gelesen haben, die der Apostel Paulus erlitten hat, mag es für uns schwer verständlich sein, wie er von ihnen als »vorübergehend« und leicht sprechen konnte. In gewissem Sinne waren sie nämlich alles andere als leicht. Sie waren bitter und grausam.
Doch die Erklärung liegt in dem Vergleich, den Paulus hier macht. Die Anfechtungen an sich können sehr schlimm sein, doch wenn man sie mit dem »überreichen, ewigen Gewicht von Herrlichkeit«22 vergleicht, die vor uns liegt, dann haben sie eine gewisse Leichtigkeit. Auch geht diese leichte »Bedrängnis« schnell vorüber, während die Herrlichkeit »ewig« sein wird. Alles, was wir aus den Anfechtungen in dieser Welt lernen, wird in der kommenden Welt für uns die reichsten Früchte tragen.
Moorehead beobachtet: »Während diese Welt für uns ein freudenarmer Ort ist, werden wir einst in die Freude eingehen, wenn wir in der Ewigkeit sind. Hier erhalten wir einige Tropfen, doch auf uns wartet dort ein ganzer Ozean.«23 Wie F. E. Marsh entdeckt hat, findet sich in diesem Brief eine Pyramide. Sie ermüdet denjenigen, der bereits den Aufstieg begonnen hat, nicht noch weiter, sondern bringt seiner Seele vielmehr unaussprechliche Ruhe und Tröstung. Herrlichkeit
Gewicht von Herrlichkeit ewiges Gewicht von Herrlichkeit überreiches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit über die Maßen überreiches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit24
4,18 In diesem Vers beschreibt das Wort »anschauen« nicht einfach das normale Schauen mit den leiblichen Augen, sondern es geht hier um die Vorstellung, etwas als wichtig zu erachten. Das »Sichtbare« ist nicht das Ziel der menschlichen Existenz. Das »Sichtbare« bezeichnet hier in erster Linie die Entbehrungen, die Versuchungen und die Leiden, die Paulus erduldete. Sie gehörten zu seinem Dienst, doch das Ziel seines Dienstes war das »Unsichtbare«. Darin eingeschlossen sind die Verherrlichung Christi, der Segen für die Mitmenschen und die Belohnung, die den treuen Knecht Christi am Richterstuhl Christi erwartet.
Jowett kommentiert:
Wer das [Sichtbare] sieht, nimmt es nur mit seinen natürlichen Augen wahr. Wer das [Unsichtbare] sieht, nimmt es mit den geistlichen Augen wahr. Die erste Art der Erkenntnis ist natürlich, die zweite geistlich. Das Hilfsmittel der Erkenntnis im ersten Fall ist der Verstand, im zweiten Fall ist es der Glaube … In der gesamten Schrift wird uns dieser Gegensatz zwischen dem rein äußerlichen Sehen und dem Sehen mit den geistlichen Augen gezeigt. Dabei werden wir überall gelehrt, die Unzulänglichkeit und Schäbigkeit des einen zu erkennen und die Fülle sowie Ausdehnung des anderen höher zu achten.25
H. Leben angesichts des Richterstuhles Christi (5,1-10) Die folgenden Verse sind mit dem Vorhergehenden eng verbunden. Paulus hat von seinen gegenwärtigen Leiden und Sorgen und von der vor ihm liegenden zukünftigen Herrlichkeit gesprochen. Das bringt ihn nun auf das Thema Tod. In diesem Abschnitt haben wir eine der großartigsten Abhandlungen des gesamten Wortes Gottes, die sich mit dem Tod und dem Verhältnis des Christen zu ihm befassen.
5,1 In Vers 1 bezeichnet der Apostel unseren gegenwärtigen sterblichen Leib als »irdisches Zelthaus«. Ein Zelt ist keine feste, sondern eine tragbare Wohnstätte für Pilger und Reisende. Paulus spricht davon, dass der Tod dieses »Zelthaus« zerstört. Zur Zeit unseres Todes wird das Zelt abgebrochen. Der Leib wird ins Grab gelegt, während der Geist und die Seele des Gläubigen zum Herrn gehen.
Paulus beginnt das Kapitel mit einer Zuversicht: Wenn dieses »irdische Zelthaus« einmal »zerstört« werden sollte, weiß er, dass er »einen Bau von Gott« hat und »ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus in den Himmeln« besitzt. Man beachte den Unterschied zwischen dem »Zelthaus« und dem »Bau«. Das zeitweilige »Zelthaus« wird abgebrochen, aber ein neues, dauerhaftes Haus wartet schon in der himmlischen Heimat auf den Gläubigen. Dieses ist ein »Bau von Gott«, und zwar in dem Sinne, dass Gott ihn uns gibt.
Außerdem ist es ein »nicht mit Händen gemachtes … Haus«. Warum erwähnt Paulus das? Auch unsere jetzigen Leiber sind nicht mit Händen gemacht, warum sollte er also betonen, dass unsere zukünftigen, verherrlichten Leiber nicht mit Händen gemacht sind? Die Antwort lautet, dass der Ausdruck »nicht mit Händen gemacht« bedeutet, dass die Herrlichkeitsleiber nicht von dieser Schöpfung sind. Das wird in Hebräer 9,11 verdeutlicht, wo wir lesen: »Christus aber ist gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter und ist durch das größere und vollkommenere Zelt – das nicht mit Händen gemacht, das heißt, nicht von dieser Schöpfung ist … hineingegangen …« Paulus will in 2. Korinther 5,1 sagen, dass zwar unsere gegenwärtigen Leiber für ein Leben auf dieser Erde geeignet sind, unsere zukünftigen, verherrlichten Leiber aber nicht zu dieser Schöpfung gehören. Sie werden ganz besonders für das Leben im Himmel geeignet sein.
Der zukünftige Leib des Gläubigen wird als »ewig … in den Himmeln« beschrieben. Er ist ein Leib, der nicht länger der Krankheit, der Vergänglichkeit und dem Tod unterworfen ist. Vielmehr ist es ein Leib, der in unserer himmlischen Heimat für immer Bestand haben wird. Es mag so klingen, als ob dieser Vers aussagen würde, dass der Gläubige den Leib im Augenblick seines Todes erhält, doch das ist nicht der Fall. Er erhält seinen verherrlichten Leib erst, wenn Jesus für seine Gemeinde wiederkommt (1. Thess  4,13-18).  Dem  Gläubigen  widerfährt Folgendes: Wenn er stirbt, dann gehen sein Geist und seine Seele zu Christus, wo er voller Bewusstsein die Herrlichkeit des Himmels genießen kann. Sein Leib wird ins Grab gelegt. Wenn der Herr wiederkommt, dann wird der Staub aus dem Grab auferweckt. Gott wird diesen Staub zu einem neuen, verherrlichten Leib machen, der dann mit dem Geist und der Seele wieder vereinigt wird. Es gibt für den Gläubigen also eine Zeit zwischen seinem Tod und dem Kommen Christi für seine Heiligen. Im Blick darauf kann man sagen, dass er sich in einem entleibten Zustand befindet. Dennoch bedeutet das nicht, dass er nicht die Freude und Herrlichkeit des Himmels genießen könnte. Er ist sich all dieser Dinge vollständig bewusst!
Ehe wir Vers 1 verlassen, sollten wir erwähnen, dass es drei grundsätzliche Möglichkeiten der Deutung des Ausdrucks »ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus in den Himmeln« gibt. 1. Der Himmel selbst.
2. Eine Art Übergangsleib zwischen Tod und Auferstehung.
3. Der verherrlichte Leib. Das Haus kann kaum der Himmel selbst sein, weil von ihm gesagt wird, dass es in den Himmeln »ewig« und »aus dem Himmel« sei (Kap. 5,2). Über einen Übergangsleib sagt die Schrift nichts. Außerdem wird von dem nicht mit Händen gemachten Haus ausgesagt, dass es im Himmel ewig ist, und das gilt für einen Übergangsleib nicht. Die dritte Auslegung (wonach mit dem Haus der Auferstehungsleib gemeint ist), scheint uns die korrekte Deutung zu sein.
5,2 »In diesem« gegenwärtigen sterblichen Leib »seufzen« wird oft gezwungenermaßen, weil er uns so beschränkt und uns in unserem geistlichen Leben behindert. Wir »sehnen uns« deshalb sehr »danach, mit unserer Behausung aus dem Himmel überkleidet zu werden«. In diesem Vers scheint der Apostel sein Bild zu wechseln. Er geht vom Zelt zur Kleidung über. Jemand hat vorgeschlagen, dass das so zu erklären sei, Paulus habe als Zeltmacher erkannt, dass für Kleidung und Zelte ähnliches Material verwendet wird. Jedenfalls wird die Bedeutung klar, dass er sich danach sehnte, seinen verherrlichten Leib zu erhalten.
5,3 Was bedeutet das Wort »nackt« in diesem Vers? Bedeutet es, dass derjenige nicht errettet ist und deshalb ohne Bedeckung durch die Gerechtigkeit vor Gott stehen muss? Heißt das, dass dieser Mensch zwar errettet ist, aber keine Belohnung am Richterstuhl Christi erhalten wird? Oder bedeutet dies, dass der Gerettete keinen Leib während der Zeit zwischen seinem Tod und der Auferstehung hat und in dem Sinne nackt ist, dass er ein vom Körper gelöster Geist ist? Der Autor des vorliegenden Kommentars versteht den Ausdruck so, dass hier körperlos oder unbekleidet gemeint ist. Paulus sagt hier, dass er sich nicht so sehr nach dem Tod und nach dem damit einhergehenden körperlosen Zustand, sondern eher nach der Wiederkunft des Herrn Jesus Christus sehnt, bei der alle, die gestorben sind, ihren verherrlichten Leib erhalten werden.
5,4 Dass unsere Auslegung von Vers 3 richtig ist, scheint durch Vers 4 unterstützt zu werden. Der Apostel sagt hier, dass »wir freilich, die in dem« gegenwärtigen irdischen »Zelt sind, beschwert seufzen, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben«. Mit anderen Worten, er wartete nicht auf einen Zustand zwischen Tod und Entrückung als ideale Hoffnung des Gläubigen, sondern auf das, was bei der Entrückung geschieht. Dann werden die Gläubigen einen Leib empfangen, der nicht länger dem Tod unterworfen ist.
5,5 Es ist »Gott, … der uns aber eben« zu diesem Zweck »bereitet hat«, nämlich der Erlösung des Leibes. Das wird der Höhepunkt seiner herrlichen Ziele für uns sein. Gegenwärtig sind wir nur an Geist und Seele erlöst, doch dann wird die Erlösung auch den Leib mit einschließen. Man denke nur daran: Gott hat uns mit diesem Ziel geschaffen; es geht um den verherrlichten Zustand, um »ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus in den Himmeln«!
Und wie können wir sicher sein, dass wir einen verherrlichten Leib erhalten werden? Die Antwort lautet, dass »Gott … uns das Unterpfand des Geistes gegeben hat«. Wie schon weiter oben erklärt, ist die Tatsache, dass in jedem Gläubigen der Geist Gottes wohnt, ein Unterpfand dafür, dass alle Verheißungen Gottes an den Gläubigen erfüllt werden. Der Geist ist ein »Unterpfand« des Kommenden, ein darauf hinweisendes Zeichen. Der Geist Gottes selbst ist eine Garantie dafür, dass das, was Gott uns bereits teilweise gegeben hat, eines Tages völlig uns gehören wird.
5,6 Nur der feste Glaube an diese kostbaren Wirklichkeiten ermöglichte es Paulus, immer guten Mutes zu bleiben. Er wusste, dass er, solange er »einheimisch im Leib« war, gleichzeitig »ausheimisch … vom Herrn« war. Das war für Paulus sicher nicht der Idealzustand, doch er war bereit, das zu ertragen, damit er Christus hier auf Erden dienen und eine Hilfe für das Volk Gottes sein konnte.
5,7 Hier wird die Tatsache genannt, dass wir »durch Glauben wandeln« und »nicht durch Schauen«. Dies ist ein ausreichender Beweis dafür, dass wir noch nicht beim Herrn sind. Wir haben den Herrn noch nie mit unseren leiblichen Augen gesehen. Solange wir in diesem Leib zu Hause sind, führen wir ein Leben, in dem wir eine weniger enge und innige Gemeinschaft mit dem Herrn haben als im eigentlichen Leben des Schauens.
5,8 Vers 8 nimmt den Gedanken von Vers 6 auf und vervollständigt ihn. Paulus ist guten Mutes in Bezug auf die segensreiche Hoffnung, die vor ihm liegt, und er kann sagen, dass er »lieber ausheimisch vom Leib und einheimisch beim Herrn« sei. Ihn prägt ein innerer Zustand, den Bernhard von Clairvaux als »himmlisches Heimweh« bezeichnet hat. Mit diesem Vers scheint der Apostel dem vorher Gesagten zu widersprechen. In den vorangegangenen Versen hat er gesagt, dass er sich nach dem verherrlichten Leib sehne. Doch nun sagt er, dass er gewillt sei, »lieber ausheimisch vom Leib und einheimisch beim Herrn« zu sein. Dies bedeutet, dass er lieber in dem körperlosen Zustand wäre, in dem er sich zwischen dem Tod und der Entrückung befinden wird.
Doch hier besteht kein Widerspruch. Es gibt für den Christen drei Möglichkeiten, und es hängt einfach davon ab, welche am meisten bevorzugt wird. Einmal gibt es das gegenwärtige Leben auf der Erde in unserem sterblichen Leib. Dann gibt es den Zustand zwischen dem Tod und dem Kommen Christi, einen körperlosen Zustand, in dem allerdings der Geist und die Seele dann schon bewusst die Gegenwart Christi genießen. Und schließlich gibt es noch die Vollendung unserer Errettung, wenn wir bei der Wiederkunft des Herrn Jesus unseren verherrlichten Leib erhalten. Paulus lehrt in diesem Abschnitt einfach, dass der erste Zustand gut ist, der zweite besser und der dritte der beste.
5,9 Der Gläubige sollte es sich zum Ziel machen, dem Herrn »wohlgefällig zu sein«. Während sein Heil nicht von den Werken abhängt, wird sein zukünftiger Lohn im direkten Verhältnis zu seiner Treue gegenüber dem Herrn stehen. Ein Gläubiger sollte immer im Gedächtnis behalten, dass Glaube mit Errettung zu tun hat und Werke mit Lohn zusammenhängen. Er ist im Glauben durch die Gnade erlöst, nicht durch Werke. Wenn er jedoch errettet ist, sollte er sich bemühen, gute Werke zu tun, und wenn er das tut, wird er dafür belohnt werden. Man beachte, dass Paulus, »ob einheimisch oder ausheimisch, ihm wohlgefällig … sein« wollte. Das bedeutet, dass sein Dienst auf Erden dem Herzen seines Herrn wohlgefällig sein sollte, ganz gleich, ob er sich weiter hier auf der Erde befand oder ob er vor dem Richterstuhl Christi stand.
5,10 Hier wird ein Motiv dafür genannt, dass wir uns bemühen, »ihm wohlgefällig zu sein«. Es besteht darin, dass »wir … alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden« müssen. Es geht hier eben nicht nur um ein Erscheinen, sondern um das »offenbar werden«. Hfa sagt ganz richtig: »Denn einmal werden wir uns alle vor Jesus Christus als unserem Richter verantworten müssen.« Es ist etwas ganz anderes, ob wir nur einen Arztbesuch machen, oder ob wir dort auch geröntgt werden. Der »Richterstuhl Christi« wird unser Leben des Dienstes für Christus so offenbar machen, wie es gewesen ist. Es geht dabei nicht nur um den Umfang, sondern auch um die Qualität des Dienstes, und sogar die Motive, die uns dazu geführt haben, werden noch einmal betrachtet werden.
Obwohl die Sünden nach der Bekehrung unseren Dienst beeinflussen, werden die Sünden des Gläubigen zu diesem so wichtigen Zeitpunkt nicht mehr zur Debatte stehen. Das Gericht über sie hat vor über 1900 Jahren stattgefunden, als der Herr Jesus unsere Sünden an seinem Leib auf das Kreuz hinauftrug. Er hat die Schuld, die wir für unsere Sünden verdient hätten, voll bezahlt, und Gott wird über sie nie wieder Gericht halten (Joh 5,24). Der »Richterstuhl Christi« hat mit unserem Dienst für den Herrn zu tun. Es geht dann nicht darum, ob wir gerettet sind oder nicht, weil dies schon eine sichere Tatsache ist. Doch geht es zu dieser Zeit um Belohnung oder Verlust. I. Das gute Gewissen des Paulus bezüglich seines Dienstes (5,11 – 6,2)
5,11 Allgemein geht man hinsichtlich der Bedeutung dieses Verses davon aus, dass Paulus, weil er sich des schrecklichen Gerichts über die Sünde und der Schrecken der Hölle bewusst war, überall hinging. Er versuchte, die Menschen dazu zu bringen, das Evangelium anzunehmen. Das ist zwar wahr, doch glauben wir, dass dies nicht die wichtigste Bedeutung dieses Abschnitts ist. Paulus spricht hier nicht so sehr von den Schrecken des Herrn für die Ungläubigen als vielmehr von der ehrfürchtigen Scheu, womit er dem »Herrn« zu dienen und zu gefallen suchte. Der Apostel weiß ja, dass sein Leben vor Gott ein offenes Buch ist. Doch er möchte, dass auch die Korinther von seiner Treue und Rechtschaffenheit im Dienst des Evangeliums überzeugt sind. Er sagt im Grunde:
Weil wir die Furcht »des Herrn kennen«, versuchen wir »Menschen« zu »überreden«, dass wir als Diener Christi rechtschaffen und ehrlich sind. Doch ob es uns gelingt, sie zu überzeugen oder nicht, »Gott … sind wir« wohlbekannt. Und wir hoffen, dass dies auch im »Gewissen« von euch Korinthern so sein wird!
Diese Erklärung scheint am besten in den Zusammenhang zu passen.
5,12 Sofort erkennt Paulus, dass das eben Gesagte ihm als Eigenlob ausgelegt werden könnte. Er möchte jedoch nicht, dass jemand denkt, er würde sich dem hingeben. Und so fügt er hinzu: »Wir empfehlen uns nicht wieder selbst bei euch.« Das bedeutet nicht, dass er sich ihnen je selbst empfohlen hätte, doch er war angeklagt worden, immer wieder so gehandelt zu haben. Er versucht hier, ihnen diese Meinung zu nehmen. Warum hat er dann seinen Dienst so anhaltend verteidigt? Die Antwort des Paulus lautet: Wir »geben euch Anlass zum Ruhm unsertwegen, damit ihr ihn habt bei denen, die sich nach dem Ansehen rühmen und nicht nach dem Herzen«. Er war nicht daran interessiert, sich selbst zu empfehlen. Er erkannte aber, dass er von den falschen Lehrern vor den korinthischen Gläubigen scharf kritisiert wurde. Er wollte, dass die Gläubigen wussten, wie sie diesen Angriffen auf ihn begegnen sollten. Deshalb gab er ihnen diese Information, damit sie imstande wären, ihn zu verteidigen, wenn er in ihrer Gegenwart verurteilt würde. Er beschreibt seine Kritiker als solche, »die sich nach dem Ansehen rühmen und nicht nach dem Herzen« (vgl. 1. Sam 16,7). Mit anderen Worten, sie waren an Äußerlichkeiten interessiert, doch nicht an verborgener Wahrheit, Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit. Die äußere Erscheinung, Beredsamkeit oder scheinbarer Eifer bedeuteten ihnen alles. »Diesen ›auf das Oberflächliche Bedachten‹ bedeutete äußere Erscheinung alles, während sie ein rechtschaffenes Herz für unwichtig hielten« (ohne Quellenangabe).
5,13 Aus diesem Vers scheint hervorzugehen, dass der Apostel sogar des Fanatismus, der Geisteskrankheit und verschiedener Formen der geistigen Verwirrtheit angeklagt wurde. Er leugnet nicht, dass er ein Leben führte, das Denney einen Zustand »geistlicher Anspannung« genannt hat. Er sagt einfach, dass der Zustand, in dem er »außer« sich war, »für Gott« war. Alles, was seinen Kritikern als Geistesverwirrung erschienen sein mochte, war in Wirklichkeit tiefste Hingabe an den Herrn. Er wurde vom Eifer für Gott regelrecht verzehrt. Wenn er andererseits »vernünftig« war, so war es um der Korinther willen. Der Vers will, kurz gesagt, ausdrücken, dass jedes Verhalten des Paulus auf eine von zwei Arten gedeutet werden konnte: Entweder war es Eifer für Gott, oder es ging ihm um das Wohlergehen seiner Mitgläubigen. In beiden Fällen waren seine Motive alles andere als selbstsüchtig. Konnten das seine Kritiker auch von sich selbst behaupten?
5,14 Jeder, der das Leben des Apostels studiert, wird sich fragen, was ihn dazu führte, so unermüdlich und selbstlos zu dienen. Hier, in einem der großartigsten Abschnitte aller seiner Briefe, gibt er eine Antwort auf diese Frage – »die Liebe Christi«.
Bezieht sich »die Liebe Christi« hier auf unsere Liebe zu ihm oder seine Liebe zu uns? Es steht außer Frage, dass es um seine Liebe zu uns geht. Der einzige Grund, warum wir ihn lieben, besteht darin, dass er uns zuerst geliebt hat. Es ist seine Liebe, die uns »drängt« und uns weitertreibt, wie ein Mensch in einer Menge von Leuten weitergetrieben wird, die Weihnachtseinkäufe erledigen. Als Paulus über die wunderbare »Liebe« nachdenkt, die »Christus« ihm erwiesen hat, kann er nicht anders, als im Dienst für seinen wunderbaren Herrn immer weitergetrieben zu werden. Als Jesus für uns alle starb, handelte er als unser Stellvertreter. Als er starb, sind wir somit »alle gestorben« – in ihm. So wie Adams Sünde die Sünde seiner Nachkommen wurde, so wurde der Tod Christi der Tod derer, die an ihn glauben (Röm 5,12-21; 1. Kor 15,21.22).
5,15 Die Argumentation des Apostels ist nicht anfechtbar. Christus ist »für alle … gestorben«. Warum? Damit diejenigen, die durch den Glauben an ihn »leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern« ihm. Der Erlöser starb nicht für uns, damit wir unser belangloses, selbstsüchtiges Leben auf die Weise weiterführen, wie es uns gefällt. Er starb für uns, damit wir unser Leben ihm von nun an in williger, freudiger Hingabe anvertrauen. Denney erklärt:
Als Christus für uns starb, hat er eine so großartige Liebestat vollbracht, dass wir ihm gehören sollten, und zwar für immer. Genau das war nämlich das Ziel seines Todes: Fortan sollten wir ihm ganz gehören.26
5,16 Vielleicht bezieht sich Paulus hier auf Vers 12, wo er seine Kritiker beschrieben hat, die sich des Äußeren, nicht jedoch ihrer Herzenseinstellung rühmen. Nun nimmt er dieses Thema wieder auf, indem er lehrt, dass wir zu einer »neuen Schöpfung«  (V. 17)  werden,  wenn  wir zu Christus kommen. »Von nun an« beurteilen wir Menschen nicht mehr auf fleischliche, weltliche Weise, nach ihrem Aussehen, menschlichen Zeugnissen oder nach ihrer Nationalität. Wir sehen in ihnen wertvolle Seelen, für die Jesus gestorben ist. Er fügt noch einen Sachverhalt hinzu: Selbst wenn er »Christus … nach dem Fleisch« (d. h. als bloßen Menschen) »gekannt« hätte, so kannte er ihn doch nun nicht mehr auf diese Weise. Mit anderen Worten: Zwar konnte man Jesus als Nachbarn im Dorf Nazareth oder als irdischen Messias kennen, doch war es etwas völlig anderes, den verherrlichten Christus zu kennen, der gegenwärtig zur Rechten Gottes sitzt. Wir kennen heute den Herrn Jesus viel genauer und besser, wenn er uns im Wort durch den Heiligen Geist offenbart wird, als diejenigen ihn kennen konnten, die ihn nur nach seinem menschlichen Äußeren beurteilt haben, als er noch als Mensch auf der Erde lebte. David Smith kommentiert: Obwohl der Apostel einst das jüdische Idealbild eines säkularen Messias vertreten hat, hat er nun diesbezüglich eine weitaus erhabenere Vorstellung erlangt. Christus ist für ihn nun der auferstandene und verherrlichte Heiland, der wahrhaftig nicht nach dem Fleisch, sondern nur nach dem Geist erkannt werden kann, nicht durch historische Überlieferungen, sondern durch unmittelbare und lebendige Gemeinschaft.27 5,17 »Wenn jemand in Christus« (d. h. erlöst) »ist«, »so ist er eine neue Schöpfung«. Vor der Bekehrung mag man andere mit menschlichen Maßstäben gemessen haben. Doch nun ist alles anders. »Alte« Methoden der Beurteilung sind »vergangen, siehe, Neues ist geworden«. Dieser Vers ist ein Lieblingsvers derer, die erst kürzlich wiedergeboren wurden, und er wird oftmals in persönlichen Zeugnissen zitiert. Wenn dieser Vers jedoch auf diese Weise zitiert wird, entsteht manchmal ein falscher Eindruck. Die Zuhörer können aufgrund dessen zu der Ansicht neigen, dass die alten Gewohnheiten, bösen Gedanken und begierigen Blicke eines Menschen, wenn er errettet wird, für immer Vergangenheit sind und alles im Leben dieses Menschen buchstäblich neu wird. Wir wissen, dass das so nicht stimmt. Der Vers beschreibt nicht das praktische Verhalten eines Gläubigen, sondern vielmehr seine Stellung. Man beachte, dass es heißt: »Wenn jemand in Christus ist …« Die Worte »in Christus« sind der Schlüssel zu diesem Vers. »In Christus« ist »das Alte vergangen«, und »Neues ist geworden«. Leider trifft dies »in mir« noch nicht in jeder Beziehung zu. Doch wenn ich im christlichen Leben Fortschritte mache, dann wünsche ich mir, dass meine Handlungsweise immer mehr meiner Stellung entspricht. Wenn eines Tages der Herr Jesus wiederkommt, dann werden Stellung und Zustand (praktisches Verhalten) völlig übereinstimmen.
5,18 »Alles« ist »von Gott«. Er ist der Ursprung und Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren. Es gibt keinen Grund für menschliches Rühmen. Derselbe »Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus«, hat uns »den Dienst der Versöhnung gegeben«.
Diese wunderbare Aussage der schriftgemäßen Lehre von der Versöhnung findet sich in einem englischen Bibellexikon:
Durch den Tod des Herrn Jesus am Kreuz überwand Gott in seiner Gnade die Distanz, die die Sünde zwischen ihm und der Menschheit verursacht hatte, damit alles durch Christus vor ihm angenehm würde. Die Gläubigen sind durch den Tod Christi schon versöhnt, damit sie heilig, untadelig und makellos vor ihn gestellt werden (als neue Schöpfung). Gott war in Christus, als Christus auf der Erde war. Dabei hat Gott die Welt mit sich selbst versöhnt. Er rechnete ihnen ihre Übertretungen nicht zu. Doch nun, da die Liebe Gottes im Kreuz vollkommen offenbart worden ist, ist das Zeugnis weltweit hinausgegangen, um Menschen zu drängen, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Das Ziel ist, dass Gott am Menschen Wohlgefallen haben kann.28
5,19 Der Dienst der Versöhnung wird hier als die Botschaft beschrieben, »dass Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnt hat«. Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Aussage zu verstehen, die beide schriftgemäß sind. Erstens kann es bedeuten, »dass Gott in Christus war«, und zwar in dem Sinne, dass Jesus Christus eine Person der Dreieinheit ist. Das ist sicherlich wahr, doch können wir es auch so verstehen, dass »Gott in Christus … die Welt mit sich selbst versöhnt hat«. Mit anderen Worten, er versöhnte die Welt mit sich, aber er tat es durch die Person unseres Herrn Jesus Christus. Welche Auslegung wir auch immer annehmen, die Wahrheit bleibt deutlich, dass Gott den Grund für die Entfremdung beseitigt hat, die zwischen ihm und der Menschheit aufgrund der Sünde entstanden war. Gott muss nicht versöhnt werden, sondern der Mensch muss mit Gott versöhnt werden.
»… ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnete.« Beim ersten Lesen mag es scheinen, dass dieser Vers die Allversöhnung lehrt, dass nämlich alle Menschen durch das Werk Christi gerettet werden. Doch solch eine Lehre stünde völlig im Gegensatz zu den Aussagen des übrigen Wortes Gottes. Gott hat einen Weg bereitet, durch den die Übertretungen der Menschen ihnen nicht angerechnet werden. Dieser Weg ist zwar für alle zugänglich, doch nur für die wirksam, die in Christus sind. Die Sünden der nicht erlösten Menschen werden ihnen ganz gewiss angerechnet, doch sobald diese Menschen dem Herrn Jesus als ihrem Heiland vertrauen, werden sie in ihm als gerecht angesehen, und ihre Sünden sind ausgetilgt. Zusätzlich zu seinem Versöhnungswerk hat Gott auch »in« seine Knechte »das Wort von der Versöhnung« gelegt. Mit anderen Worten, er hat ihnen das wunderbare Vorrecht gewährt, hinausgehen zu dürfen und die herrliche Botschaft überall allen Menschen zu predigen. Er gab diesen heiligen Auftrag nicht den Engeln, sondern armen und schwachen Menschen.
5,20 Im vorhergehenden Vers sagte der Apostel, dass ihm die Botschaft von der Versöhnung gegeben ist. Er ist ausgesandt worden, diese Botschaft der Menschheit zu predigen. Wir sind der Ansicht, dass wir in den Versen 5,20 bis 6,2 eine Zusammenfassung des Wortes von der Versöhnung finden. Mit anderen Worten, Paulus lässt uns nun die Botschaft hören, die er den Verlorenen in jedem Land und auf jedem Kontinent verkündigt hat. Es ist wichtig, das hier festzuhalten. Paulus will die Korinther nicht auffordern, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Sie glauben schon an den Herrn Jesus. Doch er legt vor den Korinthern Rechenschaft über die Botschaft ab, die er den Verlorenen predigt, wo immer er hinkommt.
Ein Botschafter ist ein Staatsdiener, der seine Regierung in einem fremden Land vertritt. Paulus spricht vom christlichen Dienst immer als von einer erhabenen und würdigen Berufung. Er vergleicht sich selbst mit einem Botschafter, der von »Christus« in unsere Welt gesandt wurde. Er sprach im Namen Gottes, und »Gott … ermahnt« die Betreffenden praktisch durch ihn. Das scheint eine seltsame Sprache in Bezug auf einen Botschafter zu sein. Normalerweise ermahnt ein Botschafter nicht, doch das ist die Herrlichkeit des Evangeliums, dass dabei Gott wirklich mit tränenerfüllten Augen auf den Knien liegt und die Menschen aufruft, sich mit ihm »versöhnen« zu lassen. Wenn irgendeine Feindschaft besteht, dann vonseiten des Menschen selbst. Gott hat alle Hindernisse zur vollständigen Gemeinschaft zwischen ihm und dem Menschen beseitigt. Nun muss der Mensch seine Waffen der Rebellion niederlegen, sich von seiner widerspenstigen Auflehnung abkehren und »mit Gott versöhnt« werden.
5,21 Dieser Vers zeigt uns die lehrmäßige Grundlage unserer Versöhnung. Wie hat Gott die Versöhnung ermöglicht? Wie kann er schuldige Sünder annehmen, die zu ihm in Buße und Glauben kommen? Die Antwort lautet, dass der Herr Jesus das gesamte Sündenproblem bereinigt hat, sodass wir nun mit Gott versöhnt werden können.
Mit anderen Worten: Gott ließ Christus »für uns zur Sünde« werden – diesen Christus, »der Sünde nicht kannte« – »damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm«.
Wir müssen uns vor dem Gedanken hüten, dass der Herr Jesus Christus am Kreuz von Golgatha wirklich an sich sündig geworden wäre. Eine solche Vorstellung ist falsch. Unsere Sünden wurden auf ihn geworfen, doch sie waren nicht in ihm. Gott machte ihn für uns zum Sündopfer. Wenn wir auf ihn vertrauen, werden wir von Gott für gerecht erachtet. Die Ansprüche des Gesetzes sind von uns erem Stellvertreter völlig erfüllt worden.
Doch eine wunderbare Wahrheit bleibt bestehen. Sie beinhaltet die Tatsache, dass der, »der Sünde nicht kannte, … für uns zur Sünde gemacht« worden ist, »damit wir«, die wir keine Gerechtigkeit kannten, »Gottes Gerechtigkeit würden in ihm«. Kein sterblicher Mund wird je in der Lage sein, Gott genügend für solche grenzenlose Gnade zu danken.
6,1 Einige verstehen diesen Vers so, dass Paulus hier die Korinther anspricht und sie ermutigt, »die Gnade« voll auszuschöpfen, die ihnen erwiesen worden ist. Wir sind jedoch eher der Ansicht, dass Paulus hier noch weiter für die Botschaft Rechenschaft ablegt, die er den Verlorenen predigt. Er hat den Ungläubigen schon von der wunderbaren Gnade berichtet, die ihnen von Gott angeboten wird. Nun bittet er sie weiter, diese »Gnade Gottes nicht vergeblich« zu empfangen. Sie sollten nicht zulassen, dass der Same des Evangeliums auf unfruchtbaren Boden fällt. Sie sollten auf diese wunderbare Botschaft reagieren, indem sie den Heiland annehmen.
6,2 Paulus zitiert nun aus Jesaja 49,8. Wenn wir dieses Kapitel, aus dem der Vers stammt, studieren, dann sehen wir, worum es geht: Gott ist dort auf sein Volk zornig, weil es den Messias verworfen hat. In Vers 7 sehen wir, wie der Herr Jesus vom Volk abgelehnt wird, wobei wir wissen, dass diese Ablehnung zu seinem Tod führte. Doch dann in Vers 8 finden wir die Worte Jahwes, die dem Herrn Jesus versichern, dass sein Gebet erhört worden ist und Gott ihm helfen sowie ihn bewahren wird.
»Am Tage des Heils habe ich dir geholfen.« Das bezieht sich auf die Auferstehung des Herrn Jesus Christus. Die »angenehme Zeit« und der »Tag des Heils« sollten durch die Auferweckung Christi aus den Toten herbeigeführt werden. Wenn Paulus nun sein Evangelium predigt, dann hält er an dieser wunderbaren Wahrheit fest und verkündigt seinen verlorenen Zuhörern: »Siehe, jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils.« Mit anderen Worten, die Zeit, die Jesaja als »Tag des Heils« ankündigt, ist schon da. Daher drängt Paulus die Menschen, dem Erlöser zu vertrauen, solange der »Tag des Heils« noch andauert.
J. Das Verhalten des Paulus in seinem Dienst (6,3-10)
6,3 Hier wechselt Paulus nun das Thema. Er behandelt nicht mehr die Botschaft, die er predigte, sondern sein eigenes Verhalten im christlichen »Dienst«. Er erkannte, dass es immer Leute gibt, die nach einer Ausrede suchen, auf die Botschaft von der Erlösung nicht hören zu müssen. Wenn sie diese Ausrede in einem inkonsequenten Leben des Verkündigers finden, ist dies für sie umso besser. Deshalb erinnert er die Korinther daran, dass er »in keiner Sache irgendeinen Anstoß« gegeben habe, »damit der Dienst nicht verlästert« werde. Wie wir schon weiter oben ausgeführt haben, bezieht sich das Wort »Dienst« nicht auf irgendein ehrwürdiges kirchliches Amt, sondern auf den Dienst für Christus. Die Vorstellung einer Ordination durch Menschen hat hier keinen Raum. Alle, die Christus gehören, sind auch Diener.
6,4 In den Versen 4 bis 10 beschreibt der Apostel, wie er seinen Dienst auszuüben suchte – auf eine Art und Weise, die jenseits jedes Tadels lag. Er war sich bewusst, ein Diener des Höchsten zu sein, und versuchte, sich immer so zu verhalten, wie es seiner Berufung würdig war. Denney hat diesen Abschnitt treffend kommentiert:
Die Brunnen der Tiefe brechen auf, als er daran denkt, was hier auf dem Spiel steht. Zu Beginn ist er in großen Nöten und kann nur in unzusammenhängenden Worten sprechen, immer nur eines nach dem anderen, doch ehe er aufhört, hat er seine Fassung wiedererlangt und öffnet uns seine Seele ohne Vorbehalte.29
Die Verse 4 und 5 beschreiben die physischen Leiden, die Paulus erduldete und die ihn als ehrlichen, treuen Diener des Herrn ausweisen. Die nächsten beiden Verse behandeln seine christlichen Eigenschaften. In den Versen 8 bis 10 listet er die unterschiedlichen Erfahrungen auf, die für den christlichen Dienst so typisch sind.
»In vielem Ausharren« beschreibt zweifellos die Geduld des Paulus gegenüber Einzelnen, Ortsgemeinden und all den Anfechtungen, die ihn von seinem Weg der Standhaftigkeit abbringen sollten.
»Drangsale« könnten echte Verfolgungen bedeuten, die er im Namen Christi zu erdulden hatte.
Mit »Nöten« sind wohl die Entbehrungen gemeint, die er erlitt, wahrscheinlich an Essen, Kleidung und Unterkunft. Zu den »Ängsten« könnten auch die unvorteilhaften Umstände gehören, in denen er sich oft wiederfand.
6,5 Paulus erlitt viele »Schläge«, wie in Apostelgeschichte 16,23 weiter ausgeführt wird. Auf seine Aufenthalte »in Gefängnissen« bezieht er sich später in 2. Korinther 11,23 noch einmal, und zweifellos bezieht sich das Wort »Tumulte« auf die Empörungen und Erhebungen, die oftmals auf seine Predigt des Evangeliums folgten. (Die Botschaft, dass Heiden auf die gleiche Weise erlöst werden können wie die Juden, hat einige der schlimmsten Gewalttaten ausgelöst.) Zu den »Mühen« des Paulus könnte zum Beispiel die Ausübung seines Berufes als Zeltmacher gehören, doch auch zweifellos andere Formen schwerer Arbeit, ganz zu schweigen von den Reisen. »Wachen« oder Schlaflosigkeit beschreibt die beständige Notwendigkeit, sich vor den Fußangeln des Teufels in Acht zu nehmen. Außerdem musste er gegenüber den Feinden wachsam sein, die ihm zu schaden suchten. Zum »Fasten« könnte einmal der freiwillige Verzicht auf Nahrung gehören, doch hier bedeutet es wahrscheinlich eher Hunger, der durch Armut verursacht war.
6,6 Der Dienst des Paulus geschah »in Reinheit«, d. h. in Keuschheit und Heiligung. Er konnte niemals rechtmäßig irgendwelcher sexueller Vergehen angeklagt werden.
Auch übte Paulus seinen Dienst »in Erkenntnis« aus. Das bezieht sich wahrscheinlich auf die Tatsache, dass der Dienst nicht in Unwissenheit geschah, sondern in Erkenntnis, die er von Gott erhalten hatte. Das zeigt sich wunderbar in der Breite göttlicher Wahrheiten, die uns in den Briefen des Paulus offenbart werden.
Die Korinther sollten keinen Beweis seiner »Langmut« nötig haben! Die geduldige Art und Weise, mit der er immer wieder ihre Sünden und Fehler ertragen hatte, sollte ihnen Beweis genug sein! Die Güte des Paulus zeigte sich darin, dass er sich selbstlos für andere hingab, in seiner liebevollen Haltung gegenüber dem Volk Gottes und in seinem freundlichen Verhalten.
Der Ausdruck »im Heiligen Geist« bedeutet zweifellos, dass alles, was Paulus tat, in der Vollmacht und Unterordnung unter den Heiligen Geist geschah. »In ungeheuchelter Liebe« bedeutet, dass die »Liebe«, die im Leben des Apostels Paulus anderen gegenüber so offensichtlich wurde, weder vorgetäuscht noch heuchlerisch, sondern echt war. Sie erwies sich als ein Kennzeichen seines gesamten Verhaltens.
6,7 »Im Reden der Wahrheit« könnte andeuten, dass der gesamte Dienst des Paulus im Gehorsam gegenüber dem »Wort der Wahrheit« (Schl 2000) geschah. Es könnte auch bedeuten, dass es ein ehrlicher Dienst war, der Botschaft entsprechend, die er predigte, nämlich das »Wort der Wahrheit«.
»In der Kraft Gottes« bedeutet zweifellos, dass der Apostel seine Arbeit nicht in eigener Kraft tat, sondern in schlichter Abhängigkeit von der Kraft, die »Gott« ihm schenkte. Einige haben vorgeschlagen, dass dies eine Erwähnung der Wunder ist, die der Apostel kraft seines Aposteldienstes tun konnte. »Mit den Waffen der Gerechtigkeit« wird in Epheser 6,14-18 näher erläutert. Sie stehen für Aufrichtigkeit und einen beständigen Charakter. Jemand hat einmal gesagt: »Wenn jemand in praktische Gerechtigkeit gekleidet ist, dann ist er vor allen Regenschauern des Lebens sicher.« Wenn unser Gewissen uns keine Übertretungen gegen Gott und Menschen zeigen kann, dann hat der Teufel nur wenig Ansatzpunkte.
Es ist nicht ganz geklärt, was mit dem Ausdruck »zur Rechten und zur Linken« gemeint ist. Eine der wahrscheinlicheren Erklärungen ist, dass in der antiken Kriegsführung das Schwert in der Rechten und der Schild in der Linken gehalten wurde. Das Schwert steht für den Angriffskampf, der Schild für die Verteidigung. In diesem Fall würde Paulus hier sagen, dass eine gute christliche Wesensart der beste Angriff und die beste Verteidigung ist.
6,8 Hier und in den Versen 9 und 10 beschreibt Paulus einige der scharfen Gegensätze, die im Dienst für den Herrn Jesus vorkommen. Der wahre Jünger wandelt mitunter auf den Höhen bzw. im Tal oder auch im Gebiet dazwischen. Er führt ein Leben der »Ehre und Unehre«, mit Sieg und scheinbarer Niederlage, mit Anerkennung und Kritik. Der wahre Diener Gottes wird zum Ziel »böser und guter Nachrede«. Einige heben seinen Eifer und seinen Mut hervor, während andere ihn nur verurteilen. Er wird als Verräter oder Hochstapler angesehen, und doch bleibt er in all dem »wahrhaftig«. Er ist kein Hochstapler, sondern ein echter Diener des Höchsten.
6,9 In gewissem Sinne war Paulus »unbekannt«, von niemandem geschätzt und von den meisten missverstanden, soweit es sich nämlich um die Welt handelte, und doch war er Gott und den Gläubigen »wohlbekannt.«30 Sein Leben bestand im täglichen Sterben, doch »siehe«, er lebte! Er wurde bedroht, gejagt, verfolgt, ihm wurde nachgestellt, und er wurde eingekerkert, doch wenn er die Freiheit wiedererlangte, nutzte er sie, um mit noch größerem Eifer das Evangelium zu verkündigen. Das wird in dem Ausdruck »als Gezüchtigte und doch nicht getötet« weiter betont. »Gezüchtigt« bedeutet hier die Strafen, die ihm von Menschen auferlegt wurden. Viele Male dachten sie wahrscheinlich, dass sie sein Leben als »Aufrührer« beendet hatten. Doch schon kurz darauf erhielten sie aus anderen Städten Berichte über seine Großtaten für Christus!
6,10 Im Zusammenhang mit seinem Dienst erlebte Paulus viel Leid, und doch freute er sich »allezeit«. Man braucht kaum zu erwähnen, dass er über die Ablehnung des Evangeliums, über die Fehlschläge der Kinder Gottes und über seine eigene Unzulänglichkeit Leid trug. Doch wenn er an den Herrn und an die Verheißungen Gottes dachte, dann hatte er immer mehr als genug Grund, aufzuschauen und sich zu freuen. Paulus war »arm« an irdischen Gütern. Wir lesen nirgends, dass er Grundstücke oder Wertgegenstände besessen hätte. Doch man denke an all die Menschen, die durch seinen Dienst bereichert wurden! Obwohl er »nichts« hatte, hatte er in gewissem Sinne doch »alles«, was wirklich zählt.
»In diesen entscheidenden, einem Höhepunkt zustrebenden Sätzen«, schreibt A. T. Robertson, »lässt Paulus seinen Gedanken weiten Raum. Sie spielen wie der Blitz auf den Wolken«.31 K. Der Aufruf des Paulus zu Offenheit und Liebe (6,11-13)
6,11 Und nun bricht der Apostel in einen leidenschaftlichen Appell an die »Korinther« aus. Er bittet sie, ihm ihre Herzen zu öffnen. Er hatte offen und ehrlich mit ihnen über seine Liebe gesprochen. Weil der »Mund« sich durch ein überfließendes Herz »auftut«, spricht sein geöffneter Mund von einem »weit« offenen »Herzen« der Liebe zu diesen Menschen. Dass dies die allgemeine Bedeutung des Verses ist, wird durch die folgende Worte bestätigt: »Unser Herz ist weit geworden«, d. h. bereit, sie in Liebe anzunehmen. Tozer hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Paulus war ein kleiner Mann mit einem weitläufigen Innenleben, sein großes Herz wurde oft von der Engstirnigkeit derer verwundet, die sich von ihm zu Christus rufen ließen. Der Anblick ihrer geistlich ausgezehrten Seelen verletzte ihn tief.«32
6,12 Jede Einschränkung hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Korinthern und Paulus ging auf die Korinther zurück, nicht auf Paulus. Sie mochten ihn nur beschränkt lieben, sodass sie nicht sicher waren, ob sie ihn aufnehmen sollten oder nicht, doch seine Liebe zu ihnen war keinesfalls beschränkt. Der Mangel an Liebe bestand auf ihrer, nicht auf Paulus’ Seite.
6,13 Wenn sie seine Liebe zu ihnen erwidern wollten (er spricht mit denen, die seine »Kinder« im Glauben sind), dann sollten sie zulassen, dass ihre Empfindungen ihm gegenüber »weiter« würden. Paulus fühlte sich als ihr Vater. Sie sollten ihn als Vater im Glauben lieben. Nur Gott konnte dies bewirken, doch sie sollten Gott gestatten, es in ihrem Leben zu bewirken.
Die GN übersetzt die Verse 11-13 recht treffend:
Meine lieben Korinther, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen. Ich habe euch mein Herz weit geöffnet. Es stimmt nicht, dass ihr keinen Platz darin habt. Ihr steht nur deshalb draußen, weil ihr euch selbst aussperrt. Ich spreche zu euch als meinen Kindern. Begegnet mir so, wie ich euch begegne! Öffnet auch ihr eure Herzen weit! L. Der Aufruf des Paulus zu schriftgemäßer Absonderung (6,14–7,1)
6,14 Die Verbindung zwischen den Versen 13 und 14 ist folgende: Paulus hat den Heiligen gesagt, dass ihre Gefühle ihm gegenüber offen sein sollten. Nun erklärt  er,  worin  dies  u. a.  besteht.  Man kann dies dadurch tun, dass man sich von allen Formen der Sünde und Ungerechtigkeit trennt. Zweifellos denkt er dabei zum Teil auch an die falschen Lehrer, die in die Gemeinde von Korinth eingedrungen waren.
Die Erwähnung des »fremdartigen Jochs« ist eine Anspielung auf 5. Mose  22,10:  »Du  sollst  nicht  mit  einem Rind und einem Esel zusammen pflügen.« Der Ochse war ein reines Tier, während der Esel ein unreines war. Ihre Schrittweite und Zugkraft sind außerdem unterschiedlich. Im Gegensatz dazu finden Gläubige, wenn sie mit dem Herrn Jesus in eine Jochgemeinschaft kommen, dass sein Joch sanft und seine Last leicht ist (Matth 11,29.30).
Dieser Abschnitt des 2. Korintherbriefes ist einer der Schlüsselverse der Bibel zum Thema Absonderung. Hier handelt es sich um eine eindeutige Anweisung, dass der Gläubige sich von den »Ungläubigen«, vom Bösen, von der Finsternis, von Belial und von den Götzen absondern soll.
Auf jeden Fall bezieht sich der Abschnitt auf eheliche Beziehungen. Ein Christ sollte niemals jemanden heiraten, der nicht errettet ist. Doch in Fällen, in denen ein Gläubiger schon mit einem Ungläubigen verheiratet ist, rechtfertigt der Abschnitt nicht die Trennung oder Scheidung. Gottes Wille ist, dass die Ehe in solch einem Fall aufrechterhalten wird. Dies ist mit der Hoffnung verbunden, dass der nicht wiedergeborene Partner schließlich doch noch errettet wird. Darüber hinaus bezieht sich dieser Abschnitt auch auf das Geschäft. Ein Christ sollte keine Geschäftspartnerschaft mit jemandem eingehen, der den Herrn nicht kennt. Auch auf Geheimbünde und Logen ist dies anwendbar: Wie kann jemand, der Christus treu ist, in eine Gemeinschaft eintreten, worin der Name des Herrn Jesus nicht willkommen ist? Die Anwendung auf das soziale Leben sollte folgendermaßen aussehen: Ein Christ sollte mit Verlorenen Kontakt halten, um sie für Christus zu gewinnen. Er sollte sich jedoch nie an ihren sündigen Vergnügungen oder an Aktivitäten beteiligen, die so geartet sind, dass die anderen denken, er sei nicht anders als sie selbst. Auch auf gemeindliche Angelegenheiten bezieht sich dieser Abschnitt. Ein treuer Nachfolger Christi kann nicht in einer Gemeinde Mitglied sein, in der Ungläubige wissentlich als Mitglieder zugelassen sind.
Die Verse 14 – 16 betreffen alle wichtigen Beziehungen des Lebens: Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit stehen für den gesamten ethischen Bereich. Licht und Finsternis haben mit der Einsicht in göttliche Angelegenheiten zu tun. Christus und Belial betreffen den Bereich der Herrschaft. Mit anderen Worten, es geht darum, wen wir in unserem Leben als Herrn anerkennen. Gläubige und Ungläubige stehen für den Bereich des Glaubens. Der Tempel Gottes und die Götzenbilder nehmen den gesamten Bereich der Anbetung und des Gottesdienstes auf. »Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit« haben keine Gemeinschaft, weil sie ethische Gegensätze darstellen. Auch kann »Licht« nicht »Gemeinschaft … mit Finsternis« haben. Wenn »Licht« in ein Zimmer scheint, dann verdrängt es die Finsternis. Beide können nicht zur gleichen Zeit existieren.
6,15 Der Name »Belial« bedeutet »Unwürdigkeit« oder »Bosheit«. Hier ist es ein Name des Bösen. Kann es je zwischen »Christus« und Satan Frieden geben? Offens ichtlich nicht! Auch kann es keine Gemeinschaft zwischen einem »Gläub igen« und einem »Ungläubigen« geben. Allein der Versuch ist schon Verrat am Herrn.
6,16 »Götzenbilder« haben mit dem »Tempel Gottes« nichts zu tun. Wo das der Fall ist, stellt sich die Frage: Wie können Gläubige dann Umgang mit Götzenbildern haben, da sie doch selbst »der Tempel des lebendigen Gottes« sind? Hier stehen die Götzenbilder natürlich nicht nur für die geschnitzten Bilder, sondern für alles, was zwischen den Menschen und Christus treten kann. Es könnte sich um Geld, Vergnügen, Ruhm oder mat eriellen Reichtum handeln. Der Apostel findet in solchen Versen wie 2. Mose 29,45; 3. Mose 26,12 und Hesekiel 37,27 ausreichend Unterstützung für seine Ansicht, dass wir »der Tempel des lebendigen Gottes« sind. Denney sagt:
[Paulus] erwartet von den Christen ebenso viel Ernst wie von den Juden, die Heiligkeit des Hauses Gottes unverletzt zu erhalten. Und nun, sagt er, da wir dieses Haus sind: Es geht darum, dass wir uns selbst von der Welt unbefleckt halten müssen.33
6,17 Nachdem er die Notwendigkeit der Absonderung so deutlich herausgestellt hat, erlässt Paulus nun einen herausfordernden Aufruf, »aus ihrer Mitte hinaus« zu gehen. Er zitiert dabei Jesaja 52,11. Hier haben wir Gottes eindeutige Anweisung an sein Volk über die Trennung vom Bösen. Die Christen sollen sich nicht in seiner »Mitte« aufhalten oder ein Teil davon werden, auch nicht mit der gut gemeinten Absicht, etwas zu verbessern. Gottes Plan besteht darin, hinauszugehen. Das »Unreine« in diesem Vers ist in erster Linie zweifellos die heidnische Welt, doch bezieht es sich auch auf jede Form des Bösen, ob es nun im geschäftlichen, sozialen oder religiösen Bereich vorkommt.
Dieser Vers darf nicht missbraucht werden, um die Absonderung von anderen Gläubigen zu lehren. Christen werden ermahnt, sich zu bemühen, »die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens«.
6,18 Es ist für Christen oftmals schwer, Bande zu lösen, die über Jahre hinweg bestanden haben, um dem Wort Gottes zu gehorchen. Es scheint so, dass Gott diese Schwierigkeiten in Vers 18 voraussieht. Er hat schon in Vers 17 gesagt: »Ich werde euch annehmen«, und nun fügt er hinzu: »… und werde euch ein Vater sein, und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein, spricht der Herr, der Allmächtige.« Der Ausgleich dafür, dass wir mit Christus außerhalb des Lagers des Bösen wohnen, ist eine neue und intensivere Gemeinschaft mit dem »Vater«. Es bedeutet nicht, dass wir durch den Gehorsam gegenüber seinem Wort zu Söhnen und Töchtern werden. Vielmehr zeigt es sich, dass wir seine »Söhne und Töchter« sind, wenn wir uns auf diese Weise verhalten. Und damit werden wir die Freuden der Sohnschaft auf eine Weise genießen wie nie zuvor.
»Die Segnung echter Absonderung ist nicht weniger als die herrliche Gemeinschaft mit dem großen Gott selbst« (ohne Quellenangabe).
Das Problem stellt sich heute überall unter evangelikalen Christen, die zu liberalen Gemeinden gehören. Sie fragen ständig: »Was soll ich tun?« Gottes Antwort findet sich in unseren Versen. Sie sollten eine Gemeinschaft verlassen, in der der Herr Jesus nicht geehrt und nicht als geliebter Sohn Gottes und Heiland der Welt verherrlicht wird. Sie können außerhalb einer solchen Gemeinde mehr für Gott tun, als sie je innerhalb davon erreichen können.
7,1 Dieser Vers ist mit dem vorhergehenden engstens verbunden. Er leitet keinen neuen Grundgedanken ein, sondern beschließt den Abschnitt, der mit 6,14 begann.
Die »Verheißungen«, worauf in diesem Vers Bezug genommen wird, entsprechen denen, die in den Versen 17 und 18 des vorhergehenden Kapitels angeführt wurden. »Ich werde euch annehmen, … euch ein Vater sein und ihr … mir Söhne und Töchter.« Angesichts dieser wunderbaren »Verheißungen« sollten wir »uns reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes«. Die Verunreinigung »des Fleisches« betrifft alle Formen körperlicher Unreinheit, während es bei der »Befleckung des Geistes« um unser inneres Leben, unsere Motive und Gedanken geht.
Doch Gott verbietet nicht nur, er eröffnet auch eine Alternative: »… die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes.« Wir sollen nicht nur alles ablegen, was uns verunreinigt, sondern sollen auch im täglichen Leben unserem Herrn Jesus Christus immer ähnlicher werden. Dieser Vers will nicht sagen, dass es hier auf Erden möglich ist, vollkommen heilig zu werden. Praktische Heiligung ist ein Prozess, der unser ganzes Leben lang andauert. Wir werden immer mehr in das Bild unseres Herrn Jesus Christus verwandelt, bis wir ihn eines Tages von Angesicht zu Angesicht sehen und dann in alle Ewigkeit ihm gleich sein werden. Es geht darum, dass wir eine anbetende Ehrfurcht oder Ehrerbietung gegenüber Gott haben, damit wir das Verlangen in unseren Herzen verspüren, heilig zu werden. Mögen wir alle mit Robert McCheyne, einem gottgemäß lebenden Diener Gottes, sagen können: »Herr, mache mich so heilig, wie es diesseits des Himmels nur geht.« M. Die Freude des Paulus über die guten Nachrichten aus Korinth (7,2-16)
7,2 »Gebt uns Raum in euren Herzen.« Es gab keinen Grund für die Korinther, dies Paulus zu verweigern, weil er »niemand unrecht getan«, »niemand zugrunde gerichtet« und »niemand übervorteilt« hatte. Was immer seine Kritiker gegen ihn sagen mochten, der Apostel Paulus hatte niemanden verletzt, noch hatte er jemanden finanziell ausgenutzt.
7,3 Nichts, was Paulus sagt oder bisher gesagt hat, sollte die Korinther auf irgendeine Weise »verurteilen«. Er versichert ihnen wiederholt, dass ihnen seine tiefe Zuneigung im Leben und Tod erhalten bleiben würde.
7,4 Weil er sich den Heiligen in Korinth so eng verbunden wusste, fühlte sich der Apostel gedrängt, in »Freimütigkeit« ihnen gegenüber zu reden. Seine Ehrlichkeit ihnen gegenüber war sehr groß, aber auch sein »Rühmen« anderen gegenüber, wenn er von ihnen sprach. Deshalb sollten sie seine Offenheit nicht als Zeichen mangelnder Liebe auslegen, sondern erkennen, dass er wirklich große Stücke auf sie hielt und von ihnen stets mit Achtung redete, wo immer er auch hinkommen mochte. Vermutlich war es dieser besondere Aspekt ihres Lebens als Christen, der Paulus dazu führte, ihre bereitwillige Haltung in Verbindung mit der Sammlung für die verarmten Heiligen in Jerusalem ehrlich zu empfehlen. Der Apostel wird dieses Thema noch ausführlicher behandeln, doch hier begnügt er sich damit, nur kurz darauf anzuspielen. »Ich bin mit Trost erfüllt, ich bin überreich an Freude bei all unserer Drangsal.« Diese Ausdrücke werden in den folgenden Versen erklärt. Warum freute sich der Apostel trotz »all« seiner »Drangsal«? Die Antwort lautet, dass Titus ihm gute Nachrichten von den Korinthern gebracht hat, und das erweist sich als Quelle überschäumender Freude und Ermutigung für ihn.
7,5 Wir haben schon weiter oben erwähnt, wie Paulus Ephesus verlassen hat und nach Troas gereist ist, um dort nach Titus zu suchen. Als er ihn dort nicht fand, setzte er »nach Mazedonien« über. Nun erklärt er, dass auch seine Ankunft in Mazedonien ihm nicht die »Ruhe« gab, die er sich erhofft hatte. Er war noch immer beunruhigt, noch immer »bedrängt«, noch immer von bösen Gedanken verfolgt. »Von außen« bedrängte ihn erbarmungslos der Feind, während ihn »von innen Ängste« quälten, die zweifellos mit der Tatsache in Zusammenhang standen, dass er mit Titus noch nicht hatte Kontakt aufnehmen können.
7,6 Doch dann griff »Gott« ein und »tröstete« Paulus »durch die Ankunft des Titus«. Zu dieser Zeit erfuhr der Apostel die Wahrheit von Sprüche 27,17: »Eisen wird durch Eisen geschärft, und ein Mann schärft das Angesicht seines Nächsten.« Man stelle sich das freudige Treffen dieser beiden hingegebenen Diener Christi vor, bei dem die Fragen des Paulus nur so hervorsprudeln und Titus versucht, sie so schnell wie möglich zu beantworten! (siehe auch Spr 25,25).
7,7 Doch war es »nicht nur« die freudige Wiedervereinigung mit seinem Freund, die Paulus so froh werden ließ, sondern auch der Bericht darüber, wie »getröstet« Titus durch die Reaktion der Korinther auf den Brief des Paulus gewesen ist.
Es war eine gute Nachricht, dass die Korinther sich danach sehnten, den Apostel Paulus wiederzusehen. Das war genau das Gegenteil dessen, worum sich die falschen Lehrer bemüht hatten, als sie versuchten, die Heiligen und Paulus einander zu entfremden. Die Korinther wollten ihn nicht nur wiedersehen. Vielmehr zeugte ihr »Wehklagen« von der Echtheit ihrer Buße. Dieses »Wehklagen« kann durch die achtlose Haltung ausgelöst worden sein, die sie eingenommen hatten, als sie Sünde in der Versammlung tolerierten. Es kann aber auch auf die Verzweiflung und Angst zurückgehen, die sie beim Apostel Paulus verursacht hatten. Zusätzlich zu diesem Wehklagen berichtete Titus von ihrer aufrichtigen Ehrerbietung gegenüber Paulus und von ihrer »Sehnsucht«, Paulus durch ein entsprechendes Verhalten zu erfreuen. So ist die Freude des Apostels nicht nur durch die »Ankunft« des Titus ausgelöst worden, sondern auch durch die Beweise für die Tatsache, dass die Korinther den Anweisungen des Paulus gehorsam gewesen waren und sie ihn noch immer liebten.
7,8 »Denn wenn ich euch auch durch den Brief betrübt habe, so reut es mich nicht. Wenn es mich auch gereut hat, so sehe ich, dass jener Brief … euch auch kurze Zeit betrübt hat.« Der »Brief«, den Paulus hier erwähnt, könnte der uns als 1. Korintherbrief bekannte sein. Es könnte aber auch ein weiterer Brief sein, der uns nicht erhalten geblieben ist und worin der Apostel mit den Heiligen ziemlich streng umgegangen ist.
Wir sollten jedoch erklären, warum Paulus »es … gereut« haben könnte, diesen Brief geschrieben zu haben. Wenn wir annehmen, dass es der 1. Korintherbrief gewesen ist, dann geht es hier keinesfalls um das Problem der Inspiration. Was der Apostel damals schrieb, waren nur die Gebote Gottes, und doch war Paulus selbst noch ein Mensch, der die Entmutigung und Ängste anderer Menschen mitfühlte. Williams kommentiert: Der Unterschied zwischen dem Autor und der Inspiration erscheint in Vers 8. Paulus weiß, dass sein erster Brief inspiriert war. Es handelte sich dabei um die »Gebote des Herrn«, doch als schwacher, um die Korinther besorgter und mitfühlender Mensch zitterte er. Seine Worte an die Korinther hätten nämlich dazu führen können, dass sie von ihm entfremdet wurden und ihnen großer Schmerz zugefügt wurde. Hier finden wir Paulus in der Lage, dass es zwischen der Persönlichkeit des Propheten und der Botschaft des Heiligen Geistes, die ihm gegeben wurde, einen Gegensatz gibt.34
Zusammenfassend will Paulus hier Folgendes sagen: Als die Korinther zuerst seinen Brief lasen, war dieser Brief für sie eine scharfe Zurechtweisung, und das schmerzte sie. Nachdem er den Brief abgeschickt hatte, ahnte der Apostel schon zu diesem Zeitpunkt, wie sie darauf reagieren würden, und das machte ihn traurig. Es geht nicht darum, dass er sich bewusst gewesen wäre, etwas Falsches zu tun, das steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Vielmehr war er traurig, dass es bei der Ausführung der Aufträge seines Herrn nötig wurde, dass andere zeitweilig traurig gemacht wurden, damit Gottes Plan für ihr Leben verwirklicht werden konnte.
Im zweiten Teil von Vers 8 betont Paulus, dass sie der Brief zwar »betrübt« habe, doch nur für »kurze Zeit«. Diese Auswirkung seines Briefes hatte ihn selbst traurig gestimmt. Doch die Traurigkeit hielt nicht lange an.
Der gesamte Prozess, den der Apostel hier beschreibt, kann man mit der Arbeit eines Chirurgen vergleichen. Um ein schlimm infiziertes Organ des Leibes entfernen zu können, ist es für ihn notwendig, tief ins Fleisch zu schneiden. Er freut sich nicht darüber, seinem Patienten auf diese Weise Schmerzen zu bereiten. Er weiß jedoch, dass es nötig ist, damit der Patient wieder gesund wird. Insbesondere dann, wenn der Patient eng mit ihm befreundet ist, ist sich der Chirurg der Schmerzen besonders bewusst, die er verursachen muss. Doch er erkennt, dass dieses Leiden nur kurze Zeit dauert. Deshalb ist er bereit, es zu verursachen, damit das endgültige Ergebnis zum Vorteil des Patienten ist.
7,9 Paulus »freut« sich »nicht« darüber, dass er den Korinthern Schmerzen bereitet hat, »sondern« darüber, »dass« ihre zeitweilige Betrübnis sie »zur Buße« geführt hat. Mit anderen Worten, aufgrund ihrer Betrübnis änderten sie ihre Einstellung, was zu Veränderungen in ihrem Leben führte. »Buße«, sagt Hodge, »ist nicht nur eine Veränderung der Absichten, sondern umfasst auch eine Herzensveränderung, die dazu führt, dass man sich voll Abscheu von der Sünde abund sich Gott zuwendet.«35 Die Betrübnis der Korinther entsprach Gottes Willen. Es war die Betrübnis jener Art, die Gott gerne sieht. Weil ihre Traurigkeit und ihre Buße echt sowie »nach Gottes Sinn« waren, erlitten sie keinen bleibenden Schaden durch die Zurechtweisung, die der Apostel Paulus ihnen gegenüber ausgesprochen hatte.
7,10 Dieser Vers stellt »die Betrübnis nach Gottes Sinn« und »die Betrübnis der Welt« einander gegenüber. Mit »Betrübnis nach Gottes Sinn« ist die Trauer gemeint, die ein Mensch erlebt, wenn er angesichts einer Sünde Buße tut. Er erkennt, dass Gott zu ihm spricht, und so stellt er sich gegen seine eigene Sünde auf die Seite Gottes.
Wenn Paulus sagt, dass »die Betrübnis nach Gottes Sinn eine nie zu bereuende Buße zum Heil« bewirkt, so denkt er nicht notwendigerweise an die Errettung der Seele (obwohl dies auch der Fall sein könnte). Schließlich waren die Korinther bereits gerettet. Hier bedeutet »Heil« die Befreiung von jeglicher Art von Sünde oder Gebundenheit im Leben eines Menschen.
Die Frage ist offen, ob sich »nie zu bereuend« auf die Buße oder auf das Heil bezieht. Weil man aber weder Buße noch Errettung bereut, können wir diese Frage getrost im Raum stehen lassen. »Die Betrübnis der Welt« ist keine echte Buße, sondern bloße Zerknirschtheit. Sie »bewirkt« Bitterkeit, Verhärtung, Verzweiflung und schließlich sogar »Tod«. Das zeigt sich z. B. im Leben des Judas. Er trug kein Leid über die Folgen, die seine Sünde dem Herrn Jesus brachte, sondern es reute ihn einfach nur wegen der furchtbaren Konsequenzen, die ihm daraus erwuchsen.
7,11 Der Apostel weist auf die Erfahrung der Korinther als Beispiel dafür hin, was er im ersten Teil von Vers 10 gesagt hat. »Eben dies«, was er über die Buße nach Gottes Sinn sagte, bewahrheitete sich in ihrem Leben. Wir würden heute sagen: »Als Beweis der Tatsache, ›dass ihr nach Gottes Sinn betrübt worden seid …‹.« Dann fährt er fort, die verschiedenen Ergebnisse ihrer Betrübnis nach Gottes Sinn aufzuzählen. Infolgedessen wurde in ihnen ein »Bemühen« bzw. ein ernsthaftes Bestreben wach. Wenn dieser Abschnitt sich auf den Fall der im ersten Korintherbrief beschriebenen Gemeindezucht bezieht, dann bedeutet dieser Ausdruck, dass sie zwar zunächst gleichgültig gewesen waren, sich dann jedoch in dieser Angelegenheit besonders bemühten, das Richtige zu tun.
Zweitens fügt er an: »… sogar Verteidigung.« Das bedeutet nicht, dass sie versucht hätten, sich zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Vielmehr ist damit gemeint, dass sie sich durch das sofortige Ergreifen energischer Maßnahmen verhindern wollten, irgendeine weitere Schuld in dieser Angelegenheit auf sich zu laden. Ihre geänderte Auffassung führte zu diesem geänderten Verhalten. »Sogar Unwillen« kann sich auf ihre Haltung gegenüber dem Sünder beziehen, weil er über den Namen des Herrn Jesus solche Schande gebracht hat. Doch wahrscheinlicher bezieht sich der Ausdruck auf ihre Haltung sich selbst gegenüber, und zwar dahin gehend, dass sie überhaupt so etwas so lange unter sich geduldet hatten, ohne dagegen einzuschreiten.
»Sogar Furcht« bedeutet zweifellos, dass sie in der »Furcht« des Herrn handelten. Der Ausdruck kann aber auch den Gedanken beinhalten, dass sie einen Besuch des Apostels fürchteten, wenn er mit der Zuchtrute hätte kommen müssen. »Sogar Sehnsucht«. Die meisten Ausleger sind sich einig, dass sich dieser Ausdruck auf ein echtes Sehnen nach einem Besuch des Paulus bezieht, das in ihnen entstanden war. Doch es könnte sich auch auf  ein  starkes  »Verlangen«  (Schl 2000) beziehen, das Falsche zu berichtigen und das Böse in Ordnung zu bringen. »Sogar Eifer« ist auf verschiedene Arten erklärt worden, nämlich als »Eifer« für die Herrlichkeit des Herrn, für die Wiederherstellung des Sünders, für ihre eigene Reinigung in dieser Angelegenheit oder dafür, sich auf die Seite des Apostels zu stellen.
»Sogar Bestrafung«. Der Gedanke ist hier einfach, dass sie gegen den Sünder in der Gemeinde Maßnahmen ergriffen, um ihn zu bessern. Sie waren der Ansicht, dass Sünde bestraft werden müsse. Dann fügt Paulus hinzu: »In allem habt ihr erwiesen, dass ihr in der Sache rein seid.« Natürlich darf man das nicht so verstehen, als ob sie sich nie schuldig gemacht hätten. Vielmehr ist damit einfach gemeint, dass sie alles unternommen hatten, um die richtigen Maßnahmen zu ergreifen und so zu handeln, wie sie schon von Anfang an hätten handeln müssen.
7,12 Wir finden vier Hauptprobleme in diesem Vers. Erstens, auf welchen Brief bezieht sich Paulus mit der Anspielung: »Wenn ich euch also auch geschrieben habe«? Zweitens, wer ist der »Beleidiger«? Drittens, wer ist der »Beleidigte«? Und schließlich sollte der letzte Teil des Verses wirklich mit »euer Bemühen um uns« und nicht vielmehr mit »unser Bemühen um euch« übersetzt werden? Der erwähnte Brief könnte derjenige sein, den wir als ersten Korintherbrief kennen, es könnte aber auch ein darauffolgender Brief sein, der uns nicht überliefert ist. Der »Beleidiger« könnte einmal der Mann sein, der laut 1. Korinther 5 im Inzest lebte. Damit könnte auch irgendein Unruhestifter in der Gemeinde gemeint sein. Wenn Paulus von dem Mann aus 1. Korinther 5 spricht, dann war der »Beleidigte« dessen eigener Vater. Wenn es dagegen um einen Aufwiegler geht, dann war der »Beleidigte« Paulus selbst, oder ein anderes, unbekanntes Opfer. In den meisten Übersetzungen einschließlich der ER lautet der letzte Teil des Verses: »… sondern damit euer Bemühen um uns bei euch offenbar werde vor Gott.« In der unrevidierten Elberfelder Bibel heißt es demgegenüber: »… damit unser Fleiß für euch bei euch offenbar werde vor Gott.«
7,13 Weil sein Brief die gewünschte Wirkung erzielt hatte, wurde Paulus »getröstet«. Die Korinther hatten Buße getan und sich auf seine Seite gestellt. Außerdem wurde er durch den Eifer des Titus ermutigt, womit dieser für die Heiligen eintrat. Paulus war also durch den Kontakt mit den Korinthern »erquickt worden«.
7,14 Offensichtlich hatte der Apos tel seinem Mitarbeiter Titus, noch bevor er ihn nach Korinth geschickt hatte, voller Eifer von den Gläubigen dort berichtet. Nun sagt er, dass seine »rühmende« Rede sich als wahr erwiesen habe. Alles, was er über die Korinther gesagt hatte, wurde durch die Erfahrungen des »Titus« in ihrer Mitte bestätigt. So wie alles, was der Apostel je über die Korinther gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, so war auch sein »Rühmen vor Titus Wahrheit geworden«.
7,15 Offenbar wusste Titus nicht, welchen Empfang man ihm bereiten würde, als er Südgriechenland erreichte. Vielleicht fürchtete er das Schlimmste. Doch als er ankam, hießen ihn die Korinther herzlich willkommen. Und nicht nur das: Er schloss sie umso mehr ins Herz, weil sie den Anweisungen Gehorsam leisteten, die er ihnen vom Apostel Paulus überbrachte.
Wenn der Apostel sagt, dass sie Titus »mit Furcht und Zittern empfangen« hätten, dann meint er damit nicht erbärmliche Furcht oder Feigheit, sondern eher eine ehrfurchtsvolle Haltung vor dem Herrn in dieser Angelegenheit und das gewissenhafte Verlangen, alles richtig zu machen.
7,16 Wenn Paulus sagt, dass er zu den Heiligen »in allem Zutrauen« haben könne, dürfen wir in seine Worte nicht mehr hineinlesen, als wirklich gemeint ist. Dieser Satz bedeutet sicherlich nicht, dass die Korinther nun seiner Ansicht zufolge nicht mehr sündigen oder sich nicht mehr irren könnten. Er meint hier vielmehr, dass sein »Zutrauen« zu ihnen, das er ihnen entgegenbrachte und dessen er sich vor Titus gerühmt hatte, nicht vergeblich gewesen sei. Sie hatten sich als seines Vertrauens würdig erwiesen. Zweifellos gehört dazu auch der Gedanke, dass er sich in seiner Haltung bestätigt sah, zu ihnen volles »Zutrauen« zu haben. Sie hatten nämlich in Bezug auf die Angelegenheit, die er im ersten Brief ansprach, richtig gehandelt. Dieser Vers beschließt den ersten Teil des 2. Korintherbriefes. Dieser Teil war, wie wir gesehen haben, der Beschreibung des Dienstes des Apostels sowie dem entschlossenen Bemühen vonseiten des Paulus gewidmet, die Beziehungen zwischen ihm und den Korinthern zu stärken. Die nächsten beiden Kapitel handeln vom »Segen des Gebens«.
II. Die Ermahnung des Paulus, die Sammlung für die Heiligen in Jerusalem zu vervollständigen (Kap. 8 – 9)
A. Gute Beispiele für großzügiges Geben (8,1-9)
8,1 Paulus will, dass die Gläubigen wissen, auf welch ungewöhnliche Weise »die Gnade Gottes« sich unter den Christen in den »Gemeinden Mazedoniens« (Nordgriechenland) erwiesen hat. Philippi und Thessalonich waren zwei dieser Städte, in denen Gemeinden gegründet worden waren.
Diese Mazedonier zeigten nun besonders durch ihre Großzügigkeit, dass sie »die Gnade Gottes« empfangen hatten.
8,2 Diese Christen waren durch »große Bewährung in Drangsal« gegangen. Normalerweise würden Menschen, die auf diese Weise erprobt werden, ihr Geld sparen, um für ihre Zukunft Vorsorge zu tragen. Dies galt besonders dann, wenn sie nicht besonders reich waren, wie es bei den Mazedoniern der Fall war. Sie hatten nicht viel Geld. Doch ihre christliche »Freude« war so überschwänglich, dass sie alles normale Verhalten umkehrten, als sie von der Not der Heiligen in Jerusalem hörten, und freigebig spendeten. Sie waren in der Lage, Drangsal, Freude, Armut und Freigebigkeit miteinander zu vereinbaren.
8,3 Es gab noch andere Eigenschaften ihrer Großzügigkeit. Ihr Geben entsprach nicht nur ihrem »Vermögen«, sondern ging auch »über« ihr »Vermögen« hinaus. Auch waren sie »aus eigenem Antrieb willig«, d. h. dass sie spontan gaben, ohne unter Druck gesetzt, überredet oder gedrängt worden zu sein.
8,4 Ihnen lag die Angelegenheit so sehr am Herzen, dass sie Paulus um das Vorrecht baten, an der Hilfe für die Heiligen in Jerusalem teilhaben zu dürfen. Vielleicht hatte der Apostel gezögert, ihre Gaben anzunehmen, da er wusste, wie arm sie zu der Zeit selbst waren. Doch sie wollten keine Ablehnung akzeptieren. Ihnen sollte gestattet werden, zu diesem Hilfswerk beitragen zu dürfen.
8,5 Wahrscheinlich hat Paulus »nur« gehofft, dass die mazedonischen Gläubigen handeln würden wie die meisten Sterblichen: Sie geben zunächst nur widerwillig und erhöhen dann den Betrag noch etwas, wenn man größeren Druck auf sie ausübt. Doch nicht so die Mazedonier! Diese lieben Christen »gaben zuerst« ihre größte Gabe – nämlich »sich selbst«. Danach war es ihnen ein Leichtes, auch ihr Geld zu geben. Wenn Paulus sagt, dass sie »sich selbst zuerst dem Herrn und dann uns durch Gottes Willen« gaben, so meint er damit ganz einfach, dass an erster Stelle die völlige Hingabe ihres Lebens an Christus stand. Dann geben sie sich willig auch Paulus in dem Sinne, dass sie bei der Sammlung für Jerusalem helfen wollten. Sie sagten im Grunde zu Paulus: »Wir haben uns dem Herrn gegeben, und nun geben wir uns dir als seinem Verwalter. Du sagst uns, was wir tun sollen, weil du ein Apostel Christi, unseres Herrn, bist.«
»Beiträge zum Werk des Herrn«, sagt G. Campbell Morgan, »sind nur dann wertvoll, wenn es Gaben derer sind, die selbst Gott hingegeben sind.«
8,6 Der Apostel freute sich sehr über das Beispiel der Mazedonier. Aus seiner Freude heraus möchte er nun, dass die Korinther ihnen nacheifern. Und deshalb sagt er, dass er »Titus zugeredet« habe, das Werk zu »vollenden«, das er in Korinth begonnen hatte. Mit anderen Worten, als Titus das erste Mal die Korinther besucht hatte, hatte er ihnen die Angelegenheit mit der Sammlung vorgelegt. Wenn er nun zurückkehrt, soll er sich daru m kümmern, dass die guten Absichten ihren Niederschlag in Taten finden.
8,7 Weil die Korinther auf so vielfache Weise hervorragend waren (und das war wirklich der Fall), möchte Paulus nun, dass sie sich auch auf dem Gebiet des Gebens hervortun. Er lobt sie für alles, in dem sie »überströmend« sind: in »Glauben und Wort und Erkenntnis und allem Eifer (Ernsthaftigkeit) und« in ihrer »Liebe« zu ihm. Im ersten Brief hatte Paulus sie für ihre Erkenntnis und Beredtheit gelobt. Hier fügt er noch einige andere Tugenden hinzu, zweifellos infolge der Tatsache, dass Titus sie besucht hat. Der Ausdruck »in Glauben« könnte den festen Glauben an Gott bedeuten, die Gabe des Glaubens oder ihre Treue in ihrem Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen.
»Im Wort« bezieht sich zweifellos auf ihre Fähigkeiten, sich auszudrücken, ein Thema, das im ersten Brief sehr viel Raum eingenommen hat.
»In Erkenntnis« kann sich auf die entsprechende Geistesgabe oder auf ihre umfassende Einsicht in die göttlichen Wahrheiten beziehen.
»In allem Eifer« beschreibt ihre Ernsthaftigkeit, womit sie in göttlichen Angelegenheiten handelten.
Schließlich wird noch ihre »Liebe« zu Paulus erwähnt, weil sie lobenswürdig ist. Nun wäre Paulus froh, wenn er noch einen weiteren Ausdruck dieser Liste hinzufügen könnte, nämlich »in aller Großzügigkeit«. Denney warnt folgend ermaßen:
Es gibt den Menschen, der großartige geistliche Interessen hat, der brennt, viel betet, liebevoll ist, vor der Gemeinde sprechen kann und doch nicht in der Lage ist, sich von seinem Geld zu trennen.36
8,8 Paulus befiehlt dies nicht auf harte oder gesetzliche Weise, sondern würde gerne die »Echtheit« ihrer »Liebe … prüfen«, insbesondere im Licht des Eifers und der Ernsthaftigkeit der mazedonischen Christen in dieser Hinsicht. Als Paulus aussagt, dass er dies »befehlsweise« gesagt habe, meint er damit nicht, dass diese Anweisung nicht inspiriert sei. Er meint einfach, dass man von Herzen geben solle, »denn einen fröhlichen Geber liebt Gott«.
8,9 An diesem Punkt fügt nun der Apostel einen der großartigsten Verse in diesem wunderbaren Brief ein. Vor dem Hintergrund der eher nebensächlichen Lebensumstände in Mazedonien und Korinth malt er ein wunderschönes Porträt des großzügigsten und freigebigsten Menschen, der je auf der Erde gelebt hat. Das Wort »Gnade« wird auf verschiedene Weise im NT benutzt, doch hier ist unmissverständlich Großzügigkeit gemeint. Wie großzügig war der Herr Jesus? Er war so großzügig, dass er um unsertwillen alles gab, was er hatte, »damit« wir »durch seine Armut« auf ewig »reich« würden.
Moorehead kommentiert:
Er war reich an Besitz, Macht, Ehre, Gemeinschaft und Glück. Er wurde jedoch arm hinsichtlich der Stellung, der Umstände und seiner Beziehungen zu Menschen. Wir werden aufgefordert, etwas Geld, Kleidung oder Essen zu geben. Er gab sich selbst.37 Dieser Vers lehrt, dass der Herr Jesus schon vor Grundlegung der Welt existiert hat. Wann war er »reich«? Sicherlich nicht als Kind in der Krippe von Bethlehem! Und sicherlich auch nicht während der 33 Jahre, in deren Verlauf er »als heimatloser Fremdling in der Welt, die seine eigenen Hände bereitet hatten«, umherzog. Er war vorher in der Ewigkeit reich, als er mit dem Vater in den Gefilden des Himmels lebte. Doch »er wurde arm«. Das bezieht sich nicht nur auf Bethlehem, sondern auch auf Nazareth, Gethsemane, Gabbata und Golgatha. Und all das geschah um unsertwillen, »damit« wir »durch seine Armut reich« würden.
Wenn das wahr ist (und es ist ganz bestimmt wahr), dann sollte es unsere größte Freude sein, alles, was wir sind und haben, ihm zu geben. Kein Argument konnte inmitten dieser Betrachtung des Paulus über das christliche Geben überzeugender sein.
B. Liebevoller Rat, die Sammlung zu vervollständigen (8,10.11)
8,10 Nun wendet sich der Apostel wieder an die Korinther. Sie hatten daran ged acht, eine Sammlung für die Armen durchzuführen, ehe sich die Mazedonier dazu entschlossen hatten. Die Korinther hatten sogar damit angefangen, bevor es die Mazedonier taten. Um nun konsequent zu sein, sollten sie zu Ende führen, was sie »seit vorigem Jahr« begonnen hatten. Es würde ihr Vorteil sein, weil es ihre Ehrlichkeit und Beständigkeit im Glauben beweisen würde.
8,11 Was immer der Grund dafür war, dass sich die Sammlung hinzog – Paulus sagt ihnen, dass sie diesen Grund ganz außer Acht lassen und »vollbringen« sollten, was sie ganz in »Bereitwilligkeit« angefangen hatten. Sie sollten es nach den Möglichkeiten tun, die sie gerade hatten, und nicht nach dem, was sie vielleicht gerne tun würden, wenn sie einmal reich wären.
C. Drei gute Prinzipien für großzügiges Geben (8,12-15)
8,12 Es hat den Anschein, dass die Korinther die Sammlung für die bedürftigen Heiligen in Jerusalem deshalb hinausgezögert hatten, weil sie hofften, später mehr schicken zu können. Hier werden sie nun daran erinnert, dass es doch gar nicht darauf ankommt, wie viel sie senden. Wenn sie in ihrem Herzen wirklich das Verlangen haben, an dieser guten Sache mitzuarbeiten, dann nimmt Gott ihre Gabe an, ganz gleich, wie klein sie sein mag. Es geht dabei um die Herzenshaltung.
8,13 Es war nie die Absicht des Paulus, die Korinther in finanzielle Bedrängnis zu bringen. Seine Absicht war es nicht, »anderen … Erleichterung« zu verschaffen, während sie selbst dadurch in »Bedrängnis« gerieten.
8,14 Dieser Vers beschreibt Gottes Plan zur Vermeidung von Not in der Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus. Der Herr möchte, dass überall dort, wo unter den Christen Not herrscht, das Geld von den Reicheren zu den Bedürftigen fließt. Dieser ständige Fluss von finanziellen Mitteln innerhalb der gesamten Gemeinschaft der Gläubigen würde weltweit zu »Gleichheit« unter den Gemeinden führen.
So sollte also zu der Zeit, als Paulus schrieb, Geld von Korinth, Mazedonien und anderen Orten nach Jerusalem fließen. Doch vielleicht hätten die Heiligen in Jerusalem eines Tages genug, während dann in Korinth »Mangel« herrschen könnte. In solch einem Fall würde der Geldfluss einfach umgekehrt. Das meint Paulus mit diesem Vers. Jetzt war die Not in Jerusalem, doch vielleicht würde sie einmal in Korinth auftreten, und in diesem Fall würden ihnen dann andere helfen.
8,15 Dieses Prinzip der Gleichheit wird durch ein Zitat aus 2. Mose 16,18 unterstrichen. Als die Kinder Israel hinausgingen, um Manna zu sammeln, konnten einige mehr sammeln als andere. Doch dies war gar nicht wichtig. Als das Manna verteilt wurde, erhielt jeder die gleiche Menge – ein Gomer, ein Hohlmaß von etwa 22 Litern. Deshalb galt: »Wer viel sammelte, hatte keinen Überfluss, und wer wenig sammelte, hatte keinen Mangel.« Wenn jemand versuchte, Manna zu horten, dann wurde es von Würmern befallen!
Dieser Ausgleich geschah nicht durch ein Wunder oder durch Magie. Er wurde möglich, weil diejenigen, die zu viel hatten, mit denen teilten, die zu wenig hatten. Hodge hat Folgendes beobachtet: Wir können aus 2. Mose und von Paulus lernen, dass im Volk Gottes der Überfluss des einen dazu benutzt werden sollte, die Nöte anderer zu lindern. Jeder Versuch, dieses Gesetz zu umgehen, wird in Verlust und Schande enden. Eigentum ist wie Manna, man kann es nicht horten.38 Im gleichen Sinne spricht dieser Auszug von einem uns unbekannten Autor: Gott möchte, dass jeder Mensch seinen Anteil an den Gütern des Lebens erhält. Einige sammeln jedoch mehr, andere weniger. Diejenigen, die mehr haben, sollten mit denen teilen, die weniger haben. Gott lässt zu, dass Eigentum ungleich verteilt ist, aber nicht, damit der Reiche es für selbstsüchtige Zwecke nutzt, sondern damit er es mit den Armen teilt.
D. Drei Brüder, die die Sammlung vervollständigen sollen (8,16-24)
8,16 In diesen nächsten zwei Versen wird Titus für seine Haltung gelobt, die er in dieser Angelegenheit eingenommen hat. Erst wird »Gott« dafür gedankt, dass er »denselben Eifer für« die Korinther »in das Herz des Titus gegeben hat«. Paulus hat in ihm einen liebevollen Mitarbeiter gefunden. Es erwies sich, dass Titus die Last, womit der Apostel hinsichtlich der Korinther beschwert war, mittrug.
8,17 Paulus hat Titus ermahnt, mit diesem Brief nach Korinth zu reisen, doch war die Ermahnung gar nicht nötig. Er wollte »aus eigenem Antrieb« hinreisen. Der hier befindliche Ausdruck (»er ist zu euch gegangen«) bedeutet wohl eigentlich: »Er wird zu euch gehen.« Das ist ein Beispiel für den Aorist, wie er in Briefen verwendet wird. Dabei wurde die Handlung nicht von der Zeit her gesehen, zu der Paulus den Brief schrieb, sondern von jener Zeit her, zu der die Korinther den Brief lasen. Ohne Zweifel war Titus derjenige, der den Brief nach Korinth bringen sollte. Er reiste erst ab, als Paulus den Brief vollendet hatte.
8,18 Die Verse 18 bis 22 beschreiben zwei weitere Brüder, die Titus bei seiner Mission begleiten sollten. Der erste wird in den Versen 18 bis 21 beschrieben, der zweite in Vers 22. Beide werden nicht namentlich genannt.
Dieser Abschnitt der Schrift ist wertvoll, weil er zeigt, welche Vorsichtsmaßnahmen Paulus bei der Verwaltung von Spendengeldern traf, damit niemand ihn anklagen konnte, das Geld zu veruntreuen.
Der erste »Bruder«, den Paulus erwähnt, wurde »wegen der Verkündigung des Evangeliums« gelobt und stand in hohem Ansehen. Die Ansichten gehen weit auseinander im Blick darauf, wer damit gemeint sein könnte. Einige stimmen für Lukas, andere für Silas, wieder andere für Trophimus. Doch wenn wir hier versuchen, Spekulationen anzustellen, dann könnte es sein, dass wir den gesamten Sinn des Abschnitts nicht erfassen. War es nicht Absicht, den Namen unerwähnt zu lassen? Zur wahren Jüngerschaft gehört manchmal der Dienst im Verborgenen. Das war zum Beispiel bei der Magd der Fall, die sich im Leben des aussätzigen Naaman an so entscheidender Stelle gebrauchen ließ. Und genauso ist es mit dem kleinen Jungen, der sein Mittagessen dem Herrn Jesus zur Verfügung stellte, bevor das Wunder der Brotvermehrung geschah.
8,19 Dieser nicht genannte Bruder war »von den Gemeinden … gewählt worden«, um die Reisen zu unternehmen, die mit »diesem Gnadenwerk« verbunden waren. Mit anderen Worten, er ist ernannt worden, einer der Boten zu sein, die diese freiwilligen Gaben überbrachten. Der Apostel sah sich und die anderen als Diener oder Verwalter dieses Gnadenwerks. Sie taten es »zur Herrlichkeit des Herrn selbst«. Und sie wollten, dass es ihre Bereitschaft und ihren Eifer zeigte, den armen Heiligen in Jerusalem zu dienen.
8,20 Der Apostel war zu weise, dieses Geld allein zu überbringen oder es einem anderen Einzelnen anzuvertrauen. Er bestand darauf, dass es von einer Gruppe von zwei oder drei Leuten überbracht wurde. Das meint er hier in Vers 20. Um die Möglichkeit eines Missverständnisses oder eines Skandals zu verhindern, stellte er sicher, dass »diese reiche Gabe« in dieser Weise überbracht wurde. So konnte daraus kein böses Gerede entstehen.
8,21 »Auf das Rechte bedacht« sein bedeutet hier, sicherzugehen, dass alles ehrlich abläuft. Paulus war sehr daran gelegen, dass seine Handlungen nicht nur »vor dem Herrn« ehrlich, sondern auch »vor den Menschen« über alle üble Nachrede erhaben waren. Morgan merkt dazu an: »Es ist die Aufgabe der christlichen Gemeinschaft, ihre Geschäfte so abzuwickeln, dass die Weltmenschen keinen Grund zu der Vermutung haben, dass es irgendwie unrecht bei ihnen zugehe.«39 Nebenbei bemerkt ist dieser Vers fast deckungsgleich mit Sprüche 3,3.4 nach der Lesart der Septuaginta.
8,22 Hier haben wir nun einen anderen Bruder, dessen Namen wir nicht kennen und den Paulus ernannt hatte, in dieser wichtigen Angelegenheit zu helfen. Er hatte sich »oft in vielem als eifrig« erwiesen, und nun zeigte er besonderen Eifer in dieser Angelegenheit, weil er so »großes Vertrauen« zu den Korinthern hatte.
8,23 Deshalb gibt Paulus den Korinthern Handlungsrichtlinien für den Fall, dass irgendjemand nachfragen sollte, wer diese drei seien. Sie sollten dann sagen, dass »Titus« Paulus’ »Gefährte« und »Mitarbeiter« im Dienst an den Korinthern ist und die beiden anderen »Brüder … Gesandte der Gemeinden« sowie »Christi Herrlichkeit« sind. Der Ausdruck »die Herrlichkeit Christi« ist sicherlich ein besonders lobender Ausdruck für diese Männer. Sie werden so genannt, weil sie Abgesandte »der Gemeinden« sind. Sie lassen das Werk des Herrn vor den Augen der Menschen aufleuchten. Sie sind eine Empfehlung für Gott und spiegeln seine Herrlichkeit wider.
8,24 Angesichts all dessen sollten die Korinther sie gut aufnehmen und das »Rühmen« des Paulus rechtfertigen, indem sie ihnen eine großzügige Gabe für die Heiligen in Jerusalem anvertrauten. Das wäre für die umliegenden »Gemeinden« ein »Beweis« ihrer christlichen »Liebe«. GN übersetzt den Vers: »Zeigt ihnen, dass eure Liebe echt ist, und beweist den anderen Gemeinden, dass ich euch zu Recht gelobt habe.« E. Aufruf an die Korinther, das Rüh men des Paulus zu rechtfertigen (9,1-5)
9,1 Es war eigentlich unnötig, den Korinthern zum Thema »Sammlung für bedürftige ›Heilige‹« zu »schreiben« – und doch fährt Paulus damit fort. Vielleicht liegt hier ein wenig Ironie vor. Sie hatten von Anfang an gezeigt, dass sie gewillt waren, sich an der Sammlung für Jerusalem zu beteiligen. Soweit es um die Bereitschaft ging, waren sie wirklich vorbildlich. Doch sie hatten einfach ihre ursprünglichen Absichten nicht verwirklicht. Und deshalb ist Paulus der Meinung, dass es nötig sei, sich »überflüssig« zu diesem Thema zu äußern.
9,2 Ihre »Bereitwilligkeit« wurde nicht infrage gestellt. Seit der ersten Erwähnung dieses Themas hatten sie mit »Eifer« und Ernsthaftigkeit mitgearbeitet. Paulus hatte sie sogar vor den Christen in Mazedonien bezüglich ihres Verhaltens gerühmt. Er hatte ihnen erzählt, »dass Achaja seit vorigem Jahr bereit ist«. Hier wird das Wort »Achaja« benutzt, um Korinth zu bezeichnen, da Korinth in Achaja liegt. Als die »Mazedonier« hörten, dass die Korinther schon vor einem Jahr bereit gewesen waren, wurden viele Mazedonier »angereizt«. Sie hatten sich mit dem »Bazillus« christlichen Gebens angesteckt und waren entschlossen, sich selbst von ganzem Herzen dieser Aufgabe hinzugeben.
9,3 Wenn Paulus hier sagt, dass er »die Brüder gesandt« hat, dann meint er, dass er sie senden wird. Die Vergangenheitsform ist hier gewählt, damit die Zeitform aus der Perspektive der Leser und nicht aus der Perspektive des Schreibers stimmt. »Die Brüder« sind die drei im vorhergehenden Kapitel erwähnten: Titus und zwei nicht namentlich genannte Christen. Sie sollten gesandt werden, damit das Rühmen des Paulus hinsichtlich der Korinther in Bezug auf die Sammlung nicht vergeblich sein würde. Die Aufgabe der drei Brüder bestand darin, den Abschluss der Sammlung zu gewährleisten, wenn Paulus ankäme.
9,4 Wenn der Apostel sich nun auf die Reise von Mazedonien nach Korinth im Süden machen würde, war es durchaus möglich, dass ihn einer der mazedonischen Gläubigen auf der Reise begleiten würde. Wie beschämend wäre es dann für den Apostel Paulus, die Korinther als säumige Mitwirkende an diesem Werk zu erleben! Nachdem er sie nämlich so gerühmt hatte und nun von einem der »Mazedonier« begleitet wurde, müsste er »finden«, dass die Korinther wegen der Sammlung für Jerusalem so gut wie nichts unternommen hätten! Wenn das passieren würde, dann wäre das Vertrauen des Paulus in die Korinther arg enttäuscht worden, »um nicht zu sagen«, dass die Korinther selbst sich wirklich für ihre Nachlässigkeit hätten schämen müssen. GN übersetzt hier sehr lebendig: Wie stehe ich da, wenn dann Leute von Mazedonien mit mir kommen und feststellen, dass es gar nicht so ist! Wie werde ich mich schämen müssen – und erst ihr selbst!
9,5 Aus diesem Grund »hielt« Paulus es »für nötig«, diese drei »Brüder zu bitten«, nach Korinth vorauszureisen, ehe er selbst kommen würde. Sie könnten so ihre »Gabe des Segens … zubereiten«, die sie für die Heiligen in Jerusalem »zuvor« angekündigt hatten.
»Damit diese so bereit sei wie eine Gabe des Segens und nicht des Geizes.« Es geht hier überhaupt nicht darum, dass man diese Gelder aus den Leuten in Korinth herauspressen wollte, sondern um ein Zeichen ihrer Großzügigkeit, das freiwillig gegeben werden sollte. F. Der Lohn großzügigen Gebens (9,6-15)
9,6 In den Versen 6 bis 15 führt der Apostel Paulus einige wunderbare Belohnungen und Vorteile des christlichen Gebens auf. Zunächst erklärt er das Gesetz von Saat und Ernte. Es ist eine jedem Bauern wohlbekannte Tatsache, dass man großzügig säen muss, um großzügig zu ernten. Vielleicht ist der Bauer bereit, die Saat auszusäen. Soll er jedoch viel säen oder einen Teil der Saat benutzen, um sich in den kommenden Monaten davon zu ernähren? Hier ist daran gedacht, dass er, wenn er »segensreich sät«, auch überproportional »segensreich ernten« wird. Wir sollten uns das merken – der Bauer erntet nicht den gleichen Betrag, den er gesät hat, sondern im Verhältnis dazu wesentlich mehr. Genauso gilt es für das christliche Spenden: Es geht nicht darum, genau das zurückzuerhalten, was man gegeben hat, sondern darum, überproportional viel im Vergleich zur Gabe zu bekommen. Natürlich bekommt man eher geistlichen Segen als Geld zurück.
9,7 »Jeder« soll geben, »wie er sich in seinem Herzen vorgenommen hat«. Er wird dabei überlegen müssen, was er für seine gegenwärtigen Bedürfnisse braucht. Er muss an seine normalen Verpflichtungen denken, was vollkommen gerechtfertigt ist. Doch danach sollte er an die Bedürfnisse seiner Mitchristen und an den Anspruch Christi an ihn denken. Wenn er all das in seine Überlegungen einbezieht, dann sollte er »nicht mit Verdruss oder aus Zwang« geben. Es ist möglich, etwas zu geben, und doch dabei unglücklich zu sein. Es ist auch möglich, dass man unter dem Druck emotionaler Spendenaufrufe oder öffentlicher Bloßstellung gibt. Doch all das ist nicht richtig. »Einen fröhlichen Geber liebt Gott.«
Braucht Gott wirklich unser Geld? Nein, denn ihm gehört das Vieh auf tausend Bergen, und wenn er etwas brauchen würde, so würde er es uns nicht sagen (Ps 50,10-12). Doch es geht ihm um unsere Herzenshaltung. Er sieht gerne Christen, die so erfüllt von der Freude des Herrn sind, dass sie das, was sie haben, mit anderen teilen wollen. »Einen fröhlichen Geber liebt Gott«, denn es gilt, was Jowett sagt: Freudiges Geben entsteht aus Liebe, und deshalb liebt hier ein Liebender einen anderen Liebenden, wobei man sich gemeinsam an der Gemeinschaft freut. Geben ist die Sprache der Liebe, sie hat ja gar keine andere! Gott hat so sehr geliebt, dass er gab! Liebe findet ihr Leben darin, sich selbst zu geben. Wenn sie sich ihres Besitzes rühmt, dann nur aufgrund der Freude, ihn hinzugeben. Wenn die Liebe alles hat, so besitzt sie doch nichts.40
9,8 Hier haben wir nun die Verheißung, dass Gott, wenn ein Mensch wirklich großzügig sein möchte, ihm auch die Gelegenheit dazu geben wird. »Gnade« steht hier für Mittel. »Gott aber vermag« uns so mit Mitteln zu versorgen, dass wir nicht nur selbst »Genüge« haben, sondern auch imstande sind, das uns Anvertraute mit anderen zu teilen und so »zu jedem guten Werk« in jeder Beziehung reichlich zu haben. Man beachte die Worte »alles« und »jedes« in diesem Vers: »Jede Gnade«, »allezeit«, »alle Genüge« und »jedes gute Werk«.
9,9 Nun zitiert der Apostel Psalm 112,9. Dieser Ausdruck (»er hat ausgestreut«) bezieht sich auf das Säen des Samens. Der Vers beschreibt einen Mann, der großzügig gesät hat, und zwar in seinen guten Werken. Sein gutes Werk war es, »den Armen« zu geben. Ist er dabei ein Verlierer? Nein! Denn »seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit«. Das bedeutet, dass wir, wenn wir unsere guten Werke so verteilen wie der Sämann seinen Samen, uns Schätze im Himmel aufhäufen. Die Ergebnisse unserer Güte werden in Ewigkeit bestehen bleiben.
9,10 Das Bild vom »Sämann« geht weiter. Derselbe Gott, »der aber Samen darreicht dem Sämann und Brot zur Speise«, sorgt für die Seinen: Diejenigen, die gute Werke tun, werden einen bestimmten Lohn erhalten. Als Erstes »wird« er »Saat darreichen  und  mehren«,  d. h.  er  wird uns noch mehr Gelegenheit zum Geben und wieder reichere Ernte schenken, wenn wir seinem Volk Gutes tun. Außerdem wird er »die Früchte eurer Gerechtigkeit wachsen lassen«. Die Korinther waren gerecht, als sie den Heiligen in Jerusalem spendeten. Als Ergebnis dieser Spenden würden sie Frucht in Form ewiger Belohnung erhalten. Würde Gott ihre Möglichkeiten zur Hilfe vermehren und nähmen sie noch an Großzügigkeit zu, dann würde auch die Belohnung dafür »wachsen«.
9,11 Es wird aus diesem Abschnitt sicherlich deutlich, dass niemand verarmt, wenn er sich selbst dem Herrn hingibt, sondern auf jede gute Tat folgt eine Reaktion, und die Belohnung steht in keinem Verhältnis zur Gabe. So sagt Paulus hier, dass die Christen durch ihr Geben »in allem reich« gemacht würden, damit sie auch weiterhin »Freigebigkeit« üben könnten. Als der Apostel sich nun die Zukunft vorstellte, wie die Korinther in der Gnadengabe des Gebens wachsen würden, dann würden sie (die Apostel) Gott »Danksagung« darbringen.
9,12 Würde nun die Gabe der Korinther in Jerusalem verteilt, dann würde sie nicht nur dazu dienen, »den Mangel der Heiligen« auszufüllen, sondern auch dazu führen, dass viele Menschen »Gott« danken würden. Wir haben immer wieder gesehen, welchen Wert Paulus auf »Danksagungen« legt. Alles, was dazu führt, dass man dem Herrn dankt, hält Paulus für äußerst wichtig.
9,13 Und es gab noch andere Segnungen, die die Gaben der Korinther hervorbringen würden. Die Gaben wären ein eindeutiger Beweis für die Judenchristen, dass im Leben der aus den Nationen Bekehrten wirklich »Christus« gewirkt hat. Zu gewissen Zeiten hatten die Judenchristen große Zweifel an solchen Bekehrten wie den Korinthern. Vielleicht sahen sie diese nicht als vollgültige Christen an. Doch diese Gaben wären für sie der Beweis der »Bewährung« des Glaubens der Korinther, und sie würden »Gott … verherrlichen« für das, was das »Evangelium Christi« in Achaja bewirkt hat, und auch für die großzügige Gabe, die ihnen zuteilwurde.
9,14 Und das ist noch nicht alles! Es folgen noch zwei weitere Segnungen. Durch die Gaben der Korinther für die Jerusalemer Gemeinde würden die Judenchristen von nun an sorgfältig für die Heiligen in Korinth beten, und es würden zwischen ihnen enge Beziehungen entstehen. Die Heiligen in Jerusalem würden sich nach den Korinthern »sehnen«, weil den Korinthern eine solch »überschwängliche Gnade Gottes« zuteilwurde.
9,15 An diesem Punkt bleibt dem Apostel nichts anderes übrig, als in einen Ausruf auszubrechen. Für viele Ausleger ist er ein Rätsel geblieben. Sie können den Zusammenhang mit dem Vorhergehenden nicht erkennen. Und sie fragen sich, was mit der »unaussprechlichen Gabe« gemeint ist.
Doch unserer Auffassung nach ist es offenbar so, dass der Apostel Paulus hier das Ende seiner Ausführungen über das christliche Geben erreicht und nun an den größten Geber überhaupt denken muss – an »Gott« selbst. Er denkt auch an die größte aller »Gaben« – nämlich an den Herrn Jesus Christus. Und deshalb möchte er die Korinther auf diesem Berg der Anbetung zurücklassen. Sie sollten einem solch würdigen Beispiel nacheifern! III. Paulus’ Verteidigung seiner Apostelschaft (Kap. 10 – 13) Die letzten vier Kapitel dieses Briefes befassen sich hauptsächlich mit der Verteidigung der Apostelschaft des Paulus. Die Worte des Apostels Petrus scheinen besonders für diesen Teil der Schriften von Paulus eine angemessene Beschreibung zu sein: »In diesen Briefen ist einiges schwer zu verstehen.« Paulus antwortet offensichtlich auf Anklagen seiner Gegner. Wir sind jedoch gezwungen, selbst Rückschlüsse zu ziehen, welche Anklagen das waren, während wir die entsprechenden Antworten des Paulus auslegen werden. Im gesamten Abschnitt spricht der Apostel immer wieder ironisch. Die Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, wann das der Fall ist!
Dennoch haben wir es mit einem Bibelabschnitt zu tun, der den intensiven Leser sehr belohnt, und wir wären ohne diese Zeilen sicherlich um einiges ärmer. A. Die Antwort des Paulus an seine Ankläger (10,1-12)
10,1 In den Versen 1-6 finden wir die Antwort des Apostels an diejenigen, die ihn anklagten, auf weltliche Weise gehandelt zu haben.
Zuerst stellt er sich einfach vor: »Ich selbst aber, Paulus.« Als Zweites bittet er die Heiligen eindringlich, doch nicht gebieterisch zu handeln. Als Drittes gründet er seinen Appell auf »die Sanftmut und Milde Christi«. Er denkt gewiss an den Weg, den der Herr Jesus hier auf Erden als Mensch gegangen ist. Dies ist, nebenbei gesagt, eine der wenigen Erwähnungen des irdischen Lebens Jesu bei Paulus. Normalerweise erwähnt der Apostel den auferstandenen und verherrlichten Christus, der zur Rechten Gottes sitzt. Paulus beschreibt sich nun selbst weiter: »Der ich ins Gesicht zwar demütig unter euch, abwesend aber mutig gegen euch bin.« Das ist offensichtlich ironisch gesprochen. Seine Kritiker behaupteten, dass er feige gewesen sei, als er persönlich anwesend war. Als er jedoch »abwesend« war, sei er »mutig« wie ein Löwe gewesen. Ihnen zufolge zeige sich sein Mut in seiner überheblichen Haltung in seinen Briefen.
10,2 Dieser Vers gehört zum ersten Teil von Vers 1. Dort fing Paulus an, die Korinther zu bitten, doch er hat ihnen den Inhalt seiner Bitte noch nicht mitgeteilt. Hier erklärt er sich nun ausführlicher: »Ich bitte aber darum, dass ich anwesend nicht mutig sein muss, mit der Zuversicht, mit der ich gedenke, gewissen Leuten gegenüber kühn aufzutreten, die von uns denken, wir wandelten nach dem Fleisch.« Er wollte ihnen gegenüber gar nicht »mutig« sein, sondern nur gegen diejenigen, die ihn anklagten, fleischlich zu handeln.
10,3 Hier ist daran gedacht, dass die Apostel zwar »im Fleisch« (d. h. in Körpern aus Fleisch und Blut) lebten, aber den Kampf als Christen nicht »nach dem Fleisch«  (d. h.  mit  fleischlichen  Methoden oder aus fleischlichen Beweggründen) führten.
10,4 »Die Waffen« des christlichen »Kampfes sind nicht fleischlich«. Der Christ  verwendet  z. B.  keine  Schwerter, Kanonen oder die Strategie der modernen Kampfführung, um das Evangelium überall zu verbreiten. Doch das sind nicht die einzigen fleischlichen Waffen, von denen der Apostel hier spricht. Der Christ verwendet auch keinen Reichtum, keine Herrlichkeit, keine Macht, keinen Überfluss und auch keine Raffinesse, um seine Ziele zu erreichen.
Stattdessen benutzt er Methoden, die »mächtig für Gott zur Zerstörung von Festungen« sind. Glaube an den lebendigen Gott, Gebet und Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes sind die wirksamen Waffen jedes echten Soldaten Christi. Durch sie werden »Festungen« niedergerissen.
10,5 Dieser Vers sagt uns, was in Vers 4 mit »Festungen« gemeint ist. Paulus sah sich selbst als Soldaten, der gegen die stolzen Argumente der Menschen Krieg führte, gegen »Vernünfteleien«, die gegen die Wahrheit stehen. Die Art dieser »Vernünfteleien« wird mit dem Ausdruck »gegen die Erkenntnis Gottes« beschrieben. Es könnte sich heute auf die Argumente von Naturwissenschaftlern, Evolutionisten, Philosophen, Religionswissenschaftlern und Vertretern von Religionen handeln, die in ihrem System keinen Platz für Gott haben. Der Apostel hatte nicht im Sinn, mit ihnen Frieden zu schließen. Er fühlte sich eher verpflichtet, »jeden Gedanken … unter den Gehorsam Christi … gefangen« zu nehmen. Alle Lehren und Spekulationen der Menschen müssen im Licht der Lehre des Herrn Jesus Christus beurteilt werden. Paulus will hier nicht menschliche Argumente an sich verurteilen, doch er weist nachdrücklich darauf hin, dass wir unseren Verstand nicht dazu benutzen dürfen, sich dem Herrn zu widersetzen und ihm ungehorsam zu sein.
10,6 Als Soldat Christi war der Apostel auch »bereit, allen Ungehorsam zu strafen, wenn« die Korinther zunächst erst einmal ihren »Gehorsam« gezeigt hätten. Er würde erst gegen die Irrlehrer in Korinth vorgehen, wenn er sich zunächst versichert hatte, dass die Gläubigen in allen Angelegenheiten »gehorsam« seien.
10,7 Der erste Satz könnte eine Frage sein: »Sehet ihr auf das, was vor Augen ist?« (Elb). Es könnte aber auch die Feststellung einer Tatsache sein: »Ihr seht alles nur oberflächlich« (nach der Übersetzung NIV). Oder wir haben es mit einer Aufforderung zu tun: »Seht doch auf das, was vor Augen ist!« D. h.: »Seht doch den Tatsachen ins Auge!« (Hfa). Wenn wir den Satz als Aussage auffassen, dann bedeutet er, dass die Korinther geneigt waren, einen Menschen danach zu beurteilen, ob er eine gebieterische Haltung hat, ob er eindrücklich reden oder logisch argumentieren kann. Sie ließen sich durch Äußerlichkeiten beeinflussen, statt auf das Innere zu achten. »Wenn jemand sich zutraut, dass er Christus angehört, so denke er andererseits dies bei sich selbst, dass, wie er Christus angehört, so auch wir.« Hier könnte sich Paulus auf diejenigen beziehen, die sagten:  »Ich  bin  Christi«  (1. Kor  1,12), und wahrscheinlich alle anderen mit dieser Bemerkung ausschließen wollten. Er antwortet damit, dass niemand ein ausschließliches Recht an Christus haben kann. Er gehört ebenso dem Herrn wie sie.
Wer immer diese exklusiven Christen waren, Paulus leugnet nicht, dass sie zu Christus gehören. Deshalb kann sich dieser Abschnitt kaum auf die falschen Apostel und betrügerischen Mitarbeiter beziehen, die sich selbst zu Aposteln Christi machten (11,4). Es scheint, dass Paulus in diesem Brief verschiedenen seiner Gegner antwortet, von denen einige gerettet, andere jedoch nicht gerettet waren.
10,8 Als Apostel Jesu Christi war Paulus die »Vollmacht« über die Gemeinden gegeben, die er gegründet hatte. Das Ziel dieser Vollmacht bestand darin, die Heiligen in ihrem allerheiligsten Glauben zu erbauen. Die Irrlehrer dagegen handelten in einer Vollmacht, die sie nie vom Herrn erhalten hatten. Ja, noch mehr: Sie übten diese Vollmacht auf eine Art und Weise aus, die die Heiligen entmutigte, statt sie zu erbauen. Deshalb sagt Paulus, dass er selbst dann nicht zuschanden würde, wenn er sich »etwas mehr« der »Vollmacht« rühmte. Seine Behauptungen würden sich schließlich als wahr erweisen.
10,9 Er hat das gesagt, damit es nicht »den Anschein« erweckt, er wolle die Christen »durch die Briefe schrecken«. Mit anderen Worten, wenn sich der Apostel seiner Autorität von Gott rühmte, so wollte er nicht, dass die Christen dachten, er wolle sie ängstigen. Damit würde er nur seinen Kritikern in die Hände spielen. Die Korinther sollten sich lieber daran erinnern, dass seine Autorität zu ihrer Auferbauung gegeben war, und daran, dass er sie dazu auch benutzt hatte.
10,10 Hier dürfen wir nun einmal genau die Anklage hören, die gegen den Apostel Paulus erhoben wurde. Seine Gegner klagten ihn an, dass er zwar Drohbriefe schrieb, doch seine »leibliche Gegenwart ist schwach und die Rede zu verachten«.
10,11 Jeder, der solche Vorwürfe erhob, sollte »bedenken«, dass Paulus genau derselbe sein würde, wenn er bei ihnen »anwesend« wäre, wie er auch in den »Briefen« ist. Das bedeutet nicht, dass Paulus zugibt, in seinen Briefen anmaßend gewesen zu sein. Das sagte man ihm nach. Doch er sagt, dass er streng gegen sie vorgehen würde, wenn er ihnen begegnete. Er würde in dieser Hinsicht sicher nicht feige sein.
10,12 Es ist offensichtlich, dass diese Irrlehrer die Angewohnheit hatten, sich mit anderen zu vergleichen. Sie stellten Paulus als lächerlich hin. Sie waren der Ansicht, dass sie selbst zum harten Kern gehörten. Sie waren die Elite. Nach ihrer Ansicht konnte keiner mit ihnen mithalten und in einem so guten Licht das tehen. Deshalb sagt Paulus offensichtlich spottend: »Denn wir wagen nicht, uns ge wissen Leuten von denen, die sich selbst empfehlen, beizuzählen oder gleichzustellen; aber da sie sich an sich selbst messen und sich mit sich selbst vergleichen, sind sie unverständig.« Sie klagten zwar Paulus an, in seinen Briefen mutig zu sein, doch ist er hier nicht mutig genug, sich unter diejenigen zu zählen, »die sich selbst empfehlen«, oder unter jene, deren Vergleichsmaßstab nur ihr eigenes Leben ist.
Es sollte doch klar sein, dass jemand, wenn er nur sich selbst als Maßstab nimmt, immer im Recht ist! Es gibt keine Möglichkeit einer Verbesserung. Wer so handelt, ist »unverständig«. Jemand hat einmal treffend gesagt: »Das Verhängnisvolle am Vorgehen aller Cliquen und Zirkel besteht darin, diejenigen zu ignorieren, die außerhalb ihrer Gruppe auch noch talentiert sind.«
B. Das Prinzip des Paulus: Neuland für Christus erobern (10,13-16)
10,13 In den Versen 13 bis 16 erklärt Paulus seine Absicht, sich nur in dem »Wirkungskreis« des Dienstes zu rühmen, »den Gott« ihm gegeben hat. Er hat es sich zum Prinzip gemacht, sich nicht in die Arbeit irgendeines anderen einzumischen, wenn er sich rühmen wollte. Das ist offensichtlich eine Anspielung auf die Irrlehrer. Es war ihr Prinzip, sich in Gemeinden einzuschleichen, die vom Apostel Paulus oder einem anderen Christen gegründet wurden, um dort auf dem Fundament weiterzuarbeiten, das andere gelegt haben. Wenn sie sich rühmten, dann in Wirklichkeit der Arbeit anderer. Paulus erklärt nun, dass er sich »nicht« eines Sachverhalts »rühmen« will, der außerhalb »des Wirkungskreises« seines Dienstes für Christus liegt. Er will sich der Orte und Menschen rühmen, an denen Gott seinen Dienst gebraucht hat. Das würde z. B. Korinth einschließen, da er das Evangelium dorthin gebracht und sich daraufhin eine Gemeinde gebildet hat.
Arthur S. Way übersetzt hier in meisterhafter Weise folgendermaßen: Aber was mich angeht – ich rühme mich nicht der Vorrechte, die über meinen rechtmäßigen Auftrag hinausgehen. Ich beschränke mich auf den Dienstbereich, den Gott mir abgesteckt und zugewiesen hat – und zu diesem Bereich gehört gewiss mein Auftrag an euch. In Wirklichkeit war Paulus beauftragt worden, das Evangelium zu den Heiden zu bringen. Dieser Auftrag umschloss natürlich auch Korinth. Die Apostel in Jerusalem hatten das bestätigt, doch nun kamen Irrlehrer von Jerusalem und wirkten auf Arbeitsfeldern, die Gott Paulus übertragen hatte.
10,14 Der Apostel lässt sich nicht dazu hinreißen, sich übermäßig zu rühmen. Gott hatte ihm ein Arbeitsgebiet zugewiesen, wozu Korinth gehörte. Er war nach Korinth gekommen, hatte dort das Evangelium gepredigt und eine Gemeinde gegründet. Wenn er Korinth nicht erreicht hätte, dann könnte ihm vorgeworfen werden, dass er sich über Gebühr rühmen würde.
Er musste Versuchungen, Prüfungen, Anfechtungen und Schwierigkeiten durchstehen, damit er die Korinther erreichen konnte. Nun drangen andere in sein Arbeitsgebiet ein, in dem er Pionierarbeit geleistet hatte, und sie rühmten sich lauthals ihrer Erfolge.
Die Einheitsübersetzung übersetzt diesen schwierigen Vers: »Wir überschreiten also nicht unser Maß, wie wir es tun würden, wenn wir nicht bis zu euch gelangt wären, denn wir sind wirklich als Erste mit dem Evangelium Christi bis zu euch gekommen.«
10,15 Der Apostel ist entschlossen, sich »nicht« für etwas zu rühmen, das nicht unmittelbar das Ergebnis seines eigenen Dienstes für Christus war. Genau dessen machten sich jedoch die Irrlehrer schuldig: Sie rühmten sich der Arbeit anderer Menschen. Sie versuchten, die Schafe des Paulus zu stehlen, schädigten seinen Ruf, widersprachen seiner Lehre und maßten sich fälschlicherweise Autorität an.
Paulus hoffte, er könne weiterreisen, wenn der »Glaube« der Korinther »wachsen« und ihr Glaube sich in praktischer Hilfe ausdrücken würde. Dies würde es ihm ermöglichen, als Gottes Apostel noch weitere Regionen zu erschließen. Wenn er so seinen Dienst ausweitete, dann würde er damit konsequent seinen Prinzipien folgen.
Die Probleme in Korinth nahmen seine Zeit so sehr in Anspruch, dass er abgehalten wurde, seinen Auftrag in ferneren Gebieten zu erfüllen.
10,16 Sein Prinzip war, »das Evangelium weiter über« die Korinther »hinaus zu verkündigen«. Wahrscheinlich meinte er damit Westgriechenland, Italien und Spanien. Er wollte sich »nicht in fremdem Wirkungskreis … dessen … rühmen, was schon fertig ist«. Der Apostel hatte nicht die Absicht, in anderer Leute Arbeitsfelder einzudringen, oder sich dessen zu rühmen, was andere Menschen erreicht hatten.
C. Das wichtigste Ziel des Paulus: Die Empfehlung durch den Herrn (10,17.18)
10,17 Wenn sich schon jemand »rühmen« wolle, dann sollte er »sich des Herrn« rühmen. Zweifellos bedeutet dies, dass man sich nur dessen rühmen solle, was der Herr durch einen getan hat. Das scheint die allgemeine Argumentationsrichtung des Paulus zu sein.
10,18 Außerdem ist die Selbstempfehlung sicher nicht das, was Gottes Zustimmung findet. Die Kritiker des Paulus sollten sich folgende Frage stellen: Hat der Herr dich dadurch empfohlen, indem er deinen Dienst so gesegnet hat, dass Menschen gerettet, Heilige im Glauben gefestigt und Gemeinden gegründet wurden? Kannst du die göttl iche Anerkennung deines Dienstes durch Menschen unter Beweis stellen, die durch deine Predigt bekehrt worden sind? Das allein zählt! Paulus war gewillt und in der Lage, solche Beweise der Empfehlung des Herrn für seinen Dienst vorzubringen.
In diesem und im folgenden Kapitel ergeht sich der Apostel in einer, wie er es nennt, Torheit. Er beschäftigt sich mit der Torheit, gut von sich selbst zu reden. Er möchte das überhaupt nicht tun. Es war ihm ohne Zweifel zuwider. Aber er bittet die Korinther, Nachsicht mit ihm zu haben, weil er sich so selbst zum Narren machte.
Offensichtlich hatten sich die Irrlehrer im großen Stil selbst gerühmt. Sie berichteten überschwänglich von ihrem Dienst und ihren spektakulären Erfolgen. Das hat Paulus hingegen nie getan, er hat immer Christus gepredigt und nie sich selbst.
Die Korinther schienen den Selbstruhm gewisser Verkündiger im Dienst zu bevorzugen. Deshalb bittet Paulus zuzulassen, dass er sich auch eine Weile auf diese Weise empfiehlt.
D. Paulus’ Bekräftigung seiner Apostelschaft (11,1-15)
11,1 »Möget ihr doch ein wenig Torheit von mir ertragen! Doch ihr ertragt mich ja auch.« Paulus will, dass sie ihn ertragen, wenn er sich rühmt. Doch dann merkt er, dass sie das schon tun, und so ist seine Bitte eigentlich unnötig.
11,2 Er gibt drei Gründe an, warum er sie darum bittet. Der erste ist, dass er »um« die Korinther »mit Gottes Eifer« geeifert hat. Er hatte sie »einem Mann verlobt«, damit er sie als »eine keusche Jungfrau vor den Christus« hinstellen könnte. Paulus fühlte seine persönliche Verantwortung für das geistliche Wohlergehen der korinthischen Heiligen. Es war sein Anliegen, dass er sie an einem zukünftigen Tag, d. h. bei der Entrückung, dem Herrn Jesus Christus vorstellen könnte. Sie sollten nämlich vorher nicht durch die damals gängigen Irrlehren verdorben werden. Deshalb war er regelrecht eifersüchtig, sodass er bereit war, sich zu etwas hinreißen zu lassen, das ihm als Torheit erschien.
11,3 Hier findet sich der zweite Grund, warum sich Paulus der Gefahr aussetzt, sich lächerlich zu machen: Es war seine Befürchtung, dass die Heiligen betrogen werden könnten und ihr »Sinn von der Einfalt« und Reinheit der Hingabe an »Christus« abgewandt werden könnte. Hier bedeutet »Einfalt«, dass man einer Sache ganz zugewandt ist. Er wollte, dass sie sich dem Herrn Jesus allein hingaben, ohne zuzulassen, dass ihre Gefühle von irgendjemand anderem in Anspruch genommen würden. Außerdem wollte er, dass sie unbefleckt in ihrer Hingabe an den Herrn blieben.
Der Apostel erinnert sich, »wie die Schlange Eva durch ihre List verführte«. Die Schlange verführte Eva, indem sie deren Verstand bzw. Intellekt ansprach. Und genau dasselbe taten auch die Irrlehrer in Korinth. Paulus wollte jedoch, dass das Herz der Korinther ungeteilt und unbefleckt blieb.
Man beachte, dass Paulus den Bericht von Eva und der Schlange als Tatsache, nicht als Mythos behandelt.
11,4 Nun folgt der dritte Grund, warum der Apostel sich ein wenig Torheit gestattete: Er bestand darin, dass die Korinther ihre Bereitschaft gezeigt hatten, auf Irrlehrer zu hören.
Angenommen, jemand käme nach Korinth und würde wirklich »einen anderen Jesus« predigen, »einen anderen Geist« vermitteln und »ein anderes Evangelium« bringen. Dann würden die Korinther ihn bereitwillig gewähren lassen. Sie tolerierten solche Ansichten auf liebenswürdige Weise. Im Grunde sagt Paulus hier sarkastisch: »Wenn ihr andere so liebenswürdig erduldet, warum nicht auch mich?«
Die letzten Worte des Verses (»so ertragt ihr das recht gut«) müssen ironisch verstanden werden. Der Apostel will hier nicht billigen, dass sie die Irrlehre annehmen, sondern rügt sie für ihre Leichtgläubigkeit und ihr mangelndes Urteilsvermögen.
11,5 Der Grund, warum sie Paulus ertragen sollen, lautet folgendermaßen: Er hat »den übergroßen Aposteln in nichts nachgestanden«. Der Ausdruck »übergroße Apostel« wird hier sarkastisch verwendet. Die wörtliche (und sehr modern klingende!) Übersetzung lautet »SuperApostel«.
Die Reformatoren zitierten diesen Vers, wenn sie die papistische Vorstellung bekämpften, dass Petrus der erste der Apostel gewesen sei und die Päpste diese Vorrangstellung übernommen hätten.
11,6 Auch wenn Paulus »ein Unkundiger in der Rede« gewesen sein mag, so war er es doch sicherlich »nicht in der Erkenntnis«. Das sollte den Korinthern eigentlich deutlich gewesen sein, weil sie vom Apostel Paulus ihr Wissen über den christlichen Glauben erhalten hatten. Wie schlecht auch immer die Rhetorik des Paulus gewesen sein mag, hatte er sich doch offensichtlich den Heiligen in Korinth verständlich machen können. Sie selbst müssten dafür Zeugnis ablegen.
11,7 Vielleicht war seine fehlende rhetorische Brillanz nicht der Grund dafür, dass die Korinther eine solch negative Haltung ihm gegenüber hatten. Möglicherweise hatte er stattdessen Anstoß gegeben, indem er sich »selbst erniedrigte«, um sie zu »erhöhen«. Der Schluss des Verses beschreibt, was er hier meint. Als der Apostel bei den Korinthern war, nahm er von ihnen keinerlei finanzielle Hilfe an. Vielleicht waren sie nun der Meinung, er habe eine Sünde begangen, indem er einen solch demütigen Platz eingenommen hatte, damit sie den höheren erhalten könnten.
11,8 »Andere Gemeinden habe ich beraubt«: Dieser Ausdruck ist hier ein Sprachbild, das man als Hyperbel bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine rhetorische Übertreibung, die eine gewisse Wirkung beim Hörer hervorrufen soll. Paulus meint hier natürlich nicht, dass er wörtlich andere Gemeinden ausgeraubt habe. Vielmehr will er hier einfach sagen, dass er, als er dem Herrn in Korinth diente, finanzielle Unterstützung von »anderen Gemeinden« erhielt. Damit konnte er den Korinthern dienen, ohne dass diese für seinen Unterhalt aufkommen mussten.
11,9 Es gab während seines Aufenthalts in Korinth Zeiten, in denen der Apostel Paulus wirklich »Mangel litt«. Berichtete er den Korinthern davon und bestand er darauf, dass sie ihm helfen sollten? Sicherlich nicht. Einige »Brüder, … die aus Mazedonien kamen«, brachten ihm, was ihm an Materiellem mangelte. Auf jede mögliche Weise verhinderte der Apostel, dass er ihnen »zur Last fiel«, und er war entschlossen, das auch weiterhin so zu handhaben. Bei den Korinthern würde er nicht auf seinem Recht als Apostel bestehen, von ihnen unterhalten zu werden.
11,10 Paulus ist entschlossen, dass ihm niemand den Grund für »dieses Rühmen für« ihn »in den Gegenden von Achaja« nehmen kann, wo Korinth liegt. Er bezieht sich hier zweifellos auf seine Kritiker, die seine Zurückhaltung als Argument gegen ihn angeführt haben. Sie sagten, dass er sich bewusst geworden sei, kein echter Apostel zu sein. Deshalb habe er nicht darauf bestanden, von den Christen unterstützt zu werden (1. Kor 9). Trotz der Anklagen seiner Kritiker will er sich weiter rühmen, dass er den Korinthern gedient hat, ohne Geld von ihnen zu verlangen.
11,11 »Warum« will er sich so rühmen? »Weil« er etwa die Korinther »nicht liebt«? »Gott weiß«, dass dem nicht so ist. Sein Herz war von tiefster Zuneigung zu ihnen erfüllt. Es scheint so gewesen zu sein, dass der Apostel kritisiert wurde, ganz gleich, wie er sich verhielt. Hätte er Geld von den Korinthern genommen, dann hätten seine Gegner gesagt, er habe nur um des Geldes willen gepredigt. Indem er kein Geld von ihnen nahm, setzte er sich der Anschuldigung aus, dass er sie eigentlich nicht »liebe«. Doch »Gott weiß«, was hier wahr ist, und Paulus begnügt sich damit, es ihm zu überlassen.
11,12 Es scheint eindeutig zu sein, dass die Irrlehrer von den Korinthern Geld erwartet, verlangt und auch erhalten hatten. Wie die meisten Sektenprediger hätten sie nicht gedient, wäre es finanziell für sie nicht einträglich gewesen. Paulus war entschlossen, sein Prinzip weiter aufrechtzuerhalten, von den Gläubigen in Korinth kein Geld anzunehmen. Wenn die Irrlehrer ihm hinsichtlich des Rühmens in nichts nachstehen wollten, so sollten sie erst einmal seiner Praxis folgen. Doch er wusste, dass sie nie imstande wären, sich unentgeltlichen Dienstes zu rühmen. So entzog er ihnen die Grundlage für ihre unlautere Vorgehensweise.
11,13 Und nun kann Paulus nicht länger an sich halten, was die wirkliche Einschätzung dieser Männer angeht. Hier sagt er, was er bisher im Brief noch zurückgehalten hatte. Nun bricht es aus ihm heraus! Er muss sie mit Namen nennen. »Solche sind falsche Apostel« in dem Sinne, dass sie nie vom Herrn Jesus Christus ausgesandt wurden. Sie haben sich das Amt entweder angemaßt, oder es wurde ihnen durch andere übertragen. Sie sind »betrügerische Arbeiter«, und damit beschreibt er die Methoden, mit denen sie von Gemeinde zu Gemeinde gingen, um sich eine Anhängerschaft für ihre Irrlehren zu sichern. Indem sie »die Gestalt von Aposteln Christi annehmen«, geben sie vor, Jesus hier auf Erden zu vertreten. Paulus hatte nicht die Absicht, sich mit »solchen« auf die gleiche Stufe zu stellen. Was für die Irrlehrer damals galt, trifft auch noch heute auf sie zu. »Das Böse könnte uns bekanntlich nie verführen, wenn wir es einfach sehen könnten, wie es ist. Verstellung ist für seine Machterhaltung wichtig, und es spricht den Menschen mittels Gedanken und Hoffnungen an, die er keineswegs als gut bezeichnen kann« (ohne Quellenangabe).
11,14 Der Apostel hat soeben ausgesagt, dass seine Kritiker sich in Korinth fälschlicherweise als Apostel Christi hingestellt hätten. Doch er ist nicht erstaunt, dass sie so handeln, wenn er an die Taktik ihres Herrn denkt: »Und kein Wunder, denn der Satan selbst nimmt die Gestalt eines Engels des Lichts an.« Satan wird heute meist als gehörntes, böse aussehendes Geschöpf mit roter Haut und einem Schwanz dargestellt. Doch das ist weit von dem entfernt, wie er sich den Menschen zeigt. Andere denken, dass Satan ein armer Betrunkener ist, der sich in der Gosse wälzt. Doch all das ist eine völlig falsche Vorstellung davon, wie Satan wirklich ist. Dieser Vers erklärt, dass er sich als »Engel des Lichts« verkleidet. Vielleicht können wir durch ein Bild sagen, dass er sich als Diener des Evangeliums ausgibt, sich wie ein Kleriker kleidet und auf der Kanzel einer modernen Kirchengemeinde steht. Er benutzt einen frommen Wortschatz wie Gott, Jesus und die Bibel. Doch er täuscht seine Zuhörer und lehrt, dass man das Heil durch gute Werke und menschliche Verdienste erringen kann. Er predigt nicht die Erlösung durch das Blut Christi.
11,15 J. N. Darby hat einmal festgestellt, dass Satan nie satanischer ist, als wenn er mit der Bibel unter dem Arm daherkommt. Das ist der Gedanke von Vers 15. Wenn schon Satan sich verkleidet, dann ist es kaum verwunderlich, wenn seine Helfershelfer dasselbe tun. Wie treten sie auf? Als Irrlehrer? Als Atheisten? Als Ungläubige? Nein, natürlich nicht. Sie geben sich als »Diener der Gerechtigkeit« aus. Sie behaupten, dem christlichen Glauben zu dienen. Sie geben vor, Menschen den Weg der Wahrheit und der »Gerechtigkeit« zu führen, doch sind sie in Wirklichkeit Handlanger des Bösen.
»Ihr Ende wird ihren Werken entsprechen.« Sie richten zugrunde – und werden zugrunde gerichtet werden. Ihre Taten führen Menschen dem Verderben zu, und auch sie werden auf ewig verlorengehen.
E. Die Leiden des Paulus für Christus beweisen seine Apostelschaft (11,16-33)
11,16 Paulus hofft, dass niemand ihn für einen rühmenden Toren hält, wenn er das sagt. Doch wenn sie darauf bestehen, dass er töricht ist, dann sollen sie ihn doch »als einen Törichten« annehmen, damit er sich auch »ein wenig rühmen kann«. Man beachte das Wort »auch« im zweiten Teil des Verses: »Damit auch ich mich ein wenig rühmen kann.« Dieses Wort hat eine wichtige Bedeutung. Die Irrlehrer rühmten sich sehr. Paulus sagt also im Grunde: »Vielleicht könnt ihr nicht anders, als mich für töricht zu halten (was ich jedoch nicht bin). Dann nehmt mich doch so an, wie ihr andere Toren angenommen habt, damit ich mich unter diesen Männern ein wenig rühmen kann.«
11,17 Dieser Vers hat zwei mögliche Auslegungen. Einige sind der Ansicht, dass Paulus hier Folgendes sagen will: Das, was er schreibt, gehe zwar auf Inspiration zurück, sei ihm jedoch nicht durch ein Gebot des »Herrn« aufgetragen. Die andere Auslegungsmöglichkeit besteht darin, dass Paulus hier etwas tut, das nicht »dem Herrn« entspricht. Es geht darum, sich zu rühmen, und zwar in dem Sinne, dass er damit nicht dem Beispiel des Herrn folgte. Der Herr Jesus hat sich nie selbst gerühmt.
In der Einheitsübersetzung wird eher die erste Ansicht deutlich: »Was ich hier sage, sage ich nicht im Sinn des Herrn, sondern sozusagen als Narr im falschen Stolz des Prahlers.«
Wir jedoch ziehen die zweite Auslegung vor: Das »Rühmen« war nicht »nach dem Herrn«, und Paulus handelte in scheinbarer Torheit, als er sich mit solchen Worten selbst lobte. Ryrie kommentiert: »Er musste sich seinen Aussagen zufolge nun darin [im Rühmen] ergehen. Dabei handelte er gegen seine natürlichen Instinkte, damit er ihnen einige wichtige Tatsachen ins Gedächtnis rufen konnte.«41
11,18 Die Korinther hatten kürzlich viel von den Männern zu hören bekommen, die sich in ihrer verdorbenen menschlichen Natur aufspielten. Wenn die Korinther der Ansicht waren, dass diese Irrlehrer genügend Grund zum Rühmen hatten, dann sollten sie sich nun einmal sein Eigenlob vor Augen halten und sehen, ob es nicht wohlbegründet sei.
11,19 Und wieder bedient sich Paulus der Satire. Er bittet sie nur darum, mit ihm zu verfahren, wie sie täglich mit anderen verfuhren. Sie glaubten sich zu klug, als dass sie mit Torheit hätten getäuscht werden können. Doch genau das war passiert, wie er ihnen nun erklären will.
11,20 Sie waren bereit, die beschriebenen Menschen zu ertragen. Wer wurde denn da beschrieben? Aus dem Folgenden geht hervor, dass Paulus nun den Irrlehrer beschreibt, den falschen Apostel, der sich die Korinther als Opfer ausgesucht hatte. Als Erstes »knechtete« er die Korinther. Das spricht zweifellos von der Knechtschaft des Gesetzes (Apg 15,10). Er lehrte, dass der Glaube an Christus zur Errettung nicht ausreiche, sondern man auch das mosaische Gesetz noch halten müsse.
Zweitens »zehrte« er die Korinther »auf«, und zwar in dem Sinne, dass er große finanzielle Ansprüche an sie stellte. Er diente ihnen nicht aus Liebe, sondern ihm ging es um finanziellen Gewinn. »Wenn jemand euch einfängt«: Der Ausdruck stammt aus der Fischer- oder Jägersprache. Der Irrlehrer versuchte, diese Menschen zu seiner Beute zu machen, indem er sie herumführte, wie es ihm gefiel.
Für diese Menschen war es kennzeichnend, dass sie sich stolz und prahlerisch erhoben. Indem sie andere kritisierten, versuchten sie, in den Augen der Menschen größer zu erscheinen. Und schließlich schlugen sie die Gläubigen »ins Gesicht«, eine große Demütigung. Wir können dies ohne Weiteres wörtlich nehmen, denn arrogante Kirchenleute haben zu jeder Zeit wirklich auf ihre Gemeindeglieder eingeschlagen, um ihre Autorität zu behaupten. Der Apostel wundert sich, dass die Korinther bereit waren, solche Misshandlungen von den Irrlehrern zu ertragen. Gleichzeitig waren sie jedoch nicht bereit, seine liebevollen Warnungen und Ermahnungen anzunehmen.
Darby stellt fest: »Es ist erstaunlich, wie viel sich Menschen von der Unwahrheit gefallen lassen, und zwar viel mehr, als sie für die Wahrheit zu leiden bereit sind.«42
11,21 Einige Ausleger sind der Ansicht, dass Paulus mit diesem Vers sagen möchte: »Ich spreche auf diese Weise, indem ich mich selbst herabsetze. Dabei scheint es, als ob ich während meiner persönlichen Anwesenheit bei euch schwach gewesen wäre und Angst gehabt hätte, meine Autorität auf die Weise durchzusetzen, wie es diese Männer tun.« Ein anderer Vorschlag lautet, dass die Bedeutung folgende ist: »Indem ich das sage, setze ich mich selbst herab, weil ich dann schwach gewesen bin, wenn dies meine Stärke hätte sein sollen.« Paulus sagt hier Folgendes: Wenn die Vorgehensweise der Irrlehrer wirkliche Stärke bedeutet, muss er zu seiner »Schande« sagen, dass er eine derartige Stärke nie gezeigt hat; vielmehr erwies sich sein Verhalten im Vergleich damit als Schwäche. Doch er fügt schnell hinzu, dass er sicherlich dasselbe Recht hätte, das zu wagen, was diese anderen Männer auch gewagt haben. Hfa drückt das treffend aus: »Aber da ich mich nun einmal entschlossen habe, wie ein Narr zu reden: Womit diese Leute sich brüsten, damit kann ich schon lange dienen.« Mit dieser Einleitung beginnt Paulus einen der großartigsten Abschnitte seines Briefes, worin er zeigt, dass er das Recht hat, sich als wahren Diener des Herrn Jesus Christus zu bezeichnen.
Sie werden sich gewiss erinnern, dass in der Gemeinde in Korinth die Frage aufgeworfen worden war, ob Paulus wirklich ein wahrer Apostel sei. Welche Beweise konnte er vorlegen, dass er einen göttlichen Ruf erhalten hatte? Wie konnte er zu jedermanns Zufriedenheit beweisen, dass er zum Beispiel den anderen zwölf Aposteln gleich war? Er ist zu einer Antwort auf diese Frage bereit, doch würden wir nicht ganz das erwarten, was er schreibt. Er zeigt uns kein Zeugnis einer Bibelschule oder eines Seminars, das er abgeschlossen hat. Auch bringt er keinen offiziellen Brief, der von den Brüdern in Jerusalem unterzeichnet ist, der besagt, dass er in dieses Werk ausgesandt worden ist. Er führt auch nicht seine persönlichen Fähigk eiten und Erfolge an. Vielmehr bringt er uns eine bewegende Aufzählung seiner Leiden, die er im Werk des Herrn erd ulden musste. Wir sollten uns die Dramatik und das Pathos dieses Abschnitts aus 2. Korinther nicht entgehen lassen. Wir sollten uns den unerschrockenen Paulus einmal vorstellen, wie er auf seinen Missionsreisen unermüdlich über Land und Meer eilt, von der Liebe Christi vorwärtsg etrieben. Er ist bereit, unzählige Entbehrungen zu ertragen, damit Menschen nicht verlorengehen, weil sie das Evangelium von Christus noch nicht gehört haben. Wir können diese Verse kaum lesen, ohne tief bewegt und beschämt zu sein.
11,22 Die Irrlehrer hielten viel auf ihre jüdischen Vorfahren. Sie behaupteten, reinrassige »Hebräer« zu sein, von Israel abzustammen und »Abrahams Nachkommen« zu sein. Sie gaben sich noch immer der Illusion hin, dass ein solcher Stammbaum ihnen vor Gott Vorteile bringen würde. Sie erkannten nicht, dass Gottes auserwähltes Volk Israel von Gott beiseitegesetzt worden war, weil es den Messias abgelehnt hatte. Sie erkannten nicht, dass für Gott nun kein Unterschied mehr zwischen Juden und Heiden bestand: Alle sind Sünder, und alle können nur durch den Glauben an Christus allein erlöst werden.
Es war völlig sinnlos, dass sie sich in dieser Beziehung aufspielten. Ihre Herkunft gab ihnen keinen Vorteil gegenüber Paulus, weil auch er »Hebräer« war, ein Israelit und »Abrahams Nachkomme«. Doch das entsprach nicht dem, was ihn als Apostel Jesu Christi auszeichnete. Und deshalb eilt er weiter, um zu seinem Hauptargument zu kommen: Sie konnten ihm in einer Hinsicht nicht das Wasser reichen – nämlich bezüglich seiner Leiden und Entbehrungen.
11,23 Sie gaben vor, »Diener Christi« zu sein, Paulus dagegen war »ein Diener in Hingabe, in Mühe und in Leiden«. Der Apostel Paulus konnte nie vergessen, dass er dem leidenden Heiland nachfolgte. Er erkannte, dass der Schüler nicht über dem Meister ist. Ein Apostel konnte von der Welt keine bessere Behandlung erwarten, als seinem Meister zuteilwurde. Paulus rechnete damit, dass er umso mehr von Menschen zu leiden hätte, je treuer er Christus diente und den Heiland nachahmte. Für ihn war das Leiden das Kennzeichen der Diener Christi. Natürlich kam er sich wie »unsinnig« vor, als er sich so rühmte. Dennoch verlangte die Notwendigkeit, dass er die Wahrheit sprach, und die Wahrheit lautete, dass diese Irrlehrer ganz gewiss nicht für ihre Leiden bekannt geworden waren. Sie hatten den einfacheren Weg eingeschlagen. Sie scheuten Verachtung, Verfolgung und Vorwürfe. Aus diesem Grund war Paulus der Ansicht, dass sie sich in einer zu schwachen Stellung befanden, um ihn als Diener Christi angreifen zu können.
Wir wollen uns nun den Leidenskatalog ansehen, den Paulus als Beweis seiner Apostelschaft heranzieht. »In Mühen umso mehr.« Er denkt an das Ausmaß seiner Missionsreisen, wie er in weiten Teilen des Mittelmeergebiets herumgereist ist, um Christus bekannt zu machen.
»In Gefängnissen umso mehr.« Der einzige Gefängnisaufenthalt, der in der Schrift vor der Abfassung dieses Briefes erwähnt wird, ist der in Apostelgeschichte 16,23. Damals waren er und Silas gemeinsam in das Gefängnis von Philippi geworfen worden. Nun erfahren wir, dass das nicht sein einziger Gefängnisaufenthalt war, sondern dass Paulus mit dem Kerker wohlvertraut war. »In Schlägen übermäßig.« Hier haben wir eine Beschreibung der Schläge, die er immer wieder von den Feinden Christi erhielt, ob es nun Heiden oder Juden waren.
»In Todesgefahren oft.« Zweifellos dachte der Apostel beim Schreiben dieser Worte daran, dass er in Lystra nur knapp dem Tod entgangen war (Apg 14,19). Doch er konnte auch noch auf andere Gelegenheiten zurückblicken, bei denen sein Leben fast zu Ende war, weil er so hart verfolgt wurde.
11,24 Das Gesetz des Mose verbot den Juden, mehr als vierzig Schläge auf einmal als Strafe zu verhängen (5. Mose 25,3). Um sicherzugehen, dieses Gebot nicht zufällig zu übertreten, gaben sie immer nur 39 Schläge. Diese Strafe verhängten sie jedoch nur dann, wenn ihrer Ansicht nach ein schweres Verbrechen vorlag. Der Apostel Paulus berichtet uns hier, dass sein eigenes Volk nach dem Fleisch ihm diese Höchststrafe »fünfmal« auferlegt hat.
11,25 »Dreimal bin ich mit Ruten geschlagen worden.« Im NT wird nur einmal erwähnt, dass Paulus diese Strafe auferlegt wurde, und zwar in Philippi (Apg 16,22). Doch wurde er noch zweimal auf diese schmerzhafte und demütigende Weise bestraft.
»Einmal gesteinigt worden.« Das war zweifellos in Lystra, was wir schon erwähnt haben (Apg 14,19). Diese Steinigung war so schlimm, dass Paulus aus der Stadt geschleift wurde, weil man meinte, er sei tot.
»Dreimal habe ich Schiffbruch erlitten.« Nicht alle Anfechtungen des Paulus wurden von Menschen verursacht. Manchmal wurde er einfach durch die Naturgewalten beeinträchtigt. Keiner der Schiffbrüche wird uns in der Schrift berichtet. (Der Schiffbruch auf der Reise nach Rom in Apostelgeschichte 27 ereignete sich lange nach der Abfassung dieses Briefes.)
»Einen Tag und eine Nacht habe ich in der Tiefe zugebracht.« Wieder scheint dem kein Ereignis der Apostelgeschichte zu entsprechen. Es ist fraglich, ob die »Tiefe« hier ein Abgrund oder das Meer ist. Wenn das Meer gemeint ist, trieb dann Paulus auf einem Floß oder einem offenen Boot? Wenn nicht, kann er eine solche Erfahrung nur durch das direkte, wunderbare Eingreifen des Herrn überlebt haben.
11,26 »Oft auf Reisen.« Wenn wir uns die Karten im Anhang der meisten Bibeln anschauen, dann finden wir meist eine, die mit »Die Missionsreisen des Paulus« Paulus überschrieben ist. Dort können wir den Linien folgen, welche die Reiserouten des Apostels markieren. Wenn wir uns dann klarmachen, wie primitiv die damaligen Transportmittel waren, werden wir ein wenig besser verstehen können, was diese Bemerkung bedeutet! Nun beginnt Paulus mit einer Aufzählung von acht verschiedenen Gefahren, die ihm auf seinen Reisen begegneten. Als Erstes gab es »Gefahren von Flüssen«, was sich auf übergetretene Bäche und Flüsse bezieht. Es gab »Gefahren von Räubern«, weil viele der Wege, die er bereiste, von Gesetzlosen nur so wimmelten. Er war »Gefahren von« seinem eigenen »Volk« ausgesetzt, von den Juden, aber auch »von den Nationen«, denen er das Evangelium bringen wollte. Es gab »Gefahren in der Stadt«, z. B. in Lystra, Philippi, Korinth und Ephesus. Auch gab es »Gefahren in der Wüste«, was sich wahrscheinlich auf kaum besiedelte Gebiete in Kleinasien und Europa bezieht. Er war den »Gefahren auf dem Meer« begegnet – Stürmen, Untiefen und vielleicht Piraten. Und schließlich gab es noch die »Gefahren unter falschen Brüdern«, zweifellos von den jüdischen Gesetzeslehrern, die als christliche Prediger auftraten.
11,27 »Mühe« bezeichnet die unermüdliche Arbeit des Paulus, während »Beschwerde« auch den Gedanken an Erschöpfung und Leiden in Bezug auf seine Arbeit beinhaltet.
»In Wachen oft.« Auf vielen seiner Reisen musste er zweifellos oft im Freien übernachten. Wegen der Gefahren, die überall lauerten, musste er so manche Nacht wachen.
»In Hunger und Durst, in Fasten oft.« Der Apostel blieb oft hungrig und durstig, wenn er dem Herrn diente. »Fasten« kann hier freiwilliger Nahrungsverzicht sein, doch es ist wahrscheinlicher, dass er dazu gezwungen war, weil er nicht genug zu essen hatte.
»In Kälte und Blöße.« Plötzliche Wetterumschwünge verbunden mit der Tatsache, dass er oft nur eine mangelhafte Unterkunft für die Nacht hatte und nicht ausreichend bekleidet war, führten zu diesen zusätzlichen Formen der Unbequemlichkeit in seinem Leben. Hodge kommentiert:
Hier erscheint der größte der Apostel vor uns, sein Rücken durchfurcht von häufigen Schlägen, sein Körper ausgemergelt von Hunger und Durst, von Unterkühlung gezeichnet, frierend und bloß, verfolgt von Juden und Heiden und von Ort zu Ort gejagt, ohne ein Zuhause zu haben. Dieser Abschnitt lässt mehr als alle anderen auch den eifrigsten der heutigen Diener Christi beschämt zu Boden blicken. Was haben sie je getan oder er litten, was sich mit dem vergleichen lässt, was dieser Apostel getan hat? Es ist uns ein Trost, dass Paulus uns in die Herrlichkeit vor ausgegangen ist, so wie er uns hier im Leiden vorausging.43
11,28 »Außer dem Übrigen«, d. h. außer den unnormalen und außergewöhnlichen Belastungen, trug Paulus noch »täglich« die Last auf seinem Herzen, welche die Sorge um alle christlichen »Gemeinden« mit sich brachte. Wie bezeichnend ist es, dass damit der Höhepunkt all der Anfechtungen erreicht wird! Paulus war ein echter Hirte. Er liebte das Volk des Herrn und sorgte sich um deren Angehörige. Er war kein Mietling, sondern ein echter Unterhirte des Herrn Jesus. Genau das will er in diesem Schriftabschnitt beweisen, und vom Standpunkt jedes vernünftigen Menschen aus gesehen ist ihm das auch gelungen. Seine Sorge um die Gemeinden erinnert uns an folgende Redensa rt: »Gemeindegründung erfordert den vollsten Einsatz, aber Gemeindeseelsorge ist eine nie endende Aufgabe.«
11,29 Dieser Vers ist mit dem vorhergehenden eng verbunden. In Vers 28 sagte der Apostel, dass er sich täglich um alle Gemeinden sorgte. Hier erklärt er, was er damit meinte. Wenn er davon hört, dass irgendein Christ »schwach« ist, dann empfindet er selbst diese Schwäche. Er erleidet die Leiden anderer im wahrsten Sinne des Wortes mit. Wenn er erfährt, dass ein Bruder in Christus beleidigt worden ist, dann »brennt« er mit ihm. Was das Volk Gottes betrifft, geht auch ihn an. Er erleidet ihre Tragödien und freut sich an ihren Triumphen. Und all das erschöpft die Nervenkraft eines Dieners Christi in erheblichem Maße. Das wusste Paulus nur zu gut!
11,30 Er rühmt sich weder seines Erfolgs noch seiner Gaben oder Fähigkeiten. Vielmehr rühmt er sich seiner Schwachheit, seiner Fehler und der Demütigungen, die er erlitt. Normalerweise würde sich kein Mensch dessen rühmen oder es überhaupt weitererzählen!
11,31 Als Paulus an seine Leiden und Demütigungen denkt, geht seine Erinnerung unwillkürlich zurück bis zur demütigendsten Erfahrung seines ganzen Lebensweges. Wenn er sich all dessen rühmt, was seine Schwachheit betrifft, dann kann er hier auch nicht die Erfahrung in Damaskus übergehen. Es ist der menschlichen Natur so zuwider, dass man sich solch einer demütigenden Erfahrung rühmen sollte. Deshalb ruft Paulus hier Gott zum Zeugen dafür auf, dass er ihm die Wahrheit dessen bestätigt, was er nun erzählen wird.
11,32 Weitere Einzelheiten dieses Ere ignisses finden wir in Apostelgeschichte 9,19-25. Nachdem er sich vor Damaskus bekehrt hatte, begann Paulus, das Evangelium in den Synagogen dort zu predigen. Zunächst erregte seine Predigt Interesse, doch nach einer Weile planten die Juden, ihn umzubringen. Sie stellten an den Stadttoren Tag und Nacht Wachen auf, um ihn »gefangen zu nehmen«.
11,33 Eines Nachts nahmen die Jünger den Apostel, setzten ihn in einen »Korb« und ließen ihn »durch ein Fenster« in der Stadtmauer auf den Boden außerhalb herab. Von dort konnte Paulus dann fliehen. Doch warum erwähnt Paulus diesen Vorfall? J. B. Watson schlägt dazu Folgendes vor:
Er nimmt, was Menschen zum Anlass für Spott und Witzeleien nehmen würden, und stellt es in ein neues Licht. Es geht darum, dass dieses Ereignis ein weiterer Beweis dafür war, worin sein wichtigstes Anliegen bestand: Es war der Dienst für den Herrn Jesus Christus, um dessentwillen er auch seinen persönlichen Stolz aufopferte und vor den Augen der Menschen als Feigling dastand.44 F. Die Paulus gegebenen Offen barungen beweisen seine Apostel schaft (12,1-10)
12,1 Dem Apostel wäre es lieber, er müsste sich überhaupt nicht rühmen. Es ist weder angebracht, noch »nützt« es etwas, doch unter den gegebenen Umständen ist es notwendig. Deshalb wendet er sich nun von seiner demütigendsten zur erhebendsten Erfahrung. Er wird uns davon berichten, wie er dem »Herrn« selbst begegnet ist.
12,2 Paulus kannte einen Mann, der dieses Erlebnis »vor vierzehn Jahren« hatte. Obwohl Paulus nicht näher ausführt, wer gemeint ist, gibt es keine Frage, dass er von sich selbst spricht. Wenn er von solch einem außergewöhnlichen Erlebnis berichtet, möchte er sich nicht selbst nennen, sondern nur allgemein reden. Der Erwähnte war »in Christus«, d. h. er war Christ.
12,3 Paulus weiß nicht, ob er zu dem Zeitpunkt »im Leib … oder außer dem Leib« war. Manche haben vorgeschlagen, dass dies passierte, als er verfolgt wurde, etwa in Lystra. Sie sind der Ansicht, dass er eventuell wirklich gestorben und im Himmel gewesen sei. Doch der Text erfordert ganz sicherlich keine solche Auslegung. Wenn Paulus selbst nicht wusste, ob er zu jenem Zeitpunkt »im Leib … oder  außer  dem  Leib«  (d. h.  lebendig oder schon tot) war, wäre es merkwürdig, wenn heutige Ausleger weiteres Licht auf diese Sache werfen könnten! Wichtig ist, dass der Betreffende »bis in den dritten Himmel entrückt wurde«. Die Schrift deutet die Existenz von drei Himmeln an. Der erste ist die sich über uns  erstreckende  Atmosphäre,  d. h.  der blaue Himmel, den wir sehen. Der zweite ist der Sternenhimmel. Der dritte ist der höchste Himmel, in dem sich der Thron Gottes befindet.
Aus dem Folgenden geht hervor, dass Paulus wirklich am Ort der Glückseligkeit, d. h. an Gottes Wohnstätte, war. Er entspricht jenem Ort, an den der zum Glauben gekommene gekreuzigte Verbrecher ging, als ihn der Herr Jesus nach seinem Tod mit sich nahm.
12,4 Paulus »hörte« die Sprache des »Paradieses« und verstand das Gesagte, doch er durfte davon nichts weitergeben, als er auf die Erde kam. Die »Worte« waren in dem Sinne »unaussprechlich«, dass sie zu heilig waren. Sie durften daher nicht ausgesprochen und nicht verbreitet werden.
G. Campbell Morgan schreibt: Es gibt Menschen, die immer wieder von Visionen und Offenbarungen sprechen wollen, die sie gehabt haben. Die Frage stellt sich, ob solch ein Eifer nicht der Beweis dafür ist, dass die Visionen und Offenbarungen nicht »vom Herrn« sind. Wenn solche Offenbarungen geschenkt werden (und unter gewissen Umständen werden sie den Dienern Gottes ganz bestimmt zuteil), dann führen sie zu einer ehrfurchtsvollen Zurückhaltung. Sie sind zu überwältigend, zu ergreifend, um leichtfertig beschrieben oder erörtert zu werden, doch die Auswirkungen werden im gesamten Leben und Dienst des Betreffenden sichtbar sein.45
12,5 Als sich der Apostel der Schwäche rühmte, machte es ihm nichts aus, sich selbst zu nennen. Doch als er sich der Visionen und Offenbarungen des Herrn rühmte, wollte er nicht direkt von sich sprechen, sondern von den Erlebnissen lieber unpersönlich sprechen, als seien sie einem Bekannten von ihm widerfahren. Er leugnete nicht, dass er selbst das Erlebnis hatte, doch er weigerte sich einfach, sich selbst hier unmittelbar und als Person einzubeziehen.
12,6 Es gibt noch viele andere großartige Erfahrungen, derer er sich »rühmen« kann. Wenn er das wollte, wäre er nicht einmal »töricht«. Alles, was er sagen würde, wäre »die Wahrheit«. Doch er wird es nicht tun, weil er nicht möchte, dass »jemand höher« von ihm denkt, als er wirklich ist.
12,7 Dieser gesamte Abschnitt ist eine ausführliche Beschreibung des Lebens eines Dieners Christi. Es gibt Augenblicke tiefster Demütigung wie etwa das Ereignis in Damaskus. Und dann gibt es die »Gipfel«-Erfahrungen, wie etwa die Offenbarung, die Paulus geschenkt wurde. Doch normalerweise erfährt ein Diener Christi, dem solch ein erhabenes Erlebnis zuteilwurde, dass er danach an einem »Dorn für das Fleisch« leidet. Darum geht es hier.
Wir können viele überaus wertvolle Lektionen aus diesem Vers lernen. Zuerst ist er ein Beweis dafür, dass sogar göttliche Offenbarungen des Herrn unser »Fleisch« nicht verbessern. Nachdem der Apostel sogar die Sprache des Paradieses gehört hatte, hatte er noch immer seine alte Natur und stand in der Gefahr, dem Stolz in die Falle zu gehen. R. J. Reid hat dazu gesagt: »Ein Mensch in Christus« ist in der Gegenwart Gottes sicher, wenn er der unübersetzbaren Sprache des Paradieses lauscht, doch er braucht nach seiner Rückkehr auf die Erde »einen Dorn für das Fleisch«, weil sich das Fleisch in ihm sonst seiner Paradies-Erfahrung rühmen würde.46
Worum handelte es sich nun bei Paulus’ »Dorn für das Fleisch«? Wir können nur eines sicher sagen, dass es ein körperliches Problem war, das Gott in seinem Leben zuließ. Zweifellos wollte der Herr nicht genau sagen, was der Dorn war, damit versuchte und angefochtene Heilige durch die Jahrhunderte eine engere Verbundenheit mit dem Apostel empfanden, wenn sie litten. Vielleicht handelte es sich um eine Art Augenkrankheit47, vielleicht um Ohrenschmerzen, Malaria, Migräne oder etwas, das mit der Sprachfähigkeit des Paulus zu tun hatte. Moorehead stellt fest: »Die genaue Art der Krankheit ist nicht offenbart worden. Vielleicht geschah dies, damit alle Angefochtenen durch die nicht weiter bezeichnete, doch schmerzhafte Erfahrung des Paulus ermutigt und ihnen dadurch geholfen werden sollte.«48 Unsere Anfechtungen mögen ganz anderer Art als die Prüfungen des Paulus sein, doch sollten sie dieselbe Bewährung und dieselben Früchte hervorbringen.
Der Apostel beschreibt den »Dorn für das Fleisch« als einen »Engel Satans«, der ihn »mit Fäusten« schlägt. In gewissem Sinne stand also ein Versuch Satans dahinter, Paulus am Werk des Herrn zu hindern. Doch Gott ist größer als Satan, und er benutzte den »Dorn«, um das Werk des Herrn zu fördern, indem er Paulus demütig hielt. Erfolgreicher Dienst für Christus ist nur durch einen schwachen Diener möglich. Je schwächer er ist, desto mehr wird seine Predigt von der Kraft Christi begleitet.
12,8 »Dreimal« rief Paulus »den Herrn« an, er möge ihm den Dorn wieder nehmen.
12,9 Das Gebet des Paulus wurde erhört, doch nicht auf die erhoffte Art. Im Grunde sagte Gott zu Paulus: »Ich werde den Dorn nicht nehmen, sondern dir etwas Besseres geben: Es ist die Gnade, den Dorn zu ertragen. Und denke daran: Auch wenn ich dir nicht gegeben habe, worum du gebeten hast, so gebe ich dir stattdessen, was du am meisten brauchst. Du möchtest doch, dass meine Kraft und Vollmacht deine Predigt begleitet, nicht wahr? Nun, die beste Art und Weise, dies zu erreichen, besteht darin, dass du in Schwachheit gehalten wirst.« Das war Gottes wiederholte Antwort auf das dreimal geäußerte Gebet des Paulus. Und so lautet die Antwort Gottes auch heute noch an sein leidendes Volk auf der gesamten Welt. Besser als die Wegnahme von Anfechtungen und Leiden ist die Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes, die Zusage seiner Kraft und seine bevollmächtigende Gnade im Leiden. Man beachte, dass Gott sagt: »Meine Gnade genügt dir.« Wir brauchen ihn nicht darum zu bitten, uns seine Gnade in ausreichendem Maße zuzueignen. Sie genügt schon jetzt.
Der Apostel war mit der Antwort des Herrn vollkommen zufrieden und sagt deshalb: »Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne.« Als der Herr ihm die Weisheit seiner Handlungsweise erklärte, sagte Paulus im Grunde, dass er es nun nicht mehr anders haben wolle. Deshalb würde er sich nun, statt über den Dorn zu klagen und dagegen zu murren, sich seiner »Schwachheiten rühmen«. Er würde auf seine Knie fallen und dem Herrn dafür danken. Er würde sie froh erdulden, wenn nur die Kraft Christi auf ihm ruhen würde. J. Oswald Sanders drückt es sehr treffend aus:
Die Philosophie der Welt lautet: »Was man nicht heilen kann, muss man eben ertragen.« Paulus gibt dagegen das strahlende Zeugnis: »Was man nicht heilen kann, dessen kann man sich freuen. Ich freue mich der Schwachheit, der Leiden, der Entbehrungen und der Schwierigkeiten.« Er bewies, dass Gottes Gnade so wunderbar ist, dass er neue Möglichkeiten, diese Gnade in ihrer Fülle in Anspruch zu nehmen, freudig willkommen heißen konnte. »Sehr gerne rühme ich mich – ja, ich freue mich über meinen Dorn.«49
Emma Pieczynska-Reichenbach (1854 – 1927),  die  Frau  eines  polnischen Adligen, führte ein langes Leben der Frustration und Enttäuschungen. Doch der Autor ihrer Biografie zollte ihrem siegreichen Glauben einen bemerkenswerten Tribut: »Aus den Dingen, die ihr Gott vorenthielt, machte sie wunderbare Blumensträuße!«
Von unserer menschlichen Natur her gesehen, ist es für uns ziemlich unmöglich, »Wohlgefallen« an den hier aufgeführten Erfahrungen zu haben. Doch der Schlüssel zum Verständnis dieses Abschnitts findet sich in dem Ausdruck »um Christi willen«. Wir sollten bereit sein, für seine Sache und zur Förderung des Evangeliums zu leiden, auch wenn wir es uns und unseren Lieben nicht wünschen würden.
Wir sind dann auf die Macht Gottes am stärksten angewiesen, wenn wir uns unserer eigenen Schwachheit und Nichtigkeit bewusst sind. Und wenn wir so in vollständiger Abhängigkeit auf Gott geworfen sind, dann offenbart sich in uns seine Macht, sodass wir wirklich »stark« sind.
William Wilberforce, der den Kampf zur Abschaffung der Sklaverei im britischen Königreich führte, war physisch schwach und zart, doch er hatte einen tiefen Glauben an Gott. Boswell hat von ihm gesagt: »An ihm sah ich, wie einem schwachen Menschen geradezu Herkuleskräfte zuflossen!«
In diesem Vers gehorcht Paulus dem Wort des Herrn in Matthäus 5,11.12. Er freute sich, wenn die Menschen ihn schmähten und verfolgten. G. Die Zeichen des Paulus beweisen seine Apostelschaft (12,11-13)
12,11 An diesem Punkt scheint Paulus seines scheinbaren Rühmens müde geworden zu sein. Er ist der Ansicht, dass er durch sein Rühmen »ein Tor geworden« sei. Er hätte es nicht tun sollen, doch die Korinther haben ihn »dazu gezwungen«. Sie hätten ihn eher verteidigen sollen, wenn seine Kritiker ihre unbarmherzigen Angriffe gegen ihn richteten. Obwohl er an sich »nichts« war, so stand er doch den »übergroßen Aposteln«, derer sie sich so gerne rühmten, »in nichts« nach.
12,12 Er erinnert sie daran, was geschah, als er nach Korinth kam und das Evangelium predigte: Gott bestätigte seine Predigt mit den »Zeichen des Apostels«. Diese Zeichen waren Wunderkräfte, die den Aposteln von Gott gegeben wurden, damit ihre Zuhörer erkennen könnten, dass sie wirklich von Gott gesandt waren.
Die Worte »Zeichen«, »Wunder« und »Machttaten« beschreiben nicht drei verschiedene Arten von Wundern, sondern Wunder, die unter drei verschiedenen Aspekten gesehen werden. »Zeichen« waren Wunder, die eine besondere Bedeutung für die Menschen hatten. Sie vermittelten eine Botschaft. »Wunder« dagegen waren so bemerkenswert, dass sie die menschlichen Gefühle aufwühlten. »Machtt aten« waren Taten, die ganz offensichtlich durch übermenschliche Kraft geschahen. Es ist schön zu bemerken, dass Paulus sagt, dass die »Zeichen des Apostels« unter ihnen vollbracht wurden. Er benutzt hier das Passiv. So rechnet er sie sich nicht selbst an, sondern sagt, dass Gott sie durch ihn vollbrachte.
12,13 Soweit es die unter ihnen geschehenen Wunder betraf, waren die Korinther »gegenüber den übrigen Gemeinden« nicht »zu kurz gekommen«. Sie hatten viele Zeichen durch die Hand des Paulus geschehen sehen, wie auch die »übrigen Gemeinden«, die Paulus besucht hatte. In welchem Sinne waren sie dann anderen Gemeinden gegenüber »zu kurz gekommen«? Der einzige, Paulus bekannte Unterschied besteht darin, dass er den Korinthern nicht »zur Last gefallen« ist. Das heißt, er hat nicht auf finanz ieller Hilfe von ihnen bestanden. Wenn sie dadurch »zu kurz gekommen« sein sollten, so entschuldigt Paulus sich für »dieses Unrecht«. Das war das einzige »Zeichen« eines Apostels, auf dem er nicht bestanden hatte!
H. Paulus’ anstehender Besuch in Korinth (12,14–13,1)
12,14 »Siehe, dieses dritte Mal stehe ich bereit, zu euch zu kommen.« Man kann darunter verstehen, dass der Apostel dreimal bereit gewesen ist, Korinth zu besuchen, aber in Wirklichkeit nur einmal dort gewesen ist. Der beabsichtigte zweite Besuch kam nicht zustande, weil er nicht zu hart mit den Gläubigen umgehen wollte. Nun ist er »bereit«, zum dritten Mal hinzureisen, und dieser Besuch wird dann sein zweiter sein. Es kann aber auch bedeuten, dass er jetzt zu seinem »dritten« Besuch aufbrechen wollte. Über den ersten Besuch wird in Apostelgeschichte 18,1 berichtet, der zweite war der tränenreiche Besuch (2. Kor  2,1;  13,1).  Der  jetzige  wird  dann der »dritte« sein.
Wenn Paulus kommt, ist er entschlossen, dass er ihnen »nicht zur Last fallen« will. Er meint natürlich damit, dass er von ihnen keinen finanziellen Lohn annehmen will. Er möchte von ihnen unabhängig bleiben, soweit es seinen materiellen Unterhalt betrifft. Dies ist darin begründet, dass er nicht an ihrem materiellen Reichtum, sondern an ihnen selbst interessiert war. Paulus interessierte sich mehr für Menschen als für Dinge. Er möchte für die Korinther die Rolle eines Elternteils spielen. »Denn die Kinder sollen nicht für die Eltern Schätze sammeln, sondern die Eltern für die Kinder.« Dies ist einfach eine Aussage über das Leben, wie wir es kennen. Normalerweise sind es die »Eltern«, die hart und fleißig arbeiten, um dafür zu sorgen, dass die »Kinder« Nahrung und Kleidung haben. Die Kinder sorgen normalerweise nicht auf diese Art für ihre Eltern. Paulus will hier Folgendes sagen: Er möchte gern, dass die Korinther ihm erlauben, sich wie ein Vater um seine Kinder kümmern zu können.
Man sollte vorsichtig sein, in diesen Vers zu viel hineinzulesen. Es geht hier nicht darum, dass die Eltern für die Zukunft ihrer Kinder einen Schatz sammeln sollten. Das hat nichts mit zukünftigen Bedürfnissen, sondern nur mit den gegenwärtigen Notwendigkeiten zu tun. Paulus denkt daran, wie er für seine unmittelbaren Bedürfnisse aufkommen kann, wenn er in Korinth sein wird. Er war entschlossen, nicht von den Heiligen dort abhängig zu sein. Es gab keinen Gedanken daran, dass sie ein Altersruhegeld für ihn zurücklegen sollten. Auch ist nicht daran gedacht, dass er dies für die Korinther tun wollte.
12,15 Hier erhalten wir einen sehr schönen Einblick in die unauslöschliche Liebe des Apostels für die Gotteskinder in Korinth. Er war bereit, sich »gern« für ihre Seelen, d. h. für ihr geistliches Wohlergehen, in unermüdlichem Dienst und Opfer hinzugeben. Er liebte sie mehr, als die Irrlehrer in ihrer Mitte es taten, doch wurde er von ihnen »weniger wiedergeliebt«. Aber dies war für ihn nicht ausschlaggebend. Auch wenn er nicht auf Gegenliebe von ihnen hoffen konnte, würde er sie doch weiterhin lieben. Darin folgte er völlig dem Herrn.
12,16 Der Apostel nimmt alle Anschuldigungen seiner Kritiker gegen ihn auf. Sie sagten im Grunde: »Nun, vielleicht hat Paulus nicht direkt von euch Geld genommen. Doch er handelte hinterlistig, um dennoch finanzielle Zuwendungen zu erhalten. Er sandte seine Bevollmächtigten zu euch, die ihm das Geld überbrachten.«
12,17 »Wenn ich nicht auf eure Kosten gelebt habe, ›habe ich‹ dann etwa andere gesandt, die dies taten?« Der Apostel fragt die Korinther direkt, ob die Anschuldigungen gegen ihn wahr seien.
12,18 Er beantwortet seine eigene Frage. Der hier befindliche Ausdruck (»ich habe Titus gebeten«) bedeutet wahrscheinlich: »Ich habe Titus gebeten« euch zu besuchen. Paulus schickte ihn nicht allein, sondern hat »den Bruder mit ihm gesandt«, damit es auch nicht die geringsten Zweifel an den Motiven des Paulus gab. Was passierte, als Titus nach Korinth kam? Bestand er auf seinen Rechten? Bat er die Korinther, ihn zu unterstützen? Versuchte er, an ihnen reich zu werden? Nein, aus diesem Abschnitt scheint hervorzugehen, dass Titus sich mit einer weltlichen Beschäftigung Geld verdiente. Das wird durch die beiden Fragen nahegelegt: »Sind wir nicht in demselben Geist gewandelt? Nicht in denselben Fußspuren?« Mit anderen Worten, Titus und Paulus verfolgten bei ihrer Arbeit dieselben Grundsätze, sodass sie nicht von den Korinthern unterhalten werden mussten.
12,19 Die Korinther mochten denken, dass Paulus sich mit all dem Gesagten »verteidigen« wolle, als ob sie seine Richter wären. Doch er schrieb ihnen stattdessen in der Gegenwart Gottes, damit sie erbaut würden. Er wollte sie in ihrem christlichen Lebenswandel stärken und vor den Gefahren warnen, die auf sie warteten. Es ging ihm mehr darum, ihnen zu helfen, als seinen eigenen Ruf zu verteidigen.
12,20 Paulus wünschte, bei seinem Besuch in Korinth Christen vorzufinden, die freudigen Umgang untereinander pflegen, sich von den Irrlehrern distanzieren und die Autorität der Apostel aufs Neue anerkennen.
Er wollte auch, wenn er sie besuchen würde, freudig und nicht traurig zu ihnen kommen. Er wäre sehr betrübt, wenn er »vielleicht Streit, Eifersucht, Zorn, Selbstsüchteleien, Verleumdungen, Ohrenbläsereien, Aufgeblasenheit, Unordnungen« und andere fleischliche Auseinandersetzungen vorfinden würde.
12,21 Schließlich waren diese Korinther doch die Freude des Paulus und seine Freudenkrone. Sie verkörperten den Grund seines Rühmens. Er wollte ganz bestimmt nicht zu ihnen kommen, wenn er sich ihrer schämen musste. Auch wollte er nicht »über viele trauern« müssen, »die vorher gesündigt und« über ihre »Unreinheit und Unzucht und Ausschweifung … nicht Buße getan haben«. Wen meint Paulus, wenn er sagt, dass »viele … vorher gesündigt« haben? Es ist nur vernünftig anzunehmen, dass sie zur Gemeinde in Korinth gehörten, anderenfalls würde er sie nicht auf diese Weise in einem Brief an die Gemeinde erwähnen. Doch kann nicht angenommen werden, dass sie echte Gläubige waren. Es wird speziell gesagt, dass sie diese Sünden »begangen« haben (Schl und Schl 2000). Dabei verdeutlicht Paulus an anderer Stelle, dass jeder, dessen Leben von einem solchen Verhalten geprägt ist, das Reich Gottes  nicht  erben  kann  (1. Kor  6,9.10).  Der Apostel würde über sie »trauern«, weil sie keine Buße getan hatten und daher ausgeschlossen werden müssten. Darby hat darauf hingewiesen, dass dieses Kapitel mit dem dritten Himmel beginnt und mit den bösen Sünden der Erde schließt. Dazwischen befindet sich ein Hinweis auf die Erlösung – die Kraft Christi, die auf dem Apostel Paulus ruht.50
13,1 Paulus wollte Korinth besuchen. Wenn er ankäme, sollten die Fälle von Sünde unter den Gläubigen untersucht werden. Solche Untersuchungen sollten nach dem göttlichen Prinzip abgehalten werden, das in 5. Mose 19,15 festgelegt ist: »Durch zweier oder dreier Zeugen Mund wird jede Sache festgestellt werden.« Paulus meinte damit nicht, dass er die Untersuchung führen würde. Das sollte der Ortsgemeinde überlassen bleiben, doch würde er als Berater dabei gerne dienen. I. Die Apostelschaft des Paulus wird durch die Korinther selbst bewiesen (13,2-6)
13,2 Bei seinem zweiten Besuch, der sonst nirgends erwähnt wird, hatte Paulus sie gewarnt, dass er gegenüber den Sündern Strenge zeigen würde. Obwohl er »jetzt abwesend« war, sagt er ihnen vora us, dass er bei seiner Rückkehr die jenigen, die gesündigt haben, »nicht schonen werde«.
13,3 Die Korinther waren von den Irrlehrern soweit beeinflusst worden, dass sie zweifelten, ob Paulus ein wahrer Apostel war. Sie hatten ihn sogar herausgefordert, »einen Beweis dafür« zu bringen, dass er ein echter Gesandter Gottes war. Welche Zeugnisse konnte er vorlegen, dass wirklich »Christus« durch ihn »redet«? Der Apostel beginnt seine Antwort, indem er ihre unverschämte Aufforderung zitiert: »Denn ihr fordert ja einen Beweis dafür, dass Christus in mir redet …«
Dann erinnert er sie in einem Einschub daran, dass Christus sich ihnen »mächtig« offenbart habe. Nichts war an der gewaltigen Revolution in ihrem Leben »schwach« gewesen, als sie der Botschaft des Evangeliums glaubten.
13,4 Die Erwähnung der Worte »schwach« und »mächtig« erinnert Paulus an das Paradoxon, dass aus Schwäche Stärke hervorgehen kann, wie man es am Leben unseres Heilands und seiner Diener sehen kann. Unser Herr »wurde zwar aus Schwachheit gekreuzigt, aber er lebt aus Gottes Kraft«. Genauso sind zwar seine Nachfolger von sich aus schwach, doch der Herr zeigt seine »Kraft« durch sie.
Wenn Paulus sagt: »… aber wir werden mit ihm leben aus Gottes Kraft euch gegenüber«, dann meint er damit nicht die Auferstehung. Er meint, wenn er sie besucht, wird er ihnen »Gottes Kraft« zeigen, indem er diejenigen bestraft, die gesündigt haben. Sie sagten, dass er schwach und verächtlich sei. Er wird ihnen jedoch zeigen, dass er sehr stark sein kann, wenn er straft!
13,5 Dieser Vers hängt folgendermaßen mit dem ersten Teil von Vers 3 zusammen: »Weil ihr einen Beweis sucht, dass Christus durch mich spricht … ›prüft euch, ob … Jesus Christus in euch ist‹.« Sie selbst waren der Beweis seiner Apostelschaft. Durch ihn waren sie zum Herrn geführt worden. Wenn sie seine Zeugnisse sehen wollten, brauchten sie nur sich selbst anzusehen. Vers 5 wird oft für die Lehre missbraucht, dass wir in uns selbst nach Heilsgewissheit ausschauen sollten, doch das führt nur zu Entmutigung und Zweifeln. Die Heilsgewissheit erhalten wir in erster Linie durch das Wort Gottes. In dem Augenblick, in dem wir Christus unser Leben anvertrauen, dürfen wir durch die Autorität der Bibel wissen, dass wir wiedergeboren sind. Wenn die Zeit fortschreitet, finden wir andere Beweise für das neue Leben – Liebe zur Heiligung, Hass gegenüber der Sünde, Liebe zu den Geschwistern, praktische Gerechtigkeit, Gehorsam und Absonderung von der Welt. Doch Paulus will den Korinthern hier nicht raten, sich selbst zu prüfen, damit sie dadurch einen Beweis für ihr Heil erhalten. Er will ihnen nur sagen, dass ihre Erlösung ein Beweis seiner Apostelschaft ist.
Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war »Jesus Christus in« ihnen, oder  sie  waren  »unbewährt«,  d. h.  nicht gläubig. Das Wort, das mit »unbewährt« wiedergegeben wird, wurde benutzt, um Metalle zu beschreiben, die sich bei der Echtheitsprüfung als unecht erwiesen hatten. Genauso waren die Korinther entweder echte Gläubige, oder sie waren »unbewährt«, weil sie die Prüfung nicht bestanden hatten.
13,6 Wenn sie nun schlossen, dass sie wirklich gerettet waren, dann musste dara us hervorgehen, dass auch die Apostelschaft des Paulus echt und nicht »unbewährt« war. Die wundervolle Veränderung im Leben der Korinther konnte kaum durch einen falschen Lehrer hervorgebracht worden sein. J. Das Verlangen des Paulus, den Korinthern Gutes zu erweisen (13,7-10)
13,7 Paulus führt nun das Thema der in Sünde gefallenen Gemeindeglieder in Korinth fort. Seinen Worten zufolge betet er »zu Gott«, dass die Korinther »nichts Böses tun« möchten, indem sie in ihrer Mitte Sünde dulden. Vielmehr sollten sie unaufhörlich auf Gemeindezucht und Wiederherstellung der sündigenden Glieder hinwirken. Er betet nicht, damit er selbst »bewährt« erscheint oder in einem besseren Licht gesehen wird. Es ging ihm nicht darum, dass sie das Böse lassen sollten, damit er dann ihren Gehorsam als Beweis für seine Autorität bringen konnte. Daran ist hier gar nicht gedacht. Er möchte vielmehr, dass sie es tun, weil es richtig und ehrlich ist. Und er möchte lieber sehen, dass sie das Richtige tun, auch wenn das bedeuten könnte, dass er »wie« ein »Unbewährter« erscheint.
Hier finden wir wieder einen Beweis für die Selbstlosigkeit des Paulus. Seine Gedanken in seinem Gebetsleben kreisten immer um den Vorteil der anderen und nicht um seine eigene Anerkennung. Wenn Paulus gezwungen wurde, mit der Rute nach Korinth zu kommen, um seine Autorität wiederherzustellen, und es ihm gelingen sollte, den Gehorsam gegenüber seinen Anweisungen über Gemeindezucht zu erlangen, dann hätte er das als Argument gegen die Irrlehrer anführen können. Er hätte sagen können, dass das ein Beweis seiner rechtmäßigen Autorität sei. Doch er wollte lieber, dass die Korinther die notwendigen Maßnahmen noch während seiner Abwesenheit selbst träfen, auch wenn ihn das in den Augen der Gesetzeslehrer in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen würde.
13,8 Das Pronomen »wir« dieses Verses bezieht sich wahrscheinlich auf die Apostel. Paulus sagt, dass alles, was sie tun, im Hinblick auf die »Wahrheit« Gottes und nicht aus irgendwelchen selbstsüchtigen Motiven heraus getan werden muss. Die Gemeindezucht darf nie aus persönlicher Rachsucht geübt werden. Alles muss mit Rücksicht auf die Herrlichkeit Gottes und das Wohl des Mitbruders getan werden.
Und wieder drückt der Apostel seine ausgesprochene Selbstlosigkeit den Korinthern gegenüber aus. Wenn seine Schwachheit, Demütigung und Schande dazu führte, dass sie im Glauben gestärkt werden, dann »freute« er sich. Wenn er sich so freute, dann betete er auch »um« ihre »Vervollkommnung«. In Bezug auf das Thema des Umgangs mit den Sündern in ihrer Mitte betete Paulus, dass auch sie »vollkommen« werden möchten. Sein dringendstes Anliegen war, dass der ganze Wille Gottes in ihrem Leben erfüllt würde. Hodge drückt es so aus: »Paulus betet darum, dass sie aus dem Zustand der Verwirrung, des Streits und der Duldung von Sünde, in den sie geraten waren, vollkommen herausgeführt würden.«51
13,10 Paulus schrieb diesen Brief in Hinsicht auf die Vervollkommnung der Korinther. Er wollte lieber »abwesend« sein, während diese Ergebnisse erreicht würden, als »anwesend« streng sein zu müssen, obwohl er vom Herrn die Vollmacht dazu erhalten hatte. Doch auch wenn er »anwesend« wäre und etwas strenger mit ihnen umgehen müsste, würde es noch immer ihrer »Erbauung« und nicht ihrer »Zerstörung« dienen.
K. Der gnadenreiche Abschiedsgruß des Paulus, der Vater, Sohn und Heiligen Geist einbezieht (13,11-14)
13,11 Der Apostel beschließt nun etwas abrupt seinen Brief, der durch so manche Debatte gekennzeichnet ist. Nachdem er die Korinther mit der Aufforderung »freut euch« verabschiedet hat, gibt er ihnen noch vier Ermahnungen mit auf den Weg. Als Erstes sollten sie sich »zurechtbringen« lassen. Das Verb ist dasselbe, das in Matthäus 4,21 für das Flicken der Netze benutzt wird, und kann auch bedeuten: »Bringt eure Wege in Ordnung.« Die Korinther sollten aufhören, zu sündigen und untereinander zu streiten. Vielmehr sollten sie in Eintracht miteinander leben.
»Lasst euch ermuntern«, kann man auch im Sinne von »seid getröstet« oder »lasst euch ermahnen« verstehen. Sie waren vom Apostel Paulus streng ermahnt worden. Hier fordert er sie auf, diese Ermahnungen gut anzunehmen und ihnen entsprechend zu handeln. »Seid eines Sinnes.« Es gibt natürlich nur einen Weg, wie die Christen »eines Sinnes« werden können, und zwar dadurch, dass sie Christi Sinn haben. Es geht darum, so zu denken, wie er denkt, und all ihre Gedanken und Überlegungen ihm zu unterwerfen.
»Haltet Frieden.« Aus 12,20 geht hervor, dass es unter ihnen heftige Diskussionen und Streitigkeiten gegeben hatte. Das passiert immer dann, wenn Gesetzeslehrer auftreten. Deshalb fordert Paulus hier die Korinther auf, zunächst an den Sündern Gemeindezucht zu üben und mit ihren Mitchristen in Frieden zu leben.
Wenn sie das tun, wird »der Gott der Liebe und des Friedens … mit«
1,1 Zu Beginn des Briefes betont Paulus, dass seine Berufung als »Apostel« von Gott ausging. Sie geschah »nicht von Menschen«, auch nicht durch eine Offenbarung Gottes »durch einen Menschen«. Sie geschah direkt »durch Jesus Christus und Gott den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat«. Jemand, der auf diese Weise unmittelbar von Gott selbst berufen und nur Gott verantwortlich ist, hat die Freiheit, die Botschaft Gottes ohne Menschenfurcht zu predigen. Deshalb war der Apostel weder von den zwölf Aposteln noch von sonst jemandem abhängig, sowohl in seiner Verkündigung als auch in seinem Dienst. In diesem Vers wird die Gottheit Christi sowohl direkt als auch indirekt erwähnt. Sie wird ausdrücklich festgestellt in dem Ausdruck »auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus«. Durch die Art, wie Paulus hier »Jesus Christus und Gott, den Vater«, zusammen sieht, wird Jesu Gottheit angedeutet, weil hier beide auf dieselbe Stufe gestellt werden. Dann wird erwähnt, dass »Gott«, der »Vater«, Jesus Christus »aus den Toten auferweckt hat«. Paulus hat einen guten Grund, die Galater daran zu erinnern. Die Auferstehung war der Beweis dafür, dass Gott in dem für uns vollbrachten Erlösungswerk Christi völlige Genüge fand. Offensichtlich waren die Galater mit diesem Werk des Heilands nicht voll zufrieden, weil sie versuchten, es noch zu verbessern, indem sie ihre eigenen Bemühungen durch das Halten des Gesetzes hinzufügten.
Paulus war vom auferstandenen Christus berufen worden, im Gegensatz zu den zwölf Aposteln, die der Herr Jesus während seines irdischen Dienstes berufen hatte. Von seiner Berufung an spielte die Auferstehung eine wichtige Rolle in seiner Verkündigung.
1,2 Der Apostel macht sich eins mit allen Brüdern, »die bei« ihm »sind«. Diese Brüder schlossen sich dem Appell an die Galater an, die Wahrheit des Evangeliums festzuhalten. Dieser Brief an die »Gemeinden von Galatien« ist absichtlich in einem recht kühlen Ton gehalten. Normalerweise spricht Paulus die Gläubigen als »Gemeinde Gottes«, »Heilige« oder »treue Brüder in Christus« an. Er dankt in seinen Briefen oft für die Christen oder lobt sie für ihre Tugenden. Oft spricht er Einzelne namentlich an. Doch davon ist in diesem Brief nichts zu entdecken. Die schreckliche Irrlehre in den galatischen Gemeinden ließ ihn ernst mit ihnen sprechen, sodass seine Warmherzigkeit weniger deutlich wird.
1,3 »Gnade … und Friede« sind zwei der Hauptbegriffe des Evangeliums. »Gnade« ist die unverdiente Güte Gottes gegenüber dem gottlosen Sünder. Statt den Menschen aufzufordern, etwas zu tun, zeigt sie uns, was Gott getan hat. Sie lädt Menschen ein, das Heil als Geschenk anzunehmen. Scofield sagt: »Die Gnade sucht nicht nach guten Menschen, die sie annehmen kann, sondern nach den verlorenen, schuldigen, sprachlosen und hilflosen Menschen, die sie retten, heiligen und verherrlichen kann.« »Friede« ist eine Folge der Gnade. Wenn jemand den Heiland annimmt, hat er »Friede« mit Gott. Er ruht in dem Wissen, dass die Strafe für seine Sünden bezahlt ist, alle seine Sünden vergeben sind und er niemals verlorengehen kann. Doch die Gnade rettet nicht nur, sondern sie hält uns auch. Und wir brauchen nicht nur den Segen des Friedens mit Gott, sondern auch den Frieden »von Gott«. Das sind die Segnungen, die Paulus den Galatern zu Beginn seines Briefes wünscht. Sicherlich erkannten die Galater, dass sie diese Segnungen niemals durch das Gesetz erlangen konnten. Das Gesetz brachte einen Fluch über alle, die seine Vorschriften verletzten. Es hat bisher keiner einzigen Seele Frieden gebracht.
1,4 Als Nächstes erinnert Paulus seine Leser an den enormen Preis ihrer Errettung. Man beachte die Worte: Es ist unser Herr Jesus Christus, »der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat«. Wenn er »sich selbst … hingegeben hat«, um die Sündenfrage zu lösen, dann ist es für uns sowohl unnötig als auch unmöglich, diesem Werk noch etwas hinzuzufügen oder unsere Sünden durch das Halten des Gesetzes abzubüßen. Christus ist der einzige und hinreichende Heiland. Christus starb, um uns »aus der gegenwärtigen bösen Welt« zu erlösen. Das umfasst nicht nur die moralische und politische Verderbnis unserer Welt, sondern auch die religiöse Welt, welche Riten und Zeremonien mit dem Glauben an Christus vermischt. Es war also hier besonders an der Zeit, die Galater daran zu erinnern, dass sie genau zu dem System zurückzukehren versuchten, von dem Christus sie doch durch seinen Tod erlöst hatte! Die Erlösung durch Christus geschah »nach dem Willen unseres Gottes und Vaters«. Damit wird dem die Ehre gegeben, dem sie gebührt – nicht den kläglichen Bemühungen der Menschen, sondern dem souveränen Willen Gottes. Dieser Satz betont, dass Christus Gottes Heilsweg ist und es keinen anderen gibt.
Vers 4 sollte eine Erinnerung daran sein, dass Gott nicht daran interessiert ist, die Welt zu verbessern oder es den Menschen darin bequem zu machen, sondern sie aus ihren Bindungen zu befreien. Unsere Prioritäten sollten mit diesen Zielen Gottes in Einklang gebracht werden.
1,5 Gemäß dem Evangelium der Gnade wird alle »Herrlichkeit« für die Erlösung des Menschen Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus zugeschrieben. Der Mensch kann an dieser Herrlichkeit nicht teilhaben, indem er als selbst ernannter Miterlöser das Gesetz hält. Jeder Teilsatz dieser fünf Verse hat Bedeutung, und in diesen wenigen Worten werden viele Wahrheiten ausgedrückt. Paulus hat hier schon im Kleinen seine beiden Themen angesprochen, die ihn in seinem Brief beschäftigen werden – seine Autorität als Apostel und sein Evangelium der Gnade Gottes. Er ist nun bereit, das Problem der Galater direkt anzusprechen.
1,6.7 Paulus konfrontiert die Galater sofort mit ihrer Bereitschaft, Irrlehren anzunehmen. Er ist erstaunt, dass sie die Wahrheit des Evangeliums so schnell aufgeben, und bezeichnet ihre Handlungsweise als Abweichung von Gott um eines falschen Evangeliums willen. Gott hatte sie doch in »die Gnade Christi berufen«, und nun stellten sie sich selbst wieder unter den Fluch des Gesetzes. Sie hatten das wahre Evangelium angenommen, doch jetzt verließen sie es um eines »anderen Evangeliums« willen, das absolut keine gute Nachricht darstellte. Es war nur eine verdrehte Botschaft, eine Mischung aus Gesetz und Gnade.
1,8.9 Paulus spricht zweimal Gottes Fluch über diejenigen aus, die »etwas als Evangelium entgegen dem verkündigen, … was ihr empfangen habt«. Gott hat nur eine Botschaft für verurteilte Sünder: Er bietet ihnen die Gnade der Erlösung durch den Glauben an, ohne dass die Betreffenden das Gesetz halten müssen. Diejenigen, die einen anderen Weg der Erlösung predigen, sind notwendigerweise verloren. Wie schrecklich ist es doch, wenn jemand eine Botschaft verkündigt, die zur ewigen Verdammnis des Menschen führt! Paulus konnte solche Irrlehrer nicht tolerieren, und wir sollten es auch nicht tun. John Stott warnt: Wir sollten uns nicht von der Person, den Gaben oder Ämtern der Lehrer in der Kirche blenden lassen. Sie mögen uns sehr ehrwürdig, autoritär und gelehrt erscheinen. Sie können Bischöfe oder Erzbischöfe sein, Universitätsprofessoren oder sogar der Papst selbst. Doch wenn sie uns ein Evangelium bringen, das von dem des Neuen Testaments abweicht, so sind sie abzulehnen. Wir beurteilen sie anhand des Evangeliums, wir beurteilen nicht das Evangelium anhand ihrer Aussagen. Dr. Alan Cole drückt es folgendermaßen aus: »Die Botschaft wird nicht durch den Botschafter glaubwürdig, sondern der Botschafter durch die Botschaft.«1 Man beachte, dass der Apostel sagt: »… ein Engel aus dem Himmel«, und nicht: »… ein Engel von Gott.« Ein »Engel aus dem Himmel« könnte eine falsche Botschaft bringen, doch ein Engel Gottes nicht. Die Sprache könnte die Einzigartigkeit des Evangeliums nicht besser zum Ausdruck bringen. Das Evangelium ist der einzige Weg zum Heil. Selbstbemühung oder menschliche Vorzüge haben daran keinen Anteil. Nur das Evangelium bietet die Erlösung ohne Geld und Opfer an. Während das Gesetz einen Fluch über die Menschen ausspricht, die es brechen, spricht das Evangelium einen Fluch über diejenigen aus, die es verändern wollen.
1,10 Paulus wird an diesem Punkt offensichtlich daran erinnert, dass seine Feinde ihn anklagten, seine Botschaft je nach seiner Zuhörerschaft zu verändern. Deshalb fragt er hier im Grunde: »Wenn ich nun darauf bestehe, dass es nur ein Evangelium gibt, versuche ich dann ›Menschen … oder Gott‹ zu gefallen?« Offensichtlich versucht er nicht, »Menschen zuliebe« zu predigen, weil sie die Vorstellung hassen, dass es nur einen Weg in den Himmel gibt. Wenn Paulus seine Botschaft verändert hätte, um »Menschen« zu gefallen, dann »wäre« er »Christi Knecht nicht«. Er würde sich sogar den Zorn Gottes zuziehen. B. Paulus verteidigt seine Botschaft und seinen Dienst (1,11 – 2,10)
1,11.12 Der Apostel führt nun sechs Argumente zur Verteidigung seiner Botschaft und seines Dienstes an. Erstens wurde das Evangelium durch göttliche Offenbarung und unabhängig von Menschen empfangen. Es war »nicht von menschlicher Art« in dem Sinne, dass es keine menschliche Erfindung war. Wenn wir einen Augenblick nachdenken, so werden wir das bestätigt finden. Das Evangelium des Paulus gibt dem Menschen keine Ehre, verherrlicht aber Gott in jeder Beziehung. Und so etwas würde sich normalerweise kein Mensch ausdenken! Paulus hat es »weder von einem Menschen empfangen«, noch hat er es aus Büchern »erlernt«. Er erhielt es »durch« eine direkte »Offenbarung Jesu Christi«.
1,13.14 Zweitens konnte die Weigerung des Paulus, das Gesetz in sein Evangelium aufzunehmen, nicht darauf beruhen, dass er das »Judentum« nicht gekannt hätte. Er war durch seine Geburt und durch seine Ausbildung tief im Gesetz verwurzelt. Aus eigenem Antrieb wurde er ein eifriger Verfolger der »Gemeinde Gottes«. In brennendem Eifer für die »überkommenen väterlichen Überlieferungen« übertraf er viele andere Juden seines Alters. Deshalb konnte sein Evangelium, wonach jemand durch Glauben und ohne Gesetz errettet wird, sicherlich nicht dem Umstand zugeschrieben werden, dass er etwa das Gesetz nicht gekannt hätte. Warum hat er es dann nicht gepredigt? Wieso stand sein Evangelium seinem Hintergrund, seinen natürlichen Neigungen und seiner ganzen religiösen Entwicklung entgegen? Ganz einfach deshalb, weil es nicht seinem eigenen Denken entsprungen, sondern von Gott direkt offenbart worden war.
1,15-17 Drittens hatte er die ersten Jahre seines Dienstes unabhängig von den anderen »Aposteln« verbracht. Paulus zeigt uns nun, dass sein Evangelium in keinem Zusammenhang mit anderen Menschen stand. Nach seiner Bekehrung »zog« er »nicht Fleisch und Blut zu Rate«. Auch »ging« er »nicht nach Jerusalem hinauf«, wo die anderen Apostel sich aufhielten. Stattdessen ging er »nach Arabien und kehrte wieder nach Damaskus zurück«. Sein Entschluss, Jerusalem zu meiden, entsprang nicht mangelndem Respekt vor seinen Mitaposteln. Vielmehr ging er auf die Tatsache zurück, dass er vom auferstandenen Herrn selbst gesandt worden war, der ihm einen besonderen Dienst unter den Heiden anvertraut hatte schen Gott, weil unser Leben sich verändert hat?)
2,1 Fünftens waren sich die Apostel bei einem späteren Besuch des Paulus in Jerusalem einig, dass sein Evangelium göttlichen Ursprungs war (2,1-10). Weil die Gemeinde des Herrn in Jerusalem entstanden war und sich die Apostel in der Anfangszeit dort relativ häufig aufhielten, waren einige Christen der Ansicht, dass die Gemeinde Jerusalem die »Muttergemeinde« sei. Deshalb musste sich Paulus mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass seine Stellung in gewisser Beziehung gemindert sei, weil er keiner der Jerusalemer Apostel war. Er antwortet mit einem ausführlichen Bericht seiner zweiten Reise »nach Jerusalem«. Ob diese »vierzehn Jahre« nach seiner Bekehrung oder nach seinem ersten Besuch einzuordnen sind, wissen wir nicht. Wir wissen jedoch, dass er im Vorfeld seiner Reise eine entsprechende »Offenbarung« Christi erhielt. Daraufhin brach er »mit Barnabas«, seinem Mitarbeiter, und mit »Titus« auf – einem Heiden, der sich durch den Dienst des Paulus bekehrt hatte. Die Gesetzeslehrer hatten darauf bestanden, dass Titus beschnitten werden müsse, damit er errettet werden könnte. Der Apostel Paulus widerstand dem jedoch hartnäckig, weil er merkte, dass hier die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel stand. (Als er später Timotheus beschnitt, ging es um kein wichtiges Prinzip; vgl. Apostelgeschichte 16,3.) E. F. Kevan schreibt:
Paulus erkannte, dass die Beschneidung um der Rechtfertigung willen keine harmlose kleine Zeremonie war, wofür man sie ohne längeres Nachdenken vielleicht hätte halten können. Wer sich auf diese Weise der Beschneidung unterzog, versuchte, durch das Halten des Gesetzes gerechtfertigt zu werden. Damit aber leugnete er gleichzeitig die Grundlage der Gnade.3
2,2 Als Paulus Jerusalem erreichte, »legte« er »ihnen das Evangelium vor, das« er »unter den Nationen« predigte, »den Angesehenen aber besonders, damit« er »nicht etwa vergeblich laufe oder gelaufen wäre«. Warum sprach Paulus »besonders« (d. h. getrennt von den Übrigen; Anm. ER) zu den geistlichen Führern, statt sich an die gesamte Versammlung zu wenden? Wollte er, dass sie sein Evangelium bestätigten, falls er etwas Falsches gepredigt hatte? Offensichtlich nicht! Das wäre das genaue Gegenteil von allem, was der Apostel bisher gesagt hatte. Er hatte betont, dass ihm seine Botschaft von Gott offenbart worden war. Er hatte keine Zweifel daran, dass seine Lehre der Wahrheit entsprach. Die wirkliche Erklärung muss man auf einem anderen Gebiet suchen. Es war eine Frage der Höflichkeit, sich erst mit den Leitern zu besprechen. Es war auch wünschenswert, dass die führenden Brüder völlig von der Echtheit des von Paulus verkündigten Evangeliums überzeugt waren. Wenn sie irgendwelche Fragen hatten oder Schwierigkeiten sahen, wollte Paulus ihnen gleich zu Beginn Rede und Antwort stehen. Dann konnte er mit der Unterstützung der anderen Apostel vor die Gemeinde treten. Wenn man mit einer großen Anzahl von Menschen zu tun hat, besteht immer die Gefahr, dass emotionale Appelle die Gruppe beeinflussen. Deshalb wollte Paulus sein Evangelium zunächst »besonders« vorlegen, in einer Atmosphäre, in der keine Möglichkeit für eine Massenhysterie drohte. Hätte Paulus anders gehandelt, hätte sich eine ernsthafte Diskussion ergeben können, die möglicherweise dazu geführt hätte, dass sich die Gemeinde in einen jüdischen und einen heidnischen Flügel spaltete. Damit wäre das Ziel der Reise des Paulus verfehlt worden. Das ist die Bedeutung der Worte »damit ich nicht etwa vergeblich laufe oder gelaufen wäre«.
2,3 Die gesamte Frage der Gesetzlichkeit gipfelte im Fall des Titus. Würde die Jerusalemer Gemeinde einen Heiden in ihre Gemeinschaft aufnehmen, oder würde sie darauf bestehen, dass er sich »beschneiden«4 lassen müsse? Nachdem man ausführlich diskutiert und geredet hatte, entschieden die Apostel, dass die Beschneidung nicht heilsnotwendig war. Paulus hatte einen überwältigenden Sieg errungen.5
2,4 Der Grund, warum Paulus nach Jerusalem reiste, wird deutlich, wenn wir den Anfang von Vers 2 mit dem Anfang von Vers 4 zusammenfügen: »Ich zog aber einer Offenbarung zufolge hinauf … und zwar wegen der heimlich eingedrungenen falschen Brüder, die sich eingeschlichen hatten.« Das bezieht sich auf die vorhergehenden Vorgänge in Antiochia (Apg 15,1.2). Einige jüdische Lehrer aus Jerusalem, die sich Christen nannten, waren irgendwie heimlich in die Gemeinde in Antiochia gelangt und lehrten, dass die Beschneidung für die Erlösung notwendig sei.
2,5 Paulus und Barnabas widerstanden ihnen hartnäckig. Um die Frage zu klären, reisten Paulus, Barnabas und andere nach Jerusalem, um die Meinung der dortigen Apostel und Ältesten zu erfragen.
2,6 Diejenigen, die als führende Brüder in der Gemeinde in Jerusalem anerkannt waren, hatten »nichts zusätzlich auferlegt«, weder seiner Botschaft noch ihm als Apostel. Das war bemerkenswert. Im vorhergehenden Kapitel hat er betont, dass sich sein Kontakt zu den Aposteln bis dahin auf wenige Anlässe beschränkt hatte. Als er sich mit ihnen nun doch beriet, waren sie der Ansicht, dass er dasselbe Evangelium wie sie gepredigt hatte. Welch eine überaus wichtige Tatsache! Diese führenden, vom Judentum geprägten Brüder waren einstimmig der Überzeugung, dass sein Evangelium absolut nichts Falsches enthielt. Obwohl Paulus ganz unabhängig gewesen und nicht von ihnen gelehrt worden war, stimmte doch das Evangelium, das die Apostel predigten, mit der Heilsbotschaft des Paulus völlig überein. (Paulus will hier nicht die Bedeutung der anderen Apostel herunterspielen. Vielmehr geht er hier lediglich darauf ein, »was immer sie auch waren«: Sie waren Gefährten des Herrn Jesus, als er auf Erden lebte. Dies verlieh ihnen aber keine überlegene Autorität in den Augen des Paulus. Gott ist an solchen äußerlichen Unterschieden nicht interessiert.)
2,7.8 Die Apostel in Jerusalem erkannten, dass Paulus, ohne diese Gnade verdient zu haben, ausgesandt worden war, das Evangelium zu den »Unbeschnittenen« (den Heiden) zu bringen und zwar genauso, wie »Petrus« zu den Juden gesandt war. Beide predigten dasselbe Evangelium, doch jeder in erster Linie einer anderen Volksgruppe.
2,9.10 Sogar »Jakobus und Kephas [Petrus] und Johannes«, offensichtlich »Säulen« der Gemeinde, »erkannten«, dass Gott durch Paulus gewirkt hatte. Sie »gaben« ihm »und Barnabas den Handschlag der Gemeinschaft«, damit diese das Evangelium zu den Heiden brächten. Das war keine offizielle Ordination, sondern Ausdruck ihres liebevollen Interesses für die Arbeit des Paulus. Die einzige Ermahnung an sie lautete, dass Paulus und Barnabas »der Armen gedenken« sollten, worum sich Paulus laut eigener Aussage »auch eifrig bemüht« hat (Schl 2000). C. Paulus tadelt Petrus (2,11-21)
2,11 Als sechsten und letzten Punkt der Antwort auf die Angriffe der Galater bezüglich seiner Apostelschaft berichtet Paulus davon, wie es für ihn nötig wurde, den Apostel Kephas6 zu tadeln, der von vielen Christen als wichtigster Apostel angesehen wurde. (Dieser Abschnitt zeigt eindeutig, dass Petrus keinesfalls die unfehlbare Führerpersönlichkeit der Gemeinde war.)
2,12 Als Petrus das erste Mal nach Antiochia kam, »hatte er mit denen aus den Nationen gegessen«, und zwar voller Freude über seine christliche Freiheit. Nach der jüdischen Tradition hätte er so nicht handeln dürfen. Einige Zeit später kamen Leute »von Jakobus« in Jerusalem, um Antiochia einen Besuch abzustatten. Sie behaupteten, von Jakobus geschickt zu sein, doch dieser leugnete das später (Apg 15,24). Sie waren wahrscheinlich Judenchristen, die sich noch immer an gewisse Gesetze klammerten. Als sie ankamen, hörte Petrus auf, mit den Heiden Gemeinschaft zu haben. Er »fürchtete«, dass die Nachricht von seinem Verhalten zu den Gesetzestreuen in Jerusalem gelangen könnte. Indem er so handelte, leugnete er eine der wichtigen Wahrheiten des Evangeliums – die Tatsache nämlich, dass alle Gläubigen in Christus Jesus eins sind und nationale Unterschiede die Gemeinschaft nicht behindern. Findlay sagt: »Indem er sich weigerte, mit unbeschnittenen Männern zu essen, bekräftigte er indirekt, dass sie ihm immer noch ›gemein und unrein‹ waren, obwohl sie doch an Christus gläubig waren. Er gab damit zu verstehen, dass die mosaischen Riten eine höhere Stufe der Heiligung darstellten als die Gerechtigkeit durch den Glauben.«
2,13 Andere folgten dem Beispiel des Petrus, auch »Barnabas«, Paulus’ geschätzter Mitarbeiter. Paulus klagte nun Petrus mutig der »Heuchelei« an, weil er erkannte, wie schlimm diese Handlungsweise war. Die tadelnde Rede des Paulus ist uns in den Versen 14-21 überliefert.7
2,14 Als Christ wusste Petrus, dass Gott keine volksgruppenbezogenen Unterschiede mehr macht, er hatte sogar wie ein Heide gelebt und von ihren Speisen gegessen usw. Durch seine neuerliche Weigerung, mit den Heiden zu essen, sagte er im Grunde, dass es für die Heiligung notwendig sei, jüdische Gesetze und Bräuche einzuhalten, und dass die heidnischen Gläubigen »wie die Juden« leben müssten.
2,15 Paulus scheint hier ironisch zu sprechen. Verriet das Verhalten des Petrus nicht eine unterschwellige Überzeugung, dass die »Juden« überlegen seien und die »Nationen« zu verachten wären? Petrus hätte es besser wissen sollen, weil Gott selbst ihn vor der Bekehrung des heidnischen Hauptmannes Kornelius gelehrt hatte, keinen Menschen gemein oder unrein zu nennen (Apg 10 und 11,1-18).
2,16 Erlöste Juden wussten, dass »Gesetzeswerke« nicht retten können. Das Gesetz verdammte jeden völlig, der es nicht vollkommen hielt. Das brachte den Fluch über alle, weil alle diese heiligen Gebote gebrochen haben. Der Heiland wird hier als einziger Gegenstand unseres Glaubens dargestellt. Paulus erinnert Petrus an Folgendes: Sogar sie selbst als Juden seien zu dem Schluss gekommen, dass die Erlösung »nur durch den Glauben an Christus Jesus« bewirkt wird, »nicht aus Gesetzeswerken«. Welchen Sinn hatte es also, dass Petrus die Heiden wieder unter das Gesetz stellen wollte? Das Gesetz sagte den Menschen, was sie zu tun hatten, aber es gab ihnen nicht die Kraft, es auch zu befolgen. Es war gegeben worden, um Sünde aufzudecken, konnte aber nicht erretten.
2,17 Paulus, Petrus und auch andere hatten ihre Rechtfertigung in Christus gesucht, und nur in Christus. Doch handelte Petrus in Antiochia, als ob er nicht vollständig gerechtfertigt sei, sondern unter das Gesetz zurückgehen müsse, um seine Erlösung zu vervollständigen. Wenn das so wäre, dann wäre Christus kein vollkommener und hinreichender Heiland. Wenn wir zu ihm kommen, um Sündenvergebung zu erfahren, doch dann noch zusätzlich woanders hingehen müssen, stellt sich die Frage: Wäre dann Christus nicht »ein Diener der Sünde«, weil er seine Verheißungen nicht erfüllt hat? Handeln wir dann wie Christen, wenn wir zum Gesetz zurückgehen (das uns ja nur als Sünder verurteilen kann)? Immerhin bekennen wir ja, allein durch Christus gerechtfertigt zu sein! Können wir hoffen, die Annahme durch Christus zu erlangen, wenn wir in einer Weise handeln, die ihn praktisch zu einem »Diener der Sünde« macht? Paulus antwortet entrüstet: »Das ist ausgeschlossen.«
2,18 Petrus hatte die gesamte Gesetzesordnung um des Glaubens an Christus willen abgelegt. Er hatte jeden Unterschied zwischen Juden und Heiden abgelehnt, sobald es darum ging, vor Gott gerecht zu werden. Als er sich nun weigerte, mit den Heiden zu essen, baute er wieder auf, was er schon »abgebrochen« hatte. Indem er das tut, handelt er, als ob er selbst ein »Übertreter« wäre. Entweder befand er sich im Irrtum, als er das Gesetz um Christi willen aufgab, oder er tat jetzt Unrecht, da er Christus um des Gesetzes willen verließ!
2,19 Die Strafe für den Bruch des Gesetzes ist der Tod. Als Sünder habe ich das Gesetz gebrochen. Deshalb hat es mich zum Tode verurteilt. Doch Christus hat die Strafe für den Gesetzesbruch getragen, als er an meiner Stelle starb. Als daher Christus starb, bin ich auch gestorben. Er starb dem Gesetz in dem Sinne, dass er all seine gerechten Forderungen erfüllte; deshalb bin auch ich in Christus »dem Gesetz gestorben«.
Der Christ ist »dem Gesetz gestorben«; er hat damit nichts mehr zu tun. Heißt das, dass der Gläubige die Freiheit hat, die Zehn Gebote zu brechen, wie er will? Nein, er lebt in der Heiligung, nicht aus Gesetzesfurcht, sondern aus Liebe zu dem, der für ihn starb. Christen, die versuchen, sich unter das Gesetz als Verhaltensvorschrift zu stellen, erkennen nicht, dass sie sich damit unter seinen Fluch stellen. Es ist für sie auch unmöglich, das Gesetz in einem Punkt halten zu wollen, ohne verantwortlich zu sein, es als Ganzes zu halten. Wir können nur dann »Gott leben«, wenn wir dem Gesetz gestorben sind. Das Gesetz kann niemals ein geheiligtes Leben bewirken, weil Gott es niemals dazu bestimmt hat. Der göttliche Weg zur Heiligung wird in Vers 20 erklärt.
2,20 Der Gläubige wird mit »Christus« in seinem Tod eins gemacht. Nicht nur Christus wurde auf Golgatha gekreuzigt – in ihm bin auch ich dort gekreuzigt worden. Das ist gemeint, dass ich in Gottes Augen kein Sünder mehr bin. Es bedeutet, dass ich als Person es nicht mehr nötig habe, durch eigene Anstrengungen zu versuchen, mein Heil zu verdienen oder zu erarbeiten. Es bedeutet, dass ich kein Kind Adams mehr bin und nicht mehr als Mensch lebe, der unter dem Urteil des Gesetzes steht. Ich bin nicht mehr der alte, unerlöste Mensch. Das alte, böse »Ich« ist gekreuzigt, es hat keinen Anspruch mehr auf mich. Das gilt in erster Linie für meine Stellung vor Gott, doch es sollte auch für mein Leben gelten. Der Gläubige hört nicht auf, als Person oder Individuum zu leben. Doch sind der, den Gott als gestorben ansieht, und derjenige, der lebt, nicht mehr identisch. »Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.« Der Heiland starb nicht für mich, damit ich wie zuvor weiterlebe, wie es mir gefällt. Er starb für mich, damit fortan sein Leben in mir Wirklichkeit werden kann. »Was ich aber jetzt« in meinem menschlichen Leib »lebe, lebe ich im Glauben, und zwar im Glauben an den Sohn Gottes«. Glaube bedeutet Abhängigkeit oder Vertrauen. Der Christ lebt in ständiger Abhängigkeit von Christus, indem er sich ihm hingibt und ihm erlaubt, sein (Christi) Leben in ihm zu verwirklichen.
Deshalb ist Christus die Lebensregel des Gläubigen, nicht das Gesetz. Es geht nicht um ein Abmühen, sondern um Vertrauen. Er lebt ein geheiligtes Leben, und zwar nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus Liebe zum »Sohn Gottes, der ihn geliebt und sich selbst für ihn hingegeben hat«.
Haben Sie Ihr Leben schon dem Herrn Jesus hingegeben mit dem Gebet, dass sein Leben sich in Ihrem Leib offenbaren möge?
2,21 »Die Gnade Gottes« zeigt sich in seinem Geschenk der Erlösung, das er uns ohne Vorbedingung gibt. Wenn man versucht, sich dieses Geschenk zu verdienen, so entwertet man es. Es handelt sich nicht mehr um Gnade, wenn der Mensch bestrebt ist, sie sich zu verdienen. Der letzte Schlag des Paulus gegen Petrus war erfolgreich. Wenn Petrus Gottes Wohlgefallen durch Befolgung jüdischer Gesetze erlangen könnte, »dann ist Christus umsonst gestorben«. In einem solchen Fall hätte er den Wert des Lebens Christi in jeder Beziehung zunichtegemacht. Christus starb jedoch, weil der Mensch die »Gerechtigkeit« auf keine andere Art erlangen konnte – noch nicht einmal durch das Halten des Gesetzes. Clow sagt:
Die allerschlimmste Irrlehre, die Gemeinden ins Verderben reißt, Gemeinschaften und Bekenntnisse mit dem Sauerteig der Torheit durchdringt und unsere Herzen vor Stolz schwellen lässt, ist die Lehre von der Erlösung durch Werke. »Ich glaube«, schreibt John Ruskin, »dass die Wurzel jeder Spaltung und Irrlehre, worunter die christliche Kirche zu leiden hatte, die Bemühung gewesen ist, sich die Erlösung zu verdienen, statt sie anzunehmen. Und der Grund, warum die Predigten heute oft so unwirksam sind, besteht in Folgendem: Sie rufen Menschen viel öfter zu Werken für Gott auf, als das Wunder zu bestaunen, wie Gott für sie Werke vollbringt.«8
II. Dogmatisch: Paulus verteidigt die Rechtfertigung durch den Glauben (3,1 – 5,1) A. Die großartige Wahrheit des Evangeliums (3,1-9)
3,1 Die Handlungsweise der Galater bewies, dass es ihnen an Verständnis mangelte. Wer sich von der Gnade dem Gesetz zuwendet, ist wie »bezaubert«. Es ist, als ob man von einem magischen Spruch eingenebelt ist und unausweichlich Lüge für Wahrheit hält. Wenn Paulus fragt: »Wer hat euch bezaubert?«, dann steht das Fragewort »wer« im Griechischen in der Einzahl (gr. tis)9, nicht in der Mehrzahl. Vielleicht ist dies in Paulus’ Gedanken begründet. Er denkt daran, dass Satan der Urheber dieser Irrlehre war. Paulus selbst hatte den Galatern »Jesus Christus als gekreuzigt« gepredigt und dabei betont, dass sie das Kreuz für immer vom Fluch und der Knechtschaft des Gesetzes befreien würde. Wie konnten sie dann zum Gesetz zurückkehren und so das Kreuz zunichtemachen? Hatte diese Wahrheit nicht ganz praktisch von ihnen Besitz ergriffen?
3,2 Eine Frage sollte ausreichen, um das gesamte Problem zu lösen. Sie sollten an die Zeit ihrer Bekehrung zurückdenken – an die Zeit, als der Heilige Geist in ihnen Wohnung nahm. Wie haben sie »den Geist … empfangen«? Durch Werke oder durch Glauben? Offensichtlich durch Glauben. Niemand hat je durch »Gesetzeswerke« den Heiligen Geist empfangen.
3,3 Wenn sie schon die Erlösung nicht durch Werke erlangen konnten, konnten sie dann erwarten in der Heiligung oder in christlicher Reife zu wachsen, indem sie das Gesetz hielten? Wenn die Kraft des Heiligen Geistes notwendig war, sie zu erretten, erhob sich die Frage: Konnten sie dann diesen Vorgang durch fleischliche Mittel vollenden?
3,4 Als die Galater zum Glauben kamen, setzten sie sich schlimmsten Verfolgungen aus, vielleicht sogar durch Eiferer für das jüdische Gesetz, die das Evangelium der Gnade hassten. War dieses Leiden »vergeblich«? Bedeutete es nicht, dass ihre Verfolger recht hatten, wenn sie zum Gesetz zurückkehrten? »Wenn es wirklich vergeblich ist!« Paulus spricht hier seine beständige Hoffnung darauf aus, dass sie doch noch zum Evangelium zurückkehren, für das sie einst gelitten haben.
3,5 Es ist fraglich, ob mit »der«10 in Vers 5 Gott, Paulus, oder jemand anders gemeint ist, der den Galatern zur Zeit der Abfassung des Briefes diente. Letztlich muss Gott gemeint sein, weil nur er »den Geist« darreichen kann. Doch in übertragenem Sinn könnte es sich auch um einen christlichen Mitarbeiter handeln, der das Werkzeug war, wodurch Gott seinen Willen erfüllen konnte. Das würde ein sehr erhabenes Bild des christlichen Dienstes zeichnen. Jemand hat einmal gesagt: »In jedem wahren christlichen Werk wird der Geist an andere weitergegeben, es handelt sich im Grunde um eine Austeilung des Geistes.«
Wenn der Apostel hier von sich selbst spricht, dann denkt er vielleicht an die Wunder, die seine Predigt und das Gläubigwerden der Galater begleiteten (Hebr 2,4). Doch die Zeitform des Verbs legt uns nahe, dass hier von einem Ereignis die Rede ist, das zur Zeit der Abfassung und nicht irgendwann in der Vergangenheit geschah. Vielleicht bezieht sich Paulus auf Wundergaben, die der Heilige Geist einigen Gläubigen nach ihrer Bekehrung geschenkt hat, wie es in 1. Korinther 12,8-11 beschrieben wird. »Tut er es aus Gesetzeswerken oder aus der Kunde des Glaubens?« Die Antwort lautet: »Aus der Kunde des Glaubens.« Die Tatsache, dass der Geist in uns Wohnung nimmt und an uns arbeitet, kann niemals verdient werden, sondern wird immer durch die Gnade gegeben und im »Glauben« empfangen. Deshalb sollten die Galater aus ihrer eigenen Erfahrung gelernt haben, dass der Segen durch den Glauben und nicht durch Gesetzeswerke zugeeignet wird. Als zweiten Beweis zieht Paulus genau diejenigen Schriftstellen heran, die die Irrlehrer missbrauchten, um die Notwendigkeit der Beschneidung zu beweisen! Was sagte das AT wirklich?
3,6 Paulus hat schon gezeigt, dass Gott mit den Galatern nur aufgrund des Glaubens gehandelt hatte. Nun zeigt er, dass die Menschen auch schon im AT nur auf diese Weise gerettet wurden. Die Frage in Vers 5 lautete: »Tut er es aus Gesetzeswerken oder aus der Kunde des Glaubens?« Die Antwort lautete: »Aus der Kunde des Glaubens.« Mit dieser Antwort im Hintergrund beginnt Vers 6: »Ebenso wie Abraham …« Er wurde auf die gleiche Art gerechtfertigt – »aus der Kunde des Glaubens«.
Vielleicht stellten die jüdischen Irrlehrer Abraham als ihren Helden und ihr Vorbild dar, und begründeten ihre Behauptung, dass die Beschneidung notwendig sei, der praktischen Erfahrung im  Leben  Abrahams  (1. Mose  17,24.26). Wenn das so war, dann schlug Paulus sie mit ihren eigenen Waffen. Wie wurde denn Abraham nun gerettet? »Abraham … glaubte Gott.« Er hatte kein Verdienst daran. Er »glaubte« Gott einfach nur. Damit verdiente er sich nichts, denn es wäre Torheit, Gott nicht zu glauben. Gott zu glauben, ist das Einzige, das ein Mensch im Zusammenhang mit seiner Errettung tun kann. Angesichts dessen ihm bleibt keinerlei Grund zum Rühmen mehr. Glaube ist kein »gutes Werk«, das eine Bemühung des Menschen erfordert. Glaube lässt dem Fleisch keinen Raum. Was wäre angemessener, als dass ein Geschöpf seinem Schöpfer oder ein Kind seinem Vater vertraut?
Rechtfertigung ist eine Tat Gottes, wodurch er alle für gerecht erklärt, die an ihn glauben. Gott kann gerechterweise so mit Sündern umgehen, weil Christus als Stellvertreter am Kreuz von Golgatha für die Sünder gestorben ist, indem er die Schuld für ihre Sünde beglich. Die Rechtfertigung bedeutet nicht, dass Gott den Gläubigen gerecht und sündlos an sich macht. Er sieht ihn aufgrund des Erlösungswerkes Christi als gerecht an. Gott gibt dem glaubenden Sünder eine gerechtfertigte Stellung, die ihn für den Himmel geeignet macht. Gott erwartet dann von ihm, dass er als Dank für das, was er für ihn getan hat, gerecht lebt. Wichtig ist hier anzumerken, dass die Rechtfertigung nichts mit Gesetzeswerken zu tun hat. Sie beruht nur auf dem Prinzip des Glaubens.
3,7 Zweifellos waren die jüdischen Lehrer der Ansicht, dass die Galater beschnitten werden mussten, um wirkliche Söhne Abrahams zu werden. Diesen Gedanken lehnt Paulus ab. Die echten »Söhne Abrahams« sind nicht diejenigen, die als Juden geboren sind oder sich zum Judentum bekehren, sondern diejenigen, die durch den Glauben gerettet werden. In Römer 4,10.11 zeigt Paulus, dass Abraham als gerecht anerkannt wurde, ehe er beschnitten worden war. Mit anderen Worten, er wurde gerechtfertigt, bevor er das Bundeszeichen der Beschneidung empfing.
3,8 Das AT wird hier gleichsam als Prophet dargestellt, der die Jahrhunderte überblickt und voraussieht, »dass Gott die Nationen« und auch die Juden aufgrund des Glaubens »rechtfertigen werde«. Die Segnung der »Nationen aus Glauben« wurde nicht nur im AT vorausgesagt, sondern sogar Abraham in 1. Mose  12,3  bereits  verkündet:  »In  dir werden gesegnet werden alle Nationen.« Wenn wir dieses Zitat aus dem 1. Buch Mose lesen, erschließt sich uns zunächst nicht die Bedeutung, die Paulus diesbezüglich herauslesen konnte. Doch der Heilige Geist, der diesen Vers des AT geschrieben hat, wusste, dass er schon das Evangelium der Errettung durch den Glauben für alle Völker enthält. Weil Paulus durch Inspiration mit demselben Geist schrieb, wurde es ihm gegeben, uns die tiefere Bedeutung dieses Verses zu erklären: »In dir« – d. h. mit Abraham, auf dieselbe Weise wie Abraham. »Alle Nationen«  –  d. h.  sowohl  Heiden  als  auch Juden. »Werden gesegnet werden« – d. h. errettet werden. Wie wurde Abraham gerettet? »Aus Glauben«. Wie werden die Nationen gerettet? Genauso wie Abraham – »aus Glauben«. Außerdem werden sie als Heiden und nicht dadurch gerettet werden, dass sie sich zunächst dem Judentum zuwenden.
3,9 Alle, die an Gott glauben, werden »mit dem gläubigen Abraham« gerechtfertigt, und zwar nach dem Zeugnis der jüdischen Schriften.
B. Gesetz und Verheißung (3,10-18)
3,10 Paulus beweist anhand der Heiligen Schrift, dass das Gesetz weit davon entfernt ist, Segen zu schenken. Vielmehr bringt es nur »Fluch« mit sich. Dieser Vers sagt nicht: »Denn alle, die das Gesetz gebrochen haben«, sondern: »Denn alle, die aus Gesetzeswerken sind«, d. h. alle, die versuchen, Gott durch das Halten des Gesetzes zu versöhnen. Sie »sind unter dem Fluch«, d. h. zum Tode verurteilt. »Denn es steht geschrieben (5. Mose 27,26): Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem …« Es reicht nicht, das Gesetz für einen Tag, einen Monat oder ein Jahr zu halten. Man muss »in allem« »bleiben«, es immer halten. Der Gehorsam muss vollständig sein. Es reicht nicht, die Zehn Gebote zu halten. Alle der über 600 Anweisungen in den fünf Büchern Mose müssen befolgt werden!
3,11 Die Irrlehrer werden erneut durch das AT widerlegt. Paulus zitiert nun Habakuk, um zu zeigen, dass Gott schon immer Menschen »aus Glauben« gerechtfertigt hat. Das Zitat lautet in der griechischen Wortstellung: »Der Gerechte aus Glauben wird leben.« Mit anderen Worten: Diejenigen, die durch den Glauben und nicht durch Werke gerechtfertigt sind, werden das ewige Leben haben. Die durch Glauben gerecht Gemachten werden leben.
3,12 Das Gesetz fordert den Menschen nicht zum Glauben auf. Es fordert die Menschen noch nicht einmal auf, zu versuchen, die Gebote zu halten. Es fordert strengen, vollständigen und in jeder Beziehung erwiesenen Gehorsam, wie im 3. Buch Mose eindeutig gelehrt wird. Das Gesetz sagt: »Tue und lebe.« Der Glaube sagt: »Glaube und lebe.« Paulus argumentiert hier folgendermaßen. Ein gerechtfertigter Mensch wird durch Glauben leben. Jemand, der unter dem Gesetz lebt, lebt nicht durch Glauben. Deshalb ist er vor Gott nicht gerecht. Wenn Paulus sagt: »Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben«, so zeigt er den theoretischen oder idealen Zustand auf, den jedoch niemand erreichen kann.
3,13 Erlösen heißt zurückkaufen oder befreien, indem der Preis bezahlt wird. Der »Fluch des Gesetzes« ist der Tod – die Strafe für den Bruch der Anordnungen Gottes. Christus hat diejenigen, die unter dem Gesetz waren, losgekauft, indem er die vom Gesetz geforderte Todesstrafe bezahlt hat. (Paulus spricht zweifellos in erster Linie von gläubigen Juden, wenn er das Personalpronomen »uns« verwendet, obwohl die Juden für die gesamte Menschheit standen.)
Cynddylan Jones schreibt: Die Galater meinten, dass Christus sie nur halb erkauft habe und sie den Rest des Preises bezahlen müssten, indem sie sich der Beschneidung und anderen jüdischen Riten sowie Zeremonien unterzogen. Von daher rührt ihre Bereitschaft, sich von Irrlehrern verführen zu lassen und Christentum mit Judentum zu vermischen. Paulus sagt hier (nach der walisischen Übersetzung). »Christus hat uns ganz vom Fluch des Gesetzes losgekauft.«11
»Christus kaufte« die Menschen »los«, indem er an ihrer Stelle starb und den schrecklichen Zorn Gottes gegen die Sünde trug. Der »Fluch« Gottes fiel auf ihn, weil er der Stellvertreter des Menschen war. Er wurde nicht an sich sündig, sondern die Sünden der Menschen wurden auf ihn gelegt.
Christus erlöste die Menschen nicht dadurch »von dem Fluch des Gesetzes«, dass er die Zehn Gebote während seines irdischen Lebens vollkommen gehalten hat. Die Schrift lehrt nicht, dass sein vollkommener Gehorsam gegenüber dem Gesetz uns angerechnet wird. Er erlöste die Menschen vom Gesetz, indem er während seines Sterbens dessen schrecklichen Fluch trug. Ohne seinen Tod hätte es keine Erlösung gegeben. Das Gesetz lehrt, dass es ein Zeichen für den Fluch Gottes war, wenn ein verurteilter Verbrecher an ein Holz gehängt wurde (5. Mose 21,23). Hier sieht der Heilige Geist diesen Vers als Prophetie hinsichtlich der Todesart des Retters. Er würde sterben, um den Fluch für seine Geschöpfe auf sich zu nehmen. Er sollte zwischen Himmel und Erde hängen, als wäre er beider unwürdig. Im Blick auf seinen Kreuzestod wird auch davon gesprochen, dass er »am Holz« hing (Apg 5,30; 1. Petr 2,24).
3,14 Gott hatte verheißen, Abraham zu segnen, und alle Menschen mit ihm. »Der Segen Abrahams« ist nun die aus Gnade durch den Glauben zugeeignete Erlösung. Das Gesetz forderte, dass zunächst die Strafe bezahlt würde. Deshalb wurde der Herr Jesus zum Fluch gemacht, damit Gott sich sowohl der Juden als auch der Heiden in seiner Gnade annehmen konnte. Nun werden die »Nationen« in Christus (einem Nachkommen Abrahams) gesegnet.
Gottes Verheißung an Abraham in 1. Mose 12,3 erwähnt den Heiligen Geist nicht. Doch Paulus berichtet uns hier durch göttliche Inspiration, dass die Gabe des Heiligen Geistes in Gottes Bund der bedingungslosen Erlösung mit eingeschlossen war. Sie war dort schon im Keim enthalten. Der Heilige Geist konnte nicht kommen, solange das Gesetz noch im Weg stand. Christus musste erst sterben und verherrlicht werden, ehe der Geist kommen konnte (Joh 16,7). Der Apostel hat nun bewiesen, dass die Erlösung durch Glauben und nicht durch das Gesetz geschieht. Er hat dazu 1. die Erfahrung der Galater und 2. das Zeugnis der alttestamentlichen Schriften angeführt. Nun wendet er sich einem Bild aus dem alltäglichen Leben zu. Die Argumentation des Paulus in diesem Abschnitt kann folgendermaßen zusammengefasst  werden:  In  1. Mose  12,3 hat Gott verheißen, in Abraham alle Menschen auf Erden zu segnen. Diese Heilsverheißung umfasste sowohl Heiden als auch Juden. In 1. Mose 22,18 hat Gott wiederum zugesagt: »Und in deinem Samen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden« (Schl 2000). Er sagte »in deinem Samen« (Einzahl) und nicht »in deinen Samen« (Mehrzahl). Gott meinte hiermit eine Person, den Herrn Jesus Christus, der ein direkter Nachkomme Abrahams ist (Lk 3,34). Mit anderen Worten: Gott hat verheißen, alle Nationen, Heiden wie Juden, durch Christus zu segnen. Diese Zusage hing von keiner Bedingung ab; weder gute Werke noch Gesetzesgehorsam wurden dafür gefordert. Es ging um eine einfache Verheißung, die man im Glauben annehmen muss.
Nun konnte das Gesetz, das Israel 430 Jahre später gegeben wurde, keine Bedingungen zu der Verheißung hinzufügen oder sie in irgendeiner Weise verändern. Bei Menschen wäre das ungerecht, und bei Gott wäre es sogar ganz undenkbar. Die Schlussfolgerung lautet deshalb, dass Gottes Segensverheißung für die Heiden durch Christus, durch den Glauben, und nicht durch Gesetzeswerke zugeeignet wird.
3,15 Bei den Menschen ist es folgendermaßen: Wenn ein »Testament« oder ein Vertrag unterzeichnet und versiegelt ist, würde niemand daran denken, das Dokument zu verändern oder etwas hinzuzufügen. Wenn menschliche Testamente schon nicht gebrochen werden können, wie viel weniger dann Gottes Bund!
3,16 Zweifellos hatten die judaistischen Irrlehrer wie folgt argumentiert: Die Verheißungen waren zugegebenermaßen ursprünglich an Abraham und seinen Samen (das Volk Israel) ergangen und mussten durch Glauben angenommen werden. Später wurde dieses Volk Israel jedoch unter das Gesetz gestellt. Deshalb müssten die Galater, obwohl sie ursprünglich durch Glauben errettet worden waren, nun die Zehn Gebote halten. Paulus antwortet: »Die Verheißungen« wurden »Abraham … und seinem Samen« (Elb) zugesagt. »Samen« steht hier wieder in der Einzahl. Samen kann manchmal viele Menschen bezeichnen, doch hier steht es für eine Person, nämlich für Christus. (Wir selbst würden so etwas vielleicht nie entdecken, wenn wir das AT lesen, doch der Geist Gottes erleuchtet uns.)
3,17 Gottes Verheißung an Abraham erging ohne Bedingung und hing auf keinerlei Weise von Werken ab. Gott verpflichtete sich einfach, Abraham einen Samen zu schenken (Christus). Obwohl er kein Kind hatte, glaubte Abraham Gott und damit auch an den kommenden Christus. Dadurch wurde er gerechtfertigt. Das zukünftige, »vierhundertdreißig Jahre später« gegebene »Gesetz« konnte die »Verheißung« der Erlösung nicht mehr ändern. Es konnte sie weder aufheben noch Bedingungen hinzufügen. Vielleicht waren die judaistischen Irrlehrer der Ansicht, dass das Gesetz, das 430 Jahre nach der Verheißung kam, diese nun ungültig machte. »Aber keinesfalls«, sagt Paulus hier im Grunde. »Die Verheißung war wie ein Testament und wurde durch den Tod besiegelt (das Bundesopfer, 1. Mose 15,7-11; s. a. Hebr 9,15-22). Sie konnte nicht aufgehoben werden.« Die 430 Jahre werden von dem Zeitpunkt an gerechnet, als der abrahamitische Bund Jakob gegenüber bestätigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt machte sich Jakob bereit, nach Ägypten zu ziehen (1. Mose  46,1-4).  Diese  Jahre  erstreckten sich bis zur Verkündigung des Gesetzes drei Monate nach dem Auszug aus Ägypten.
3,18 »Das Erbe« muss entweder durch den Glauben oder durch Werke erlangt werden. Es kann dem Betreffenden nicht durch beides zuteilwerden. Die Schrift macht eindeutig klar, dass es »Abraham … durch Verheißung« bedingungslos zugeeignet wurde. Genauso ist es mit der Erlösung. Sie wird ohne Bedingungen als Geschenk angeboten. Jeder Gedanke, sie sich zu erarbeiten, wird ausgeschlossen. C. Der Zweck des Gesetzes (3,19-29)
3,19 »Was soll nun das Gesetz?« Wenn das Gesetz, wie Paulus behauptete, die Verheißung Gottes an Abraham weder aufhob noch Bedingungen hinzufügte, stand man vor der Frage: Welchen Zweck hatte »das Gesetz« dann überhaupt noch? Das Gesetz war dazu gedacht, die Sünde in ihren wahren Eigenschaften als Übertretung zu offenbaren. Die Sünde bestand schon vor dem Gesetz, doch der Mensch konnte sie nicht als Übertretung erkennen, ehe das Gesetz gekommen war. Eine Übertretung ist die Verletzung eines bekannten Gesetzes.
Das Gesetz wurde den Angehörigen eines sündigen Volkes gegeben. Sie konnten niemals die Gerechtigkeit durch das Halten des Gesetzes erlangen, weil sie nicht die Kraft hatten, ihm zu gehorchen. Das Gesetz sollte den Menschen zeigen, welch hoffnungslose Sünder sie sind, damit sie Gott anflehen, sie durch seine Gnade zu erretten. Gottes Bund mit Abraham war eine Segensverheißung ohne Vorbedingungen, das Gesetz dagegen führte nur zur Verfluchung des Menschen. Das Gesetz zeigt, wie unwürdig der Mensch ist, einen Segen zu empfangen, der nicht an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ein Mensch gesegnet werden kann, so geschieht das nur durch die Gnade Gottes.
»Der Nachkomme« ist Christus. Deshalb wurde das Gesetz bis zum Kommen Christi als zeitlich begrenzter Maßstab gegeben. Die abrahamitische Verheißung sollte in ihm erfüllt werden. Zu einem Vertrag zwischen zwei Seiten gehört immer ein »Mittler«. Das Gesetz umfasste zwei Vertragsparteien – Gott und Israel. Mose diente in diesem Fall als Vermittler  (5. Mose  5,5).  Die  Engel  waren  Gottes Boten, als sie Mose das Gesetz überbrachten (5. Mose 33,2; Ps 68,18; Apg 7,53; Hebr 2,2). Die Tatsache, dass Mose und die Engel als Mittler beteiligt waren, kündete von der Entfernung zwischen Gott und seinem Volk – einem Volk, das aufgrund seiner Sünde nicht in die Gegenwart Gottes treten konnte.
3,20 Wenn es sich hier nur um eine Vertragspartei gehandelt hätte und eine Verheißung ohne Bedingungen ausgesprochen worden wäre, die vom anderen nichts verlangt hätte, so hätte man keinen »Mittler« gebraucht. Die Tatsache, dass das Gesetz einen Mittler benötigte, deutete an, dass der Mensch seinen Teil der Übereinkunft einhalten musste. Das war der Schwachpunkt des Gesetzes, denn es erwartete Gehorsam von denen, die keine Kraft hatten, ihn zu leisten. Als »Gott« seine Verheißung gegenüber Abraham gab, war er der Einzige, der sich vertraglich band. Das war die Stärke dieser Verheißung: Alles hing von Gott und nicht vom Menschen ab. Es war kein »Mittler« beteiligt, weil keiner gebraucht wurde.12
3,21 Hat »das Gesetz« nun »die Verheißungen Gottes« abgelöst und ihren Platz eingenommen? »Das ist ausgeschlossen.« Wenn es möglich wäre, ein »Gesetz« zu geben, wodurch Sünder die von Gott geforderte Vollkommenheit erreichen könnten, dann wäre die Erlösung wirklich durch Gesetzesgehorsam zu erlangen. Gott hätte den Sohn seiner Liebe nicht als Opfer für die Sünder gesandt, wenn er dasselbe Resultat auf weniger kostspielige Weise hätte erreichen können. Doch in den Jahrhunderten des Gesetzeszeitalters lebten so viele Menschen, dass hinreichend gezeigt werden konnte: Das Gesetz ist außerstande, Sünder zu erretten. In diesem Sinne war es »durch das Fleisch kraftlos« (Röm 8,3). Das Gesetz konnte den Menschen einzig und allein ihre Hoffnungslosigkeit zeigen und ihnen verdeutlichen, dass sie die Erlösung nur durch die bedingungslose Gnade Gottes erlangen können.
3,22 Das AT zeigte, dass alle Menschen Sünder sind, einschließlich derjenigen, die unter dem Gesetz stehen. Es war notwendig, dass die Menschen auf diese Weise völlig von der Sünde überführt wurden, »damit die Verheißung« der Erlösung »aus Glauben an Jesus Christus den Glaubenden gegeben werde«. Die Schlüsselworte von Vers 22 sind »Glaube« und »gegeben«. »Tun« oder »Halten des Gesetzes« werden hier nicht erwähnt.
3,23 Mit »Glaube« ist hier der christliche Glaube gemeint. Das Wort bezieht sich auf das Zeitalter, das durch Tod, Grablegung, Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn Jesus und die Predigt des Evangeliums zu Pfingsten eingeläutet wurde. Vor dieser Zeit waren die Juden »unter Gesetz verwahrt«, wie Menschen in einem Gefängnis oder unter Vormundschaft. Die Gitter ihrer Zellen waren die Forderungen des Gesetzes, und weil diese sie nicht erfüllen konnten, waren sie zur Errettung auf den Weg des »Glaubens« angewiesen. Die Menschen unter dem Gesetz waren demnach eingesperrt, bis die herrliche Nachricht der Befreiung von der Gesetzesknechtschaft im Evangelium verkündigt wurde.
3,24 »Das Gesetz« wird hier als Vormund  und  Lehrmeister  (vgl.  Schl 2000; Anm. d. Übers.) der Kinder oder als »Zuchtmeister«13 dargestellt. Dies betont den Gedanken der Unterweisung. Das Gesetz lehrte Lektionen über die Heiligkeit Gottes, die Sündhaftigkeit des Menschen und die Notwendigkeit der Sühnung. Hier wird das Wort benutzt, um jemanden zu beschreiben, der die Untergeordneten oder Minderjährigen erzieht und sie umfassend beaufsichtigt. Dieser Vers lehrt uns, dass das Gesetz der jüdische »Zuchtmeister auf Christus hin«, d. h. bis zum Kommen Christi oder im Hinblick auf das Kommen Christi, ist. In gewissem Sinne bewahrte das Gesetz das Volk Israel als eigenständige Nation durch Vorschriften über Ehe, Eigentum, Speisen etc. Als »der Glaube« kam, wurde er zuerst diesem Volk verkündigt, das so wunderbar durch die Jahrhunderte bewahrt worden war. Die Rechtfertigung durch den »Glauben« wurde aufgrund des vollendeten Werkes Christi, des Erlösers, verheißen.
3,25 Das Gesetz ist der »Zuchtmeister«, doch sobald der christliche »Glaube« von gläubigen Juden angenommen wird, sind sie »nicht mehr unter« dem Gesetz. Wie viel weniger gilt dies für die Heiden, wie etwa die Galater, die niemals unter diesem Zuchtmeister gestanden haben! Vers 24 lehrt, dass der Mensch nicht durch das Gesetz gerechtfertigt wird. Vers 25 lehrt, dass das Gesetz für die Gerechtfertigten keine Lebensregel ist.
3,26 Man beachte den Wechsel der Pronomen vom »wir« zum »ihr«. Als Paulus von den Juden (»wir«) schrieb, zeigte er, dass sie bis zum Kommen Christi unter dem Gesetz gehalten wurden. Das Gesetz bewahrte sie als ein abgesondertes Volk, dem die Rechtfertigung durch den Glauben verkündigt werden konnte. Als sie gerechtfertigt wurden, befanden sie sich nicht mehr unter dem Gesetz, sodass ihre speziell jüdischen Wesensmerkmale fortan bedeutungslos waren. Das Pronomen »ihr« (von hier bis zum Ende des Kapitels) umfasst sowohl errettete Juden als auch errettete Heiden. Solche Menschen sind »alle … Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus«.
3,27 Die Einheit mit Christus, die bei der Bekehrung beginnt, wird in der Wassertaufe bekannt. Diese Taufe macht einen Menschen nicht zum Glied Christi oder Erben des Reiches Gottes. Sie ist die öffentliche Identifikation mit Christus, was Paulus hier als »Anziehen des Christus« bezeichnet. Wie ein Soldat sich durch das Anziehen seiner Uniform als Mitglied der jeweiligen Armee kenntlich macht, so gibt sich der Gläubige bei der Wassertaufe als ein zu Christus Gehörender zu erkennen. Durch diese Handlung erklärt er öffentlich seine Unterordnung unter die Führung und Autorität Christi. Er zeigt sichtbar, dass er ein Kind Gottes ist. Es steht fest, was der Apostel hier nicht aussagt: Es ist nicht die Wassertaufe, die den Gläubigen mit Christus vereinigt. Das wäre ein eklatanter Verstoß gegen seine eben aufgestellte Lehre, dass die Erlösung nur durch den Glauben erlangt wird.
Auch ist es unwahrscheinlich, dass Paulus sich hier auf die Geistestaufe bezieht, die den Gläubigen in den Leib Christi  einfügt  (1. Kor  12,13).  Die  Taufe mit dem Heiligen Geist ist unsichtbar. Nichts an dieser Taufe erinnert an ein öffentliches »Anziehen« Christi. Es handelt sich hier vielmehr um eine Taufe auf Christus. So wie die Israeliten auf Mose getauft wurden und sich dadurch mit ihm als ihrem Anführer identifizierten, so zeigen die Gläubigen, die heute auf Christus getauft werden, dass sie ihn als rechtmäßigen Herrn über ihr Leben anerkennen.
Durch die Taufe bekundet der Gläubige auch, dass sein Fleisch samt seinen Versuchen, Gerechtigkeit zu erlangen, begraben ist. Er zeigt damit das Ende seines alten und den Beginn eines neuen Lebensstils an. In der Wassertaufe bekannten die Galater, dass sie mit Christus gestorben und begraben waren. So wie Christus dem Gesetz gestorben war, so waren auch sie für das Gesetz tot, und sollten von daher nicht mehr danach streben, unter dem Gesetz als Lebensregel zu stehen. Genau wie Christus durch seinen Tod die Unterscheidung in Juden und Heiden aufgehoben hat, so sind auch sie solchen nationalen Unterschieden gestorben. Sie haben »Christus« in dem Sinne »angezogen«, dass sie nun ein völlig neues Leben führen – das Leben aus Christus.
3,28 Das Gesetz unterschied zwischen den Volksgruppen, und zwar zwischen »Juden« und »Heiden«. Zum Beispiel wird der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden in 5. Mose 7,6 und 14,1.2 betont. In seinem Morgengebet dankte der Jude Gott dafür, dass er ihn nicht als Heide, Sklave oder Frau erschaffen hat. »In Christus Jesus« verschwinden diese Unterschiede, d. h. soweit es um die Annahme durch Gott geht. Ein Jude wird dem Heiden nicht mehr vorgezogen, der Freie ist nicht mehr bevorrechtigt als der Sklave, und der Mann hat nicht mehr Privilegien als eine Frau. Alle stehen nun auf der gleichen Stufe, weil sie »in Christus Jesus« sind.
In diesen Vers darf nicht in missbräuchlicher Absicht eine Bedeutung hineingelegt werden, die darin nicht enthalten ist. Soweit es um das alltägliche Leben geht (vom öffentlichen Dienst in der Gemeinde einmal ganz abgesehen), erkennt Gott einen Unterschied zwischen Mann und Frau an. Das NT enthält für beide unterschiedliche Anweisungen, und es spricht auch Herren und Sklaven unterschiedlich an. Doch wenn es darum geht, Segen von Gott zu erlangen, so spielen diese Unterschiede keine Rolle. Das Großartige ist, dass wir »in Christus Jesus« sind (das bezieht sich auf unsere himmlische Stellung, nicht auf unseren irdischen Zustand). Vor Gott ist der gläubig gewordene Jude kein bisschen mehr wert als der bekehrte Heide! Govett sagt: »Alle Unterschiede, die das Gesetz machte, sind in dem gemeinsamen Grab verschlungen, das Gott bereitet hat.« Deshalb gilt: Wie töricht ist es, wenn Christen sich heiligen wollen, indem sie die Unterschiede betonen, die Christus doch beseitigt hat!
3,29 Die Galater wurden zu dem Gedanken verführt, dass sie zu »Abrahams Nachkommenschaft« werden könnten, wenn sie das Gesetz hielten. Paulus zeigt, dass es anders ist. Christus ist der Nachkomme Abrahams, und das Erbe, das Abraham verheißen wurde, wurde in Christus Wirklichkeit. Wenn Sünder an ihn glauben, werden sie eins mit ihm. So werden sie zu »Abrahams Nachkommenschaft« und erben in Christus alle Segnungen Gottes.
D. Kinder und Söhne (4,1-16)
4,1.2 Das Bild, das hier benutzt wird, zeigt uns einen reichen Vater, der beabsichtigt, die Verwaltung seines Besitztums auf den Sohn zu übertragen, sobald dieser mündig ist. Doch »solange der Erbe unmündig ist«, gleicht die Stellung des Erben dem Stand eines »Sklaven«. Fortwährend wird ihm gesagt, dieses zu tun und jenes zu lassen. Er hat »Verwalter«, die über sein Eigentum gesetzt sind, und »Vormünder«, die ihn beaufsichtigen. So kann er, obwohl ihm das Erbe sicher ist, dieses nicht antreten, ehe er nicht erwachsen geworden ist.
4,3 Das war auch der Zustand der Juden unter dem Gesetz. Sie waren »Unmündige«, über die das Gesetz wie über Sklaven ein strenges Regiment führte. Sie waren »unter die Elemente der Welt versklavt«, womit die Grundprinzipien des jüdischen Gottesdienstes gemeint sind. Die Zeremonien und Riten des Judentums wurden für diejenigen eingesetzt, die Gott den Vater nicht so kannten, wie er in Christus offenbart ist. Eine Veranschaulichung dafür könnte man in einem Kind sehen, das sich die Grundlagen des Alphabets aneignet. Es beschäftigt sich zunächst mit Formen, indem es mit Bauklötzen spielt oder es lernt, anhand von Bilderbüchern Gegenstände zu benennen. Das Gesetz war voller Schatten und Bilder, die den geistlichen Sinn durch das Fassbare und Äußerliche ansprachen. Die Beschneidung ist ein diesbezügliches Beispiel. Das Judentum hatte mit Gegenständen sowie mit äußerlichen und zeitlichen Dingen zu tun, während das Christentum auf das Geistliche Innerliche und Ewige ausgerichtet ist. Diese Äußerlichkeiten waren eine Form der Sklaverei für die Kinder.
4,4 »Die Fülle der Zeit« bezieht sich auf die Zeit, die vom himmlischen Vater festgesetzt wurde, zu der die Erben volljährig werden würden (vgl. V. 2). In diesem Vers haben wir in wenigen Worten eine wunderbare Aussage über die Göttlichkeit und das Menschsein des Heilands. Er ist der ewige Sohn Gottes, und doch wurde er »geboren von einer Frau«. Wenn Jesus nur ein Mensch gewesen wäre, dann wäre es überflüssig zu sagen, er sei »von einer Frau geboren«. Wie sonst kann ein Mensch geboren werden? Der Ausdruck zeugt im Falle unseres Herrn von seiner Einzigartigkeit und von seiner wunderbaren Geburt. Er wurde als Israelit in diese Welt geboren. Deshalb wurde er »geboren unter Gesetz«. Als Sohn Gottes hätte der Herr Jesus niemals unter dem Gesetz gestanden, denn er war derjenige, der es eingesetzt hatte. Doch in seiner herablassenden Güte stellte er sich selbst »unter Gesetz«, und zwar unter das Gesetz, das er selbst verordnet hatte. Er wollte es nämlich durch sein Leben zu seiner wahren Größe erheben und in seinem Tod den Gesetzesfluch tragen.
4,5 Das Gesetz verlangte von denjenigen, die es nicht hielten, einen Preis: den Preis des Todes. Ehe Gott die Menschen in die wundervolle Stellung der Sohnschaft erheben konnte, musste der Preis gezahlt werden. Deshalb zahlte der Herr Jesus den vom Gesetz geforderten Preis, nachdem er Mensch geworden und als Angehöriger des jüdischen Volkes in die Welt gekommen war. Weil er Gott ist, war sein Tod von unendlichem Wert, d. h. er reichte aus, um alle Sünder zu erlösen. Weil er ein Mensch war, konnte er als Stellvertreter für Menschen sterben. Govett sagt: »Christus, von Natur aus Gottessohn, wurde zum Menschensohn, damit wir, von Natur aus Menschensöhne, Gottessöhne werden können. Welch wunderbarer Tausch!« Solange die Menschen noch Sklaven waren, konnten sie nicht »Söhne« werden. Christus hat sie von der Knechtschaft des Gesetzes befreit, damit sie die »Sohnschaft« empfangen konnten. Man beachte hier den Unterschied zwischen der Tatsache, ein Kind Gottes und ein Sohn Gottes zu werden (vgl. Röm 8,14.16). Der Gläubige wird in die Familie Gottes als Kind hineingeboren (s. Joh 1,12). Die Betonung liegt hier auf der Tatsache der göttlichen Geburt, nicht auf den Vorrechten und Pflichten der Sohnschaft. Der Gläubige wird in die Familie als Sohn aufgenommen. Jeder Christ ist sofort ein Sohn und kann das Erbe antreten, das ihm zusteht. Deshalb gehen die Anweisungen des NT davon aus, dass es unter den Heiligen keine »geistliche Unmündigkeit« gibt. Alle werden als mündige Söhne behandelt.
Wenn jemand in der römischen Kultur die »Sohnschaft« erlangte (adoptiert wurde), unterschied sich dies von der uns bekannten Adoption. Für uns bedeutet Adoption, das Kind von irgendjemandem als eigenes anzunehmen. Aber im NT ist mit Adoption gemeint, dass die Gläubigen in die Stellung mündiger Söhne versetzt werden, wobei alle diesbezüglichen Rechte und Pflichten darin eingeschlossen sind.
4,6 Damit diejenigen, die »Söhne« sind, die Würde ihrer Stellung erkennen, »sandte Gott« zu Pfingsten seinen Heiligen »Geist«. Er wohnt fortan den Gläubigen inne. Der Geist bewirkt das Bewusstsein der Sohnschaft und ermöglicht es uns, den heiligen Gott als »Vater« anzusprechen. »Abba, Vater« ist eine vertraute Anrede. Hier werden im Urtext sowohl das aramäische als auch das griechische Wort für »Vater« benutzt. Kein Sklave durfte wagen, auf diese Weise das Familienoberhaupt anzusprechen; diese Worte waren ausschließlich der Familie vorbehalten und drücken Liebe und Vertrauen aus. Man beachte die Erwähnung der Dreieinheit in diesem Vers: Geist, Sohn und Vater – in dieser Reihenfolge.
4,7 Der Gläubige ist »nicht mehr Sklave«, er steht nicht mehr unter dem Gesetz. Er ist nun »Sohn« Gottes. Weil Christus als Gottes Sohn der Erbe aller Reichtümer Gottes ist, ist der Christ »Erbe Gottes  durch  Christus«  (Schl 2000).14 Alles, was Gott gehört, ist im Glauben auch ihm zugeeignet.
In den heutigen rabbinischen Schulen in Israel ist es den Schülern nicht erlaubt, das Hohelied oder Hesekiel 1 zu lesen, ehe sie nicht vierzig Jahre alt sind. Das Hohelied wird aufgrund seiner eindeutig sinnlichen Bildersprache für Jüngere als ungeeignet angesehen, und Hesekiel 1 enthält eine Beschreibung der Herrlichkeit des unsagbar großen Herrn. Der Talmud berichtet, dass einmal jemand, der noch nicht vierzig Jahre alt war, anfing, Hesekiel 1 zu lesen. Daraufhin kam ein Feuer aus der Buchrolle hervor und verzehrte ihn. Das zeigt uns, dass ein Mensch unter dem Gesetz nicht eher als Mann anerkannt wird, bevor er nicht vierzig Jahre alt ist. (Die bekannte bar mizwah im Alter von dreizehn Jahren macht einen jüdischen Jungen nur zum »Sohn des Bundes« [entsprechend der Namensbedeutung hinsichtlich dieses Festes] und verpflichtet ihn damit, das Gesetz zu halten.) Bis zum Alter von vierzig Jahren wird ein Vertreter der jüdischen Rechtgläubigkeit als Unmündiger angesehen.
Das gilt nicht für die Gläubigen unter der Gnade. Sobald sie erlöst sind, gehört die ganze Erbschaft ihnen. Sie werden wie erwachsene, mündige Söhne und Töchter behandelt, und sie dürfen die gesamte Bibel lesen, sich daran erfreuen und ihr gehorchen.
Im Lichte dieser Wahrheiten ist die Ermahnung von Harrison äußerst angemessen:
Kind seiner Liebe, alles ist dein! Er sagt dir das in 1. Korinther 3,22.23. Damit will er dir die Reichtümer bewusst machen, die über alle Vorstellungs- und Fassungskraft hinausgehen. Sieh dir das Universum an. Wem gehört es, wenn nicht ihm und dir? Dann lebe auch königlich.15
4,8 Die Galater hatten einst unter der Knechtschaft der Götzen gelebt. Vor ihrer Bekehrung waren sie Heiden gewesen, die Bilder aus Holz und Stein – falsche »Götter« – verehrten. Nun suchten sie sich eine neue Knechtschaft – die Knechtschaft des Gesetzes.
4,9 »Wie« konnten sie ihr Verhalten entschuldigen? Sie hatten »Gott« kennengelernt. Wenn es schon nicht durch auf Erfahrung beruhender Erkenntnis geschehen war, so doch dadurch, dass sie zumindest »von Gott erkannt worden«, d. h.  gerettet  worden,  waren.  Und  doch wandten sie sich von seiner Macht und seinem Reichtum (den sie doch erben sollten) »zu den schwachen und armseligen Elementen zurück«, den Vorschriften des Gesetzes, wie z. B. Beschneidung, heilige Tage und Speisevorschriften. Sie knechteten sich selbst durch Dinge, die sie weder retten noch bereichern, sondern nur ärmer machen konnten. Paulus bezeichnet das Gesetz und seine Zeremonien als »schwach und armselig«. Gottes Gesetze waren zu ihrer Zeit und an ihrem Ort wunderbar, doch sie sind ausgesprochene Hindernisse, wenn sie als Ersatz für den Herrn Jesus dienen. Es ist Götzendienst, wen man sich von Christus wegwendet, um sich dem Gesetz zuzuwenden.
4,10.11 Die Galater hielten den jüdischen Festkalender mit seinen Sabbaten, Festen und »Zeiten«. Paulus fürchtet um diejenigen, die sich zum Christentum bekennen und doch versuchen, vor Gott wohlgefällig zu sein, indem sie Gesetze halten. Auch Menschen, die nicht wiedergeboren sind, können »Tage und Monate und bestimmte Zeiten und Jahre« halten. Manche Menschen befriedigt es außerordentlich, wenn sie daran denken, dass es etwas gibt, das sie aus eigener Kraft tun können, um sich Gottes wohlwollenden Blick zu verdienen. Doch dieser Gedanke geht davon aus, dass der Mensch eigene Macht hat und von daher bis zu einem gewissen Grad den Heiland nicht braucht. Wenn Paulus den Galatern auf diese Weise geschrieben hat, stellt sich die Frage: Was würde er den bekennenden Christen von heute schreiben, die versuchen, Heiligung durch Gesetzeswerke zu erlangen? Würde er nicht die Traditionen verurteilen, die aus dem Judentum ins Christentum übernommen wurden? Dazu gehören ein von Menschen eingesetzter Priesterstand, besondere Gewänder für Pastoren und sonstige Amtsträger, Namenstage von »Heiligen« und Feiertage ohne Bezug zur Bibel, heilige Orte, Kerzen für den Gottesdienst, Weihwasser und so weiter.
4,12 Offensichtlich hatten die Galater vergessen, wie dankbar sie Paulus ge wesen waren, als er ihnen das erste Mal das Evangelium predigte. Doch er spricht sie als »Brüder« an, obwohl sie solche Fehler machen und obgleich er in großer Sorge um sie ist. Paulus war früher ein Jude unter dem Gesetz. Nun war er – in Christus – frei vom Gesetz. Deshalb sagt er: »Seid wie ich« – befreit vom Gesetz, sodass ihr nicht mehr unter ihm lebt. Die heidnischen Galater hatten nie unter dem Gesetz gestanden und waren ihm auch jetzt nicht unterworfen. Deshalb sagt der Apostel: »›Denn auch ich bin wie ihr.‹ Ich freue mich, der ich früher ein Jude war, an der Freiheit vom Gesetz, die ihr Heiden immer hattet.«
»Ihr habt mir nichts zuleide getan.« Es ist nicht ganz eindeutig, an was Paulus hier denkt. Vielleicht meint er, dass er sich durch ihr Verhalten nicht persönlich verletzt fühlte. Dass sie sich von ihm abgewandt und sich Irrlehrern zugewandt hatten, traf ihn nicht persönlich, sondern zielte auf die Wahrheit Gottes und damit letztlich sie selbst.
4,13 »Das Evangelium« wurde ihnen zunächst »in Schwachheit des Fleisches … verkündigt«.16 Gott benutzt oft schwache, verachtete, arme Werkzeuge, um sein Werk zu tun, damit die Ehre ihm und nicht den Menschen zuteilwird.
4,14 Die Krankheit war für Paulus und seine Zuhörer eine »Versuchung«. Doch die Galater lehnten ihn wegen seiner Erscheinung oder seiner Predigtweise nicht ab. Stattdessen hatten sie ihn »wie einen Engel Gottes« aufgenommen, d. h. wie einen Boten, den Gott selbst gesandt hat, und sogar »wie Christus Jesus«. Weil er den Herrn vertrat, empfingen sie ihn, als ob sie den Herrn selbst aufnahmen (Matth 10,40). Sie nahmen die Botschaft des Paulus als Wort Gottes an. Das sollte für alle Christen eine Lehre sein, wie sie die Boten des Herrn behandeln sollten. Wenn wir sie herzlich aufnehmen, nehmen wir den Herrn auf die gleiche Weise auf (Lk 10,16).
4,15 Als sie das Evangelium das erste Mal hörten, erkannten sie an, was für eine große »Glückseligkeit« es für ihre Seelen war. Sie schätzten diese Botschaft so sehr, dass sie sogar ihre eigenen »Augen ausgerissen« hätten, um sie Paulus zu geben, wenn es möglich gewesen wäre. (Das mag ein Hinweis darauf sein, dass der »Dorn im Fleisch«, von dem Paulus in 2. Kor 12 berichtet, eine Augenk  rankheit war.) Doch wo war diese Dankbarkeit geblieben? Sie war vergangen wie der Morgentau.
4,16 Was war die Erklärung für ihre Haltungsänderung gegenüber Paulus? Er predigte noch immer dieselbe Botschaft und kämpfte eifrig für die Wahrheit des Evangeliums. Wenn sie in ihm nun einen Feind sahen, dann befanden sie sich wirklich in einer gefährlichen Stellung. E. Knechtschaft oder Freiheit (4,17-5,1)
4,17 Die Motive der Irrlehrer waren ganz anders als die Beweggründe des Paulus: Sie suchten eine Anhängerschaft, während er am geistlichen Wohlergehen der Galater interessiert war (4,17-20). Die Irrlehrer waren eifrig in ihrem Bemühen, die Zuneigung der Galater zu gewinnen, doch hatten sie keine reinen Motive. »Sie wollen euch ausschließen.« Die judaistischen Irrlehrer waren bestrebt, die Galater vom Apostel Paulus und anderen Lehrern zu trennen. Sie suchten ihre eigene Anhängerschaft und wollten eine Sekte bilden, um sie sich zu sichern. Stott warnt: »Wenn das Christentum zu einer von Regeln und Vorschriften geprägten Knechtschaft gemacht wird, werden seine Opfer unausweichlich unterdrückt und an das Gängelband ihrer Lehrer gebunden, wie dies im Mittelalter der Fall war.«17
4,18 Paulus sagt hier im Grunde: »Ich kümmere mich nicht darum, wenn andere um euch viel Wirbel machen, wenn ich nicht da bin. Solange sie es mit reinen Motiven und für das ›Gute‹ tun, ist das in Ordnung.«
4,19 Wenn Paulus die Galater als seine »Kinder« anspricht, dann will er sie daran erinnern, dass er sie zu Christus geführt hat. Und nun leidet er wiederum ihretwegen Geburtsschmerzen, diesmal nicht, weil er um ihre Erlösung besorgt ist, sondern damit »Christus in« ihnen »Gestalt« gewinnen kann. Die Christusähnlichkeit ist Gottes höchstes Ziel für sein Volk (Eph 4,13; Kol 1,28).
4,20 Dieser Vers könnte bedeuten, dass Paulus sich über die wirkliche Stellung der Galater nicht im Klaren war. Ihr Abweichen von der Wahrheit hat ihn »im Zweifel« gelassen. Er würde gern seine »Stimme wandeln« und eindeutig über sie sprechen können. Vielleicht war er aber auch unsicher, wie sie seinen Brief annehmen würden. Er würde lieber persönlich mit ihnen sprechen. Dann könnte er besser sich besser äußern weil er dann imstande wäre, mit anderer Stimme zu sprechen. Wenn sie seine Ermahnungen aufnehmen würden, könnte er sanft mit ihnen reden; wenn sie dagegen hochmütig und aufrührerisch wären, dann würde er hart zu ihnen reden. So jedoch war er sich nicht sicher, wie sie auf seinen Brief reagieren würden.
Weil die jüdischen Irrlehrer so viel Wert auf Abraham legten und darauf bestanden, dass die Gläubigen mit der Einwilligung in die Beschneidung seinem Beispiel folgen müssten, wendet sich Paulus nun der Geschichte Abrahams zu. Er will ihnen zeigen, dass Gesetzlichkeit Sklaverei ist und mit der Gnade nicht vermischt werden darf.
Gott hatte Abraham verheißen, dass er einen Sohn haben würde, obwohl er und Sara körperlich schon zu alt waren, um noch Kinder zu bekommen. Abraham glaubte Gott und wurde so gerechtfertigt (1. Mose 15,1-6). Einige Zeit später wurde Sara des Wartens auf den verheißenen Sohn müde und schlug Abraham vor, dass er ein Kind mit ihrer Sklavin Hagar bekommen sollte. Abraham folgte ihrem Rat, und Ismael wurde geboren. Dieser war nicht der von Gott verheißene Erbe, sondern der Sohn der Ungeduld Abrahams, seiner Fleischlichkeit und seines mangelnden Vertrauens (1. Mose 16). Als dann Abraham hundert Jahre alt war, wurde Isaak, der Sohn der Verheißung, geboren. Offensichtlich handelte es sich um eine Zeugung durch ein Wunder, denn sie wurde nur durch die Macht Gottes  ermöglicht  (1. Mose  21,1-5).  Bei dem damals üblichen Fest der Entwöhnung Isaaks sah Sara, dass Ismael ihren Sohn verspottete. Daraufhin forderte sie Abraham auf, Ismael und seine Mutter aus dem Haus zu weisen, und sagte: »Der Sohn dieser Magd soll nicht mit meinem Sohn Erbe werden, mit Isaak« (1. Mose 21,8-11). Das ist der Hintergrund der Argumente, die Paulus nun anführt.
4,21 »Gesetz« bedeutet in diesem Vers zweierlei: Zunächst bezieht sich das Wort auf ein Mittel zur Erlangung der Heiligung. Zweitens betrifft es die alttestamentlichen Bücher des Gesetzes (nämlich die 5 Bücher Mose) insbesondere das erste Buch Mose. Paulus sagt hier: »›Sagt mir, die ihr unter Gesetz sein wollt‹, um mit Gesetzeswerken die Wohlgefälligkeit vor Gott zu erlangen, ›hört ihr‹ denn nicht auf die Botschaft des Gesetzes?«
4,22.23 Die »zwei Söhne« waren Ismael und Isaak. Die »Magd« war Hagar, die »Freie« war Sara. Ismael wurde durch das eigenwillige Eingreifen Abrahams geboren. Isaak dagegen wurde Abraham durch »die Verheißung« Gottes gegeben.
4,24 Die Geschichte »hat einen bildlichen  Sinn«,  d. h.  sie  hat  eine  tiefere Bedeutung, als es bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. Die wirkliche Bedeutung der Ereignisse wird nicht ausdrücklich genannt, sondern ist in der Geschichte verborgen. So enthält der historische Bericht über Isaak und Ismael tiefe geistliche Wahrheiten, die Paulus nun erklären will.
Die beiden Frauen stehen für »zwei Bündnisse«: »Hagar« verkörpert den Bund des Gesetzes, Sara dagegen den Bund der Gnade. Das Gesetz wurde am »Berg Sinai« gegeben. Es ist erstaunlich, dass »Hagar« auf arabisch »Fels« bed eutet, und die Araber den Berg Sinai »den Fels« nannten.
4,25 Der Bund, der auf dem »Sinai« gegeben wurde, führte zur »Sklaverei«. Hagar steht für das »jetzige Jerusalem«, die Hauptstadt der jüdischen Nation und das Zentrum der unerretteten Israeliten, die noch immer versuchten, Gerechtigkeit durch Gesetzeswerke zu erhalten. Diese sind zusammen mit ihren »Kindern in Sklaverei«. Für Paulus war es eine treffende Beschreibung, als er die Ungläubigen mit Hagar statt mit Sara verband. Außerdem brachte er sie mit Ismael statt mit Isaak in Verbindung.
4,26 Die Sehnsüchte derjenigen, die durch den Glauben gerechtfertigt sind, richten sich auf das himmlische »Jerusalem«. Die himmlische Stadt ist die »Mutter« aller Gläubigen, die sowohl jüdische als auch heidnische Wurzeln haben.
4,27 In diesem Zitat aus Jesaja 54,1 wird vorausgesagt, dass die Kinder der himmlischen Stadt zahlreicher sein werden als die Nachkommen des irdischen Jerusalem. Sara war die Frau, die so lange »unfruchtbar« blieb. Hagar war die Frau, »die den Mann hat«. Wie sollen wir den endgültigen Sieg Saras oder das himmlische Jerusalem verstehen? Die Antwort lautet, dass die »Kinder« der Verheißung all diejenigen sind, die im Glauben zu Gott kommen, sowohl Heiden als auch Juden. Sie sind »zahlreicher« als die Kinder der Hagar, die unter dem Gesetz bleiben.
4,28 Wahre Gläubige werden nicht aus dem Willen des Mannes oder dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott geboren. Die leibliche Herkunft spielt keine Rolle, wichtig ist nur die wunderbare göttliche Geburt durch den Glauben an den Herrn Jesus.
4,29 Ismael verspottete Isaak. So ist es immer gewesen: Diejenigen, die durch das Fleisch geboren wurden, haben die »nach dem Geist Geborenen verfolgt«. Man bedenke nur die Leiden unseres Herrn oder des Apostels Paulus, die ihnen durch Unerrettete zugefügt wurden. Es mag uns als bedeutungslose Sünde erscheinen, dass Ismael Isaak verspottet hat, doch die Schrift hat es festgehalten. Paulus sieht darin ein Prinzip, das noch heute gilt – die Feindschaft zwischen »dem Fleisch« und »dem Geist«.
4,30 Wenn sich die Galater also auf die »Schrift« berufen, dann werden sie dieses Urteil hören. Die Gnade kann nicht mit Gesetz vermischt werden, und es ist unmöglich, Gottes Segen aufgrund von menschlichen Verdiensten oder fleischlichen Bemühungen zu erlangen.
4,31 Diejenigen, die Christus ihr Leben anvertraut haben, haben nichts mehr mit dem Gesetz als Mittel zu tun, die Wohlgefälligkeit vor Gott zu erlangen. Sie sind Kinder der Freien, sie unterstehen den gleichen stellungsmäßigen Bedingungen wie ihre Mutter.
5,1 Der letzte Vers von Kapitel 4 beschreibt die Stellung des Gläubigen. Dieser erste Vers von Kapitel 5 bezieht sich auf das praktische Verhalten – der Gläubige sollte in »Freiheit« leben. Hier haben wir ein sehr gutes Bild für den Unterschied zwischen Gesetz und Gnade. Das Gesetz sagt: »Wenn du dir deine Freiheit verdienst, wirst du frei.« Doch die Gnade sagt: »Du bist aufgrund des hohen Preises, den Christus durch seinen Tod bezahlt hat, befreit. Als Dank solltest du deshalb feststehen und dich ›nicht wieder durch ein Joch der Sklaverei belasten‹ lassen.« Das Gesetz gebietet, gibt jedoch nicht die Fähigkeit zum Gehorsam. Die Gnade schenkt, was das Gesetz verlangt. Sie ermöglicht dem Menschen dann, ein Leben zu führen, das durch die Kraft des Heiligen Geistes seiner Stellung entspricht. Die Gnade belohnt ihn anschließend für ein solches Leben. C. H. Mackintosh sagt dazu: »Das Gesetz fordert Kraft von dem, der sie nicht hat, und verflucht ihn, wenn diese Kraft nicht in seinem Leben deutlich wird. Das Evangelium gibt demjenigen Kraft, der keine hat, und eignet ihm den Segen zu, während er diese Kraft nach außen hin zeigt.«18
Dem, was dein Gesetze spricht, kann mein Werk genügen nicht. Mag ich ringen, wie ich will, fließen auch der Tränen viel, tilgt das doch nicht meine Schuld, Herr, mir hilft nur deine Huld! Augustus Toplady,
deutscher Nachdichter unbekannt III. Praktisch: Paulus verteidigt die christliche Freiheit im Geist (5,2 – 6,18) A. Die Gefahr der Gesetzlichkeit (5,2-15)
5,2 Durch Gesetzlichkeit wird Christus letztlich bedeutungslos. Die judaistischen Irrlehrer bestanden auf der Notwendigkeit, dass heidnische Gläubige sich zur Errettung »beschneiden« lassen müssten. Paulus, der hier mit der Autorität eines Apostels spricht, betont nochmals, was ein Beharren auf der Beschneidung bedeutet: »Christus (wird) euch nichts nützen«, sagt er. Jack Hunter schreibt: In der galatischen Gemeindesituation war die Beschneidung für Paulus nicht nur eine kleine Operation oder eine bloße religiöse Zeremonie. Sie stand vielmehr für die Ordnung der Errettung durch gute Werke. Sie verkündigte ein Evangelium der menschlichen Machbarkeit ohne göttliche Gnade. Hier ersetzte das Gesetz die Gnade; Mose ersetzte Christus. Christus etwas hinzuzufügen, bedeutet nämlich, ihn ganz wegzunehmen. Wer Christi Werk ergänzen will, ersetzt es letztendlich. Christus ist der einzige Retter – allein und ausschließlich. Beschneidung hieße Trennung von Christus.19
5,3 Das Gesetz erfordert, dass man »das ganze Gesetz zu tun schuldig ist«. Menschen unter dem Gesetz können nicht die einfachen Gebote annehmen und andere ablehnen. Wenn jemand versucht, Gott zu gefallen, indem er sich beschneiden lässt, dann ist er verpflichtet, »das ganze Gesetz« zu befolgen. Deshalb steht der Mensch entweder ganz oder gar nicht unter dem Gesetz. Offensichtlich hat Christus für ihn keinen Wert, wenn er völlig unter dem Gesetz steht. Der Herr rettet nicht nur in jeder Beziehung, sondern schließt auch andere Heilswege aus. Paulus bezieht sich in diesem Vers nicht auf Menschen, die in der Vergangenheit beschnitten wurden. Vielmehr meint er diejenigen, die sich vielleicht jetzt diesem Ritus unterziehen wollten, um vollständige Rechtfertigung zu erlangen. Er wendet sich an jene, die der Auffassung sind, dass man verpflichtet ist, das Gesetz zu halten, um von Gott angenommen zu sein.
5,4 Gesetzlichkeit bedeutet, dass man Christus als einzige Hoffnung der Rechtfertigung aufgibt. Dieser Vers hat weitreichende Diskussionen verursacht. Viele verschiedene Auslegungen sind vorgebracht worden, doch man kann sie etwa folgendermaßen in drei Gruppen einteilen:
1. Nach der Ansicht vieler Ausleger lehrt Paulus hier, es sei möglich, dass ein Mensch wirklich errettet ist, dann in Sünde und damit aus der Gnade fällt und für immer verlorengeht. Diese Anschauung ist als »Abfallhypothese« bekannt geworden. Wir glauben, dass diese Auslegung aus zwei zwingenden Gründen nicht fundiert ist: Erstens beschreibt dieser Vers keine Erlösten, die in Sünde fallen. Es gibt hier überhaupt keine Erwähnung dessen, dass jemand in Sünde gefallen ist. Stattdessen spricht der Vers von denen, die ein sittliches, rechtschaffenes und aufrechtes Leben führen und hoffen, dadurch gerettet zu werden. Damit wäre dieser Abschnitt ein Bumerang für diejenigen, die versuchen, mit diesem Vers die »Abfallhypothese« zu stützen. Sie lehren, dass ein Christ das Gesetz halten, ein vollkommenes Leben führen und sich jeglicher Art der Sünde enthalten muss, um errettet zu bleiben. Doch diese Schriftstelle besteht darauf, dass alle, die versuchen, durch Gesetzeswerke und eigene Anstrengung gerechtfertigt zu werden, »aus der Gnade gefallen« sind. Zweitens widerspricht eine solche Auslegung dem allgemeinen, durchgängigen Zeugnis des NT. Dort wird ausgesagt, dass jeder wahre Gläubige an den Herrn Jesus auf ewig errettet ist, kein Schaf Christi jemals verlorengeht und die Erlösung völlig auf dem vollendeten Werk des Heilands und nicht auf den schwachen Bemühungen des Menschen beruht (Joh 3,16.36; 5,24; 6,47; 10,28).
2. Eine zweite Auslegung dieses Verses lautet, dass er sich auf diejenigen bezieht, die einmal durch Glauben an den Herrn Jesus gerettet wurden, sich aber später unter das Gesetz stellen, um ihre Erlösung zu bewahren oder Heiligung zu erlangen. Mit anderen Worten, sie waren durch die Gnade gerettet, doch nun versuchen sie, durch das Gesetz in der Gnade bewahrt zu werden. In diesen Fall heißt »aus der Gnade fallen«, wie Philip Mauro es ausdrückt, »sich von Gottes Weg zur Vervollkommnung seiner Heiligen durch das Werk des Geistes in ihnen abzuwenden. Sie suchen dieses Ziel dadurch zu erreichen, dass sie äußere Riten und Zeremonien einhalten, die fleischliche Menschen genauso gut befolgen können wie Heilige Gottes«.
Diese Ansicht ist schriftwidrig, weil der Vers erstens hier keine Christen im Bemühen um Heiligung, sondern Unerlöste beschreibt, die Rechtfertigung durch Gesetzeswerke suchen. Man beachte die Wortwahl – »die ihr im Gesetz gerechtfertigt werden wollt«. Und zweitens geht diese Auslegung davon aus, dass Errettete später noch von Christus getrennt werden können, und das widerspricht einer angemessenen Sichtweise hinsichtlich der Gnade Gottes. 3. Die dritte Auslegung lautet, dass Paulus von Menschen spricht, die sich vielleicht zum Christentum bekennen, doch nicht wirklich errettet sind. Sie versuchen, die Rechtfertigung durch Gesetzeswerke zu erlangen. Der Apostel sagt ihnen, dass sie keine zwei Erlöser haben können, sie müssen sich zwischen Christus und dem Gesetz entscheiden. Wenn sie das Gesetz wählen, dann sind sie von Christus als ihrer einzig möglichen Hoffnung auf Rechtfertigung getrennt, sie sind »aus der Gnade gefallen«. Hogg und Vine drücken das deutlich aus:
Christus muss uns alles oder aber nichts sein, begrenztes Vertrauen oder ein geteilter Treueid ist für ihn nicht annehmbar. Derjenige, der durch die Gnade des Herrn Jesus Christus gerechtfertigt ist, ist ein Christ. Wer jedoch versucht, durch Gesetzeswerke gerechtfertigt zu werden, ist kein Christ.20
5,5 Der Apostel zeigt, dass die Hoffnung des wahren Gläubigen sich sehr deutlich von der Erwartung des Gesetzlichen unterscheidet. Der Christ erwartet »die Hoffnung der Gerechtigkeit«. Er hofft auf die Zeit der Wiederkunft des Herrn, wenn er einen verherrlichten Leib empfangen und es keine Sünde mehr geben wird. Man beachte, dass es nicht heißt, dass der Christ auf die Gerechtigkeit hofft, sondern er ist schon gerecht vor Gott durch den Herrn Jesus Christus (2. Kor 5,21). Doch erwartet er den Augenblick, an dem er selbst völlig gerecht sein wird. Er hofft nicht, Gerechtigkeit durch irgendwelche Taten, sondern »durch den Geist« und »aus Glauben« zu erlangen. Der Heilige Geist wird alles tun, und der Gläubige erwartet einfach von Gott im Glauben, dass er es verwirklicht. Der Gesetzliche dagegen hofft darauf, seine Gerechtigkeit durch seine eigenen Werke, durch das Halten des Gesetzes oder durch religiöse Zeremonien zu erlangen. Es handelt sich um eine vergebliche Hoffnung, weil man auf diese Weise keine Gerechtigkeit erlangen kann. Man beachte, dass Paulus das Pronomen »wir« in diesem Vers benutzt, und sich damit auf echte Christen bezieht, während er in Vers 4 das Pronomen »ihr« benutzt, wenn er von denen spricht, die ihre Rechtfertigung durch Gesetzeswerke zu erlangen suchen.
5,6 Gesetzlichkeit hat keinerlei »Kraft«. Solange es um jemanden geht, der »in Christus« (also ein Christ) ist, verhilft ihm weder die »Beschneidung« zu einem besseren Stand, noch macht ihn das »Unbeschnittensein« irgendwie schlechter. Was Gott beim Gläubigen sucht, ist »der durch Liebe wirksame Glaube«. »Glaube« ist völlige Abhängigkeit von Gott. »Glaube« ist nicht untätig, sondern zeigt sich im selbstlosen Dienst für Gott und Menschen. Das Motiv für all diesen Dienst ist die Liebe. So wirkt »der Glaube durch Liebe«, nicht durch das Gesetz. Das ist eine Wahrheit, die sich oft in der Schrift findet: Gott ist nicht an Riten interessiert, sondern an einem echten Lebenswandel, der sich an seinen Maßstäben orientiert.
5,7 Gesetzlichkeit ist Ungehorsam gegenüber der »Wahrheit«. Die Galater hatten im christlichen Leben gut angefangen, doch jemand hatte sie »gehindert«. Damit waren die judaistischen Irrlehrer gemeint – die Gesetzestreuen, die falschen Apostel. Indem die Heiligen ihre Irrlehren annahmen, waren sie »der Wahrheit« Gottes ungehorsam.
5,8 Gesetzlichkeit ist keine göttliche Lehre. »Überredung« bedeutet hier Glaube oder Lehre. »Der, der euch ruft«, ist Gott. Deshalb kommt der Glaube, dass die Beschneidung und das Halten des Gesetzes zum Glauben an Christus hinzugefügt werden müssten, nicht von Gott, sondern vom Teufel.
5,9 Gesetzlichkeit führt immer mehr zum Schlechten. »Sauerteig« ist in der Bibel ein Symbol für das Böse. Hier bezieht es sich auf die Irrlehre der judaistischen Lehrer. Hier geht es um das natürliche Bestreben von »Sauerteig« oder Hefe, das gesamte Mehl zu durchdringen, mit dem es in Kontakt kommt. Dieses Bild wird hier als Beispiel dafür benutzt, dass »ein wenig« Irrtum unausweichlich zu mehr Durchsäuerung führt. Das Böse ist niemals statisch. Es muss seine Lügen verteidigen, indem es neue Lügen erfindet. Gesetzlichkeit gleicht dem Knoblauch: Wenn man Knoblauch gegessen hat, verbreitet man unweigerlich seinen durchdringenden Geruch. Wenn auch nur wenige in einer Gemeinde eine Irrlehre vertreten, werden sie immer mehr Anhänger gewinnen, es sei denn, man hindert sie energisch daran.
5,10 Gesetzlichkeit bringt das Gericht über deren Lehrer mit sich. Paulus war zuversichtlich, dass die Galater die Irrlehren ablehnen würden. Sein »Vertrauen« begründete sich »im Herrn«. Dies kann bedeuten, dass der Herr Paulus in dieser Hinsicht eine Verheißung geschenkt hat. Vielleicht ist damit auch gemeint, dass Paulus sich sicher war, weil er den Herrn so genau kannte. Er wusste, dass der Herr die abgeirrten Schafe zurückbringen würde, vielleicht sogar durch den Brief, den Paulus gerade an sie schrieb. Die Irrlehrer selbst würden von Gott bestraft werden. Es ist eine ernsthafte Angelegenheit, Irrlehren zu verbreiten und damit eine Gemeinde zu zerstören (1. Kor 3,17).
5,11 Gesetzlichkeit beseitigt das »Ärgernis des Kreuzes«. Paulus antwortet nun auf die absurde Anklage, dass sogar er zuweilen die Notwendigkeit der Beschneidung predigte. Er wird noch immer von den Juden »verfolgt«. Das würde aufhören, sobald er die »Beschneidung« verkündigen würde. Dies hieße aber auch, dass er nicht mehr das »Kreuz« predigen könnte. Das Kreuz ist dem Menschen ein »Ärgernis«. Es ist ihm ein Anstoß oder bringt ihn zu Fall, weil es ihm sagt, dass es nichts gibt, das er tun kann, um sich das Heil zu verdienen. Es lässt dem Fleisch und seinen Bemühungen keinen Raum. Es verkündigt das Ende der menschlichen Werke. Wenn Paulus Werke einführen würde, indem er die Beschneidung predigte, dann würde er die gesamte Bedeutung des Kreuzes verdrehen.
5,12 Der Wunsch des Apostels, dass die Unruhestifter »sich verschneiden lassen« mögen, kann durchaus wörtlich verstanden werden; er wünscht ihnen die Kastration. Sie waren so eifrig im Gebrauch des Messers, um andere zu beschneiden; sollte doch nun das Messer benutzt werden, um sie zu entmannen! Es ist aber wohl eher die Auslegung vorzuziehen, diese Worte bildlich zu verstehen; mit anderen Worten, Paulus wünscht sich, dass die falschen Lehrer von den Galatern abgeschnitten (d. h. getrennt) würden.
Das Evangelium der Gnade ist immer wieder angeklagt worden, dass es den Menschen erlaube, so zu leben, wie sie möchten. Man sagt: »Wenn die Erlösung nur aus dem Glauben geschieht, dann hat dies keinerlei Einfluss mehr auf das Leben des Menschen nach der Erlösung.« Doch der Apostel weist hier unvermittelt darauf hin, dass mit der christlichen Freiheit kein Freibrief zur Sünde gemeint ist. Der Maßstab des Gläubigen ist das Leben des Herrn Jesus, und die Liebe zu Christus treibt ihn dazu, die Sünde zu hassen und Heiligung zu lieben. Vielleicht war es in den Augen des Paulus hier besonders nötig, seine Leser vor dem anderen Extrem zu warnen. Wenn Menschen eine Zeit lang unter den Begrenzungen des Gesetzes leben und dann ihre Freiheit wiedererlangen, dann besteht immer die Gefahr, vom Extrem der Knechtschaft in das Extrem der Achtlosigkeit und Nachlässigkeit zu fallen. Die richtige Balance ist die Freiheit zwischen Gesetz und grenzenloser Zügellosigkeit. Der Christ ist vom Gesetz befreit, aber nicht gesetzlos.
5,13 Christliche »Freiheit« erlaubt keine Sünde, sondern ermutigt zu liebevollem Dienst. »Liebe« wird hier als Motiv christlichen Verhaltens gesehen, während unter dem Gesetz das Motiv die Angst vor Strafe ist. Findlay sagt: »Sklaven der Liebe sind die wirklichen Freien.« Die christliche Freiheit liegt in Christus Jesus begründet (2,4), und das schließt jeden Gedanken daran aus, dass hier Freiheit zur Sünde gemeint sein könnte. Wir dürfen unsere Freiheit nie als Ausgangsbasis »für das Fleisch« missbrauchen. So wie eine Invasionsarmee versuchen wird, einen Brückenkopf zu erobern und von dort aus weitere Eroberungszüge zu planen, so wird das Fleisch schon geringe Zugeständnisse nutzen, um Territorium zu gewinnen.
Eine angemessene Art, unsere Freiheit zu gebrauchen, besteht im Folgenden: »Macht es euch zur Angewohnheit, Sklaven des anderen zu sein.« A. T. Pierson sagt:
Wahre Freiheit findet sich nur im Gehorsam gegenüber der nötigen Beschränkung. Ein Fluss kann nur zwischen seinen Ufern frei dahinfließen, ohne sie würde er sich in einen schleimigen, stinkenden Pfuhl verwandeln. Planeten, die nicht durch Gesetze gehalten werden, würden nur sich selbst und Teile des Universums zerstören. Dasselbe Gesetz, das die Sünder mit einem schützenden Zaun umgibt, schließt auch andere aus. Die Beschränkungen, die unsere Freiheit kontrollieren, machen sie sicher und beschützen sie. Nicht Kontrolle an sich, sondern die richtige Art von Kontrolle sowie freudiger Gehorsam machen den betreffenden Menschen frei.21
5,14 Zunächst scheint es befremdend, dass Paulus hier noch einmal das Gesetz anführt, nachdem er im gesamten Brief betont hat, dass die Gläubigen ihm nicht unterworfen sind. Er will hier seine Leser nicht zum Gesetz zurückführen. Vielmehr möchte er zeigen, dass genau das, was das Gesetz fordert (aber nicht erbringen kann), durch die praktische Anwendung christlicher Freiheit entsteht.
5,15 Gesetzlichkeit führt unausweichlich zu Streit, und offensichtlich war das auch in Galatien so. Wie sonderbar! Hier waren Menschen, die unter dem Gesetz leben wollten. Das Gesetz fordert von ihnen, ihren Nächsten zu lieben, und doch geschah das genaue Gegenteil davon. Sie zankten sich gegenseitig und gingen förmlich aufeinander los. Dieses Verhalten geht auf das Fleisch zurück, dem das Gesetz Raum gibt und worauf es einwirkt.
B. Die Kraft zur Heiligung (5,16-25)
5,16 Der Gläubige sollte »im Geist« wandeln, nicht im Fleisch. »Im Geist« oder durch den Geist zu wandeln, bedeutet, ihm zu erlauben, seine Absichten auszuführen. Es heißt, in Gemeinschaft mit ihm zu bleiben. Es heißt, Entscheidungen im Licht seiner Heiligkeit zu treffen. Es heißt, sich mit Christus zu befassen, weil der Dienst des Geistes darin besteht, den Gläubigen mit dem Herrn zu beschäftigen. Wenn wir so »im Geist wandeln«, sehen wir das »Fleisch« oder den Eigenwillen als mit dem Herrn gestorben an. Wir können uns nicht gleichzeitig mit Christus beschäftigen und sündigen. Scofield schreibt:
Das Problem des christlichen Lebens beruht auf der Tatsache, dass der Christ, solange er in dieser Welt lebt, sozusagen aus zwei Bäumen besteht – aus dem alten Baum des Fleisches, und dem neuen Baum der göttlichen Natur, die durch die Wiedergeburt eingepfropft wurde. Das Problem besteht nun darin, wie der alte Baum unfruchtbar bleibt und der neue dagegen Früchte bringt. Das Problem wird durch einen Wandel im Geist gelöst.22
Dieser und die folgenden Verse zeigen, dass das »Fleisch« im Christen noch besteht. Deshalb ist die Vorstellung abzulehnen, die Sündennatur könne ausgerottet werden.
5,17 »Der Geist« und »das Fleisch« stehen miteinander im ständigen Konflikt. Gott hätte den Gläubigen ihre Fleischesnatur zur Zeit der Bekehrung nehmen können, doch es gefiel ihm, es nicht zu tun. Warum? Er wollte die Gläubigen ständig an ihre Schwachheit erinnern, sie sollten immer von Christus als ihrem Priester und Fürsprecher abhängig sein. Dabei sollten sie unaufhörlich Gott preisen, der solche Würmer wie sie errettet hat. Statt die alte Natur wegzunehmen, hat Gott uns den Heiligen Geist gegeben, damit er in uns wohnt. Gottes Geist und unser Fleisch führen einen ständigen Kampf, und der Krieg wird andauern, bis wir beim Herrn sind. Die Aufgabe des Gläubigen im Kampf ist es, sich dem Geist hinzugeben.
5,18 Wer vom Geist geleitet wird, ist »nicht unter Gesetz«. Diesen Vers kann man auf zweierlei Weise verstehen: »Durch den Geist geleitet« ist eine Beschreibung aller Christen. Deshalb steht keiner der Christen »unter Gesetz«, d. h. sie sind nicht auf eigene Bemühungen angewiesen. Der Geist stellt sich den bösen Regungen in ihnen entgegen. Auch bedeutet »durch den Geist geleitet«, dass man über das Niveau des Fleisches emporgehoben wird und sich dem Herrn widmet. Wer auf diese Weise beschäftigt ist, kann weder ans Gesetz noch ans Fleisch denken. Der Geist Gottes führt die Menschen nicht dazu, das Gesetz als Mittel ihrer Rechtfertigung anzusehen, sondern er weist sie auf den Auferstandenen hin, der die einzige Grundlage ist, auf der sie vor Gott angenommen sind.
5,19-21 Wir haben schon vorher erwähnt, dass das Gesetz die Kraft des Fleisches anspricht. Welche Art von »Werken« bringt nun die gefallene menschliche Natur hervor? Es ist nicht schwer, »die Werke des Fleisches« zu erkennen. Sie sind allen »offenbar«. Mit »Ehebruch« (Schl 2000)23 ist eheliche Untreue gemeint. »Unzucht« ist verbotene sexuelle Bet ätigung. »Unreinheit« ist sittliche Bosheit und verbotene Sinnlichkeit. »Ausschweifung« ist schamloses Verh alten ohne Maß. »Götzendienst« bezeichnet nicht nur Bilderverehrung, sondern auch die Unmoral, die mit Dämonenanbetung einhergeht. »Zauberei« ist Okkultismus, doch das griechische Wort bedeutet auch so viel wie »Drogen«. (Vom entsprechenden Urtextwort ist unser eingedeutschter Begriff Pharmazie abgeleitet; Anm. d. Übers.) Weil bei der Zauberei Drogen benutzt wurden, wurde das Wort bald für die Gemeinschaft mit bösen Geistern und für Zaubersprüche verwendet. Damit können auch Aberglaube und der ganze »Glückskult« gemeint sein. »Feindschaften« bedeutet Hassgefühle, die sich auf einzelne Personen beziehen. Zu »Hader« gehören Streit, Zank und Zwietracht. »Eifersucht« ist Misstrauen, auch Verdächtigungen gehören dazu. Zu »Zornausbrüchen« gehören plötzliche starke Wutanfälle und von Leidenschaft motivierte Gewaltausbrüche. »Selbstsüchteleien« bezeichnen das um sich selbst kreisende Bestreben, immer »an erster Stelle stehen zu wollen«, auch auf Kosten anderer. »Zwistigkeiten« sind Spaltungen, die durch Uneinigkeit verursacht werden. »Parteiungen« sind Sekten, die sich durch eigenwillige Ansichten bilden. »Neid« ist das Missfallen am Erfolg oder Reichtum anderer. »Mord« (Schl 2000)24 ist das widerrechtliche Töten anderer. »Trinkgelage« bezieht sich auf exzessiven Alkoholgenuss. »Völlereien« sind zügellose, der Unterhaltung dienende Zusammenkünfte, die mit Trunkenheit und übermäßigem Essen einhergehen. Paulus warnt seine Leser, wie er ihnen schon vorher gesagt hat: »Die, die so etwas tun, (werden) das Reich Gottes nicht erben.« Der Abschnitt lehrt keineswegs, dass ein Trinker nicht gerettet werden könnte. Vielmehr sagt er aus, dass derjenige, dessen Leben von diesen Dingen gekennzeichnet ist, nicht erlöst ist.25 Warum sollte Paulus nun auf diese Weise an Gemeinden von bekehrten Christen schreiben? Der Grund besteht darin, dass nicht alle, die bekennen, gerettet zu sein, auch wahre Kinder Gottes sind. Deshalb lässt der Heilige Geist im NT oft auf die Darstellung wunderbarer geistlicher Wahrheiten die ernstesten Warnungen an alle folgen, die sich zum Namen Christi bekennen.
5,22.23 Es ist bedeutsam, dass der Apostel hier zwischen den Werken des Fleisches und der »Frucht des Geistes« unterscheidet. Werke werden durch menschliche Anstrengung vollbracht. »Frucht« wächst, wenn die Rebe am Weinstock bleibt (Joh 15,5). Werke und Frucht unterscheiden sich voneinander, wie eine Fabrik sich von einem Garten unterscheidet. Man beachte, dass das Wort »Frucht« in der Einzahl und nicht in der Mehrzahl steht. Der Heilige Geist bringt eine einzige Frucht hervor, nämlich Christusähnlichkeit. Alle Tugenden, die nun aufgeführt werden, beschreiben das Leben des Kindes Gottes. Dr. C. I. Scofield hat herausgestellt, dass jede einzelne Frucht dem Ackerboden des menschlichen Herzens fremd ist.
»Liebe« ist eine Eigenschaft Gottes, und wir sollten diese Eigenschaft ebenfalls besitzen. Sie wird in 1. Korinther 13 auf wunderschöne Weise beschrieben, und im Kreuz von Golgatha kann man ihre ganze Spannweite erahnen. »Freude« ist jener Zustand, worin der Betreffende nichts mehr begehrt und in Gott volle Genüge findet. Christus zeigt diese Freude in Johannes 4,34. »Friede« kann sowohl den von Gott zugeeigneten Frieden als auch harmonische Beziehungen unter Christen bezeichnen. In Lukas 8,22-25 können wir davon lesen, wie der Friede des Heilands aussah. »Langmut« ist Geduld in Anfechtung, Belästigung und Verfolgung. Ihr höchstes Vorbild finden wir in Lukas 23,34. »Freundlichkeit« ist Liebenswürdigkeit, die man vielleicht am besten in der Haltung des Herrn gegenüber Kindern sieht (Mk 10,14). »Güte« ist Freundlichkeit, die man anderen erweist. Ein Beispiel tätiger Güte finden wir, wenn wir Lukas 10,30-35 lesen. Mit »Treue« kann Vertrauen zu Gott oder zu unserem Nächsten, aber auch Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit gemeint sein. Das Letztere ist hier die wahrscheinlichere Bedeutung. »Sanftmut« bedeutet, die niedrige Stellung einzunehmen, die auch der Herr Jesus einnahm, als er seinen Jüngern die Füße wusch (Joh 13,1-17). »Enthaltsamkeit« bedeutet, dass man selbstbeherrscht ist, insbesondere auch auf sexuellem Gebiet. Unser Leben sollte diszipliniert verlaufen. Lust, Leidenschaften, Begierden, Sehnsüchte und Launen sollten unter Kontrolle gehalten werden. Wir sollten uns Mäßigung auferlegen. Dara uf hat Samuel Chadwick einmal hingewiesen:
Ein Presseartikel über diesen Abschnitt würde heute etwa so lauten: »Die Frucht des Geistes ist ein freundlicher, liebenswürdiger Charakter, ein sprühender Geist und ein freudiges Gemüt, ein stilles Wesen und ruhiges Benehmen. Sie umfasst zurückhaltende Geduld in herausfordernden Umständen und mit nervtötenden Mitmenschen, mitfühlendes Verständnis und taktvolle Hilfsbereitschaft. Ferner gehört dazu großzügige Beurteilung anderer und großherzige Spendenbereitschaft, Treue und Verlässlichkeit unter allen Umständen, Demut, die bei der Freude anderer sich selbst vergisst und in allem beherrscht sowie diszipliniert ist. Dies ist das größte Zeichen der Vollkommenheit.« Wie bezeichnend, wenn wir das mit 1. Korinther 13 vergleichen!26
Paulus beendet diese Liste mit einem kurzen Kommentar, dessen Bedeutung zunächst verborgen bleibt: »Gegen diese ist das Gesetz nicht gerichtet.« Natürlich nicht! Diese Tugenden gefallen Gott, nützen unseren Mitmenschen und sind gut für uns selbst. Doch wie wird diese Frucht hervorgebracht? Durch menschliche Anstrengung? Keinesfalls. Sie wird hervorgebracht, wenn Menschen in enger Gemeinschaft mit dem Herrn leben. Wenn sie in liebevoller Hingabe auf ihren Heiland schauen und ihm in ihrem Alltag gehorchen, dann bewirkt der Geist ein Wunder. Er verwandelt sie in Ebenbilder Christi. Sie werden ihm immer ähnlicher, indem sie ihn anschauen (2. Kor 3,18). So, wie die Rebe ihr Leben und ihre Nahrung vom Weinstock erhält, so bekommt der Gläubige in Christus alle seine Kraft vom wahren Weinstock. Damit ist er imstande, ein für Gott fruchtbares Leben zu führen.
5,24 »Die aber dem Christus Jesus angehören, haben das Fleisch … gekreuzigt.« Die Zeitform27 des Verbs zeigt hier, dass etwas wirklich Vergangenes gemeint ist. Das geschah bei unserer Bekehrung. Als wir Buße taten, nagelten wir in gewissem Sinne unsere alte, böse und verdorbene Natur mit ihren Leidenschaften und Begierden ans Kreuz. Wir haben beschlossen, nicht mehr der sündigen Natur gefallen zu wollen und uns nicht länger von ihr beherrschen zu lassen. Natürlich muss diese Entscheidung in unserem Leben immer wieder erneuert werden. Wir müssen das Todesurteil über das Fleisch fortwährend aufrechterhalten.
5,25 »Wenn« hat hier die Bedeutung von »weil«. Weil wir durch das Werk des Heiligen Geistes in uns ewiges Leben haben, so sollen wir dieses Leben auch in der Kraft desselben Geistes führen. Das Gesetz konnte niemals Leben geben und war auch nie als Lebensregel für den Christen gedacht.
C. Praktische Ermahnungen (5,26 – 6,10)
5,26 In diesem Vers werden drei Haltungen genannt, die wir meiden sollten: 1. Eitle Ehre – »Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten«, womit wörtlich gemeint ist: Wir sollen keine falsche oder realitätsferne Meinung (von uns selbst) besitzen. Gott möchte nicht, dass Christen sich brüsten oder prahlerische Angeber sind. Dies passt nicht zu der Tatsache, dass wir Sünder sind, die durch die Gnade errettet wurden. Unter dem Gesetz lebende Menschen werden oft stolz auf ihre kleinen Erfolge und verspotten diejenigen, die nicht an ihre Maßstäbe heranreichen. Gesetzliche Christen überschütten häufig andere Gläubige mit ihrer Kritik, wenn für diese nicht die gleiche Liste der unter Christen verschieden gesehenen »Zwischendinge« maßgeblich ist, die von ihnen verurteilt werden.
2. Herausforderung – »… indem wir einander herausfordern«. Wir verleugnen unser geisterfülltes Leben, wenn wir andere Menschen auffordern oder veranlassen, unseren privaten Ansichten zu entsprechen. Man kennt niemals die Probleme und Versuchungen, unter denen der andere leidet, denn wir stecken nicht in seiner Haut. 3. Neid – »… indem wir … einander beneiden«. Neid ist insbesondere die Sünde, etwas zu wollen, das jemand anderem gehört und worauf man selbst kein Anrecht hat. Man neidet dem anderen den größeren Erfolg, seine Talente, seinen Besitz oder sein gutes Aussehen. Menschen, die wenige Talente oder einen schwachen Charakter besitzen, tendieren dazu, diejenigen zu beneiden, die scheinbar erfolgreicher das Gesetz halten. All diese Merkmale haben mit der Gnade jedoch nichts zu tun. Ein wahrer Gläubiger sollte andere höher achten als sich selbst. Gesetzestreue wollen fälschlicherweise Ehre für sich selbst einfordern. Es ist echte Größe, wenn man dient und arbeitet, ohne bemerkt und gesehen zu werden.
6,1 Hier haben wir eine liebevolle Aussage darüber, wie ein in Sünde geratener Bruder von seinen Mitchristen behandelt werden soll. Das steht natürlich im scharfen Kontrast zum Gesetz, worin das Gericht über den Sünder gefordert wird. Wenn jemand »von einem Fehltritt übereilt wird«, so haben wir jemanden vor uns, der eine einzelne Sünde begangen hat, aber nicht in ihr lebt. So jemand soll von »geistlichen« Christen seelsorgerlich begleitet werden. Ein fleischlicher Christ könnte durch seine vielleicht harte und ablehnende Haltung hier mehr Schaden anrichten, als Gutes zu tun. Auch wird der Sünder wahrscheinlich keinen Rat von jemandem annehmen, der selbst nicht mit dem Herrn lebt. Dieser Vers wirft eine interessante Frage auf. Wenn jemand wirklich geistlich ist, würde er das von sich selbst sagen können? Sind sich geistliche Menschen nicht viel mehr als andere ihrer Fehler bewusst? Wer würde dann das Werk der Ermahnung auf sich nehmen, wenn er sich dadurch als »Geistlicher« auszeichnet? Würde das nicht mangelnde Demut verraten? Die Antwort lautet: Ein wirklich Geistlicher wird sich nie seines Zustands rühmen, doch er wird das mitfühlende Herz eines Hirten haben, das ihn zur Ermahnung des Sünders treibt. Er wird nicht im Geist des Stolzes oder der Überlegenheit handeln, sondern »im Geist der Sanftmut«, weil er sich daran erinnert, dass auch er »versucht« werden könnte.
6,2 »Lasten« sind hier Fälle des Versagens, Versuchungen, Prüfungen und Anfechtungen. Statt aus der Ferne zu kritisieren, sollten wir dem Bruder zu Hilfe eilen, der sich in Schwierigkeiten oder Verzweiflung befindet, und ihm auf jede nur erdenkliche Weise helfen. »Das Gesetz des Christus« schließt alle Gebote des Herrn Jesus für sein Volk ein, die wir im NT finden. Man kann es mit den Worten zusammenfassen »… dass ihr einander liebt« (Joh 13,34; 15,12). Wir erfüllen dies, wenn wir »einer … des anderen Lasten« tragen. »Das Gesetz des Christus« unterscheidet sich von demjenigen des Mose. Das mosaische Gesetz verheißt das Leben im Falle des Gehorsams, doch es gibt nicht die Kraft zum Gehorsam. Außerdem kann es den Gehorsam nur durch die Furcht vor Strafe erreichen. »Das Gesetz des Christus« dagegen ist die liebevolle Belehrung für diejenigen, die das Leben schon haben. Die Gläubigen besitzen durch den Heiligen Geist die Kraft, diese Vorschriften zu halten, wobei ihre Motivation Liebe zu Christus ist.
6,3 Wir sind alle aus demselben Holz geschnitzt. Wenn wir einen Bruder sündigen sehen, dann sollten wir uns daran erinnern, dass es uns selbst auch hätte so gehen können. Wenn ein Christ einen Überlegenheitskomplex hat, dann betrügt er sich selbst. Wir sollten niemals denken, dass es unter unserer Würde sei, die Lasten anderer zu tragen.
6,4 Dies hier ist anscheinend eine Warnung gegen die Angewohnheit, sich mit anderen zu vergleichen und dabei Genugtuung zu empfinden. Der Apostel weist darauf hin, dass am Richterstuhl Christi jeder einzeln beurteilt wird, ohne dass Vergleiche mit anderen gezogen werden. Deshalb sollten wir auf uns achten, damit wir in der Lage sind, uns über unser »Werk« zu freuen, und nicht über das Versagen anderer.
6,5 In Vers 2 lehrt Paulus, dass wir unsere Sorgen, unsere Leiden und unsere Probleme des gegenwärtigen Lebens miteinander teilen sollen. In Vers 5 geht es um den Gedanken, dass jeder von uns »seine eigene Bürde« der Verantwortung vor dem Richterstuhl Christi zu tragen hat.
6,6 Gläubige sind dafür verantwortlich, für den Lebensunterhalt ihrer christlichen Lehrer zu sorgen. »An allen Gütern« Anteil haben zu lassen, bedeutet, mit ihnen die materiellen Dinge des Lebens zu teilen und sie auch durch Gebet und rechtes Interesse zu unterstützen.
6,7 Obwohl andere es nicht bemerken werden, wenn wir die Diener Gottes vernachlässigen, so wird Gott es doch sehen und uns die entsprechende Ernte geben. Wir »ernten«, was wir säen, und wir ernten mehr, als wir gesät haben. Wenn ein Bauer Weizen sät, so wird er Weizen ernten, dreißig-, sechzig- oder hundertfältig. Scofield merkt an, dass »der Geist hier nicht zu Sündern von ihrer Sünde spricht, sondern zu Heiligen über ihre Kleinlichkeit, was die Unterstützung von Dienern des Herrn angeht«.
Natürlich ist es im weiteren Sinne auch wahr, dass diejenigen, »die Unheil pflügen und Mühsal säen«, entsprechend ernten (Hiob 4,8). Ebenso gilt, dass diejenigen, die »Wind säen …, Sturm ernten« (Hos 8,7). J. A. Froude, der Historiker, sagte: »Eine Lehre, und zwar nur eine, findet sich in der Geschichte immer wieder: Es ist die Tatsache, dass die Welt in gew isser Weise auf moralischen Grundsätzen beruht, sodass es, auf lange Sicht ges ehen, mit den Guten gut steht und über die Bösen Unheilvolles hereinbricht.«28
6,8 Obwohl es allgemein stimmt, dass wir ernten, was wir säen, sollten wir hier doch anmerken, dass auf diese Erinnerung eine Ermahnung zum christlichen Geben folgt. In diesem Licht betrachtet, sehen wir, was es bedeutet, »auf das Fleisch« zu »säen«: Man gibt sein Geld für sich selbst aus und lebt zum eigenen Vergnügen sowie zur eigenen Bequemlichkeit. »Auf den Geist« zu »säen«, bedeutet, dass man sein Geld für die Förderung der Interessen Gottes einsetzt. Diejenigen, die das Erstere tun, werden Enttäuschung und Verlust schon hier auf der Erde erfahren. Sie bemerken nämlich beim Älterwerden, dass das Fleisch, dem sie in ihrem Leben zu gefallen suchten, vergänglich ist und dem Tod entgegengeht. Und im kommenden Zeitalter werden sie ihren ewigen Lohn verlieren. Wer jedoch »auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten«. Es gibt zwei Arten, wie das Wort »ewiges Leben« in der Bibel verwendet wird (dasselbe Wort, das auch mit ewig übersetzt wird): 1. Das ewige Leben ist gegenwärtig Eigentum jedes Gläubigen (Joh 3,36). 2. Es ist das Leben, das der Gläubige empfängt, wenn er sein Leben hier auf Erden beendet (Röm 6,22). Diejenigen, die »auf den Geist« säen, freuen sich schon hier am ewigen Leben auf eine Weise, die anderen Christen unbekannt ist. Außerdem werden sie einst den Lohn ernten, den es für Treue gibt, wenn sie ihre himmlische Heimat erreicht haben.
6,9 Damit keiner entmutigt wird, erinnert Paulus daran, dass der Lohn sicher ist, auch wenn man ihn nicht sofort empfängt. Man kann ein Feld nicht am Tag nach der Saat abernten. So ist es auch im geistlichen Bereich, der Lohn für treues Säen folgt ganz gewiss »zur bestimmten Zeit«.
6,10 Die »Hausgenossen des Glaubens« sind alle, die gerettet sind, ohne dass es dabei auf ihre Konfession oder Gemeindezugehörigkeit ankommt. Unsere Freundlichkeit soll sich nicht nur auf Gläubige beschränken, doch wir sollten sie ihnen auf besondere Weise zeigen. Wir sollten dabei stets auf das Positive und nicht auf das Negative sehen. Uns sollte nicht so sehr beschäftigen, wie wenig Schaden wir zufügen, sondern vielmehr, wie viel Gutes wir tun können. John Wesley hat es in prägnanter Weise folgendermaßen ausgedrückt: »Tue allen Menschen auf alle mögliche Art Gutes, und zwar solange du kannst.«
D. Briefschluss (6,11-18)
6,11 »Seht, mit was für großen Buchstaben ich euch mit eigener Hand geschrieben habe.« Statt diesen Brief einem Mitarbeiter zu diktieren, wie er es normalerweise tat, hat Paulus diesen Brief selbst geschrieben. Die »großen Buchstaben«, mit denen er schrieb, können seine tiefen Gefühle bei der Bekämpfung der Gesetzeslehrer und die Tatsache andeuten, wie ernst er die judaistische Irrlehre nahm. Es kann jedoch auch bedeuten, dass er schlechte Augen hatte, wie viele aus diesem und anderen Abschnitten geschlossen haben. Wir sind der Ansicht, dass die letztere Ansicht die richtige ist.
6,12 Die judaistischen Irrlehrer wollten »im Fleisch gut angesehen sein«, indem sie sich eine große Anhängerschaft aufbauten. Sie konnten das tun, indem sie auf der Beschneidung bestanden. Menschen sind oft nur zu bereit, sich an Riten und Zeremonien zu halten, solange nicht von ihnen verlangt wird, ihre Gewohnheiten zu ändern. Es ist heute üblich, sich eine große Gemeindemitgliedschaft zu sichern, indem man die Maßstäbe heruntersetzt. Paulus durchschaut die Unehrlichkeit der falschen Lehrer und wirft ihnen fehlende Bereitschaft vor, Verfolgung »um des Kreuzes Christi willen« zu erdulden. Das Kreuz bedeutet die Verurteilung des Fleisches und seiner Versuche, Gott zu gefallen. Das Kreuz spricht das Todesurteil über die Fleischesnatur und seine edelsten Bestrebungen. Das Kreuz bedeutet Trennung vom Bösen. Deshalb hassen die Menschen die herrliche Botschaft vom Kreuz und verfolgen diejenigen, die sie predigen.
6,13 Die Gesetzeslehrer waren nicht wirklich daran interessiert, »das Gesetz« zu halten. Sie wollten nur einen einfachen Weg finden, viele Anhänger zu gewinnen, sodass sie sich einer langen Mitgliederliste »rühmen« könnten. Boice sagt: »Dies war der Versuch, andere für etwas zu gewinnen, das in sich bereits zugrunde gerichtet war, denn noch nicht einmal diejenigen, die sich beschneiden ließen, waren in der Lage, das Gesetz zu halten.«
6,14 Paulus’ Gründe zum Rühmen hatten ihre Ursache nicht im Fleisch, sondern im Kreuz »unseres Herrn Jesus Christus«. An diesem »Kreuz« starb Paulus der Welt und die Welt für Paulus. Wer gerettet wird, lässt das Wesen der »Welt« hinter sich. Andererseits hat die »Welt« für ihn nichts mehr übrig. Der Gläubige ist für das Leben gemäß dem Wesen der Welt nicht länger zu gebrauchen, weil er sich nicht mehr für ihre vergänglichen Vergnügungen interessiert. Die Welt hat ihre Anziehungskraft für ihn verloren, weil er den Einen gefunden hat, der volle Genüge schenkt. Findlay sagt: »Er kann nie an die Welt glauben, sich ihrer nicht rühmen noch ihr irgendwelche Ehre zukommen lassen. Sie hat für ihn ihre Herrlichkeit verloren und kann ihn nicht mehr faszinieren oder beherrschen.« So ist das »Kreuz« eine feste Grenze oder Trennungslinie zwischen der Welt und dem Kind Gottes.
6,15 Obwohl es auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag, ist dieser Vers eine der wichtigsten Aussagen über eine christliche Wahrheit im gesamten Brief. »Beschneidung« war eine äußerliche Handlung, ein Ritus. Die jüdischen Irrlehrer wollten alles von der Befolgung dieser Zeremonie abhängig machen. »Beschneidung« war die Grundlage des Judentums. Paulus wischt sie mit einem Federstrich beiseite: »Beschneidung« gilt nichts. Weder ein Ritual oder das Judentum noch die Gesetzesfrömmigkeit sind von Belang. Und dann fügt Paulus hinzu: »… noch Unbeschnittensein.« Es gibt natürlich auch Menschen, die sich rühmen, sich nicht diesem Ritus unterzogen zu haben. Mit ihrem gesamten Gottesdienst verwerfen sie praktisch alle Zeremonien. Doch auch das hat letztlich keinen Wert. Was vor Gott wirklich zählt, ist »eine neue Schöpfung«. Er möchte ein verändertes Leben sehen. Findlay schreibt: »Der wahre christliche Glaube zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen, die bisher voller Bosheit waren, gerechtfertigt werden. Aus Sklaven der Sünde werden Kinder Gottes.« Alle Menschen befinden sich in einer von zwei Schöpfungen. Sie werden in die Welt hineingeboren und sind deshalb sündig, hilflos und verloren. Alle ihre Bemühungen, sich selbst zu erlösen, oder Gott bei ihrer Erlösung durch gute Eigenschaften oder gute Taten zu helfen, sind vergeblich. Dadurch ändert sich für sie nichts. Die »neue Schöpfung« wird vom auferstandenen Christus regiert und umfasst alle, die von der Sünde erlöst sind und in ihm neues Leben erhalten haben. Weil die »neue Schöpfung« vom Anfang bis zum Ende ganz von Christus abhängt, schließt sie jeden Gedanken daran aus, sich Gottes Wohlwollen durch den eigenen Charakter oder gute Werke zu verdienen. Ein Leben in Heiligung entsteht nicht durch die Beachtung von Vorschriften, sondern dadurch, dass man sich Christus hingibt und ihm erlaubt, sein Leben im Gläubigen zu verwirklichen. Die »neue Schöpfung« ist keine Verbesserung bzw. kein Zusatz zur alten, sondern etwas völlig Neues und Unterschiedliches.
6,16 Von welcher »Richtschnur« redet Paulus hier? Es geht um die »Richtschnur« der neuen Schöpfung. Er spricht den zweifachen Segen des Friedens und der Barmherzigkeit über alle aus, die Lehren nach der Frage beurteilen: »Hat es etwas mit der neuen Schöpfung zu tun?«, und die alles ablehnen, wenn man diese Frage verneinen muss.
»Und über das Israel Gottes!« Viele sind der Ansicht, dass hier die Gemeinde gemeint ist. Doch der Begriff »Israel Gottes« bezeichnet hier die Juden, die von ihrer leiblichen Abstammung her Juden sind und den Herrn Jesus als ihren Messias angenommen haben. Es gab für diejenigen, die unter dem Gesetz lebten, weder Frieden noch Barmherzigkeit, doch sind diese Eigenschaften Teil der neuen Schöpfung.
6,17 Paulus, einst selbst Sklave des Gesetzes, ist durch den Herrn Jesus von dieser Knechtschaft befreit worden. Nun gehört er als williger Sklave dem Herrn. So wie Sklaven das Brandzeichen ihres Herrn trugen, so trug Paulus »die Malz eichen Jesu an« seinem »Leib«. Worum handelte es sich dabei? Es waren die Narben, die ihm seine Verfolger geschlagen hatten. Nun sagt er: »Niemand soll mich für sich in Anspruch nehmen können. Sprecht mir nicht von dem Brandmal der Beschneidung, das die Knechtschaft des Gesetzes bezeichnet. Ich trage das Brandmal meines neuen Meisters, Jesus Christus.«
6,18 Der Apostel will nun seine Feder niederlegen. Doch muss er noch ein Wort hinzufügen, bevor er schließen kann. Welches Wort ist das? Gnade – das Wort, das sein Evangelium so sehr auszeichnet. »Gnade«, nicht Gesetz. Das ist das Thema, mit dem er begonnen hat (1,3), und mit ihm schließt er auch. »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist, Brüder! Amen.«
1,1 Der Name »Paulus« bedeutet »unbedeutend«, »klein«. Obwohl er vielleicht körperlich dieser Beschreibung entsprochen haben mag, so war doch sein geistlicher Einfluss außerordentlich groß. Er stellt sich selbst als »Apostel Christi Jesu« vor. Das bedeutet, dass er von dem auferstandenen Herrn ausgesandt worden war, um einen besonderen Auftrag zu erfüllen. Dieser Auftrag bestand darin, den Heiden das Evangelium zu verkündigen und die großen Wahrheiten über die Gemeinde zu lehren (3,8.9). Weil der Epheserbrief sich mit der Gemeinde beschäftigt und diese Wahrheit zuerst durch die Apostel und Propheten offenbart worden ist (3,5), ist es nur angemessen, dass Paulus sich hier selbst als »Apostel« vorstellt. Es war kein Kennzeichen von Hochmut, dass er dies tat, sondern eine Erklärung, warum er mit solcher Autorität über das Thema sprechen konnte. Der Ursprung seiner Autorität wird durch die Worte ausgedrückt: »... durch Gottes Willen.« Paulus wählte sich seine Aufgabe nicht selbst. Und es war kein Mensch, der ihn ernannt hatte, sie zu tun. Es handelte sich von Anfang bis Ende um eine göttliche Berufung (Gal 1,1).
Die Empfänger des Briefes sind die »Heiligen und an Christus Jesus Gläubigen, die in Ephesus sind«. »Heilige« sind Menschen, die von Gott aus der Welt ausgesondert worden sind. Das Wort ist ein Name, der im NT für alle wiedergeborenen Gläubigen benutzt wird. Normalerweise bezieht sich das Wort eher auf die Stellung eines Gläubigen in Christus als auf das, was er aus sich selbst ist. »In Christus« sind alle Gläubigen »Heilige«, auch wenn sie als solche nicht immer heilig leben. So hat Paulus etwa die Korinther als Heilige angesprochen (1. Kor 1,2), auch wenn aus dem Brief hervorgeht, dass sie alles andere als ein geheiligtes Leben führten. Doch Gottes Wille ist es, dass unsere Lebensführung unserer Stellung entspricht: Heilige sollten heilig leben.
»… und an Christus Jesus Gläubigen.« Das Wort Gläubige ist eine Beschreibung aller wahren Christen. Das Wort kann jedoch auch »treu« bedeuten. Natürlich sollten Christen auch treu sein, indem sie zuverlässig und vertrauenswürdig sind. Doch geht es hier in erster Linie darum, dass sie »Christus Jesus« als ihren einzigen Herrn und Heiland anerkannt haben.
Zwei der ältesten Manuskripte lassen die Worte »in Ephesus« aus, obwohl sie in den meisten Handschriften enthalten sind. Viele Gelehrte sind der Ansicht, dass es sich hier um einen Rundbrief gehandelt hat, der von vielen örtlichen Gemeinden an verschiedenen Orten gelesen werden sollte, von denen die in Ephesus die wichtigste war. Jedoch berührt diese Frage weder die Echtheit des Briefes noch seinen Wert für uns.
1,2 Als Nächstes steht nun der Gruß des Apostels an die Heiligen. Jedes Wort ist von außerordentlicher geistlicher Bedeutung – ganz anders, als so mancher bedeutungslose Gruß, den wir heute benutzen.
»Gnade« bedeutet göttliche Hilfe für unser tägliches Leben. Die Leser des Paulus waren schon durch die Gnade Gottes gerettet worden, durch seine unverdiente, gnadenreiche Zuwendung zu den Verlorenen. Doch nun brauchten sie Kraft »von Gott«, um sich den Problemen, Versuchungen und Sorgen des täglichen Lebens zu stellen. Das wünscht ihnen der Apostel hier.
»Friede« bedeutet, dass der Geist des Betreffenden in allen sich ändernden Umständen des Lebens ruhig bleibt. Die Heiligen hatten schon den Frieden mit Gott erfahren, als sie sich bekehrten. Doch täglich brauchten sie den »Frieden« von Gott, d. h. die ruhige, zufriedene Haltung, die von den Umständen unabhängig ist und aus der Gewohnheit entspringt, alles mit Gott im Gebet zu besprechen (Phil 4,6.7). Es ist wichtig festzuhalten, dass die »Gnade« zuerst kommt, dann erst der »Friede«. Das ist immer die Reihenfolge. Nachdem die »Gnade« die Sündenfrage gelöst hat, kann man echten »Frieden« erfahren. Und nur durch die unverdiente Kraft, die Gott uns jeden Tag gibt, kann der Gläubige »Frieden« erfahren, vollkommenen »Frieden« in allen sich wandelnden Lebensumständen. »Gnade« (charis) ist ein typisch griechisches Wort. Die Juden benutzen das Wort »Frieden« als Gruß (hebr. schalom). Wenn man beide zusammen nimmt, dann haben wir hier »das Evangelium in der kürzesten Fassung« für die ganze Welt. Wenn wir sie zusammen sehen, dann finden wir darin die Wahrheit der neutestamentlichen Gemeinde, die Paulus so ausführlich im Epheserbrief beschreibt – Juden und Christen vereint in einem Leib in Christus.
»Gnade … und Friede« kommen »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Paulus zögerte nicht, den Herrn Jesus mit Gott dem Vater auf dieselbe Stufe zu stellen: Er ehrte den Sohn gleichermaßen wie den »Vater«. Das sollte auch bei uns so sein (Joh 5,23). Wir sollten nicht die wunderbare Verbindung der Worte »Gott, unser Vater«, übersehen. Der alleinige Gebrauch des Wortes Gott könnte den Gedanken vermitteln, dass der Eine unendlich hoch und unerreichbar ist. Der Name »Vater« hingegen spricht von dem, der ganz vertraut ist und innige Gemeinschaft mit uns pflegen will. Wenn wir die beiden nun mit dem Pronomen »unser« verbinden, dann haben wir die erstaunliche Wahrheit, dass der hohe und erhabene Gott, der in der Ewigkeit wohnt, der liebevolle Vater eines jeden ist, der durch den Glauben an den Herrn Jesus wiedergeboren ist. Der vollständige Titel unseres Heilandes ist »Herr Jesus Christus«. Als Herr ist er unser uneingeschränkter Befehlshaber, der ein Anrecht hat auf alles, was wir sind und haben. Als »Jesus« ist er unser Erlöser von der Sünde. Und als Christus ist er unser von Gott gesalbter König, Priester und Prophet. Wie viel kann allein sein Name doch dem hörenden Ohr mitteilen! B. Paulus preist Gott für die Segnungen der Gnade (1,3-14)
1,3 Nach seinem kurzen Gruß erhebt der Apostel seine Stimme zu einem wunderbaren Lobgesang und bewegt sich dabei auf den erhabensten Höhen neutestamentlicher Anbetung. Hier finden wir ein Herz, das überfließt im Lob der göttlichen Segnungen. In diesen Versen (3-14) spürt Paulus Gottes Handeln nach: von der Ewigkeit vor aller Zeit durch die Zeitalter hindurch bis in die Ewigkeit nach aller Zeit. Und damit kommt er unausweichlich auf das Geheimnis des Willens Gottes zu sprechen: Gläubige Juden und Heiden sind gemeinsam Teilhaber des herrlichen Erbes.
Er beginnt, mit einem Aufruf an alle, die Gott kennen: Sie sollen ihn preisen, d. h.  Gottes  Herzen  Freude  machen,  indem sie ihn loben und in Liebe anbeten. Der Gepriesene ist »der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus«. Bei bestimmten Gelegenheiten redete Jesus den Vater als Gott an (Matth 27,46). Dann wiederum sprach er ihn als seinen Vater an (Joh 10,30).
Der Gepriesene ist gleichzeitig der Segnende. Er segnet uns und macht uns froh, indem er uns die Reichtümer seiner Gnade schenkt.
»Er hat uns gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt in Christus.« Hier haben wir eine Gnadenpyramide:
Segnung
geistliche Segnung
jede geistliche Segnung
jede geistliche Segnung in der Himmelswelt
jede geistliche Segnung in der Himmelswelt in Christus
Man beachte zunächst, wie vorbehaltlos Gottes Herz und Hände geben – »jede geistliche Segnung«. Man beachte auch, dass es hier um geistlichen Segen geht. Das kann man am einfachsten erklären, indem man diesen Segen mit den Segnungen Israels unter dem Gesetz vergleicht. Im AT wurde ein treuer, gehorsamer Jude mit langem Leben, einer großen Familie, einer reichen Ernte und dem Schutz vor seinen Feinden belohnt (5. Mose 28,28). Die Segnungen des Christentums sind im Gegensatz dazu »geistlicher« Art, d. h. sie betreffen immaterielle, unsichtbare und unvergängliche Schätze. Es stimmt, dass die Heiligen des AT auch geistliche Segnungen erhielten, doch werden wir sehen, dass die Christen heute Segnungen empfangen, die im AT unbekannt waren.
Unsere Segnungen sind »in der Himmelswelt« (wörtl. in den Himmlischen). Der Ausdruck »in der Himmelswelt« wird im Epheserbrief fünfmal benutzt:
1,3 Der Bereich unserer geistlichen Segnungen.
1,2 Als Nächstes steht nun der Gruß des Apostels an die Heiligen. Jedes Wort ist von außerordentlicher geistlicher Bedeutung – ganz anders, als so mancher bedeutungslose Gruß, den wir heute benutzen.
»Gnade« bedeutet göttliche Hilfe für unser tägliches Leben. Die Leser des Paulus waren schon durch die Gnade Gottes gerettet worden, durch seine unverdiente, gnadenreiche Zuwendung zu den Verlorenen. Doch nun brauchten sie Kraft »von Gott«, um sich den Problemen, Versuchungen und Sorgen des täglichen Lebens zu stellen. Das wünscht ihnen der Apostel hier.
»Friede« bedeutet, dass der Geist des Betreffenden in allen sich ändernden Umständen des Lebens ruhig bleibt. Die Heiligen hatten schon den Frieden mit Gott erfahren, als sie sich bekehrten. Doch täglich brauchten sie den »Frieden« von Gott, d. h. die ruhige, zufriedene Haltung, die von den Umständen unabhängig ist und aus der Gewohnheit entspringt, alles mit Gott im Gebet zu besprechen (Phil 4,6.7). Es ist wichtig festzuhalten, dass die »Gnade« zuerst kommt, dann erst der »Friede«. Das ist immer die Reihenfolge. Nachdem die »Gnade« die Sündenfrage gelöst hat, kann man echten »Frieden« erfahren. Und nur durch die unverdiente Kraft, die Gott uns jeden Tag gibt, kann der Gläubige »Frieden« erfahren, vollkommenen »Frieden« in allen sich wandelnden Lebensumständen. »Gnade« (charis) ist ein typisch griechisches Wort. Die Juden benutzen das Wort »Frieden« als Gruß (hebr. schalom). Wenn man beide zusammen nimmt, dann haben wir hier »das Evangelium in der kürzesten Fassung« für die ganze Welt. Wenn wir sie zusammen sehen, dann finden wir darin die Wahrheit der neutestamentlichen Gemeinde, die Paulus so ausführlich im Epheserbrief beschreibt – Juden und Christen vereint in einem Leib in Christus.
»Gnade … und Friede« kommen »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Paulus zögerte nicht, den Herrn Jesus mit Gott dem Vater auf dieselbe Stufe zu stellen: Er ehrte den Sohn gleichermaßen wie den »Vater«. Das sollte auch bei uns so sein (Joh 5,23). Wir sollten nicht die wunderbare Verbindung der Worte »Gott, unser Vater«, übersehen. Der alleinige Gebrauch des Wortes Gott könnte den Gedanken vermitteln, dass der Eine unendlich hoch und unerreichbar ist. Der Name »Vater« hingegen spricht von dem, der ganz vertraut ist und innige Gemeinschaft mit uns pflegen will. Wenn wir die beiden nun mit dem Pronomen »unser« verbinden, dann haben wir die erstaunliche Wahrheit, dass der hohe und erhabene Gott, der in der Ewigkeit wohnt, der liebevolle Vater eines jeden ist, der durch den Glauben an den Herrn Jesus wiedergeboren ist. Der vollständige Titel unseres Heilandes ist »Herr Jesus Christus«. Als Herr ist er unser uneingeschränkter Befehlshaber, der ein Anrecht hat auf alles, was wir sind und haben. Als »Jesus« ist er unser Erlöser von der Sünde. Und als Christus ist er unser von Gott gesalbter König, Priester und Prophet. Wie viel kann allein sein Name doch dem hörenden Ohr mitteilen! B. Paulus preist Gott für die Segnungen der Gnade (1,3-14)
1,2 Der Ort, an dem Christus gegenwärtig regiert.
2,6 Der Ort, an dem wir gegenwärtig in Christus regieren.
3,10 Der Ort, von dem aus die Engel die Weisheit Gottes, wie sie sich in der Gemeinde zeigt, beobachten können. 6,12 Der Bereich, der der Ursprung unseres gegenwärtigen Konflikts mit den bösen Geistern ist.
Wenn wir diese Abschnitte zusammen sehen, dann haben wir eine wirklich schriftgemäße Definition des Begriffs »Himmelswelt«. Unger drückt es folgendermaßen aus: Die Himmelswelt umfasst »den Stellungs- und Erfahrungsbereich des Gläubigen, der ihm aufgrund seiner Vereinigung mit Christus durch die Taufe mit dem Heiligen Geist zug eeignet ist«. Alle »geistlichen Segnungen« erhalten wir in Christus. Er war derjenige, der sie für uns durch sein vollendetes Werk auf Golgatha erlangte. Nun sind sie für uns in ihm erreichbar. Alles, was Gott für den Gläubigen vorgesehen hat, liegt im Herrn Jesus bereit. Um diese Segnungen empfangen zu können, müssen wir durch den Glauben mit Christus eins sein. In dem Augenblick, in dem der Mensch in Christus ist, wird er zum Eigentümer all dieser Segnungen. Chafer schreibt: »Wer in Christus ist (eine Stellung, die allen Err etteten zugeeignet ist), hat an all dem Anteil, was Christus getan hat, was er jetzt ist, und was er einmal sein wird.«2
In Christus ist eines der Schlüsselworte des Epheserbriefes. Es gibt zwei eng verbundene Wahrheiten im NT – die Wahrheit hinsichtlich der Stellung des Gläubigen und die Wahrheit bezüglich seines praktischen Lebens.
Zunächst kommt die Stellung des Gläubigen. Jeder Mensch auf der Welt ist entweder »in Adam« oder »in Christus«. Diejenigen, die »in Adam« sind, leben noch in ihren Sünden und stehen deshalb unter dem Urteil Gottes. Es gibt nichts, was sie selbst tun können, um Gott zu gefallen oder sein Wohlwollen zu erlangen. Sie haben keine Ansprüche an Gott, und wenn sie erhalten würden, was sie verdient haben, dann würden sie auf ewig verlorengehen.
Wenn ein Mensch durch Bekehrung zum Glauben kommt, dann sieht ihn Gott nicht länger als verurteiltes Kind Adams an. Stattdessen sieht er ihn »in Christus« und nimmt ihn auf dieser Grundlage an. Es ist wichtig, das zu verstehen. Der gläubige Sünder wird nicht wegen seiner Eigenschaften angenommen, sondern weil er »in Christus« ist. Wenn er »in Christus« ist, dann steht er in alle Gerechtigkeit Christi gekleidet vor Gott. Und er wird Gottes Wohlwollen so lange wie Christus besitzen, nämlich für immer. Die Stellung des Gläubigen nun ist das, was er »in Christus« ist. Doch gibt es noch eine andere Seite der Medaille – das praktische Leben des Gläubigen. Damit ist gemeint, was er in sich selbst ist. Seine Stellung ist vollkommen, doch sein praktisches Verhalten ist unvollkommen. Nun besteht Gottes Willen darin, dass das Verhalten des Gläubigen immer mehr seiner Stellung entspricht. Das wird erst dann völlig der Fall sein, wenn er im Himmel ist. Doch die Heiligung als lebenslanger Prozess und das geistliche Wachstum sollten im Leben des Gläubigen ständig weitergehen, während er noch hier auf Erden ist. Er sollte Christus immer ähnlicher werden.
Wenn wir den Unterschied zwischen der Stellung des Gläubigen und seinem Zustand verstanden haben, so ermöglicht dies uns, solche scheinbar gegensätzlichen Verse wie die folgenden miteinander zu vereinbaren:
Gläubige sind Gläubige sollten vollkommen vollkommen sein (Hebr 10,14) (Matth 5,48) Gläubige sind der Gläubige sollten sich Sünde gestorben selbst der Sünde für (Röm 6,2) tot halten (Röm 6,11) Die Gläubigen sind Gläubige sollten eine heilige Nation heilig sein (1. Petr 2,9) (1. Petr 1,15) Die erste Spalte handelt von der Stellung, die zweite vom gegenwärtigen Zustand.
Der Brief des Paulus an die Epheser ist selbst in zwei Teile gegliedert, die dieser Wahrheit entsprechen: Kap. 1 – 3 behandelt unsere Stellung (was wir in Christus sind); Kap. 4 – 6 behandelt unseren praktischen Zustand (wie wir sein sollten). Die erste Hälfte hat mit Lehre, die zweite mit den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu tun. In den ersten drei Kapiteln wird unsere Stellung oft mit solchen Ausdrücken wie »in Christus«, »in Christus Jesus«, »in ihm« und »in welchem« beschrieben. In den letzten drei Kapiteln wird der Ausdruck »im Herrn« oft benutzt, um die Verantwortung des Gläubigen gegenüber Christus als seinem Herrn zu betonen. Jemand hat einmal treffend gesagt, dass der erste Teil den Gläubigen in der Himmelswelt in Christus (also gewissermaßen im »Sonntagsstaat«) zeigt, während der zweite Teil ihn auf Erden (also gleichsam »im Arbeitskittel«) darstellt:
Nun sind wir bereit, einige der »geistlichen« Segnungen »in der Himmelswelt« zu betrachten, die uns »in Christus« gehören.
1,4 Als Erstes wird die sogenannte »Erwählung« behandelt. »… wie er uns in ihm auserwählt hat vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos vor ihm seien in Liebe.«
Man beachte zuerst die positive Tatsache der Erwählung in den Worten: »Er hat uns auserwählt.« Hier haben wir wieder die Wahrheit unserer Stellung ausgedrückt; »in ihm«: In der Person und im Werk des Herrn Jesus Christus werden alle Pläne Gottes für sein Volk verwirklicht. Der Zeitpunkt der Erwählung durch Gott wird durch den Ausdruck »vor Grundlegung der Welt« beschrieben. Und der Zweck der Erwählung ist, »dass wir heilig und tadellos vor ihm seien in Liebe«. Dieser Zweck wird erst völlig erfüllt werden, wenn wir bei ihm im Himmel sind (1. Joh 3,2), doch der Prozess sollte schon in unserem Leben hier auf der Erde beginnen und ständig fortgeführt werden.
Gebet: »Herr, heilige mich jetzt, weil das dein endgültiges Ziel für mich ist. Amen.«
Exkurs zur göttlichen Erwählung
Die Lehre von der Erwählung schafft für den menschlichen Geist einige Probleme. Deshalb müssen wir hier etwas ausführlicher darauf eingehen, was die Bibel zu diesem Thema lehrt und was nicht. Zunächst einmal lehrt sie, dass Gott Menschen zur Erlösung erwählt (2. Thess  2,13).  Sie  spricht  die  Gläubigen an als solche, »die auserwählt sind nach Vorkenntnis  Gottes«  (1. Petr  1,1.2).  Sie lehrt, dass Menschen durch ihre Reaktion auf das Evangelium wissen können, ob sie erwählt sind: Diejenigen, die hören und glauben, sind erwählt (1. Thess 1,4-7). Andererseits lehrt die Bibel nirgendwo, dass Gott Menschen zum Verlorensein erwählt. Die Tatsache, dass er einige zum Heil erwählt, sagt nicht aus, dass er den Rest willkürlich verurteilt. Er wird niemals Menschen verurteilen, die es verdient haben, gerettet zu werden (weil es solche Menschen nicht gibt). Vielmehr errettet er einige, die eigentlich verurteilt werden müssten. Wenn Paulus die Erwählten beschreibt, so nennt er sie »Gefäße der Begnadigung …, die er zur Herrlichkeit vorher bereitet hat« (Röm 9,23). Wenn er jedoch von den Verlorenen spricht, so sagt er einfach: »Gefäße des Zorns …, die zum Verderben zubereitet sind« (Röm 9,22). Gott bereitet Gefäße der Begnadigung zur Herrlichkeit, aber er bereitet keine Menschen zur Verdammnis: Das tun sie selbst durch ihren eigenen Unglauben.
Die Lehre von der Erwählung gibt Gott seine rechtmäßige Stellung. Er ist souverän, d. h. er kann tun, was ihm beliebt, obwohl es ihm nie gefällt, etwas Ungerechtes zu tun. Hat Gott etwa nicht das Recht, einigen Gnade zu erweisen? Doch gibt es noch eine andere Seite der Medaille. Dieselbe Bibel, worin sich die Lehre von der souveränen Erwählung findet, lehrt auch die menschliche Verantwortlichkeit. Niemand kann die Lehre von der Erwählung als Ausrede benutzen, sich nicht erretten zu lassen. Gott bietet allen Menschen ohne Vorbedingung die Erlösung an (Joh 3,16; 3,36; 5,24; Röm 10,9.13). Jeder kann erlöst werden, indem er seine Sünden bereut und an den Herrn Jesus Christus glaubt. Wenn ein Mensch verlorengeht, dann deshalb, weil er sich dafür entscheidet, und nicht, weil Gott es so will.
Die Tatsache bleibt bestehen, dass dieselbe Bibel sowohl die Erwählung als auch die unverdiente Erlösung für alle lehrt, die sie empfangen wollen. Man kann sogar beide Lehren in einem Vers finden: »Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« (Joh 6,37). Die erste Hälfte dieses Verses spricht von Gottes souveräner Erwählung, die zweite Hälfte dehnt das Gnadenangebot auf alle Menschen aus. Für den menschlichen Geist stellt dies eine Schwierigkeit dar. Wie kann Gott einige erwählen und doch allen die Erlösung anbieten? Offen gesagt, das bleibt ein Geheimnis. Aber es ist nur für uns ein Geheimnis, nicht für Gott. Am besten glauben wir beide Lehren, weil die Bibel beide lehrt. Die Wahrheit findet sich nicht irgendwo zwischen der Erwählung und dem freien Willen des Menschen, sondern in beiden Aspekten, die uns extrem erscheinen mögen. W. G. Blaikie fasst zusammen:
Göttliche Souveränität, die menschliche Verantwortlichkeit und das freie sowie allumfassende Angebot der Gnade sind ausnahmslos in der Schrift enthalten, und obwohl wir sie mit unserer Logik nicht in Einklang bringen können, sollten sie doch alle ihren festen Platz in unseren Gedanken haben.3
1,5 Die zweite geistliche Segnung aus Gottes Gnadenschatz ist die Prädestination oder Vorherbestimmung. Obwohl sie mit der Erwählung verwandt ist, handelt es sich dennoch nicht um dasselbe. Die Erwählung zeigt, wie Gott Menschen zur Erlösung erwählt. Doch die Prädestination ist mehr als das: Sie bedeutet, dass Gott schon vor der Zeit bestimmt hat, dass alle, die gerettet werden, auch in seine Familie als »Söhne« aufgenommen werden. Er hätte uns erlösen können, ohne uns die »Sohnschaft« zu schenken, doch er möchte uns beides schenken. Viele Übersetzungen verbinden die letzten beiden Worte von Vers 4 folgendermaßen mit Vers 5: »Aus Liebe hat er uns vorherbestimmt« (Schl). Das erinnert uns an die einzigartige Liebe, die Gott dazu geführt hat, uns so gnädig zu behandeln.
Wir finden die Tatsache unserer herrlichen »Sohnschaft« in diesem Vers: »Er hat … uns vorherbestimmt zur Sohnschaft.« Im NT bedeutet Annahme an Kindes statt, dass der Gläubige als reifer, erwachsener Sohn in die Familie Gottes aufgenommen wird, und zwar mit allen Vorrechten und aller Verantwortlichkeit (Gal 4,4-7). Der Geist der Annahme an Sohnes statt schenkt dem Gläubigen den Wunsch, Gott als Vater anzusprechen (Röm 8,15).
Wir erhalten die Sohnschaft »durch Jesus Christus«. Gott hätte uns niemals in diese Stellung der Nähe, Vertrautheit und Wertschätzung »vor ihm« einsetzen können, solange wir noch in unseren Sünden lebten. Deshalb kam der Herr Jesus auf die Erde und löste durch seinen Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung die Sündenfrage zur Zufriedenheit Gottes. Es ist der unendliche Wert seines Opfers auf Golgatha, das die gerechte Grundlage schafft, auf der uns Gott als Söhne annehmen kann.
Und all das geschah »nach dem Wohlgefallen seines Willens«. Das ist die souveräne Motivation hinter unserer Vorherbestimmung. Hier wird die Frage beantwortet: »Warum hat er das getan?« Einfach deshalb, weil es ihm wohlgefiel. Er konnte erst zufrieden sein, als er sich mit Kindern umgeben hatte, die dem Bild seines eingeborenen Sohnes gleichförmig sind. Es sind Kinder, die auf ewig vor ihm sind und ihm gleich sein werden.
1,6 »… zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade, mit der er uns begnadigt hat in dem Geliebten.« Als Paulus über die Gnade Gottes zunächst in der Erwählung und dann in der Vorherbestimmung zur Sohnschaft nachdenkt, beendet er seine Überlegungen mit diesem Refrain, der gleichzeitig Ausruf, Erklärung und Ermahnung ist. Es ist ein Ausruf – der Zustand eines heiliges Überwältigtseins angesichts der alles übersteigenden Herrlichkeit solcher Gnade. Es ist eine Erklärung im Blick darauf, dass das Ziel und das Ergebnis der Gnade Gottes an uns seine eigene »Herrlichkeit« ist. Ihm gehört ewige Anbetung für solch eine unvergleichliche Gnade. Man beachte die Bedingung seiner »Gnade« – »er hat« unverdient »begnadigt«. Die Empfänger seiner »Gnade« – »uns«. Der Kanal seiner »Gnade« – »in dem Geliebten«. Schließlich handelt es sich um eine Ermahnung. Paulus sagt hier: »Lasst uns ihn preisen für seine herrliche Gnade.« Ehe wir weitergehen, sollten wir das tun! O Wunderliebe, die mich wählte vor allem Anbeginn der Welt und mich zu ihren Kindern zählte, für welche sie das Reich bestellt! O Vaterhand, o Gnadentrieb, der mich ins Buch des Lebens schrieb! Verfasser unbekannt
1,7 Wenn wir der außergewöhnlichen Reichweite nachspüren, die sich in Gottes ewigem Plan für sein Volk zeigt, so kommen wir als Nächstes zur Tatsache der »Erlösung«. Sie beschreibt den Aspekt des Werkes Christi, wodurch wir von der Knechtschaft und der Schuld der Sünde befreit wurden und uns ein Leben der Freiheit geschenkt wurde. Der Herr Jesus ist der Erlöser (»in ihm haben wir die Erlösung«). Wir sind die Erlösten. »Sein Blut« ist der Opferpreis, nichts Geringeres reichte aus.
Zu den Folgen der Erlösung gehört die »Vergebung der Vergehungen«. »Vergebung« ist nicht dasselbe wie »Erlösung«, sondern eine ihrer Früchte. Christus musste unsere Sünden voll und ganz begleichen, ehe uns vergeben werden konnte. Das geschah am Kreuz. Und nun gilt:
Nichts fordert mehr Gerechtigkeit, die Gnade ihre Füll’ uns beut’. Das Maß unserer »Vergebung« wird mit den Worten beschrieben: »… nach dem Reichtum seiner Gnade.« Wenn wir den »Reichtum« der »Gnade« Gottes ermessen können, dann können wir auch ermessen, wie er uns vergeben hat. Seine »Gnade« ist unermesslich! Und ebenso seine »Vergebung«!
1,8 Er hat uns in Gnade erwählt, vorherbestimmt und erlöst. Doch das ist noch nicht alles. Gott hat seine Gnade gegen uns »überströmen lassen in aller Weisheit und Einsicht« (Elb 2003). Das bedeutet, dass er uns in seiner Gnade seine Pläne und Ziele, die er mit uns verfolgt, mitgeteilt hat. Sein Verlangen besteht dari n, dass wir Einsicht in seine Pläne für die Gemeinde und das Universum erhalten. Und deshalb hat er uns so ins Vertrauen gezogen und das große Ziel offenbart, auf das sich die gesamte Geschichte hinbewegt.
1,9 Paulus erklärt nun die besondere Art, wie Gott seine Gnade in aller Weisheit und Einsicht auf uns hat überströmen lassen: Er hat uns nämlich »das Geheimnis seines Willens kundgetan«. Das ist das Hauptthema des Briefes – die herrliche Wahrheit über Christus und die Gemeinde. Es ist ein »Geheimnis« nicht in dem Sinne, dass es geheimnisvoll ist, sondern es handelt sich um ein göttliches Geheimnis, das bisher unbekannt war, doch nun den Heiligen offenbart wird. Dieser herrliche Plan hat seinen Ursprung im souveränen Willen Gottes, ohne dass irgendetwas darauf Einfluss haben könnte: »… nach seinem Wohlgefallen.« Und im Mittelpunkt dieses Planes steht der Herr Jesus Christus, was durch den hier befindlichen Nebensatz (»das er sich vorgenommen hat in ihm«) ausgedrückt wird.
1,10 Nun beginnt Paulus mit einer ausführlicheren Erklärung des Geheimnisses hinsichtlich des Plans Gottes, und in diesem Kapitel denkt er in erster Linie an den zukünftigen Aspekt des Geheimnisses. Die Kapitel 2 und 3 werden weiteres Licht auf den gegenwärtigen Aspekt des Geheimnisses werfen. Die Zeit, die Paulus hier im Blick hat, wird durch den Ausdruck »Verwaltung« (gr. oikonomia) »bei der Erfüllung der Zeiten« beschrieben. Wir verstehen das so, dass er sich hier auf das Tausendjährige Reich bezieht, wenn Christus auf die Erde wiederkehren wird, um als König der Könige und Herr der Herren zu regieren. Gott hat eine spezielle Verwaltung oder einen besonderen Plan für diese letzte Zeit der menschlichen Geschichte auf Erden.
Der Plan lautet: »… alles zusammenzufassen in dem Christus, das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist – in ihm.« Während des Tausendjährigen Reiches, wird alles »in den Himmeln« und »auf der Erde … in Christus« zusammengefasst werden. Der Heiland, der heute verworfen und seines Erbes beraubt ist, wird dann der Höchste sein, der Herr der Welt, und er wird von allen angebetet werden. Das ist Gottes Ziel: Er will Christus als Haupt über »alles« im kommenden Reich einsetzen, ob es nun irdisch oder himmlisch sei. Das Ausmaß der Herrschaft Christi findet sich in den Worten »das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist«. Bellet schreibt:
Dies ist ein Geheimnis, das vorher nicht offenbart worden ist. Vom Propheten Jesaja erhalten wir ein wunderbares Bild des Tausendjährigen Reiches auf der Erde, doch sehen wir das Tausendjährige Reich im Himmel mit Christus als Haupt? Wurde von Jesaja je geweissagt, dass alles im Himmel und auf Erden in dem einen verherrlichten Menschen zusammengefasst werden soll?4 Vers 10 wird manchmal benutzt, um die Irrlehre der Allversöhnung zu untermauern. Seine Aussage wird in missbräuchlicher Absicht dahin gehend gedeutet, dass einmal alles und jeder mit Christus versöhnt werden wird. Doch diese Vorstellung ist diesem Abschnitt fremd. Paulus spricht von allumfassender Herrschaft, nicht von allumfassender Erlösung!
1,11 Ein wichtiges Kennzeichen des Geheimnisses ist, dass die gläubigen Juden und die gläubigen Heiden ihren Anteil an diesem großen Plan Gottes haben. Der Apostel spricht in den Versen 11 und 12 von dem Geheimnis in Bezug auf die jüdischen Gläubigen und in Bezug auf die heidnischen Gläubigen. Dann verbindet er beides in Vers 14.
Von den Christen mit jüdischen Vorfahren schreibt Paulus: »In ihm haben wir auch ein Erbteil erlangt.« Das Recht der Judenchristen auf einen Anteil beruht nicht auf ihren früheren Vorrechten als Volk, sondern einzig in ihrer Verbindung zu Christus. Das »Erbteil« hier bezieht sich auf die Zeit, wenn sie und alle wahren Gläubigen vor der erstaunten Welt als der Leib Christi und die Braut des Lammes offenbart werden.
Von aller Ewigkeit her waren diese Judenchristen von Gottes souveränem Willen für diese Vorrechtsstellung auserwählt, »die wir vorherbestimmt waren nach dem Vorsatz dessen, der alles nach dem Rat seines Willens wirkt«.
1,12 Der Zweck dieser Vorherbestimmung war, dass die Judenchristen »zum Preise seiner Herrlichkeit seien«. Mit anderen Worten, sie sind Trophäen der Gnade Gottes, die zeigen, was Gott mit Menschen in einem solch ungeeigneten Ausgangszustand anfangen kann. Damit tragen sie zu Gottes »Herrlichkeit« bei. Der Apostel spricht von sich selbst und anderen gläubigen Juden als denjenigen, »die wir zuvor auf den Christus gehofft haben«. Er denkt an den gottesfürchtigen Überrest der Juden, der in der Frühzeit des Christentums dem Evangelium gehorcht hat. Die Gute Nachricht wurde zuerst den Juden gepredigt. Fast das ganze Volk Israel lehnte sie ab. Doch ein gottesfürchtiger Überrest glaubte an den Herrn Jesus. Paulus gehörte zu diesem Überrest.
Es wird ganz anders sein, wenn der Heiland zum zweiten Mal auf die Erde kommt. Dann werden die Angehörigen des Volkes auf denjenigen schauen, den sie durchstochen haben. Sie werden um ihn als ihren einzigen Sohn trauern (Sach 12,10). »Wie geschrieben steht: ›Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden‹« (Röm 11,26).
Paulus und seine christlichen Zeitgenossen jüdischen Hintergrunds glaubten an den Messias, bevor es der Rest der Nation tun wird. Deshalb wird hier die Beschreibung gewählt: »… die wir zuvor auf den Christus gehofft haben.« Diejenigen, die zuerst auf den Messias gehofft haben, werden mit ihm über die Erde herrschen. Alle anderen Juden werden dann Untertanen in seinem irdischen Reich sein.
1,13 Nun wendet sich Paulus von den Gläubigen, die als Juden geboren worden sind, denen zu, die als Heiden geboren wurden. Er zeigt diesen Wechsel durch die Wahl eines anderen Pronomens an: Es heißt nun »ihr« statt »wir«. Diejenigen, die vom Heidentum erwählt worden sind, haben wie die bekehrten Juden ihren Anteil am Geheimnis des Willens Gottes. Und deshalb zeichnet Paulus hier die Schritte nach, die die Epheser und andere Heiden in die Gemeinschaft mit Christus gebracht haben.
Sie haben das Evangelium gehört. Sie sind an Christus gläubig geworden. Sie sind »versiegelt worden mit dem Heiligen Geist der Verheißung«. Zunächst haben sie »das Wort der Wahrheit, das Evangelium« ihres »Heils, gehört«. Im Grunde bezieht sich das auf die Gute Nachricht vom »Heil« im Herrn Jesus durch den Glauben. Doch im weiteren Sinne umfasst es alle Lehren Christi und der Apostel.
Nachdem die Heidenchristen diese Botschaft gehört hatten, haben sie sich durch einen bewussten Glaubensakt für Christus entschieden. Der Herr Jesus ist das wahre Ziel ihres Glaubens. »Heil« findet sich nur in ihm.
Sobald sie »gläubig geworden« waren, sind sie »versiegelt worden mit dem Heiligen Geist der Verheißung«. Dies bedeutet, dass jeder echte Gläubige den Geist Gottes als Zeichen dafür empfängt, dass er zu Gott gehört. Außerdem ist damit gemeint, dass er von Gott bis zu der Zeit bewahrt wird, wenn er seinen verherrlichten Leib empfangen wird. So wie in gesetzlicher Hinsicht ein Siegel Eigentumsrecht und Schutz bzw. Sicherheit anzeigt, so ist es auch in göttlichen Belangen. Der in uns wohnende Geist bezeichnet uns als Eigentum Gottes (1. Kor 6,19.20), und garantiert unsere Bewahrung bis zum Tag der Erlösung (Eph 4,30). Unser Siegel wird der »Heilige Geist der Verheißung« genannt. Zunächst einmal ist er der Heilige Geist, das ist er in sich selbst. Dann ist er noch der Geist der Verheißung. Er wurde vom Vater verheißen (Joel 3,1; Apg 1,4), ebenso vom Herrn Jesus (Joh 16,7). Zusätzlich ist er noch die Garantie dafür, dass sich alle Verheißungen Gottes an den Gläubigen erfüllen werden.
Vers 13 vervollständigt die erste von vielen Erwähnungen der Dreieinheit in diesem Brief:
Gott der Vater (V. 3)
Gott der Sohn (V. 7)
Gott der Geist (V. 13).
1,14 Und wieder gebraucht Paulus ein anderes Pronomen. Er verbindet das Fürwort »wir« von Vers 11 und 12 mit dem Pronomen »ihr« von Vers 13 zu dem Begriff »unser« in Vers 14. Durch dieses kleine literarische Mittel gibt er uns schon einen Hinweis auf das, was er in Kapitel 2 und 3 ausführlicher erklären will – die Einheit der gläubigen Juden und Heiden in einem neuen Leib, der Gemeinde.
Der Heilige Geist ist »das Unterpfand unseres Erbes«. Er ist die Anzahlung, die uns sagt, dass der volle Betrag bald eingehen wird. Von der Art her entspricht sie bereits der vollen Zahlung, doch noch nicht von der Höhe her.
Sobald wir erlöst sind, beginnt der Heilige Geist damit, uns einige der Reichtümer zu offenbaren, die uns in Christus gehören. Er gibt uns einen Vorgeschmack der kommenden Herrlichkeit. Doch wie können wir sicher sein, dass wir eines Tages das gesamte Erbe erhalten werden? Der Heilige Geist selbst ist das »Unterpfand« oder die Garantie dafür. Wie das Siegel garantiert er, dass wir bis zur Erbschaft bewahrt werden. Als Unterpfand garantiert er, dass das Erbe für uns bewahrt wird.
Der Geist ist »das Unterpfand unseres Erbes, auf die Erlösung seines Eigentums zum Preise seiner Herrlichkeit«. Das »Unterpfand« verheißt die volle »Erlösung«, so wie die Erstlingsfrüchte die gesamte Ernte verheißen. Die Aufgabe des Heiligen Geistes als Unterpfand wird aufhören, wenn »sein Eigentum« erlöst ist. Was meint Paulus nun mit »Erlösung des erworbenen Besitzes« (Elb)? 1. Er kann unser »Erbe« meinen. Alles, was Gott besitzt, gehört uns durch den Herrn Jesus. Wir sind Erben Gottes und Miterben Christi (Röm 8,17; 1. Kor 3,21-23). Das Universum selbst ist durch das Kommen der Sünde verunreinigt worden und muss versöhnt und gereinigt werden (Kol 1,20; Hebr 9,23). Wenn Christus auf die Erde zurückkehrt, um seine Herrschaft anzutreten, wird die seufzende Schöpfung von der Knechtschaft der Sterblichkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes erlöst werden (Röm 8,19-22).
2. Der Ausdruck »Erlösung des erworbenen Besitzes« (Elb) kann den Leib des Gläubigen bedeuten. Unser Geist und unsere Seele wurden erlöst, als wir uns bekehrt haben, doch die Erlösung unseres Leibes liegt noch in der Zukunft. Die Tatsache, dass wir leiden, altern und sterben, beweist, dass unsere Leiber noch nicht erlöst sind. Wenn Christus für uns wiederkommt  (1. Thess  4,13-18),  dann  werden unsere Leiber neu geschaffen, sodass sie dem Leib seiner Herrlichkeit ähneln (Phil 3,21). Dann erst werden sie vollkommen und für immer erlöst sein (Röm 8,23).
3. Schließlich kann sich »Erlösung des erworbenen Besitzes« (Elb) auf die Gemeinde beziehen (1. Petr  2,9: Volk seines Eigentums). In diesem Fall bezieht sich die Erlösung ebenfalls auf die Entrückung, wenn Christus die Gemeinde als verherrlichte Gemeinde ohne Flecken oder Runzeln darstellen wird (Eph 5,27). Einige Ausleger sind der Ansicht, dass in diesem Fall auch die Heiligen des AT zu Gottes »Eigentum« gehören.
Welche Auffassung wir auch immer für richtig halten, das Ergebnis ist dasselbe – »zum Preise seiner Herrlichkeit«. Gottes wunderbarer Plan für die Angehörigen seines Volkes wird dann seine herrliche Vollendung gefunden haben, und er wird von ihnen ständig gepriesen werden. Dreimal in diesem Kapitel hat Paulus uns daran erinnert, dass das Ziel und das unausweichliche Ergebnis aller Handlungen Gottes seine Verherrlichung ist.
Zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade (V. 6).
Damit wir zum Preise seiner Herrlichkeit seien (V. 12).
Zum Preise seiner Herrlichkeit (V. 14). C. Paulus’ Dank und Gebet für die Heiligen (1,15-23)
1,15 Im vorhergehenden Abschnitt von Vers 3-14 (Diese Verse bilden im Griechischen einen einzigen Satz!) hat der Apostel die atemberaubende Reichweite des Planes Gottes von der Ewigkeit vor der Zeit bis zur Ewigkeit nach der Zeit dargestellt. Er hat einige der Ehrfurcht gebietendsten Gedanken aufgeführt, die uns beschäftigen können. Es sind Gedanken, die so erhaben sind, dass Paulus nun seinen Lesern berichtet, wie sehr es ihn drängt, für ihre geistliche Erleuchtung in diesen Dingen zu beten. Sein großer Wunsch für sie ist, dass sie das richtige Verständnis für die herrlichen Vorrechte in Christus und die außerordentliche Kraft haben, die notwendig war, damit Christus als Haupt über die gesamte Schöpfung der Herr der Gemeinde werden konnte.
Das einleitende Wort »deshalb« blickt auf alles zurück, was Gott getan hat und noch für diejenigen tun wird, die Glieder am Leib Christi sind, wie es in den Versen 3-14 beschrieben wurde. »… nachdem ich von eurem Glauben an den Herrn Jesus und von eurer Liebe zu allen Heiligen gehört habe.« Als Paulus diese Information erhielt, war Paulus sich sicher, dass seine Leser Eigentümer der geistlichen Segnungen waren, die er soeben beschrieben hat, und wurde ins Gebet für sie gedrängt. Ihr »Glaube an den Herrn Jesus« hat das Wunder der Errettung in ihrem Leben bewirkt. Die »Liebe zu allen Heiligen« zeigte die verändernde Wirklichkeit und Echtheit ihrer Bekehrung.
Diejenigen Ausleger, die nicht der Ansicht sind, dass der Brief ausschließlich an die Epheser geschrieben wurde, weisen auf diesen Vers als Beleg hin. Paulus spricht hier davon, dass er von dem Glauben seiner Leser gehört habe – als ob er ihnen nie begegnet sei. Doch er hatte die letzten drei Jahre in Ephesus verbracht (Apg 20,31). Diese Ausleger schließen deshalb, dass der Brief an verschiedene Ortsgemeinden gesandt wurde, von denen Ephesus nur eine war. Glücklicherweise berührt diese Frage nicht die Lehren, die wir aus diesem Vers ziehen können. So sehen wir hier z. B. den Herrn als denjenigen, auf den sich unser Glaube wahrhaft beziehen muss: »… euer Glaube an den Herrn Jesus.« Wir sollen nicht an ein Bekenntnis, an die Kirche oder an bestimmte Christen glauben. Retten kann uns nur der Glaube an den auferstandenen und erhöhten Christus zur Rechten Gottes.
Eine andere Lehre liegt für uns in dem Ausdruck »eure Liebe zu allen Heiligen«. Unsere Liebe sollte nicht auf diejenigen beschränkt bleiben, die sich in unserer unmittelbaren Umgebung befinden, sondern alle umfassen, die durch das Blut Christi gereinigt sind, also die gesamte Familie der Gläubigen.
Eine dritte Lehre lässt sich aus der Verbindung von Glaube und Liebe ziehen. Einige Menschen behaupten, sie hätten Glauben, doch findet man kaum Liebe in ihrem Leben. Andere wieder zeigen große Liebe, aber stehen der Notwendigkeit des Glaubens an Christus ziemlich gleichgültig gegenüber. Wahrer christlicher Glaube verbindet gesunde Lehre mit einem entsprechenden Leben.
1,16 Der Glaube und die Liebe seiner Mitchristen bringt Paulus dazu, den Herrn für sie zu preisen und unaufhörlich für sie zu beten. Scroggie drückt das sehr schön aus:
Der Dank gilt der Grundlage, die bereits gelegt ist, doch die Fürbitte dem Überbau, der darauf aufgebaut wird. Der Dank gilt den vergangenen Errungenschaften, doch die Fürbitte den zukünftigen Fortschritten. Der Dank gilt der Echtheit ihrer Erfahrung, doch die Fürbitte demjenigen, was durch die Verwirklichung der göttlichen Pläne in ihrem Leben möglich wird.
1,17 Welch ein Vorrecht ist es, diesen Einblick in das Gebetsleben eines Mannes Gottes zu erhalten! Wir erhalten in diesem Brief sogar zwei solcher Einblicke – hier und in 3,14-21. In diesem Gebet geht es um geistliche Erleuchtung, dort geht es um geistliche Kraft. Hier ist das Gebet an »Gott«, dort an den Vater gerichtet. Doch immer war das Gebet des Paulus unaufhörlich, eindeutig und den gegenwärtigen Bedürfnissen der Gemeinde angepasst. Hier wird das Gebet an den »Gott unseres Herrn Jesus Christus«, den »Vater der Herrlichkeit«, gerichtet. Der Ausdruck »Vater der Herrlichkeit« kann dreier lei bedeuten:
1. Gott ist der Ursprung oder Schöpfer aller Herrlichkeit,
2. Gott ist derjenige, dem alle Herrlichkeit gebührt, oder
3. Gott ist der Vater des Herrn Jesus, der die Herrlichkeit Gottes offenbart. Das Gebet geht dahin gehend weiter, dass Gott den Gläubigen »den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst« geben möge. Der Heilige Geist ist der »Geist der Weisheit« (Jes 11,2) und der »Offenbarung« (vgl. 1. Kor 2,10). Doch weil der Geist in jedem Gläubigen wohnt, kann Paulus hier nicht beten, dass seine Leser die Person des Heiligen Geistes empfangen mögen. Vielmehr sollen sie ein besonderes Maß an Erleuchtung durch ihn empfangen.
»Offenbarung« hat mit der Zueignung von Erkenntnis zu tun, »Weisheit« dagegen ist die richtige Anwendung dieser Erkenntnis auf unser Leben. Der Apostel denkt hier nicht an allgemeine Erkenntnis, sondern an eine besondere »Erkenntnis« (gr. epignosis) »seiner selbst«. Er möchte, dass der Gläubige eine tiefe, geistliche und durch Erfahrung gestützte Gotteserkenntnis hat – eine Erkenntnis, die man nicht durch intellektuelle Fähigkeiten, sondern nur durch den gnadenr eichen Dienst des Heiligen Geistes erwerben kann.
Dale erklärt:
Diese ephesischen Christen kannten schon göttliche Erleuchtung, sonst wären sie überhaupt keine Christen gewesen. Doch Paulus betet darum, dass der in ihnen wohnende Heilige Geist ihre Vorstellungen klarer, mutiger und stärker machen und die göttliche Kraft, Liebe und Größe sich an ihnen noch mehr offenbaren möge. Und vielleicht ist dies gerade in diesen unseren Tagen ganz besonders wichtig, in denen die Menschen solch schnell aufeinanderfolgende Entdeckungen auf untergeordneten Gebieten des Geistes machen und in denen es solche faszinierenden und aufregenden Entdeckungen gibt, dass sie sogar für Christen mehr Interesse als die Offenbarung Gottes in Christus gewinnen. Die Gemeinde sollte darum beten, dass Gott ihr einen »Geist der Weisheit und Offenbarung« schenkt. Wenn er dieses Gebet beantwortet, dann sollten wir uns nicht länger von Erkenntnis faszinieren lassen, die sich nur auf »Sichtbares und Zeitliches« bezieht, weil sie von der alles übersteigenden Herrlichkeit des »Unsichtbaren und Ewigen« überstrahlt wird.5
1,18 Wir haben gesehen, dass die Quelle geistlicher Erleuchtung Gott und der entsprechende Kanal der Heilige Geist ist. Dabei geht es um die völlige Erkenntnis Gottes. Nun kommen wir zu den Organen der Erleuchtung: »Er erleuchte die Augen eures Herzens.«6 Dieser bildliche Ausdruck lehrt uns, dass das richtige Verständnis göttlicher Realität nicht davon abhängig ist, ob wir einen scharfen Intellekt besitzen. Vielmehr geht es um ein empfangsbereites Herz. Dies hat sowohl mit den Regungen des Herzens als auch mit dem menschl ichen Geist zu tun. Gottes Offenbarungen werden denen gegeben, die ihn lieben. Das eröffnet jedem Gläubigen wundervolle Möglichkeiten, weil wir zwar nicht alle zu den intelligentesten Menschen gehören mögen, doch alle ein liebendes »Herz« haben können. Als Nächstes nennt Paulus ausdrücklich drei Gebiete göttlicher Erkenntnis, die er bei den Heiligen vermehrt sehen möchte:
1. »Die Hoffnung seiner Berufung.« 2. »Den Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen.« 3. »Die überschwängliche Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden.« »Die Hoffnung seiner Berufung« weist auf die Zukunft hin; dieser Ausdruck meint unsere endgültige Bestimmung, die Gott für uns im Sinn hatte, als er uns berufen hat. Dieser Ausdruck schließt die Tatsache ein, dass wir für immer bei Christus sein und ihm gleich sein werden. Wir werden dem Universum als Söhne Gottes offenbart und mit Christus als seine makellose Braut herrschen. Wir hoffen darauf, und zwar nicht in dem Sinne, dass wir daran zweifeln müssten. Vielmehr ist dies ein Aspekt unserer Erlösung, der noch in der Zukunft liegt und den wir erwarten.
Der »Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen« ist die zweite unendliche Weite, die die Gläubigen erforschen dürfen. Man beachte, wie Paulus hier Worte aufhäuft, um den gewünschten Effekt der Erhabenheit und Größe hervorzurufen.
Sein Erbe
Sein Erbe in den Heiligen Die Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen
Der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen
Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen, und beide sind so bedeutungsvoll, dass wir sie hier anführen wollen. Laut der ersten Erklärung sind die Heiligen Gottes Erbe, und er sieht sie als einen unschätzbaren Reichtum an. In Titus  2,14  und  1. Petrus  2,9  werden  die Gläubigen als »Eigentumsvolk« bzw. als »Volk zum Besitztum« bezeichnet. Es ist sicherlich ein Erweis unaussprechlicher Gnade, dass hassenswerte, unwürdige Sünder, die durch Christus errettet sind, einen solchen Platz im Herzen Gottes einnehmen können, dass Gott sie sein »Erbe« nennen kann.
Die andere Ansicht lautet, dass mit Erbe der Reichtum gemeint ist, den wir erben werden. Kurz gesagt bedeutet dies, dass das gesamte Universum der Herrschaft Christi unterstellt wird und wir als seine Braut mit ihm darüber herrschen werden. Wenn wir wirklich diesen Reichtum der Herrlichkeit all dessen erkennen, das er für uns bereithält, dann werden uns sämtliche Attraktionen und Vergnügungen dieser Welt nichts mehr bedeuten.
1,19 Paulus’ dritte Bitte für die Heiligen lautet, dass sie ganz deutlich die »Macht« Gottes erkennen, die er einsetzen musste, um all dies zu vollbringen: »… was die überschwängliche Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, ist.«
F. B. Meyer sagt: »Es geht um Kraft. Es geht um seine Kraft. Es geht um große Kraft, denn weniger würde nicht ausreichen. Es geht um überschwänglich große Kraft, die alles Denken übersteigt.«7 Diese Kraft hat Gott zu unserer Erlösung eingesetzt; er wird sie auch zu unserer Bewahrung und dereinst zu unserer Verherrlichung einsetzen. Lewis Sperry Chafer schreibt: Paulus möchte dem Gläubigen die Größe der Kraft darstellen, die notwendig ist, um all das zu erreichen, was Gott für ihn nach seinem Willen hinsichtlich der Erwählung, Vorherbestimmung und souveränen Annahme an Kindes statt vorgesehen hat.8 Um die Größe der Macht Gottes noch weiter zu betonen, beschreibt der Apos tel als Nächstes die größte göttliche Kraftanstrengung, die die Welt je erlebt hat, nämlich die Tatsache, dass er Christus »aus den Toten auferweckt« und ihm den Thron »zu seiner Rechten« gegeben hat. Vielleicht würden wir denken, dass die Erschaffung des Universums die größte Offenbarung der Kraft Gottes gewesen sei. Oder vielleicht die wunderbare Errettung seines Volkes beim Durchzug durch das Rote Meer. Doch nein! Das NT lehrt, dass bei der Auferstehung und Himmelfahrt Christi die größte göttliche Kraft erforderlich war.
Warum? Es hat den Anschein, dass alle Mächte der Hölle aufgestanden sind, um Gottes Absichten zu verhindern, indem sie Christus im Grab halten wollten, oder seine Himmelfahrt zu verhindern, sobald er auferstanden war. Doch Gott triumphierte über jeden Widerstand. Die Auferstehung und Verherrlichung Christi war eine vernichtende Niederlage für Satan und sein Heer und eine herrliche Demonstration siegreicher Kraft. Worte reichen nicht aus, um diese Kraft zu beschreiben. Deshalb leiht sich Paulus etliche Wörter aus der Dynamik, um die Kraft zu beschreiben, die um unsertwillen aufgewendet wird: »nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, in welcher er gewirkt hat in dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte« (Elb). Die Worte scheinen unter der Schwere der zu beschreibenden Wirklichkeit nachzugeben. Es ist uns kaum möglich, zwischen den einzelnen Worten zu unterscheiden; es reicht, wenn wir über die Unermesslichkeit der Macht staunen und unseren Gott für seine Allmacht anbeten.
F. B. Meyer ruft aus:
Wie wunderbar wurde er emporgehoben! Aus dem Grab des Todes zum Thron des ewigen Gottes, der allein die Unsterblichkeit hat; von der Finsternis der Gruft in sein unaussprechliches Licht; von dieser kleinen Welt zum Mittelpunkt und Herrscherthron des Universums. Entfalten Sie die Schwingen Ihres Glaubens, um diesen nicht auszulotenden Abgrund zu ermessen. Und dann staunen Sie über die Kraft, die den Herrn hinüberbrachte.9
Nach der Schrift war die Auferstehung Christi die erstmalige endgültige Überwindung  der  Todeskluft  (1. Kor  15,23). Andere sind schon vor Christus aus den Toten auferstanden, doch sie mussten wieder sterben. Der Herr Jesus war der Erste, der in der Kraft eines unauflöslichen Lebens auferstand. Nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt hat Gott Christus »zu seiner Rechten in der Himmelswelt gesetzt«. »Zur Rechten« Gottes bedeutet Vorrechtsstellung (Hebr 1,13), Macht (Matth 26,24), Auszeichnung (Hebr 1,3), Freude (Ps 16,11) und Herrschaft (1. Petr 3,22). Der Aufenthaltsort Christi wird hier näher beschrieben (»in der Himmelswelt«). Das zeigt, dass dieser Ausdruck die Wohnstätte Gottes einschließt. Damit ist der Ort gemeint, an dem sich der Herr Jesus heute in einem Leib aus Fleisch und Bein aufhält. Es ist ein verherrlichter Leib im wörtlichen Sinne, der nicht mehr sterben kann. Und wo er ist, werden auch wir bald sein.
1,21 Die Verherrlichung unseres Heilands wird nun weiter beschrieben: »… hoch über jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen genannt werden wird.« Der Herr Jesus ist höher als jede Herrscherstellung und jede Autorität, ob man sie nun dem menschlichen Bereich oder der Sphäre der Engel, ob der Gegenwart oder der Zukunft zuordnen muss.
In der Himmelswelt gibt es verschiedene Rangstufen unter den Engelwesen. Einige sind böse, andere sind gut. Sie haben unterschiedliche Macht. Einige könnten etwa unseren menschlichen Ämtern (Präsident, Kanzler, Minister, Bürgermeister  o. ä.)  entsprechen.  Doch  ganz gleich, wie groß ihre Autorität, »Gewalt« und »Macht« sein mag, Christus steht »hoch über« ihnen.
Und das gilt »nicht nur in diesem Zeitalter«, in dem wir leben, »sondern auch in dem zukünftigen«, d. h. während des Tausendjährigen Reiches Christi auf Erden. Christus wird dann König über alle Könige und Herr über alle Herren sein. Er wird über alle Geschöpfe erhöht werden, und es wird keine einzige Ausnahme geben.
1,22 Zusätzlich hat Gott »alles … seinen Füßen unterworfen«. Damit ist seine allumfassende Herrschaft gemeint – nicht nur über Menschen und Engel, sondern auch über die übrige Schöpfung, ob sie nun belebt oder leblos ist. Der Autor des Hebräerbriefs erinnert uns daran, dass wir gegenwärtig nicht sehen, dass ihm alles unterworfen ist (Hebr 2,8). Das trifft zu. Obwohl Christus die universelle Herrschaft innehat, übt er sie jetzt noch nicht aus. Die Menschen z. B. rebellieren noch immer gegen ihn und leugnen ihn oder widerstehen ihm. Doch Gott hat bestimmt, dass sein Sohn schon jetzt das Zepter allumfassender Herrschaft führt, und das ist so sicher, als wäre es schon gegenwärtige Realität.
Das Folgende ist fast unglaublich. Diesen Einen, dessen von Nägeln durchgrabene Hand die souveräne Autorität über das gesamte Universum ausüben wird – diesen Verherrlichten hat Gott »der Gemeinde gegeben«! Hier schenkt uns Paulus eine überwältigende Offenbarung des Geheimnisses des Willens Gottes. Schritt für Schritt hat er uns zu diesem Höhepunkt seiner Ankündigungen geführt. Mit künstlerischem Geschick hat er die Auferstehung, Verherrlichung und Herrschaft Christi beschrieben. Während unsere Herzen bei der Betrachtung dieses herrlichen Herrn noch von Ehrfurcht ergriffen sind, sagt der Apostel: »In seiner Stellung ›als Haupt über alles‹ ist Christus ›der Gemeinde gegeben‹.« Wenn wir diesen Vers achtlos lesen, dann könnten wir verstehen, dass Christus das Haupt der »Gemeinde« ist. Das stimmt zwar, doch der Vers sagt sehr viel mehr aus. Er betont, dass die »Gemeinde« mit demjenigen engstens verbunden ist, dem diese allumfassende Macht gegeben ist.
In Vers 21 erfuhren wir, dass Christus über jedem Geschöpf im Himmel und auf Erden steht, und zwar in diesem und im kommenden Zeitalter. Im ersten Teil von Vers 22 haben wir gesehen, dass »alles«, nicht nur die Schöpfung, »seinen Füßen unterworfen« ist. Nun erfahren wir, dass die »Gemeinde« auf einzigartige Weise berufen ist, mit ihm in seiner grenzenlosen Herrschaft verbunden zu sein. Die »Gemeinde« wird an seiner Herrschaft teilnehmen. Und die übrige Schöpfung wird seiner Herrschaft unterstellt werden.
1,23 In diesem Schlussvers von Kapitel 1 erfahren wir, wie eng die Beziehung zwischen Christus und der Gemeinde ist. Es werden hier zwei Bilder genannt: 1. Die Gemeinde ist »sein Leib«, und 2. ist sie »die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt«.
Keine Beziehung kann enger sein als die zwischen Haupt und »Leib«. Beide bilden eine lebenswichtige Einheit und werden von einem Geist gelenkt. Die Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Menschen, die zwischen Pfingsten und der Entrückung aus der Welt herausgerufen und durch wunderbare Gnade errettet wird. Ihr wird das einzigartige Vorrecht gewährt, »Leib« Christi zu sein. Keine andere Gruppe von Gläubigen anderer Zeitalter hat oder wird diese Auszeichnung erfahren.
Die zweite Beschreibung für die Gemeinde lautet: »… die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt.« Das bedeutet einfach, dass die Gemeinde zu Christi als dem Allgegenwärtigen gehört, wie der Leib zum Haupt gehört. Nach dem Schriftzeugnis ist die Gemeinde der Leib, der aber ohne das Haupt unvollständig bzw. nicht zur Vollendung gebracht ist. Es geht dabei um zwei Dinge, die eine Einheit bilden, sobald sie zusammengebracht werden. Wie der Leib zum Haupt gehört, so gehört die Gemeinde zu Christus. Doch dabei denke niemand, dass dies bedeuten könnte, Christus sei in irgendeiner Weise unvollkommen oder unvollständig. Daher fügt Paulus schnell an: »… die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt.« Gibt es irgendetwas, das sein Wesen vervollständigen müsste? Niemals! Der Herr Jesus selbst ist der Eine, »der alles in allen erfüllt«. Er durchdringt das Universum und versorgt es mit allem Notwendigen. Zugegeben, dies geht über unseren Verstand hinaus. Wir können nur das unendliche Denken Gottes und seinen Plan bestaunen, und gleichzeitig einräumen, dass wir nicht imstande sind, ihn zu verstehen.
D. Gottes Macht zeigt sich in der Erlösung von Heiden und Juden (2,1-10)
2,1 Die Kapiteleinteilung sollte nicht den wichtigen Zusammenhang verhüllen, der zwischen dem letzten Teil von Kapitel 1 und den kommenden Versen besteht. Dort in Kap. 1 haben wir die große Kraft Gottes beobachtet, wie sie Christus aus dem Grab auferweckte und ihn mit Ehre und Herrlichkeit krönte. Nun sehen wir, wie dieselbe Kraft in unserem eigenen Leben wirkt, uns vom geistlichen Tod auferweckt und uns in Christus in die Himmelswelt versetzt.
Dieser Abschnitt ähnelt dem ersten Kapitel des 1. Buches Mose. In beiden Stellen finden wir: 1. Zerstörung, Chaos und Verwüstung (1. Mose  1,2a;  Eph  2,1-3),  2. den Erweis göttlicher Kraft (1. Mose 1,2b; Eph 2,4) und 3. die Erschaffung neuen Lebens (1. Mose 1,3-31; Eph 2,5-22). Zu Beginn von Epheser 2 befinden wir uns geistlich gesehen als Leblose im Tal des Todes. Zum Schluss des Kapitels sind wir nicht nur in Christus in die Himmelswelt versetzt, sondern wir verkörpern auch die Behausung Gottes im Heiligen Geist. Dazwischen finden wir das große Wunder, das diese erstaunliche Umwandlung herbeigeführt hat. Die ersten zehn Verse beschreiben Gottes Macht bei der Errettung der Heiden und Juden. Kein Aschenputtel ist je von solchen Lumpen zu solcher Herrlichkeit emporgestiegen!
In den Versen 1 und 2 erinnert Paulus seine heidnischen Leser daran, dass sie vor ihrer Bekehrung »tot« waren, in moralischer Verderbnis, böse und ungehorsam. Sie waren geistlich »tot« als Folge ihrer »Vergehungen und Sünden«. Das bedeutet, dass sie Gott gegenüber kein Leben hatten. Sie hatten keinen Kontakt mit ihm. Sie lebten, als ob er nicht existieren würde. Die Ursache des Todes waren die »Vergehungen und Sünden«. »Sünden« umfassen alle Formen des Fehlverhaltens (ob der Betreffende nun bewusst gehandelt hat oder nicht) und alle Gedanken, Worte oder Taten, die nicht Gottes Vollkommenheit entsprechen. »Vergehungen« sind Sünden, bei denen ein bekanntes Gesetz verletzt wurde. Im weiteren Sinne kann dazu auch jede Form von Fehltritten oder Vorspiegelung falscher Tatsachen gehören.
2,2 Die Epheser befanden sich sowohl in moralischer Verderbnis als auch im Zustand des Todes. Sie wandelten »gemäß dem Zeitlauf dieser Welt«. Sie hatten sich dem Geist dieses Zeitalters angepasst. Sie gefielen sich in den Sünden ihrer Zeit. Die Welt hat ihre Denk- und Verhaltensmuster, aus denen irdisch gesinnte Menschen von sich aus nicht ausbrechen können. Es geht um Betrug, Sittenlosigkeit, Gottlosigkeit, Selbstsucht, Gewalt und Auflehnung. Mit einem Wort, es geht um Strukturen moralischer Verderbnis. Und genauso waren die Epheser vor ihrer Bekehrung.
Und nicht nur das, ihr Verhalten war auch böse. Sie folgten Satans Beispiel, »dem Fürsten der Macht der Luft, des Geistes«. Sie wurden vom Obersten der bösen Geister geführt, der den Luftbereich beherrscht. Sie waren dem Gott dieses Zeitalters willentlich gehorsam. Das erklärt, warum die Unbekehrten sich zuweilen zu Formen der Sünde verleiten lassen, die oft schlimmer sind als das Verhalten der Tiere.
Schließlich waren sie ungehorsam und wandelten nach dem Geist, »der jetzt in den Söhnen des Ungehorsams wirkt«. Alle unerlösten Menschen sind »Söhne des Ungehorsams« in dem Sinne, dass ihr Verhalten von »Ungehorsam« gegenüber Gott gekennzeichnet ist. Die Triebkraft ihres Handelns ist satanischen Ursprungs. Deshalb sind sie geneigt, dem Herrn ungehorsam zu sein, ihn zu verunehren und ihm zu trotzen.
2,3 Paulus wechselt vom Personalpronomen ihr zum wir. Damit zeigt er an, dass er nun in erster Linie von den jüdischen Gläubigen spricht (obwohl das Gesagte auch für alle gilt, die noch nicht bekehrt sind). Drei Wendungen beschreiben ihre Stellung: fleischlich gesinnt, verdorben, verdammt.
»Unter diesen hatten auch wir einst alle unseren Verkehr in den Begierden unseres Fleisches.« Auch Paulus und seine Mitchristen wandelten einst unter den Söhnen des Ungehorsams, ehe sie wiedergeboren wurden. Ihr Leben war fleischlich und beschäftigte sich nur mit der Befriedigung fleischlicher Bedürfnisse und Triebe. Paulus selbst hatte äußerlich im Großen und Ganzen ein moralisch hochstehendes Leben geführt, doch dann erkannte er, wie sehr dieses Leben auf ihn selbst bezogen war. Und was sein Innerstes betraf, so war er noch viel schlimmer, weil seine Schuld weit über seine Tatsünden hinausging. Die unbekehrten Juden befanden sich ebenfalls in moralischer Verderbnis, indem sie »den Willen des Fleisches und der Gedanken taten«. Damit ist die Hingabe an jegliche menschliche Begierde gemeint. Der Ausdruck »Willen des Fleisches und der Gedanken« kann durchaus legitime Bedürfnisse umfassen, allerdings auch die verschiedensten Formen von Unmoral und Perversion beinhalten. Hier liegt die Betonung sicherlich auf den gröberen Sünden. Und man beachte, dass Paulus hier sowohl die Gedanken- als auch die Tatsünden anspricht.
F. B. Meyer warnt:
Es ist genauso schlimm, sich dem Willen der Gedanken hinzugeben, wie sich dem Willen des Fleisches zu unterwerfen. Durch die wunderbare Gabe der Vorstellungskraft können wir in unheiligen Träumen schwelgen und alle Zügel der Vernunft den Leidenschaften überlassen, bevor wir sie stets erst kurz vor der Verwirklichung unserer Träume bremsen. Kein menschliches Auge folgt der Seele, wenn sie am Satyrtanz beteiligt ist oder sich im Labyrinth lustvoller Inseln verliert. Sie wandelt dort, ohne dass einer ihrer Nächsten irgendetwas wahrnimmt. Der Ruf einer schneeweißen Reinheit wird nicht gefährdet. Diese Seele darf noch immer mit den Jungfrauen auf die Ankunft des Bräutigams warten. Doch wenn diese Sünde in der Gedankenwelt nicht gerichtet und bekannt wird, so wird der Täter zu einem Sohn des Ungehorsams und einem Kind des Zorns.10 Das ist die letzte Beschreibung, die Paulus von den unerretteten Juden gibt: Sie waren »von Natur Kinder des Zorns … wie auch die anderen«. Das bedeutet, dass sie einen natürlichen Hang zu Wut, Bosheit, Bitterkeit und Jähzorn hatten. Dieses Schicksal teilten sie mit dem Rest der Menschheit. Natürlich ist es auch wahr, dass sie unter dem Zorn Gottes standen. Sie waren zu Tod und Gericht bestimmt. Man beachte, dass in den Versen 2 und 3 die drei großen Feinde des Menschen genannt werden: die Welt (V. 2), Satan (V. 2) und das Fleisch (V. 3).
2,4 Die Worte »Gott aber« bilden einen der bedeutungsvollsten, inhaltsschwersten und anregendsten Überleitungen der gesamten Literatur. Sie zeigen an, dass ein enormer Wechsel stattgefunden hat. Es ist der Wechsel von der Verzweiflung und Angst im Tal des Todes zu den unaussprechlichen Freuden, die dem Betreffenden im Reich des Sohnes der Liebe Gottes zugedacht sind. Die Ursache dieses Wechsels ist »Gott« selbst. Niemand sonst hätte das tun können, und kein anderer hätte es getan. Eines der Wesensmerkmale des hochgelobten Gottes besteht darin, dass er »reich ist an Barmherzigkeit«. Er erweist uns »Barmherzigkeit«, indem er uns nicht so behandelt, wie wir es verdient hätten (Ps 103,10). »Obwohl sich seine Barmherzigkeit über mehr als 6000 Jahre Menschheitsgeschichte erstreckt und unzählige Menschen an ihr Anteil hatten bzw. haben, ist diese Barmherzigkeit noch immer eine unerschöpfte Fundgrube des Reichtums«, wie Eadie anmerkt11. Der Grund für Gottes Eingreifen wird uns in den Worten: »um seiner vielen Liebe willen, womit er uns geliebt hat« mitgeteilt. Seine Liebe ist »groß« (LU 1984), weil er selbst ihr Ursprung ist. So wie die Größe eines Gebers sich auch in der Größe seiner Gabe ausdrückt, so fügt Gottes überragende Vortrefflichkeit seiner Liebe einen außerordentlich hellen Glanz hinzu. Es ist so viel größer, von dem mächtigen Beherrscher des Universums geliebt zu werden, als etwa von einem Mitmenschen.
Und Gottes Liebe ist groß, weil er einen großen Preis dafür gezahlt hat. Gottes Liebe sandte den Herrn Jesus, seinen eingeborenen Sohn, damit er für uns die Todesqualen auf Golgatha erdulden sollte. Gottes Liebe ist groß wegen der unausforschlichen Reichtümer, die sie über den Geliebten ausschüttet.
2,5 Und Gottes Liebe ist groß, weil die Personen, denen diese Liebe gilt, ihrer äußerst unwürdig sind. Wir waren »in den Vergehungen tot«. Wir sind Feinde Gottes. Wir waren verlassen und hatten uns selbst erniedrigt. Und trotz alledem liebte Gott uns.
Infolge der Liebe Gottes zu uns und als Ergebnis des Erlösungswerks Christi hat er uns 1. »mit dem Christus lebendig gemacht«, 2. mit ihm auferweckt und 3. in ihm in der Himmelswelt mitsitzen lassen. Diese drei Ausdrücke beschreiben unsere geistliche Stellung, die wir durch unsere Verbindung mit ihm erhalten. Er handelte als unser Stellvertreter – nicht nur für uns, sondern auch so, als ständen wir dort. Deshalb starben wir, als er starb. Als er begraben wurde, wurden auch wir begraben.
Als er »lebendig gemacht« und auferweckt wurde und in der Himmelswelt seinen Thron erhielt, da geschah dasselbe mit uns. Alle Auswirkungen seines Opfertods dürfen wir genießen, weil wir mit ihm verbunden sind. Mit ihm »lebendig gemacht« zu sein, bedeutet, dass bekehrte Juden und bekehrte Heiden jetzt mit ihm in einem neuen Leben verbunden sind. Dieselbe Kraft, die ihm das Auferstehungsleben gab, hat er auch uns zugeeignet.
Diese Tatsachen sind so wunderbar, dass Paulus hier seinen Gedankengang unterbrechen muss und ausruft: »Durch Gnade seid ihr errettet!« Er ist von der unermesslichen »Gnade« Gottes überwältigt, die Gott denen erwiesen hat, die genau das Gegenteil verdient hätten. Das ist echte »Gnade«!
Wir haben schon erwähnt, was Barmherzigkeit bedeutet: Wir erhalten nicht die Strafe, die wir verdient hätten. »Gnade« bedeutet nun, dass wir die Erlösung erhalten, die wir nicht verdient haben. Wir bekommen sie als Geschenk, nicht als Lohn für unsere Taten. Und sie kommt von dem Einen, der am wenigsten verpflichtet gewesen wäre, sie uns zu geben. A. T. Pierson sagt: Dies ist ein freiwilliger Liebesbeweis, zu dem er absolut nicht verpflichtet ist. Die Herrlichkeit der Gnade besteht darin, dass sie ein völlig freier, uneingeschränkter Liebes erweis Gottes gegenüber armen Sündern ist.12
2,6 Der Ort, an dem wir gegenwärtig in Christus regieren.
2,6 Wir sind nicht nur mit Christus lebendig gemacht worden, sondern wir sind mit ihm auch »auferweckt«. So wie Tod und Gericht hinter ihm liegen, so gehört auch für uns das Gericht der Vergangenheit an. Selbst der leibliche Tod kann uns nicht mehr schrecken, weil wir mit einem Herrlichkeitsleib auferstehen werden. Wir stehen auf der Auferstehungsseite des Grabes. Das ist unsere herrliche Stellung durch unsere Vereinigung mit ihm. Und weil das für unsere Stellung gilt, sollten wir auch wie Auferstandene leben.
Ein anderer Aspekt unserer Stellung ist, dass wir in ihm »in der Himmelswelt in Christus Jesus … mitsitzen«. Durch unsere Vereinigung mit ihm werden wir schon als diejenigen angesehen, die von dieser gegenwärtigen bösen Welt befreit sind und »in Christus« in die Himmelswelt versetzt (vgl. Menge). So sieht Gott uns. Wenn wir das im Glauben annehmen, dann wird das unser Leben verändern. Wir sind nicht mehr länger an die Erde gebunden und beschäftigen uns nicht mehr mit belanglosen und vergänglichen Dingen. Wir werden das suchen, was droben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt (Kol 3,1).
Der Schlüssel zu den Versen 5 und 6 ist der Ausdruck »in Christus Jesus«. In ihm sind wir lebendig gemacht, auferweckt und mit eingesetzt. Er ist unser Stellvertreter, deshalb gehören uns seine Siege und seine Stellung. George Williams ruft aus: »Welch erstaunlicher Gedanke! Eine Maria Magdalena und ein gekreuzigter Verbrecher dürfen Teilhaber der Herrlichkeit des Sohnes Gottes sein.«
2,7 Um dieses Wunder der umgestaltenden Gnade wird es bei den Offenbarungen in der Ewigkeit gehen. Durch die ewigen Zeitalter hindurch wird Gott den himmlischen Heerscharen offenbaren, was es ihn kostete, seinen Sohn in diesen Sündenpfuhl zu senden. Es wird darum gehen, was es den Herrn Jesus kostete, unsere Sünden am Kreuz zu tragen. Dieses Thema wird sich niemals erschöpfen lassen. Und wieder häuft Paulus hier Worte auf, um die außerordentliche Größe dieser Tatsache zu verdeutlichen: Seine Güte an uns
Seine Gnade in Güte an uns Der Reichtum seiner Gnade in Güte an uns
Der überschwängliche Reichtum seiner Gnade in Güte an uns Nun folgt daraus, dass wir dann, wenn Gott dies in der Ewigkeit »erweisen« wird, lernen werden. Der Himmel wird die Schule und Gott unser Lehrer sein. »Seine Gnade« wird das Schulfach sein, während wir die Schüler sein werden. Und das Schuljahr wird die Ewigkeit umfassen.
Das sollte uns von der Vorstellung befreien, dass wir alles wissen werden, wenn wir in den Himmel kommen. Nur Gott weiß alles, und wir werden ihm niemals völlig gleich sein.13 Das wirft auch die interessante Frage auf: Wie viel werden wir wissen, wenn wir in den Himmel kommen? Und es legt die Möglichkeit nahe, dass wir uns für die himmlische Universität vorbereiten können, indem wir uns jetzt intensiv mit der Bibel befassen.
2,8 Die nächsten drei Verse zeigen uns in einer klaren Aussage den Erlösungsplan so einfach, wie wir es sonst in der Bibel nicht finden.
Alles fängt mit der »Gnade« Gottes an: Er ergreift die Initiative, indem er uns seine Gnade schenkt. Die Erlösung wird Menschen geschenkt, die ihrer ausgesprochen unwürdig sind, und zwar auf der Grundlage der Person und des Werkes des Herrn Jesus Christus. Die Gnade wird uns als gegenwärtiger Besitz zugeeignet. Diejenigen, die errettet sind, können es wissen. Paulus sagt, als er den Ephesern schreibt: »Ihr seid errettet.« Er wusste das, und sie wussten es auch.
Die Gabe des ewigen Lebens kann man nur »durch Glauben« erlangen. »Glauben« bedeutet, dass der Mensch seinen Platz vor Gott als verlorener, schuldiger Sünder einnimmt und den Herrn Jesus als seine einzige Hoffnung auf Erlösung annimmt. Wahrer, errettender Glaube liegt vor, wenn ein Mensch sein Leben Jesus Christus, dem Sohn des Menschen, übergibt.
Jede Vorstellung, dass der Mensch sich die Erlösung in irgendeiner Weise verdienen könnte, wird für immer durch die Worte zunichtegemacht: »… und das nicht aus euch.« Tote können nichts tun, und Sünder verdienen nichts anderes als Strafe.
»Gottes Gabe ist es.« Eine Gabe ist natürlich ein kostenloses Geschenk, woran keine Bedingungen geknüpft sind. Nur auf dieser Grundlage bietet uns Gott das Heil an. Die »Gabe Gottes« ist Erlösung »aus Gnade« und »durch Glauben«. Sie wird allen Menschen überall auf der Welt angeboten.
2,9 Erlösung kommt »nicht aus Werken«, d. h. sie ist nicht etwas, das sich jemand durch sogenannte gute Taten verdienen könnte. Man kann sich das Heil keineswegs verdienen durch: 1. Konfirmation
2. Taufe
3. Kirchenmitgliedschaft 4. Gottesdienstbesuch
5. Heilige Kommunion
6. den Versuch, die Zehn Gebote zu halten
7. Leben nach der Bergpredigt 8. Almosengeben
9. das Bemühen, ein guter Nächster sein 10. das Bestreben, ein ethisch hochstehendes, angesehenes Leben zu führen. Man wird nicht durch »Werke« gerettet. Und man wird auch nicht durch Glauben und »Werke« gerettet. Vielmehr wird man nur »durch Glauben« gerettet. Sobald man irgendwelche Werke als Mittel hinzufügt, das ewige Leben zu erlangen, würde die Erlösung nicht länger auf Gnade beruhen (Röm 11,6). Ein Grund für die Tatsache, dass »Werke« ausdrücklich ausgeschlossen sind, besteht darin, dass damit der menschliche Selbstruhm verhindert wird. Wenn jemand sich durch »Werke« retten könnte, so könnte er sich damit vor Gott brüsten. Das ist jedoch unmöglich (Röm 3,27).
Wenn jemand durch seine eigenen guten Werke hätte gerettet werden können, dann wäre der Tod Christi unnötig gewesen (Gal 2,21). Doch wir kennen den Grund, warum er sterben musste: Es gab und gibt keine andere Möglichkeit, wodurch schuldige Sünder gerettet werden können.
Wenn irgendjemand durch seine eigenen guten Werke gerettet würde, dann wäre er sein eigener Erlöser und könnte sich selbst anbeten. Doch das wäre Götzendienst, und den hat Gott verboten (2. Mose 20,3). Auch wenn jemand durch Glauben an Christus und seine eigenen guten Werke errettet werden könnte, dann hätten wir den absurden Zustand, dass es zwei Erlöser gibt – Jesus und den Sünder. Christus müsste dann die Ehre für seine Stellung als Heiland mit einem anderen teilen, und das wird er nicht tun (Jes 42,8). Schließlich haben wir noch das Argument, dass Gott einem Menschen etwas schuldig wäre, wenn der Mensch zu seiner Erlösung durch seine Werke etwas beitragen könnte. Auch das ist unmöglich. Gott kann niemals einem Menschen etwas schulden (Röm 11,35). Im Gegensatz zu den Werken schließt der Glaube das Rühmen aus (Röm 3,27), weil darin kein Verdienst liegt. Niemand hat ein Recht, darauf stolz zu sein, dass er sein Leben dem Herrn anvertraut hat. Glaube an ihn ist das Vernünftigste, Sinnvollste und Wichtigste, was ein Mensch tun kann. Es ist nur logisch und vernünftig, seinem Schöpfer und Erlöser zu vertrauen. Wenn wir ihm nicht vertrauen können, wem dann?
2,10 Das Ergebnis der Erlösung besteht darin, dass wir »sein Gebilde« sind, ein erstklassiges Werk Gottes, keine Eigenkreation. Ein wiedergeborener Christ ist ein Meisterstück Gottes. Wenn wir an das Rohmaterial denken, mit dem er sich zufriedengeben muss, so ist sein Werk umso erstaunlicher. Dieses Meisterstück ist in der Tat eine Neuschöpfung durch die Vereinigung mit Christus, denn »wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2. Kor 5,17). Und das Ziel dieser Neuschöpfung findet sich in dem Ausdruck »zu guten Werken«. Es stimmt zwar, dass wir nicht durch gute Werke gerettet werden, doch es trifft genauso zu, dass wir zu guten Werken errettet werden. »Gute Werke« sind nicht die Wurzel, sondern die Frucht. Wir tun keine Werke, um errettet zu werden, sondern weil wir errettet sind. Dieser Aspekt der Wahrheit wird in Jakobus 2,14-26 betont. Wenn Jakobus sagt, dass »Glaube ohne Werke tot« ist, dann meint er nicht, dass wir durch Glauben und Werke errettet werden. Vielmehr meint er den Glauben, der zu einem Leben »guter Werke« führt. »Werke« beweisen die Echtheit unseres Glaubens. Paulus stimmt von Herzen ein: »Wir sind sein Gebilde, in Christus Jesus geschaffen zu guten Werken.«
Gottes Reihenfolge ist folgende: Glaube Errettung gute Werke Lohn. Glaube führt zur Errettung. Errettung führt zu »guten Werken«. Gute Werke werden von Gott belohnt. Doch nun erhebt sich die Frage: Welche Art von »guten Werken« soll ich denn tun? Paulus antwortet: »Gute Werke, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen.« Mit anderen Worten, Gott hat einen Plan für jeden Menschen. Schon vor unserer Bekehrung hat er geplant, wie unsere künftige geistliche Entwicklung aussehen soll. Unsere Verantwortung besteht darin, seinen Willen für uns herauszufinden und diesem Willen zu gehorchen. Wir brauchen keinen eigenen Plan für unser Leben auszuarbeiten, sondern müssen den Plan annehmen, den er für uns vorgezeichnet hat. Das befreit uns von Verdrießlichkeit sowie Verzweiflung und gibt uns die Zusicherung, dass unser Leben ihm die größtmögliche Ehre bringt, andere am besten segnet und uns den größten Lohn einträgt. Um die »guten Werke«, die er für uns geplant hat, herauszufinden, sollten wir: 1. jede Sünde bekennen und lassen, sobald sie uns bewusst wird, 2. ihm ständig und ohne Vorbehalte hingegeben sein, 3. das Wort Gottes studieren, um seinen Willen zu erkennen, und dann tun, was immer er uns sagt, 4. jeden Tag Zeit im Gebet verbringen, 5. sich bietende Gelegenheiten zum Dienst ergreifen, und 6. die Gemeinschaft mit anderen Christen pflegen sowie ihren Rat einholen. Gott bereitet uns für »gute Werke« zu, und er bereitet »gute Werke« für uns zu. Dann belohnt er uns, wenn wir sie tun. So groß ist seine Gnade!
E. Die Einheit der gläubigen Juden und Heiden in Christus (2,11-22) In der ersten Hälfte von Kapitel 2 hat Paulus die Erlösung einzelner Heiden und Juden nachgezeichnet. Nun geht er zur Aufhebung der ehemaligen nationalen Unterschiede über. Er beschreibt ihre Einheit in Christus und ihre Einfügung in die Gemeinde, den heiligen Tempel im Herrn.
2,11 In den Versen 11 und 12 erinnert der Apostel seine Leser daran, dass sie vor ihrer Bekehrung durch Geburt »aus den Nationen« waren und deshalb von den Juden wie Aussätzige behandelt wurden. Zunächst waren sie also verachtet. Das wird durch die Tatsache gezeigt, dass die Juden sie »Unbeschnittene« nannten. Dies bedeutete, dass die Heiden an ihrem Leib nicht das chirurgische Zeichen trugen, das die Israeliten als Volk des Bundes Gottes bezeichnete. Der Name »Unbeschnittene« war eine rassistische Beleidigung, ähnlich den Schimpfnamen, die Völker heute für verachtete Nationalitäten benutzen. Wir können ein wenig von der Schärfe dieses Schimpfnamens erahnen, wenn wir hören, wie David von dem Heiden Goliath sagt: »Wer ist denn dieser unbeschnittene Philister da, der die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt?« (1. Sam 17,26). Die Juden dagegen nannten sich selbst die »Beschneidung«. Auf diesen Namen waren sie stolz. Er bezeichnete sie als Gottes auserwähltes irdisches Volk, das von allen anderen Nationen der Welt ausgesondert worden war. Paulus nimmt an ihrem Rühmen teilweise An stoß, indem er sagt, dass ihre Bes chneid ung nur »im Fleisch mit Händen geschieht«. Sie ist rein äußerlich. Obwohl sie das äußere Zeichen des Bundesvolkes Gottes trugen, stimmte es doch bei vielen von ihnen innerlich nicht: Sie glaubten nicht wirklich an den Herrn. »Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben. Sein Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott« (Röm 2,28.29). Doch ob die Juden nun im Herzen auch beschnitten waren oder nicht, das Argument in Vers 11 ist, dass sie in ihren Augen das Volk waren und die Heiden verachteten. Diese Feindschaft zwischen Juden und Heiden war der größte volksgruppenbezogene und religiöse Gegensatz, den die Welt je gesehen hat. Die Juden genossen eine große Vorrangstellung vor Gott (Röm 9,4.5); der Heide war ein Fremdling. Wenn er den wahren Gott in der festgesetzten Weise verehren wollte, so musste er ein jüdischer Konvertit werden (vgl. Rahab und Rut). Der jüdische Tempel in Jerusalem war der einzige Ort auf Erden, wo Gott seinen Namen wohnen lassen wollte und wo die Menschen sich ihm nahen konnten. Den Heiden war es bei Todesstrafe verboten, die inneren Tempelhöfe zu betreten.
In seinem Gespräch mit einer heidnischen Frau in der Gegend von Tyrus und Sidon prüfte der Herr Jesus ihren Glauben, indem er die Juden als Kinder des Hauses und die Heiden als Hündlein unter dem Tisch darstellte. Sie erkannte an, dass sie nur ein kleiner Hund war, doch sie bat um einige Krumen, die die Kinder vielleicht fallen ließen. Man braucht kaum zu erwähnen, dass ihr Glaube belohnt wurde (Mk 7,24-30). Hier in Epheser 2,11 erinnert der Apostel seine Leser daran, dass sie einst Heiden und deshalb verachtet waren.
2,12 Die Heiden waren auch »ohne Christus«: Sie hatten keinen Messias. Der Messias war Israel verheißen. Obwohl vora usgesagt war, dass auch die Nat ionen durch den Dienst des Messias gesegnet würden (Jes 11,10; 60,3), würde er doch ein Jude sein und in erster Linie »den verlorenen Schafen des Hauses Israel« dienen (Matth 15,24). Zusätzlich zu der Tatsache, dass sie ohne Messias waren, waren die Heiden auch »ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels«. Ein Fremder ist jemand, der nicht dazug ehört. Er ist ein aus der Ferne Zugezogener und Ausländer, er hat keine Privilegien der Staatsbürgerschaft. Auf die Gemeinschaft Israels bezogen hieß das, dass die Heiden draußen standen und nur hineinschauen konnten. Und sie waren »Fremdlinge hinsichtlich der Bündnisse der Verheißung«. Gott hatte durch Männer wie Abraham, Isaak, Jakob, Mose, David und Salomo mit dem Volk Israel Bündnisse geschlossen. Diese »Bündnisse« verheißen den Juden Segnungen. Im Grunde standen die Heiden diesbezüglich draußen. Sie hatten keine »Hoffnung«, sowohl als Einzelne wie auch als Volksgemeinschaft. Als Volksgemeinschaft hatten sie keinerlei Verheißung hinsichtlich des Fortbestandes ihres Landes, ihrer Obrigkeit oder ihres Volkes. Und auch als Einzelne hatten sie nur trübe Aussichten: Sie hatten »keine Hoffnung« über das Grab hinaus. Jemand hat einmal gesagt, dass ihre Zukunft eine sternenlose Nacht war. Und schließlich waren die Heiden auch noch »ohne Gott in der Welt«. Das heißt nicht, dass sie Atheisten gewesen wären. Sie hatten ihre hölzernen sowie steinernen Götter und beteten sie an. Doch sie kannten den einen und einzig wahren Gott nicht. Sie waren ohne Gott in einer gottlosen, feindlichen Welt.
2,13 Die Worte »jetzt aber« markieren einen weiteren, stufenlosen Übergang (vgl. 2,4). Die ephesischen Heiden wurden aus dieser Stellung der Entfernung und Entfremdung erlöst und in eine Stellung der Gottesnähe erhoben. Das geschah zur Zeit ihrer Bekehrung. Als sie dem Heiland ihr Leben anvertrauten, versetzte Gott sie »in Christus Jesus« und nahm sie in dem Geliebten an. Von da an waren sie Gott so »nahe« wie Christus, weil sie »in Christus Jesus« waren. Der Preis dieser wunderbaren Veränderung war »das Blut des Christus«. Ehe diese heidnischen Sünder das Vorrecht der Nähe zu Gott genießen konnten, mussten sie von ihren Sünden gereinigt werden. Nur »das Blut des Christus«, das auf Golgatha vergossen worden ist, konnte das erreichen. Als sie den Herrn Jesus durch einen bewussten Glaubensakt annahmen, wurde der gesamte reinigende Wert seines kostbaren Blutes ihrem Konto gutgeschrieben.
Jesus hat sie nicht nur »nahe« gebracht, er hat auch eine neue Gemeinschaft geschaffen, in der die alte Feindschaft zwischen Juden und Heiden für immer abgeschafft war. Bis zur Zeit des NT war die ganze Welt in zwei Personenkreise eingeteilt – in Juden und Heiden. Unser Heiland hat einen dritten eingeführt – die Gemeinde  Gottes  (1. Kor  10,32).  In  den folgenden Versen sehen wir, wie gläubige Juden und gläubige Heiden in Christus eins gemacht und in diese neue Gemeinschaft eingeführt werden, in der es weder Juden noch Heiden gibt.
2,14 »Denn er ist unser Friede.« Man beachte, dass es nicht heißt: »Er hat Friede geschaffen.« Das stimmt natürlich auch, wie wir im nächsten Vers sehen werden. Doch hier geht es um die Tatsache, dass er selbst unser »Friede« ist. Aber wie kann eine Person Friede sein? Das verhält sich folgendermaßen: Wenn ein Jude an den Herrn Jesus glaubt, verliert er seine nationale Identität und ist fortan »in Christus«. Genauso gilt: Wenn ein Heide den Heiland annimmt, ist er nicht länger ein Heide, sondern fortan »in Christus«. Mit anderen Worten, gläubige Juden und gläubige Heiden, die einst durch Feindschaft getrennt waren, sind nun »beide eins« in Christus. Ihre Vereinigung mit Christus schafft gleichzeitig die Einheit miteinander. Deshalb ist ein Mensch der »Friede« geworden, so wie Micha vorausgesagt hat (Micha 5,4). Die Auswirkungen seines Werkes als »unser Friede« werden in den Versen 14-18 genauer ausgeführt. Das erste ist das Werk der Vereinigung, das wir soeben beschrieben haben. »Er hat aus beiden eins gemacht« – d. h. gläubige Heiden und gläubige Juden sind nun miteinander vereint. Sie sind nicht länger Juden oder Heiden, sondern Christen. Streng genommen ist es falsch, von ihnen als Juden- und Heidenchristen zu sprechen. Alle fleischlichen Unterscheidungen, wie etwa die Nationalität, sind ans Kreuz geschlagen.
Die zweite Phase des Werkes Christi könnte man »Abbruch des bisher Trennenden« nennen: »Er hat … die Zwischenwand der Umzäunung abgebrochen.« Natürlich ist damit keine wirkliche Mauer, sondern die unsichtbare Mauer gemeint, die durch das mosaische Gesetz aufgerichtet worden war. Darin gab es Anweisungen, die das Volk Israel von den Nationen absonderten. Das ist oft durch die Mauer dargestellt worden, die die Nichtjuden im Tempel auf den Vorhof der Heiden beschränkte. An der Mauer gab es Warnschilder, die lauteten: »Kein Angehöriger einer fremden Nation darf sich innerhalb des Zaunes und der Mauer um den Tempel aufhalten. Wer immer dieses Gebot übertritt, ist selbst für die Tatsache verantwortlich, dass er mit dem Tod bestraft wird.«
2,15 Ein dritter Aspekt des Werkes Christi war die Beendigung der »Feindschaft«, die zwischen Juden und Heiden und auch zwischen Mensch und Gott schwelte. Paulus zeigt, dass das Gesetz, d. h. »das Gesetz der Gebote in Satzungen«, die unschuldige Ursache dieser Feindschaft war. Das Gesetz des Mose war ein einziges Gesetzeswerk, doch es bestand aus einzelnen Geboten. Diese wiederum bestanden aus Lehren oder Anordnungen, die viele – wenn nicht die meisten – Bereiche des Lebens abdeckten. Das Gesetz selbst war heilig, gerecht und gut (Röm 7,12), doch die sündhafte Natur des Menschen benutzte das Gesetz als Anlass zum Hass. Weil das Gesetz Israel im Grunde als auserwähltes Volk Gottes auf Erden einsetzte, wurden die Juden überheblich und behandelten die Heiden mit Verachtung. Die Heiden schlugen mit tiefem Hass zurück, den wir nur zu gut als Antisemitismus kennen. Doch wie konnte Christus das Gesetz als Grund der »Feindschaft« abschaffen? Zuerst starb er, um die Strafe dafür zu bezahlen, dass das Gesetz gebrochen worden war. So hat er alle gerechten Ansprüche Gottes erfüllt. Nun hat das Gesetz denjenigen, die »in Christus« sind, nichts mehr zu sagen, denn ihre Strafe ist völlig abgegolten. Die Gläubigen stehen nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Doch das bedeutet nicht, dass sie jetzt leben könnten, wie es ihnen gefällt. Vielmehr stehen sie jetzt unter dem Gesetz Christi und sollen leben, wie es ihm gefällt. Nun ist die Feindschaft abgeschafft, die im Gesetz ihre Ursache hatte. Infolgedessen hat der Herr die Möglichkeit geschaffen, eine neue Schöpfung einzuführen. Er hat in sich selbst aus den beiden – d. h. aus den gläubigen Juden und den gläubigen Heiden – »einen neuen Menschen« geschaffen – die Gemeinde. Durch ihre Vereinigung mit ihm sind die früheren Gegner miteinander in dieser »neuen« Gemeinschaft vereinigt. Die Gemeinde ist in dem Sinne neu, dass sie eine Art Organismus darstellt, den es vorher so noch nie gab. Es ist wichtig, das zu erkennen. Die neutestamentliche Gemeinde ist keine Fortsetzung des alttestamentlichen Israel. Sie ist von allem Vorhergehenden oder Nachfolgenden völlig verschieden. Das sollte aus dem Folgenden hervorgehen:
1. Es ist »neu«, dass die Heiden dieselben Rechte und Privilegien wie die Juden haben.
2. Es ist »neu«, dass sowohl Juden als auch Heiden ihre nationale Identität verlieren, indem sie Christen werden. 3. Es ist »neu«, dass Juden und Heiden gemeinsam Glieder am Leib Christi sind.
4. Es ist »neu«, dass ein Jude nun die Hoffnung hat, mit Christus zu regieren, statt Untertan in seinem Reich zu sein.
5. Es ist »neu«, dass der Jude nicht mehr dem Gesetz untersteht.
Die Gemeinde ist also eindeutig eine »neue« Schöpfung, die eine besondere Berufung sowie eine besondere Bestimmung hat und in den Plänen Gottes einen einzigartigen Platz einnimmt. Doch die Auswirkungen des Werkes Christi sind hier noch nicht erschöpft. Er hat auch »Frieden« zwischen Juden und Heiden geschlossen. Er tat das, indem er den Grund für die Feindschaft aufhob, den Menschen ein neues Wesen zueignete und eine neue Gemeinschaft schuf. Das Kreuz ist Gottes Antwort auf Diskriminierung bestimmter Volksgruppen, auf Rassentrennung, Antisemitismus, Fanatismus und jede Form von Zwietracht unter den Menschen.
2,16 Zusätzlich zur Versöhnung der Juden und Heiden untereinander hat Christus »die beiden … mit Gott« versöhnt. Obwohl Israel und die Nationen normalerweise einander bitter feind waren, gab es einen gemeinsamen Nenner, der sie verband – ihre Feindschaft Gott gegenüber (obwohl die Juden das Gegenteil behaupteten). Der Grund für diese Feindschaft war die Sünde. Durch seinen Tod am Kreuz nahm der Herr Jesus die »Feindschaft« weg, indem er ihre Ursache beseitigte. Diejenigen, die ihn annehmen, sind gerecht gemacht, ihnen ist vergeben, sie sind erlöst, begnadigt und befreit von der Macht der Sünde. Die Feindschaft ist vorbei, jetzt haben sie Frieden mit Gott. Der Herr Jesus vereinigt die gläubigen Juden und Heiden »in einem Leib«, der Gemeinde, und stellt diesen Leib vor Gott hin, an dem sich keine Spur der Feindschaft mehr findet.
Gott musste nie mit uns versöhnt werden, denn er hat uns nie gehasst. Aber wir mussten uns mit ihm versöhnen lassen. Das Werk unseres Herrn am Kreuz schuf die gerechte Grundlage, auf der wir in seine Gegenwart als Freunde statt als Feinde treten konnten.
2,17 In Vers 14 ist Jesus unser Friede. In Vers 15 hat er Frieden gestiftet. Nun sehen wir, dass er »kam und … Frieden verkündigt« hat. Wann kam er, und wie kam er? Zunächst kam er persönlich bei der Auferstehung. Und zweitens kam er, als den Heiligen Geist als Beistand sandte. Er »verkündigte Frieden« in der Auferstehung – ja, »Friede« war eines der ersten Worte, die er nach seiner Auferstehung aus den Toten sprach (Lk 24,36; Joh 20,19.21.26). Dann sandte er die Apostel in der Macht des Heiligen Geistes aus und »verkündigte« durch sie »Frieden« (Apg 10,36). Die Gute Nachricht des Friedens wurde »euch … verkündigt …, den Fernen« (den Heiden), und »den Nahen« (den Juden). Dies ist eine gnadenreiche Erfüllung von Gottes Verheißung in Jesaja 57,19.
2,18 Der praktische Beweis dafür, dass nun ein Zustand des Friedens zwischen den Gliedern des einen Leibes und Gott besteht, findet sich in Folgendem: Sie haben jederzeit »Zugang« zur Gegenwart Gottes. Das steht im deutlichen Gegensatz zur Haushaltung des AT, in der nur der Hohepriester das Allerheiligste betreten durfte, wo Gott anwesend war. Und er durfte auch nur an einem Tag des Jahres hineingehen. Eadie zeigt den Kont rast auf:
Doch nun genießt auch der fernste Heide, der in Christus ist, ganz real und fortwährend das große geistliche Vorrecht, das nur ein Mensch aus einem Stamm eines Volkes an einem Tag des Jahres besaß, und dies auch nur während seiner Amtszeit und in typologischer Hinsicht.14
Durch das Gebet kann jeder Gläubige den Thronsaal des Himmels betreten, vor dem Herrscher des Universums niederknien und ihn als »Vater« ansprechen. Hier wird uns nun die normale Ordnung, der wir im Gebet folgen sollten, angegeben. Als Erstes beten wir »durch ihn«  (d. h.  den  Herrn  Jesus).  Er  ist  der eine Mittler zwischen Gott und Menschen. Sein Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung beseitigten jedes Hindernis des Gesetzes, das uns davon abhielt, in die Gegenwart Gottes zu treten. Nun lebt er als Mittler droben, um uns in der Gemeinschaft mit dem Vater zu halten. Wir nahen uns Gott nur im Namen Christi. Weil wir selbst völlig unwürdig sind, berufen wir uns auf seine Würdigkeit. Die Teilhaber am Gebet sind »wir beide« – gläubige Juden und gläubige Heiden. Das Vorrecht besteht darin, dass wir »Zugang« haben. Unser Beistand im Gebet ist der Heilige Geist – »durch einen Geist«. »Ebenso aber nimmt auch der Geist sich unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir bitten sollen, wie es sich gebührt, aber der Geist verwendet sich selbst für uns in unaussprechlichen Seufzern« (Röm 8,26). Derjenige, dem wir uns nähern, ist der »Vater«. Kein Gläubiger des AT kannte Gott je als Vater. Vor der Auferstehung Christi standen die Menschen vor Gott als Geschöpfe vor ihrem Schöpfer. Erst nachdem Christus auferstanden war, sagte er: »Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott« (Joh 20,17). Als Auswirkung seines Erlösungswerks waren die Gläubigen zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal imstande, Gott »Vater« zu nennen. In Vers 18 sind alle drei Personen der Dreieinheit direkt am Gebet selbst des niedrigsten Gläubigen beteiligt: Er betet zu Gott dem »Vater«, naht sich ihm »durch« den Herrn Jesus Christus und spricht in der Kraft des Heiligen »Geistes«.
2,19 In den letzten vier Versen dieses Kapitels listet der Apostel Paulus einige der überwältigenden neuen Vorrechte der gläubigen Heiden auf. Sie sind »nicht mehr Fremde und Nichtbürger«. Niemals wieder werden sie Fremde, Hunde, Unbeschnittene, Ausgestoßene sein. Sie sind nun »Mitbürger« aller »Heiligen« des neutestamentlichen Zeitalters. Die Gläubigen mit jüdischen Vorfahren haben ihnen gegenüber keinen Vorteil mehr. Alle Christen sind im Himmel Bürger erster Klasse (Phil 3,20.21). Sie sind auch »Gottes Hausgenossen«. Sie sind nicht nur in das himmlische Reich Gottes versetzt worden, sie sind auch in die göttliche Familie adoptiert worden.
2,20 Und schließlich sind sie Glieder der Gemeinde geworden. Paulus stellt dies hier in einem Bild dar: Sie sind Steine im Bauwerk des heiligen Tempels geworden. Ganz ausführlich schildert Paulus diesen Tempel – seine »Grundlagen«, seinen »Eckstein«, seinen Zusammenhalt, seine Einheit und Symmetrie, sein Wachstum und andere einzigartige Eigenschaften.
Dieser Tempel ist »aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten«. Das bezieht sich auf die »Apostel und Propheten« des NT, nicht aber auf die alttestamentlichen Propheten, denn diese wussten noch nichts von der Gemeinde. Es bedeutet nicht, dass die »Apostel und Propheten« die Grundsteine der Gemeinde waren. Christus ist die »Grundlage« (1. Kor 3,11). Doch sie legten durch ihre Lehre in Bezug auf die Person und das Werk des Herrn Jesus die Grundlage. Die Gemeinde ist auf Christus gegründet, wie er durch das Bekenntnis und die Lehre der »Apostel und Propheten« offenbart wurde. Petrus bekannte ihn seinerzeit als den Christus, den Sohn des lebendigen Gottes. Daraufhin verkündigte Jesus, dass seine Gemeinde auf diesem Felsen gebaut werde, nämlich auf der festen Wahrheit, dass er der Gesalbte Gottes und Gottes einziger Sohn ist (Matth 16,18). In Offenbarung 21,14 werden die Apostel mit den zwölf Grundsteinen des heiligen Jerusalem in Verbindung gebracht. Sie sind nicht die Grundlage, aber sie sind eng damit verbunden, weil sie als Erste die großen Wahrheiten über Christus und die Gemeinde lehrten. Die »Grundlage«, die sie legten, ist für uns in den Schriften des NT festgehalten, obwohl sie selbst nicht mehr unter uns sind. In einem weiteren Sinne gibt es in allen Zeitaltern Menschen, deren Dienst apos tolischer oder prophetischer Art ist. Missionare und Gemeindegründer sind in einem etwas geringeren Sinne Apostel (»Gesandte«). Diejenigen, die das Wort zur Erbauung predigen, sind Propheten, doch sind sie nicht Apostel und Propheten in der Hauptbedeutung des Wortes. »Jesus Christus« ist nicht nur die »Grundlage« des Tempels, sondern auch der »Eckstein«. Ein einzelnes Bild bzw. ein einzelner Typus kann ihn nicht in seinen vielfachen Herrlichkeiten oder seinen verschiedenen Diensten zeigen. Es gibt mindestens drei mögliche Erklärungen des Wortes »Eckstein«, die alle auf den Herrn Jesus Christus als das einzige, über allen erhabene und unverzichtbare Haupt der Gemeinde hinweisen. 1. Wenn wir das Wort Eckstein hören, dann denken wir normalerweise an einen Stein, der sich an der unteren Ecke der Vorderseite eines Gebäudes befindet. Da der gesamte restliche Bau offensichtlich von ihm getragen wird, wird mit dem Bild vom Eckstein etwas grundlegend Wichtiges veranschaulicht. In diesem Sinne handelt es sich um ein wirkliches Bild des Herrn Jesus. Auch kann hier noch zusätzlich die Vorstellung der Vereinigung von Juden und Heiden in der Gemeinde durch ihn gemeint sein, weil dieser Stein zwei Wände miteinander verbindet.
2. Einige Bibelausleger glauben, dass das Wort, das wir mit Eckstein übersetzen, sich auf den Schlussstein eines Bogens bezieht. Dieser Stein hat den obersten Platz im Bogen inne und hält die anderen Steine an ihrem Ort. So ist Christus auch der über allen Erhabene in der Gemeinde. Er ist auch derjenige, auf den man nicht verzichten kann: Wenn man ihn entfernt, bricht alles andere zusammen.
3. Eine dritte Verständnismöglichkeit des Wortes hat mit dem Schlussstein einer Pyramide zu tun. Dieser Stein hat den obersten Platz im ganzen Gebäude inne. Er allein hat diese Größe und Gestalt. Und seine Winkel und Kanten bestimmen die Gestalt der gesamten Pyramide. So ist Christus das Haupt der Gemeinde. Seine Person und sein Dienst sind einzigartig, und er ist der Eine, der der Gemeinde ihre einzigartigen Eigenschaften gibt. Als Erstes ist er ihre »Grundlage«:
2,21 Die Worte »in ihm« beziehen sich auf Christus: Er ist die Quelle des Lebens und des Wachstums der Gemeinde. Blaikie sagt:
In ihm werden wir zur Gemeinde hinzugefügt, in ihm wachsen wir in ihr, in ihm wächst der ganze Tempel zu seiner endgültigen Bestimmung, wenn der »Eckstein« unter den Rufen »Gnade, Gnade für ihn« (vgl. Sach 4,7; Anm. d. Übers.) eingefügt wird.15 Die Einheit und Symmetrie des Tempels wird durch die Ausdrücke »zusammengefügt« und »der ganze Bau« angedeutet. Es handelt sich um eine Einheit vieler einzelner Glieder. Jedes Glied hat einen besonderen Platz in dem »Bau«, für den es – ob Mann oder Frau – genau geeignet ist. Steine, die im Tal des Todes zur Ehre Gottes ausgegraben wurden, erweisen sich als vollkommen passend. Dieses Gebäude hat die einzigartige Eigenschaft, dass es »wächst«. Doch diese Eigenschaft gleicht nicht dem Wachstum eines Gebäudes, das seiner Vollendung entgegengeht, indem Steine und Zement hinzugefügt werden. Man denke es sich eher als das Wachstum eines lebendigen Organismus, wie etwa des menschlichen Leibes. Denn schließlich ist die Gemeinde kein lebloses Gebäude. Auch handelt es sich nicht um eine Organisation. Sie ist eine lebendige Einheit mit Christus, der das Haupt ist und dessen Leib alle Gläubigen sind. Die Geburtsstunde der Gemeinde war zu Pfingsten. Seitdem ist dieser Leib immer weiter gewachsen, und er wird es auch in Zukunft bis zur Entrückung tun. Dieses wachsende Gebäude aus lebendigen Steinen wird als »heiliger Tempel im Herrn« beschrieben. Das Wort, das Paulus hier für »Tempel« benutzt, ist das, was das Allerheiligste (gr. naos) bezeichnet, nicht den Vorhof. Er dachte an das Hauptgebäude im Tempelbezirk, in dem sich das Allerheiligste befand. Dies war die Wohnstätte Gottes, und dort zeigte er sich in einer lichten, leuchtenden Herrlichkeitswolke.
Wir können hier mehreres lernen: 1. Gott wohnt in der Gemeinde. Gerettete Juden und Heiden sind ein lebendiges Heiligtum, in dem er wohnt und seine Herrlichkeit offenbart. 2. Dieser Tempel ist heilig. Er ist von der Welt abgesondert und für heilige Zwecke geweiht. 3. Als »heiliger Tempel« ist die Gemeinde das Zentrum, von dem aus Lob, Dank und Anbetung durch den Herrn Jesus Christus zu Gott aufsteigen.
Paulus beschreibt diesen »heiligen Tempel« weiter mit den Worten »im Herrn«. Mit anderen Worten, der Herr Jesus ist die Grundlage der Heiligkeit des Tempels. Seine Glieder sind durch ihre Gemeinschaft mit ihm von ihrer Stellung her »heilig«, und sie sollten aus Liebe zu ihm auch im praktischen Leben »heilig« sein.
2,22 In diesem wunderbaren Tempel sind die gläubigen Heiden den gläubigen Juden gleichgestellt. Es sollte uns in großes Erstaunen versetzen, so etwas zu lesen. Die Epheser und andere hat dies jedenfalls in höchstem Maße ergriffen, als sie erstmalig davon hörten. Die ungeheuer große Würde der Stellung des Gläubigen besteht darin, dass er eine »Behausung Gottes im Geist« ist. Das ist der Zweck des Tempels. Es geht darum, einen Ort zu schaffen, wo Gott in Gemeinschaft mit seinem Volk leben kann. Die Gemeinde ist dieser Ort. Man vergleiche dies einmal mit der Stellung der Heiden im AT. Da durften sie sich noch nicht einmal Gottes Wohnstätte nähern. Und nun sind sie selbst ein Teil davon! Und man beachte die Aufgabe jeder Person der Gottheit in Verbindung mit der Gemeinde: 1. »In ihm«, d. h. in Christus. Durch die Vereinigung mit ihm werden wir in den Tempel eingebaut. 2. Eine »Behausung Gottes«. Dieser Tempel ist die Wohnstätte Gottes des Vaters auf Erden. 3. »Im Geist«. In der Person des Heiligen Geistes wohnt Gott in der Gemeinde (1. Kor 3,16). Und nun endet das Kapitel, das mit der Beschreibung der Heiden begann, die tot, böse sowie ungehorsam waren und sich moralischer Verderbnis befanden. Dieselben Heiden sind nun von aller Schuld und Befleckung gereinigt und bilden eine »Behausung Gottes im Geist«! F. Ein Einschub über das Geheimnis (3,1-13)
3,1 Paulus beginnt mit einer Aussage in Vers 1, die in Vers 2 unterbrochen und bis Vers 14 nicht wieder erwähnt wird. Die dazwischen befindlichen Verse bilden einen Einschub, dessen Thema das Geheimnis ist – das Geheimnis des Christus und der Gemeinde.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass unser gegenwärtiges Zeitalter der Gemeinde selbst ein Einschub im Handeln Gottes ist. Das kann man folgendermaßen erk lären: Während des größten Teils der Geschichte, wie sie im AT aufgezeichnet ist, handelte Gott fast ausschließlich mit dem jüdischen Volk. Genauer gesagt dreht sich die  Erzählung  zwischen  1. Mose  12  und Maleachi 3 fast ausschließlich um Abraham und seine Nachkommen. Als der Herr Jesus auf die Erde kam, wurde er von Israel verworfen. Infolgedessen setzte Gott diese Nation zeitweilig als sein erwähltes, irdisches Volk beiseite. Wir leben nun im Zeitalter der Gemeinde, worin Juden und Heiden vor Gott auf derselben Stufe stehen. Nachdem der Vollendung der Gemeinde und ihrer Heimholung in den Himmel wird Gott seinen Plan mit Israel als Volk weiterführen. Dann werden sich die Zeiger der prophetischen Uhr nochmals bewegen. Deshalb ist das gegenwärtige Zeitalter eine Art Einschub zwischen Gottes vergangenem und zukünftigen Handeln mit Israel. Es handelt sich um eine neue Haushaltung in Gottes Heilsplan – einzigartig und von allem vor und nach ihr getrennt.
In den Versen 2-13 erklärt Paulus diesen Einschub ziemlich ausführlich. Ist es nur Zufall, dass er dafür einen literarischen Einschub benutzt, um einen Einschub in den Zeitaltern zu erklären? Der Apostel beginnt den Abschnitt mit den Worten: »Deswegen bin ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Nationen.« Der Ausdruck »deswegen« schaut auf das soeben Gesagte zurück, als es um die Vorrechtsstellung ging, die die gläubigen Heiden als Ergebnis ihres Einsseins mit Christus erhalten. Man nimmt allgemein an, dass dieser Brief während der ersten Gefangenschaft des Paulus in Rom geschrieben wurde. Doch er bezeichnet sich hier nicht als Gefangener Roms. Hätte er dies getan, hätte damit ein Gefühl der Niederlage einhergehen können. Er hätte in Selbstmitleid verfallen oder um Mitgefühl bitten können. Doch Paulus nennt sich selbst einen »Gefangenen Christi Jesu«, was auf Würde und Sieg sowie darauf hinweist, dass er seine Situation angenommen hat. R. Paxson drückt es treffend aus: Im Epheserbrief ist der Gefängnisgeruch nicht zu spüren, denn im Geist kann man Paulus nicht fesseln. Obwohl er als Gefangener Roms dort ist, hat er einen ganz anderen Blickwinkel: Er beansprucht, ein Gefangener Christi Jesu zu sein. Was ist das Geheimnis einer solch siegreichen Haltung, die scheinbar wie aus einer anderen Welt ist? Der Geist des Paulus weilt mit Christus in der Himmelswelt, auch wenn sein Leib im Gefängnis schmachtet.16
Er war eindeutig »für … die Nationen« gefangen. In seinem gesamten Dienst erfuhr er erbitterten Widerstand gegen seine Lehre, dass in der christlichen Gemeinde gläubige Heiden nun die gleichen Rechte und Privilegien haben wie die gläubigen Juden. Der Grund dafür, dass er schließlich gefangen genommen und seine Verhandlung vor den Kaiser gebracht wurde, war die falsche Anklage, er habe den Epheser Trophimus in den Tempelbereich geführt, den die Heiden nicht betreten durften (Apg 21,29). Hinter dieser Anklage verbarg sich bereits die erbitterte Feindschaft der religiösen Führer des jüdischen Volkes.
3,2 Nun unterbricht Paulus seinen Gedankengang und beginnt mit einer Erklärung des Geheimnisses, und zwar mit einem literarischen Einschub, der einen haushaltungsgemäßen Einschub erklärt. Das einleitende Wort »wenn« (Elb) in Vers 2 (wenn ihr anders gehört habt …) könnte den Eindruck erwecken, dass die Leser des Apostels nichts von seiner besonderen Heidenmission wussten. Dieser Vers wird deshalb manchmal benutzt, um zu beweisen, dass Paulus diejenigen nicht kannte, denen er seinen Brief schrieb, und dass der Brief deshalb nicht an seine geliebten Epheser gerichtet sein könne. Doch »wenn« kann man hier auch im Sinne von »weil« verstehen. Deshalb umschreibt eine englische Übers etzung die Wendung etwa so: »Ihr müsst doch gehört haben …« Sie hatten ganz sicherlich gewusst, dass ihm dieser besondere Dienst übertragen worden war. Er beschreibt seinen Dienst als eine »Verwaltung der Gnade Gottes«. Ein Verwalter ist jemand, der ernannt wird, die Angelegenheiten eines anderen zu betreuen. Paulus war Gottes Verwalter. Er hatte den Auftrag, die großartige Wahrheit über die neutestamentliche Gemeinde darzul egen. Es war eine »Verwaltung der Gnade Gottes« in mindestens dreierlei Hinsicht: 1. Es war eine Gnade für den Erwählten. Paulus hatte die Gnade nicht verdient, die ihn zu solch einem hohen Vorrecht erwählte.
2. Es war eine Botschaft der Gnade. Es ging darin um Gottes vorbehaltlose und unverdiente Zuwendung. 3. Es war eine Gnade für die Empfänger der Botschaft. Die Heiden waren völlig unwürdig, eine solche Bevorzugung zu erfahren.
Dennoch wurde diese »Verwaltung der Gnade« Paulus gegeben, damit er sie an die Heiden weitergab.
3,3 Er hatte das »Geheimnis« nicht von irgendjemand erfahren, noch hatte er es durch eigene Einsicht entdeckt. Es wurde ihm »durch« direkte »Offenbarung« Gottes »kundgetan«. Uns wird nicht gesagt, wo oder wie das geschah. Wir wissen nur, dass Gott auf wunderbare Weise Paulus seinen Plan für die Gemeinde aus bekehrten Juden und bekehrten Heiden zeigte. Wir haben schon erwähnt, dass ein »Geheimnis« eine bisher nicht bekannte göttliche Verschlusssache ist, die von Menschen nicht erkannt werden konnte, aber jetzt von Gott offenbart wird. Der Apostel hatte »das Geheimnis« in 1,9-14.22.23;
2,11 In den Versen 11 und 12 erinnert der Apostel seine Leser daran, dass sie vor ihrer Bekehrung durch Geburt »aus den Nationen« waren und deshalb von den Juden wie Aussätzige behandelt wurden. Zunächst waren sie also verachtet. Das wird durch die Tatsache gezeigt, dass die Juden sie »Unbeschnittene« nannten. Dies bedeutete, dass die Heiden an ihrem Leib nicht das chirurgische Zeichen trugen, das die Israeliten als Volk des Bundes Gottes bezeichnete. Der Name »Unbeschnittene« war eine rassistische Beleidigung, ähnlich den Schimpfnamen, die Völker heute für verachtete Nationalitäten benutzen. Wir können ein wenig von der Schärfe dieses Schimpfnamens erahnen, wenn wir hören, wie David von dem Heiden Goliath sagt: »Wer ist denn dieser unbeschnittene Philister da, der die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt?« (1. Sam 17,26). Die Juden dagegen nannten sich selbst die »Beschneidung«. Auf diesen Namen waren sie stolz. Er bezeichnete sie als Gottes auserwähltes irdisches Volk, das von allen anderen Nationen der Welt ausgesondert worden war. Paulus nimmt an ihrem Rühmen teilweise An stoß, indem er sagt, dass ihre Bes chneid ung nur »im Fleisch mit Händen geschieht«. Sie ist rein äußerlich. Obwohl sie das äußere Zeichen des Bundesvolkes Gottes trugen, stimmte es doch bei vielen von ihnen innerlich nicht: Sie glaubten nicht wirklich an den Herrn. »Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben. Sein Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott« (Röm 2,28.29). Doch ob die Juden nun im Herzen auch beschnitten waren oder nicht, das Argument in Vers 11 ist, dass sie in ihren Augen das Volk waren und die Heiden verachteten. Diese Feindschaft zwischen Juden und Heiden war der größte volksgruppenbezogene und religiöse Gegensatz, den die Welt je gesehen hat. Die Juden genossen eine große Vorrangstellung vor Gott (Röm 9,4.5); der Heide war ein Fremdling. Wenn er den wahren Gott in der festgesetzten Weise verehren wollte, so musste er ein jüdischer Konvertit werden (vgl. Rahab und Rut). Der jüdische Tempel in Jerusalem war der einzige Ort auf Erden, wo Gott seinen Namen wohnen lassen wollte und wo die Menschen sich ihm nahen konnten. Den Heiden war es bei Todesstrafe verboten, die inneren Tempelhöfe zu betreten.
In seinem Gespräch mit einer heidnischen Frau in der Gegend von Tyrus und Sidon prüfte der Herr Jesus ihren Glauben, indem er die Juden als Kinder des Hauses und die Heiden als Hündlein unter dem Tisch darstellte. Sie erkannte an, dass sie nur ein kleiner Hund war, doch sie bat um einige Krumen, die die Kinder vielleicht fallen ließen. Man braucht kaum zu erwähnen, dass ihr Glaube belohnt wurde (Mk 7,24-30). Hier in Epheser 2,11 erinnert der Apostel seine Leser daran, dass sie einst Heiden und deshalb verachtet waren.
2,11-22 bereits erwähnt.
3,4 Was er schon zum Thema geschrieben hatte, war genug, um seinen Lesern zu zeigen, dass er eine von Gott geschenkte Einsicht in das »Geheimnis des Christus« erhalten hatte. Blaikie umschreibt diesen Abschnitt folgendermaßen: Bezüglich dessen (d. h. was ich bisher schon geschrieben habe): Um euch das noch verständlicher zu machen, möchte ich euch nun zu dem Thema ausführlicher schreiben, sodass ihr erkennen könnt, dass euer Lehrer in dieser Angelegenheit des Geheimnisses gut informiert ist …17
Darbys Übersetzung »das Geheimnis des Christus« legt nahe, dass es hier um den Christus in seiner verborgenen Gestalt  geht,  d. h.  um  das  Haupt  und den Leib. (Eine andere Stelle, an der der Name Christus für den Herrn Jesus und sein Volk steht, ist 1. Kor 12,12.)
3,5 Die Verse 5 und 6 geben uns die vollständigste Definition des Geheimnisses, die wir besitzen. Paulus erklärt, was ein Geheimnis ist. Danach erläutert er das Geheimnis des Christus.
Zunächst handelt es sich um eine Wahrheit, die »in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan« worden ist. Das bedeutet, dass es vergeblich ist, im AT danach zu suchen. Es mag Vorbilder und Schatten geben, doch die Wahrheit selbst war zu dieser Zeit unbekannt.
Zweitens ist es eine Wahrheit, die »jetzt« Gottes »heiligen Aposteln und Propheten durch den« Heiligen »Geist geoffenbart worden ist«. Gott hat die Offenbarung geschenkt, und die »Apostel und Propheten« waren diejenigen, die auserwählt waren, diese Offenbarung zu empfangen. Der Heilige »Geist« war der Kanal, wodurch die Offenbarung zu ihnen kam.
Solange wir nicht erkennen, dass mit »Apostel und Propheten« neutestamentliche und nicht alttestamentliche Gottesboten gemeint sind, bleibt dieser Vers widersprüchlich. Der erste Teil sagt, dass diese Wahrheit in anderen Zeitaltern nicht bekannt und deshalb auch den alttestamentlichen Propheten verborgen war. Wie könnte diese Wahrheit dann zur Zeit des Paulus durch Männer, die schon seit Jahrhunderten tot sind, bekannt gemacht werden? Die offensichtliche Bedeutung ist, dass die großartige Wahrheit von Christus und seiner Gemeinde den Menschen des Gemeindezeitalters bekannt gemacht wurde. Dazu gehörte etwa Paulus, der vom auferstandenen Herrn besonders beauftragt worden war, in seinem Dienst in Namen Christi zu reden. (Paulus behauptet nicht, der Einzige zu sein, dem dieses Geheimnis offenbart wurde. Er war nur einer unter vielen, obwohl er in der ersten Reihe stand, als diese Wahrheit den Heiden seiner Zeit und den nachfolgenden Generationen durch seine Briefe weitergegeben werden sollte.) Es ist nur angemessen zu erwähnen, dass viele Christen eine ganz andere Sicht der Dinge haben als die oben ausgeführte Anschauung. Sie sind der Ansicht, dass die Gemeinde schon im AT existierte und Israel zu dieser Zeit die Gemeinde war. Doch in unserem jetzigen Zeitalter sei die Wahrheit der Gemeinde noch vollständiger offenbart worden. Sie sagen: »Das Geheimnis war in anderen Zeitaltern nicht so bekannt, wie es nun offenbart worden ist. Es war bekannt, doch nicht in dem Ausmaß wie heute. Wir haben eine vollständigere Offenbarung, doch sind wir noch immer das Israel Gottes. Dies bedeutet, dass in uns das Volk Gottes fortgeführt wird.« Um ihre Argumentation zu stützen, weisen sie auf Apostelgeschichte 7,38 hin, wo das Volk Israel »die Gemeinde in der Wüste« genannt wird. Es stimmt, dass Gottes auserwähltes Volk als »Gemeinde in der Wüste« bezeichnet wird, doch heißt das nicht, dass hier irgendeine Verbindung zur christlichen Gemeinde vorliegt. Schließlich ist das griechische Wort ekklesia ein allgemeines Wort, das jede Versammlung, Zusammenkunft oder herausgerufene Gruppe bezeichnen kann. Es wird auf Israel nicht nur in Apostelgeschichte 7,38 angewandt. Vielmehr wird dasselbe griechische Wort in Apostelgeschichte 19,32.40 (hier mit Versammlung übersetzt) für einen heidnischen Mob verwendet. Wir müssen also anhand des Zusammenhangs bestimmen, welche »Gemeinde« oder Versammlung gemeint ist. Doch was ist mit dem Argument, das sich auf Vers 5 beruft? Demnach habe die Gemeinde schon im AT existiert, sei aber zu dieser Zeit noch nicht so deutlich geoffenbart worden wie heute. Dieser Einwand wird in Kolosser 1,26 beantwortet, wo es ausdrücklich heißt, dass das Geheimnis »von den Weltzeiten und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen geoffenbart worden ist«. Es geht hier nicht um den Grad einer Offenbarung, sondern darum, ob sie schon gegeben worden ist oder nicht.
3,6 Nun kommen wir zur zentralen Wahrheit des Geheimnisses, nämlich zu der Tatsache, dass in der Gemeinde des Herrn Jesus Christus die Gläubigen aus den »Nationen … Miterben« sind, Glieder, »Miteinverleibte … und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium«. Mit anderen Worten, bekehrte Heiden haben nun die gleichen Anrechte und Vorrechte wie die bekehrten Juden.
Zunächst sind sie »Miterben«. Sie teilen das Erbe gleichberechtigt mit den erretteten Juden. Sie sind Erben Gottes, gemeinsame Erben mit Christus und Miterben mit allen Erlösten. Sie sind »Miteinverleibte« am selben Leib. Sie befinden sich nicht mehr in der Ferne und haben keinen Nachteil mehr, sondern teilen die Stellung, die erlöste Juden in der Gemeinde innehaben. Schließlich sind sie noch »Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium«. Mit »Verheißung« könnte hier der Heilige Geist gemeint sein (Apg 15,8; Gal 3,14). Das Wort kann aber auch alles umfassen, was im »Evangelium« denen verheißen ist, die »in Christus Jesus« sind. Die »Nationen« oder Heiden haben gemeinsam mit den Juden an all dem Anteil. Nichts davon galt im Zeitalter des AT, noch wird es für das zukünftige Reich Christi gelten.
Im AT hatte das Volk Israel eine bevorzugte Stellung vor Gott. Ein Jude hätte bei der Vorstellung gelacht, dass ein Heide mit ihm den gleichen Anteil an den Verheißungen Gottes haben könnte. Das stimmte einfach nicht. Die Propheten Israels sagten die Berufung der Heiden voraus (Jes 49,6; 56,6.7), doch sie deuteten nirgends an, dass die Heiden ebenso wie Juden Glieder an einem Leib sein könnten, in dem die Juden nicht irgendein Vorrecht hätten.
Im zukünftigen Reich unseres Herrn wird Israel das Haupt der Nationen sein (Jes 60,12), und die Heiden werden gesegnet sein, was allerdings durch Israel geschehen wird (Jes 60,3; 61,6; Sach 8,23). Die Berufung Israels bestand hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, aus zeitlichen irdischen Segnungen (5. Mose 28; Amos 9,13-15). Die Berufung der Gemeinde besteht in erster Linie in geistlichen Segnungen in der Himmelswelt (Eph 1,3). Israel war berufen, Gottes auserwähltes Volk auf Erden zu sein. Die Gemeinde ist berufen, die himmlische Braut Christi zu sein (Offb 21,2.9). Israel wird unter der Herrschaft Christi im Tausendjährigen Reich gesegnet werden (Hos 3,5). Die Gemeinde dagegen wird mit ihm über das gesamte Universum herrschen und seine Herrlichkeit teilen (Eph 1,22.23).
Deshalb sollte es klar sein, dass die Gemeinde nicht dasselbe wie Israel ist. Es handelt sich bei ihr um einen neuen Personenkreis, um eine einzigartige Gemeinschaft und um den am meisten bevorrechtigten Teil der Gläubigen, von dem wir in der Bibel lesen. Die Gemeinde entstand, nachdem Christus in den Himmel aufgefahren und der Heilige Geist gekommen war (Apg 2). Sie wurde durch die Taufe mit dem Heiligen Geist gebildet  (1. Kor  12,13).  Und  sie  wird  bei  der Entrückung vollendet werden, wenn alle, die zu Christus gehören, in den Himmel heimgeholt werden (1. Thess 4,13-18; 1. Kor 15,23.51-58).
3,7 Nachdem Paulus die Gleichheit der Heiden und Juden in der Gemeinde betont hat, bespricht er nun sein eigenes Geheimnis im Zusammenhang damit (V. 7-9).
Als Erstes ist er »Diener« des Evangeliums »geworden«. Wuest schreibt: »Das Wort ›Dienst‹ ist irreführend, denn hier steht der Fachbegriff, das heute benutzt wird, um den Pastor einer Gemeinde zu bezeichnen.« Diese Bedeutung kommt jedoch im NT nie vor. Die Grundbedeutung des Wortes ist »Diener«, und Paulus meinte lediglich, dass er dem Herrn in Verbindung mit dem erwähnten Geheimnis diente.
Dieser Dienst war von seinem Wesen her ein unverdientes Geschenk: »… nach der Gabe der Gnade Gottes, die mir … gegeben ist.« Und es war nicht nur ein Gnadenerweis, sondern Gott zeigte seine »Kraft«, indem er den stolzen, selbstgerechten Pharisäer ergriff, seine Seele rettete, ihn als Apostel aussandte, es ihm ermöglichte, Offenbarungen zu empfangen und ihn für sein Werk zurüstete. Deshalb sagt Paulus, dass die »Gabe« ihm »nach der Wirksamkeit seiner Kraft gegeben« worden sei.
3,8 Der Apostel nennt sich selbst den »allergeringsten von allen Heiligen«. Das mag einigen als aufgesetzte Demut erscheinen. In Wirklichkeit ist es jedoch die echte Selbsteinschätzung eines Menschen, der vom Heiligen Geist erfüllt ist. Jeder, der Christus in seiner Herrlichkeit erkennt, sieht seine eigene Sündhaftigkeit und Nutzlosigkeit. Im Falle des Paulus kommt die Erinnerung daran hinzu, dass er den Herrn Jesus verfolgt hat (Apg 9,4), indem er die Gemeinde Gottes verfolgte (Gal 1,13; Phil 3,6). Trotzdem hat ihn der Herr besonders beauftragt, das Evangelium »den Nationen« zu bringen (Apg 9,15; 13,47; 22,21; Gal 2,2.8). Paulus war der Apostel der »Nationen«, so wie Petrus Apostel der Juden war. Sein Dienst umfasste zwei Aspekte: Er betraf das Evangelium und die Gemeinde. Zunächst erklärte er den Menschen den Weg zur Erlösung, und dann führte er sie in die Wahrheit der neutestamentlichen Gemeinde ein. Für ihn war Evangelisation kein Selbstzweck, sondern ein Schritt auf das Ziel hin, echte neutestamentliche Gemeinden zu gründen und zu stärken. Die erste Aufgabe seines Dienstes bestand darin, »den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen«. Blaikie drückt das sehr treffend aus:
Zwei vielversprechende Worte, Reichtum und unausforschlich, vermitteln die Vor stellung von etwas, das äußerst wertvoll und im unendlichen Überfluss vorhanden ist. Normalerweise sind kostbare Dinge selten, und ihre Seltenheit erhöht den Preis. Hier haben wir es jedoch mit etwas zu tun, das sowohl kostbar als auch unendlich ist – Reichtümer des Mitgefühls und der Liebe, der Wert schätzung, der heiligenden, tröstenden und verändernden Kraft. All dies gibt es ohne Beschränkung, und es ist imstande, jeden Bedarf, jedes Sehnen und jeden Wunsch zu erfüllen, heute und in Ewigkeit.18 Wenn ein Mensch dem Herrn Jesus glaubt, so wird er sofort ein geistlicher Milliardär, denn in Christus besitzt er unerschöpfliche Reichtümer.
3,9 Der zweite Teil des Dienstes des Paulus war bestand darin, »ans Licht zu bringen, was die Verwaltung des Geheimnisses sei«. Mit anderen Worten: Er wollte den Menschen zeigen, wie sich das »Geheimnis« in der Praxis auswirkt. Gottes Plan für das gegenwärtige Zeitalter ist es, aus den Heiden ein Volk für sich zu berufen (Apg 15,14), eine Braut für seinen Sohn. Alles, was zu diesem Plan gehört, ist die »Verwaltung des Geheimnisses«.19 Mit »alle Dinge« müssen hier »alle« Gläubigen gemeint sein. Unerlöste Menschen können die tieferen Wahrheiten des Geheimnisses  nicht  verstehen  (1. Kor  2,14). Paulus bezieht sich deshalb auf alle in dem Sinne, dass er die vielen verschiedenen Erretteten aller Art meint – Juden und Heiden, Sklaven und Freie. Das »Geheimnis« war »von den Zeitaltern her in Gott, der alle Dinge geschaffen hat, verborgen«. Der Plan selbst wurde von Gott schon vor der Ewigkeit gefasst, doch hier geht es darum, dass er während der »Zeitalter« der menschlichen Geschichte geheim gehalten wurde. Und wieder bemerken wir die Sorgfalt, die der Heilige Geist walten lässt, um uns die Tatsache nahezubringen, dass die Gemeinde oder die Versammlung etwas Neues, Einzigartiges, Beispielloses ist. Vorher war sie niemandem bekannt als Gott allein. Das Geheimnis war »in Gott« verborgen, »der alle Dinge geschaffen hat«. Er erschuf das materielle Universum, er erschuf die »Zeitalter«, und er rief die Gemeinde ins Leben – doch in seiner Weisheit beschloss er, jedes Wissen von dieser neuen Schöpfung bis zum ersten Kommen Christi zurückzuhalten.
3,10 Der Ort, von dem aus die Engel die Weisheit Gottes, wie sie sich in der Gemeinde zeigt, beobachten können. 6,12 Der Bereich, der der Ursprung unseres gegenwärtigen Konflikts mit den bösen Geistern ist.
Wenn wir diese Abschnitte zusammen sehen, dann haben wir eine wirklich schriftgemäße Definition des Begriffs »Himmelswelt«. Unger drückt es folgendermaßen aus: Die Himmelswelt umfasst »den Stellungs- und Erfahrungsbereich des Gläubigen, der ihm aufgrund seiner Vereinigung mit Christus durch die Taufe mit dem Heiligen Geist zug eeignet ist«. Alle »geistlichen Segnungen« erhalten wir in Christus. Er war derjenige, der sie für uns durch sein vollendetes Werk auf Golgatha erlangte. Nun sind sie für uns in ihm erreichbar. Alles, was Gott für den Gläubigen vorgesehen hat, liegt im Herrn Jesus bereit. Um diese Segnungen empfangen zu können, müssen wir durch den Glauben mit Christus eins sein. In dem Augenblick, in dem der Mensch in Christus ist, wird er zum Eigentümer all dieser Segnungen. Chafer schreibt: »Wer in Christus ist (eine Stellung, die allen Err etteten zugeeignet ist), hat an all dem Anteil, was Christus getan hat, was er jetzt ist, und was er einmal sein wird.«2
In Christus ist eines der Schlüsselworte des Epheserbriefes. Es gibt zwei eng verbundene Wahrheiten im NT – die Wahrheit hinsichtlich der Stellung des Gläubigen und die Wahrheit bezüglich seines praktischen Lebens.
Zunächst kommt die Stellung des Gläubigen. Jeder Mensch auf der Welt ist entweder »in Adam« oder »in Christus«. Diejenigen, die »in Adam« sind, leben noch in ihren Sünden und stehen deshalb unter dem Urteil Gottes. Es gibt nichts, was sie selbst tun können, um Gott zu gefallen oder sein Wohlwollen zu erlangen. Sie haben keine Ansprüche an Gott, und wenn sie erhalten würden, was sie verdient haben, dann würden sie auf ewig verlorengehen.
Wenn ein Mensch durch Bekehrung zum Glauben kommt, dann sieht ihn Gott nicht länger als verurteiltes Kind Adams an. Stattdessen sieht er ihn »in Christus« und nimmt ihn auf dieser Grundlage an. Es ist wichtig, das zu verstehen. Der gläubige Sünder wird nicht wegen seiner Eigenschaften angenommen, sondern weil er »in Christus« ist. Wenn er »in Christus« ist, dann steht er in alle Gerechtigkeit Christi gekleidet vor Gott. Und er wird Gottes Wohlwollen so lange wie Christus besitzen, nämlich für immer. Die Stellung des Gläubigen nun ist das, was er »in Christus« ist. Doch gibt es noch eine andere Seite der Medaille – das praktische Leben des Gläubigen. Damit ist gemeint, was er in sich selbst ist. Seine Stellung ist vollkommen, doch sein praktisches Verhalten ist unvollkommen. Nun besteht Gottes Willen darin, dass das Verhalten des Gläubigen immer mehr seiner Stellung entspricht. Das wird erst dann völlig der Fall sein, wenn er im Himmel ist. Doch die Heiligung als lebenslanger Prozess und das geistliche Wachstum sollten im Leben des Gläubigen ständig weitergehen, während er noch hier auf Erden ist. Er sollte Christus immer ähnlicher werden.
Wenn wir den Unterschied zwischen der Stellung des Gläubigen und seinem Zustand verstanden haben, so ermöglicht dies uns, solche scheinbar gegensätzlichen Verse wie die folgenden miteinander zu vereinbaren:
Gläubige sind Gläubige sollten vollkommen vollkommen sein (Hebr 10,14) (Matth 5,48) Gläubige sind der Gläubige sollten sich Sünde gestorben selbst der Sünde für (Röm 6,2) tot halten (Röm 6,11) Die Gläubigen sind Gläubige sollten eine heilige Nation heilig sein (1. Petr 2,9) (1. Petr 1,15) Die erste Spalte handelt von der Stellung, die zweite vom gegenwärtigen Zustand.
Der Brief des Paulus an die Epheser ist selbst in zwei Teile gegliedert, die dieser Wahrheit entsprechen: Kap. 1 – 3 behandelt unsere Stellung (was wir in Christus sind); Kap. 4 – 6 behandelt unseren praktischen Zustand (wie wir sein sollten). Die erste Hälfte hat mit Lehre, die zweite mit den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu tun. In den ersten drei Kapiteln wird unsere Stellung oft mit solchen Ausdrücken wie »in Christus«, »in Christus Jesus«, »in ihm« und »in welchem« beschrieben. In den letzten drei Kapiteln wird der Ausdruck »im Herrn« oft benutzt, um die Verantwortung des Gläubigen gegenüber Christus als seinem Herrn zu betonen. Jemand hat einmal treffend gesagt, dass der erste Teil den Gläubigen in der Himmelswelt in Christus (also gewissermaßen im »Sonntagsstaat«) zeigt, während der zweite Teil ihn auf Erden (also gleichsam »im Arbeitskittel«) darstellt:
Nun sind wir bereit, einige der »geistlichen« Segnungen »in der Himmelswelt« zu betrachten, die uns »in Christus« gehören.
3,10 Eine der gegenwärtigen Absichten Gottes im Zusammenhang mit dem Geheimnis ist es, den himmlischen Heerscharen seine »mannigfaltige Weisheit« zu offenbaren. Paulus verwendet hier erneut das Bild einer Schule. Gott ist der Lehrer. Das Universum ist der Klassenraum, die Engelwesen sind die Schüler. Das Thema lautet: »Die mannigfaltige Weisheit Gottes«. An der Gemeinde wird das beispielhaft gezeigt. Die Engel werden dazu geführt, seine unausforschlichen Ratschlüsse und seine Wunderwege zu bestaunen. Sie sehen, wie Gott zu seiner eigenen Ehre über die Sünde triumphiert hat. Sie erkennen, wie er den Besten des Himmels gesandt hat, um die Schlimmsten der Erde zu retten. Sie sehen, wie er seine Feinde zu einem gewaltigen Preis erlöst, sie durch die Liebe bezwungen und als Braut für seinen Sohn zubereitet hat. Sie erkennen, wie er seine Gemeinde mit allen geistlichen Segnungen in der Himmelswelt ausgestattet hat. Und sie sehen, dass durch das Werk des Herrn Jesus Gott mehr Ehre erhält und den gläubigen Juden mehr Segnungen zugeeignet werden, als wenn es der Sünde niemals gestattet worden wäre, in die Welt einzubrechen. Gottes Ehre ist wiederhergestellt, Christus ist erhöht worden, Satan ist besiegt, und die Gemeinde ist in Christus eingesetzt worden, seine Herrlichkeit zu teilen.
3,11 Das Geheimnis selbst und die Tatsache, dass es bisher verborgen war, sowie seine endgültige Enthüllung und die Art, in der es die Weisheit Gottes zeigt, entsprechen ausnahmslos »dem ewigen Vorsatz, den er verwirklicht hat in Christus Jesus, unserem Herrn«. Ehe die Welt erschaffen wurde, wusste Gott, dass Satan fallen und der Mensch ihm in die Sünde folgen würde. Und er hatte schon eine Gegenstrategie ausgearbeitet, einen alle Zeitalter umfassenden Heilsplan. Dieser Plan wurde in der Menschwerdung, dem Tod, der Auferstehung, Himmelfahrt und Verherrlichung Christi ausgeführt. Der gesamte Heilsplan gipfelte in Christus und ist nun in ihm verwirklicht. Jetzt kann Gott gottlose Juden und Heiden erlösen, sie zu Gliedern des Leibes Christi machen, sie in das Bild seines Sohnes verwandeln und sie in einzigartiger Weise als Braut des Lammes in der Ewigkeit ehren.
3,12 Als Konsequenz des Werkes Christi und unserer Vereinigung mit ihm haben wir nun das unaussprechliche Vorrecht, jederzeit in Gottes Gegenwart treten zu dürfen. Dabei sind wir voller Vertrauen, dort angehört zu werden, ohne irgendwelche Vorwürfe fürchten zu müssen (Jak 1,5). Unsere »Freimütigkeit« ist die respektvolle Haltung und Furchtlosigkeit, die Kinder zeigen, wenn sie ihren Vater ansprechen. Unser »Zugang« umfasst die Tatsache, dass wir uns im Gebet an Gott wenden dürfen. Unsere Zuversicht beinhaltet die Gewissheit, willkommen zu sein, angehört zu werden und eine weise Antwort zu erhalten, die Ausdruck der Liebe Gottes ist. Und all das haben wir »durch den Glauben an ihn«, d. h. »durch den Glauben« an den Herrn Jesus Christus.
3,13 Angesichts der Würde seines Dienstes und der wunderbaren Ergebnisse, die dieser Dienst hervorbrachte, ermutigt Paulus nun die Heiligen, »nicht mutlos zu werden«, wenn sie an seine Leiden denken. Er war froh, »Drangsale« während der Erfüllung seiner Heidenmission zu ertragen. Sie sollten sich nicht von seinen Problemen entmutigen lassen, so meint er. Stattdessen sollten sie sich der Tatsache rühmen, dass er wert geachtet war, für den Herrn Jesus zu leiden. Sie sollten sich freuen, wenn sie an den Nutzen seiner Leiden für sich selbst und für andere Heiden dachten. Sie sollten seine gegenwärtige Gefangenschaft als »Ehre« und nicht als Unehre sehen. G. Paulus’ Gebet für die Heiligen (3,14-19)
3,14 Nun nimmt der Apostel den Gedanken wieder auf, womit er in Vers 1 begonnen und den er mit einem Einschub über das Geheimnis unterbrochen hat. Darum bezieht sich das Wort »deshalb« auf Kapitel 2, wo Paulus beschrieben hatte, was die Heiden von Natur aus waren und was sie durch die Einheit mit Christus geworden sind. Ihr erstaunlicher Aufstieg aus Armut und Tod zu Reichtum und Herrlichkeit drängt Paulus zu diesem Gebet: Sie sollten stets so leben, dass sie sich über ihre hohe Stellung freuen können. Seine Gebetshaltung wird erwähnt: »Ich beuge meine Knie.« Das bedeutet nicht, dass wir nur kniend beten dürften, doch sollte unsere Seele immer diese Haltung einnehmen. Wir dürfen beten, wenn wir gehen, stehen oder ruhen, doch unser Geist sollte in Demut und Ehrerbietigkeit gebeugt sein.
Das Gebet ist an den »Vater« gerichtet. In einem allgemeinen Sinne ist Gott der Vater aller Menschen, was bedeutet, dass er sie erschaffen hat (Apg 17,28.29). Im engeren Sinne ist er der Vater aller Gläubigen, was bedeutet, dass er sie in seine geistliche Familie aufgenommen hat (Gal 4,6). Und in einem einzigartigen Sinne ist er der »Vater unseres Herrn Jesu  Christi«  (Schl 2000),  was  bedeutet, dass Vater und Sohn stellungsgleich sind (Joh 5,18).
3,15 Die besondere Vaterrolle, die Paulus hier im Sinn hat, umfasst die Stellung, nach der »jede Vaterschaft in den Himmeln und auf Erden benannt wird«. Das kann bedeuten:
1. Alle Erlösten im Himmel und auf Erden sehen den Vater als Haupt der Familie an.
2. Alle Geschöpfe, ob Engel oder Menschen, schulden ihm ihre Existenz nicht nur als Einzelne, sondern auch als Familien. Die Familien im Himmel umfassen verschiedene Rangordnungen von Engelwesen. Die Familien auf der Erde sind die unterschiedlichen Rassen und Volksgruppen, die von Noah abstammen und nun in verschiedene Nationen unterteilt sind. 3. Alle Vaterschaft im Universum leitet sich von ihm ab. Die Vaterschaft Gottes ist das Original, das Ideal und der Prototyp jeden elterlichen Verhältnisses. Phillips übersetzt den Vers: »… nach dem jede Vaterschaft, ob irdischer oder himmlischer Art, ihren Namen hat.«
3,16 Wir können nicht anders, als von der Größe der Bitte des Paulus betroffen zu sein: »Er gebe euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit.« Er möchte Gott bitten, dass die Heiligen geistlich »gestärkt« werden. Doch inwieweit? Jamieson, Fausset und Brown antworten: »In Fülle, entsprechend der Reichtümer seiner Herrlichkeit, nicht nach der Enge unseres Herzens.«20 Verkündiger betonen oft den Unterschied zwischen der Wendung »von dem Reichtum« und dem Ausdruck »nach dem Reichtum«. Ein reicher Mensch mag einen kleinen Betrag geben. Dann hätte er zwar von seinem Reichtum, doch niemals entsprechend seinem Reichtum gegeben. Paulus bittet Gott, dass er Kraft »nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit« schenkt. Weil der Herr unendlich reich an Herrlichkeit ist, sollten sich die Heiligen auf eine ganze Flut vorbereiten! Warum sollten wir von einem so großen König so wenig erbitten? Als jemand Napoleon eine große Bitte vortrug, gewährte er sie sofort. Er sagte nämlich: »Er hat mich durch die Größe seiner Bitte geehrt.«
Gleich Tau und Regen feuchtet ein Gnadenstrom uns an
und herrlicher beleuchtet seh’n wir die Himmelsbahn. Erhört wird jede Bitte,
die auf zum Throne geht, und sanft wird unsre Mitte vom Friedenshauch durchweht. Verfasser unbekannt
Nun wenden wir uns den einzelnen Bitten des Paulus zu. Statt sie als Folge von zusammenhangslosen Bitten zu betrachten, sollten wir sie uns als aufsteigende Folge denken, in der jede Bitte die Grundlage für die nächste Bitte bildet. Man kann sie sich wie eine Pyramide vorstellen: Die erste Bitte bildet die untere Steinlage. Während er weiterbetet, baut Paulus seine Bitten gleichsam Lage um Lage auf, bis er zuoberst den herrlichen Schlussstein erreicht.
Die erste Bitte lautet, dass sie »mit Kraft gestärkt … werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen«. Es wird um die Segnung geistlicher Kraft gebeten. Es geht nicht um die Kraft, aufsehenerregende Wunder zu vollbringen, sondern um die geistliche Kraft, die ein reifer, standfester und verständiger Christ braucht. Der Heilige »Geist« ist derjenige, der diese Kraft gibt. Natürlich kann er uns diese nur geben, wenn wir uns vom Wort Gottes ernähren, die reine Luft des Gebetes einatmen und uns im täglichen Dienst für den Herrn üben. Diese Kraft wirkt am »inneren Menschen«,  d. h.  im  geistlichen  Bereich des Menschen. Es ist auch der »innere Mensch«, der am Gebot Gottes Freude hat (Röm 7,22). Es ist ebenfalls der »innere Mensch«, der Tag für Tag erneuert wird, selbst wenn der äußere Mensch verfällt (2. Kor 4,16). Obwohl der innere Mensch von Gott ist, so braucht er Kraft, Wachstum und Entwicklung.
3,17 Der zweite Schritt ist, »dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne«. Das ist die Folge davon, dass der Geist uns Kraft gibt: Wir werden gestärkt, so »dass der Christus … in« unseren »Herzen« wohnt. Ja, der Herr Jesus nimmt persönlich Wohnung in einem Gläubigen bei dessen Bekehrung (Joh 14,23; Offb 3,20). Doch darum geht es hier in diesem Gebet nicht. Hier geht es nicht um die Frage, ob der Herr Jesus im Gläubigen Wohnung nimmt, sondern ob er dort wirklich zu Hause ist! Jesus wohnt ständig in jedem Erlösten, doch hier findet sich die Bitte, dass er vollständigen Zugang zu jedem Raum und Schrank erhält. Es soll nicht durch sündige Worte, Gedanken, Motive und Taten betrübt werden, sondern eine fortwährende Gemeinschaft mit dem Gläubigen genießen. Das Herz der Christen wird so zur Wohnung Christi, der Ort, an dem er sich gerne aufhält – wie im Haus von Maria, Marta und Lazarus in Betanien. Das Herz steht hier natürlich für das Zentrum des geistlichen Lebens. Es steuert in jeder Hinsicht das Verhalten. Im Grunde bittet der Apostel dafür, dass sich die Herrschaft Christi auf solche Bereiche ausdehnt, wie etwa auf die Bücher, die wir lesen, die Arbeit, die wir tun, die Speisen, die wir essen, das Geld, das wir ausgeben, die Worte, die wir äußern – kurz gesagt, auf jede kleinste Einzelheit in unserem Leben.
Je mehr wir durch den Heiligen Geist gestärkt werden, desto mehr werden wir dem Herrn Jesus ähnlicher. Und je mehr wir ihm ähneln, desto mehr »lässt er sich bei uns nieder und wird sich in unserem Herzen völlig zu Hause fühlen«.21 Wir erfreuen uns »durch den Glauben« daran, dass er in uns wohnt. Dazu gehört, ständig von ihm abhängig zu sein, ihm fortwährend unser Leben hinzugeben und uns seiner ständigen Anwesenheit bewusst zu sein. Durch den Glauben »erkennen wir sein Hausrecht an«, wie Bruder Lawrence dies einmal anschaulich ausgedrückt hat.
Bis hierher umfasst das Gebet des Paulus jede Person der Dreieinheit. Der Vater wird gebeten (V. 14) die Gläubigen durch seinen Geist zu stärken (V. 16), »dass der Christus« völlig in ihren »Herzen wohne« (V. 17).  Eines  der  großen  Vorrechte  im Gebet besteht darin, dass auf unser Bitten hin sowohl der Vater als auch der Sohn und der Heilige Geist für andere und für uns in Aktion treten.
Infolgedessen, dass Christus zu allen Bereichen unseres Lebens Zugang hat, werden wir »in Liebe gewurzelt und gegründet«. Hier entlehnt Paulus seine Worte der Botanik und Architektur. Die Wurzel sorgt für die Nährstoffe einer Pflanze und gibt ihr Halt. Die Grundsteine eines Gebäudes bilden das Fundament, auf dem es ruht. Scroggie sagt dazu: »Liebe ist der Boden, worin unser Leben wurzelt, und der Felsen, worauf unser Glaube für immer ruht.«22 »In Liebe gewurzelt und gegründet« zu sein, bedeutet, dass man die Liebe als Lebensstil einübt. Dazu gehört, dass man freundlich, selbstlos, zerbrochen und demütig lebt. »In Liebe gewurzelt und gegründet« zu sein, ist das Leben aus Christus, wie es im Gläubigen seinen Niederschlag findet (s. 1. Kor 13,4-7).
3,18 Die vorhergehenden Bitten haben ein Programm für geistliches Wachstum umrissen, welches das Kind Gottes darauf vorbereitet, ganz fähig zu sein, »mit allen Heiligen völlig zu erfassen, was die Breite und Länge und Höhe und Tiefe ist«. Ehe wir diese Dimensionen erforschen, sollten wir uns mit dem Ausdruck »mit allen Heiligen« beschäftigen. Das Thema ist so großartig, dass ein einzelner Gläubiger wohl nur einen kleinen Ausschnitt davon fassen kann. Deshalb ist es nötig, dass wir das Thema mit anderen gemeinsam studieren, erörtern und unsere Erfahrungen weitergeben. Der Heilige Geist kann die gemeinsamen Überlegungen einer Gruppe von bewährten Gläubigen benutzen, um eine Flut zusätzlichen Lichtes auf die Schrift zu werfen. Die hier angegebenen Dimensionen werden normalerweise auf die Liebe Christi bezogen, obwohl der Text das nicht erwähnt. Vielmehr wird die Liebe erst im nächsten Teilsatz erwähnt. Wenn hier die Liebe Christi gemeint ist, dann könnten die Verbindungen wie folgt aussehen:
Breite – die Welt (Joh 3,16) Länge  –  ewig (1. Kor 13,8) Höhe  –  Himmel (1. Joh 3,1-2) Tiefe – bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8)
F. B. Meyer drückt dies treffend aus: Der sich vor uns ausbreitende Horizont wird sich stets so weit erstrecken wie der hinter uns liegende. Und wenn wir Jahrtausende damit zugebracht haben werden, das Angesicht Jesu zu betrachten, so wird doch seine Schönheit so neu, faszinierend und unergründlich sein wie zu dem Zeitpunkt, als wir sie zum ersten Mal vom Tor des Paradieses aus erblickten.23
Doch diese Dimensionen können sich auch auf das Geheimnis beziehen, das im Epheserbrief eine solch wichtige Stellung einnimmt. Es ist in der Tat einfach, diese Dimensionen im Epheserbrief selbst wiederzufinden.
1. Die »Breite« wird in 2,1-18 beschrieben. Es geht hier um die Größe der Gnade Gottes, die Juden und Heiden erlöst und sie dann in die Gemeinde einfügt. Das Geheimnis umfasst beide Teile der Menschheit.
2. Die »Länge« erstreckt sich von Ewigkeit zu Ewigkeit. Was die Vergangenheit angeht, so sind die Christen schon vor Grundlegung der Welt erwählt worden (1,4). Was die Zukunft angeht, so wird die Ewigkeit eine fortgesetzte Entfaltung der überströmenden Reichtümer göttlicher Gnade und Güte sein, die uns durch Christus Jesus zugeeignet sind (2,7). 3. Die »Höhe« sehen wir in 2,6. Dort heißt es, dass wir nicht nur mit ihm auferweckt sind, sondern auch mit ihm in die Himmelswelt versetzt sind, seine Herrlichkeit zu teilen. 4. Die »Tiefe« wird in 2,1-3 anschaulich dargestellt. Wir waren in einer Grube unaussprechlicher Sünde und Schande gefangen. Christus kam in diesen Dschungel voller Schmutz und Verdorbenheit, um unsertwegen zu sterben.
Dies sind natürlich immense und vor allem unendliche Dimensionen. Wenn wir daran denken, dann »besteht alles, was wir tun können«, nach Scroggies Worten in Folgendem: »Wir können lediglich die erstaunliche Ordnung beachten, die wir in dieser Aufhäufung göttlicher Worte entdecken«.
3,19 Die nächste Bitte des Apostels lautet, dass die Heiligen durch ihre Erfahrung die alles Wissen »übersteigende Liebe Christi« erkennen möchten. Sie könnten sie niemals ganz erforschen, weil sie ein uferloser Ozean ist, doch sie können jeden Tag mehr über sie lernen. Und deshalb betet er um eine tiefe, auf Erfahrung gegründete Erkenntnis und um die Freude an der wunderbaren »Liebe« unseres herrlichen Herrn.
Der Höhepunkt dieses wunderb aren Gebets wird erreicht, als Paulus bittet, dass »ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle Gottes«. In dem Herrn Jesus wohnt die »ganze Fülle der Gottheit« (Kol 2,9). Je mehr er durch den Glauben in unseren Herzen wohnt, desto mehr werden wir »zur ganzen Fülle Gottes« erfüllt. Wir könnten niemals mit der ganzen Fülle Gottes erfüllt werden. Doch wir haben ein Ziel, auf das wir uns zubewegen. Nachdem wir dies erklärt haben, müssen wir dennoch sagen, dass wir die Tiefen der Bedeutung dieses Abschnitts noch nicht erreicht haben. Wenn wir uns mit der Schrift beschäftigen, so sind wir uns bewusst: Wir haben darin mit Wahrheiten zu tun, die wir nicht verstehen oder erklären können, weil dies über unsere Fähigkeiten hinausgeht. Wir können Bilder benutzen, um mehr Licht auf den betreffenden  Vers  zu  werfen.  Ein  Bild  ist  z. B. der Fingerhut, den wir in den Ozean tauchen und der mit Wasser gefüllt wird, doch welch kleine Wassermenge aus dem Ozean befindet sich dann in diesem Fingerhut! Und dennoch bleibt, wenn wir all das gesagt haben, das Geheimnis bestehen. Wir können nur ehrfurchtsvoll vor Gottes Wort innehalten und über seine Unendlichkeit staunen.
H. Paulus’ Lobpreis (3,20.21)
3,20 Das Gebet schließt mit einem beeindruckenden Lobpreis Gottes. Die vorhergehenden Bitten waren gewaltig, freimütig und scheinbar unausführbar. Doch Gott »vermag« in dieser Beziehung mehr zu tun, als wir »erbitten oder erdenken« können. Das Ausmaß seines Vermögens zeigt sich in der Art, in der Paulus erneut Worte auftürmt, um den überreichen Segen zu beschreiben:
Er vermag
Er vermag zu tun
Er vermag zu tun, was wir erbitten Er vermag zu tun, was wir erdenken Er vermag zu tun, was wir erbitten oder erdenken
Er vermag alles zu tun, was wir erbitten oder erdenken
Er vermag mehr zu tun, als was wir erbitten oder erdenken
Er vermag über die Maßen mehr zu tun, als wir erbitten oder erdenken Er vermag über alles hinaus über die Maßen mehr zu tun, als wir erbitten oder erdenken
Das Mittel, das Gott benutzt, um Gebete zu beantworten, wird uns in dem Ausdruck »gemäß der Kraft, die in uns wirkt«, mitgeteilt. Das bezieht sich auf den Heiligen Geist, der ständig an unserem Leben arbeitet und versucht, die Frucht eines christusähnlichen Wesens hervorzubringen, uns wegen unserer Sünde zu ermahnen, uns im Gebet zu leiten, uns zur Anbetung anzuregen und uns in unserem Dienst zu leiten. Je mehr wir ihm ergeben sind, desto wirksamer werden seine Bemühungen ausfallen, uns in das Bild Christi zu verwandeln.
3,21 »Ihm sei die Herrlichkeit in der Gemeinde und in Christus Jesus auf alle Geschlechter hin in alle Ewigkeit! Amen.« Nur Gott allein gebührt ewiger Lobpreis. Seine Weisheit und Macht zeigt sich in den himmlischen Heerscharen, in Sonne, Mond und Sternen, in Tieren, Vögeln und Fischen, in Feuer, Hagel, Schnee und Nebel, im Wind, in Bergen, Hügeln und Bäumen, in Königen und Völkern, in Alten und Jungen, in Israel und den Nationen. Sie alle sollen den Namen des Herrn preisen (Ps 148).
Doch es gibt noch einen anderen Personenkreis, der Gott bis in Ewigkeit verherrlichen wird, und zwar die »Gemeinde« – Christus, das Haupt, und die Gläubigen, der Leib. Die erlöste Gemeinschaft der Gläubigen wird ein ewiges Zeugnis seiner unvergleichlichen und wunderbaren Gnade sein. Williams schreibt:
Die ewige Herrlichkeit Gottes, der unser Gott und Vater ist, wird in allen Zeitaltern in der Gemeinde und in Jesus Christus sichtbar gemacht. Welch eine erstaunliche Aussage! Christus und die Gemeinde als Leib Christi werden auf ewig diese Herrlichkeit be kunden.24
Schon jetzt sollte die Gemeinde seinen Namen »in Lobgottesdiensten, Anbetungsstunden, im geheiligten Leben ihrer Mitglieder, in ihrer weltweiten Verkündigung des Evangeliums und in ihren Diensten an Bedürftigen und Leidenden« (Erdman) verherrlichen.
Die Dauer dieses Lobpreises wird »alle Geschlechter … in alle Ewigkeit« umfassen. Wenn Paulus uns zum ewigen Lob Gottes in der Gemeinde und in Jesus Christus aufruft, so sollte unser Mund mit einem von Herzen kommenden »Amen« antworten.
II. Das praktische Leben der Gläubigen in dem Herrn (Kap. 4 – 6) A. Aufruf zur Einheit in der christlichen Nachfolge (4,1-6)
4,1 Im Epheserbrief findet sich an diesem Punkt ein wichtiger Einschnitt. Die vorhergehenden Kapitel haben sich mit der Berufung des Christen beschäftigt. In den restlichen drei Kapiteln wird der Christ aufgefordert, seiner »Berufung« »würdig« zu wandeln. Bisher war das Hauptthema die Stellung, in die uns die Gnade erhoben hat. Von diesem Kapitel an geht es um die praktischen Auswirkungen dieser Stellung. Unsere hohe Stellung in Christus erfordert ein entsprechendes gottesfürchtiges Verhalten. Deshalb stimmt es, dass sich der Epheserbrief von der Himmelswelt in den Kapiteln 1 – 3 der Ortsgemeinde, der Familie und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zuwendet (Kapitel 4 – 6). Wie Stott einmal festgestellt hat, lehren diese Kapitel, dass wir »in der Gemeinde die Einheit, in unserem persönlichen Leben die Reinheit, in unseren Familien die Harmonie und in unserem Kampf mit den Mächten des Bösen unsere Standhaftigkeit fördern müssen«. Zum zweiten Mal nennt Paulus sich hier einen »Gefangenen« – diesmal einen »Gefangenen im Herrn«. Theodoret merkt dazu an: »Was die Welt als Schmach und Schande ansieht, hält er für die höchste Ehre. Er rühmt sich seiner Fesseln für Christus, mehr als ein König sich seiner Krone rühmt.« Als einer, der wegen seiner Treue und seines Gehorsams gegenüber seinem Herrn im Gefängnis war, ermahnt Paulus seine Leser, »würdig« ihrer »Berufung« zu wandeln. Er befiehlt nicht mit harschen Worten, sondern wendet sich an sie, indem er sie mit Milde und Sanftmut in der Sprache der Gnade anredet. Das Wort »wandeln« findet sich siebenmal in diesem Brief (2,2.10; 4,1.17; 5,2.8.15); es beschreibt den gesamten Lebensstil eines Menschen. Ein »würdiger« Lebenswandel steht in Übereinstimmung mit der ehrenvollen Stellung eines Christen als Glied am Leib Christi.
4,2 Es ist wichtig, in jedem Lebensbereich eine christusähnliche Gesinnung erkennen zu lassen. Dazu gehört: »Demut« – eine echte Demut, die aus der Verbindung mit dem Herrn Jesus entspringt. Sie zeigt uns, dass wir selbst nichts sind. Außerdem ermöglicht sie es uns, andere höher zu achten als uns selbst. Sie ist das Gegenteil von Hochmut und Arroganz.
»Sanftmut« – eine Haltung, die dazu führt, dass man sich Gottes Plänen ohne Auflehnung unterwirft und die Unfreundlichkeit der Mitmenschen ohne Vergeltungssucht erträgt. Sie wird am deutlichsten im Leben Dessen, der von sich sagte: »Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.« Wright kommentiert: Welch eine erstaunliche und wundervolle Aussage! Es geht um denjenigen, der die Welt gemacht hat, der die Sterne ins All setzte und sie mit Namen nennt, der die unzähligen Sternbilder erhält, der die Berge und Hügel auf die Waagschale wirft, der die Inseln wie ein Stäubchen hochhebt, der die Wasser des Ozeans in der hohlen Hand hält, vor dem die Bewohner der Erde wie Heuschrecken sind. Als er einen menschlichen Leib annahm, bezeichnete er sich seinem Wesen nach als sanftmütig und von Herzen demütig. Er hat damit nicht das vollkommene menschliche Ideal aufgestellt und sich selbst diesem angepasst, sondern er war dieses Ideal.25 »Langmut« – dazu gehört eine gleichmäßige Haltung und ein geduldiger Geist auch unter größten Herausforderungen. Das kann man anhand des folgenden Bildes darstellen: Ein Welpe und ein erwachsener Hund sind zusammen. Während der Welpe den großen Hund anbellt, ihn zaust und angreift, erträgt der große Hund geduldig die Frechheiten des Kleinen, obwohl er ihn mit einem Biss verschlingen könnte.
»Einander in Liebe ertragend« – das heißt, anderen ihre Fehler und ihr Versagen vergeben und auch andere Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Temperamente zu schätzen. Und es geht hier nicht darum, dass man eine höfliche Fassade aufrechterhält, während man andererseits innerlich vor Ärger kocht. Es geht hier um echte Liebe zu denen, die einen reizen, stören oder in Verlegenheit bringen.
4,3 »Befleißigt euch, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens.« Als Gott die Gemeinde gegründet hat, hat er die schlimmste Trennung aufgehoben, die je unter Menschen bestand: die Kluft zwischen Juden und Heiden. In Jesus Christus wurden diese Unterschiede beseitigt. Doch wie würde sich diese Tatsache nun in ihrem Zusammenleben auswirken? Würde es weiterhin Gegensätze geben? Würde es etwa Tendenzen geben, eine »Gemeinde für Judenchristen« und eine »Gemeinde für Heidenchristen« zu bilden? Um solchen Spaltungen oder schwelenden Feindschaften vorzubeugen, mahnt Paulus nun zur Einheit unter den Christen. Sie sollten eifrig »die Einheit des Geistes … bewahren«. Der Heilige »Geist« hat alle wahren Gläubigen in Christus eins gemacht, und der Geist wohnt in diesem einen Leib. Das ist die grundlegende Einheit, die nichts zerstören kann. Doch durch Streit und Zank können Gläubige so tun, als ob diese Einheit nicht existieren würde. Die »Einheit des Geistes zu bewahren«, bedeutet, miteinander in »Frieden« zu leben. »Frieden« ist das Band, das die Glieder des Leibes trotz ihrer großen wesensmäßigen Unterschiede miteinander verknüpft. Wenn sich unterschiedliche Meinungen ergeben, besteht eine weitverbreitete Reaktion darin, eine Gemeinde zu spalten und eine neue Gruppierung zu bilden. Die geistliche Reaktion lautet: »Im Wesentlichen Einheit, in Zweifelsfällen Freiheit, in allen Dingen Liebe.« Wir sind alle noch fleischlich genug, sodass es uns gelingen kann, eine Ortsgemeinde oder ein anderes Werk des Herrn zugrunde zu richten. Deshalb müssen wir unsere eigenen persönlichen engherzigen Ansichten und unsere Launen dem geschwisterlichen Wohl unterordnen und gemeinsam in »Frieden« zur Ehre Gottes und zum Segen für alle zusammenarbeiten.
4,4 Statt die Unterschiede zu verstärken, sollten wir uns an die sieben Wahrheiten erinnern, die die Grundlage echter christlicher Einheit bilden. Ein Leib. Trotz der Unterschiede in Bezug auf Rasse, Hautfarbe, Nationalität, Kultur, Sprache und Temperament gibt es nur einen »Leib«, der aus allen echten Gläubigen von Pfingsten bis zur Entrückung besteht. Denominationen, Konfessionen, Sondergemeinschaften und Parteiungen behindern die Verwirklichung dieser Wahrheit. All diese von Menschen bewirkten Spaltungen und Trennungen werden beseitigt, wenn der Heiland wiederkommt. Deshalb sollte unsere Losung heute heißen: »Herr, gib doch deine Gnad’ / zu Fried’ und Liebesbanden, / verknüpf’ in allen Landen, / was sich getrennet hat.«
Ein Geist. Derselbe Heilige »Geist«, der in  jedem  Gläubigen  wohnt  (1. Kor  6,19), wohnt auch im Leib Christi (1. Kor 3,16). Eine Hoffnung. Jedes Glied der Gemeinde ist zu einem Ziel berufen – bei Christus zu sein, ihm ähnlich zu sein und seine Herrlichkeit in Ewigkeit zu teilen. Die »eine Hoffnung« umfasst alles, was die Heiligen bei der Wiederkehr des Herrn Jesus und danach erwartet.
4,5 Ein Herr. »Denn wenn es auch sogenannte Götter gibt im Himmel oder auf Erden – wie es ja viele Götter und viele Herren gibt –, so ist doch für uns ein Gott, … und ein Herr, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn« (1. Kor 8,5.6; s. a. 1. Kor 1,2). Ein Glaube. Hier ist der christliche Glaube gemeint, die gesamte Lehre, die »ein für alle Mal den Heiligen überliefert« (Judas 3) und für uns im NT aufgezeichnet ist.
Eine Taufe. Dies ist eine doppelte Wahrheit: Erstens gibt es nur »eine Taufe« im Geist, durch die alle, die auf Christus vertrauen, dem Leib hinzugefügt werden  (1. Kor  12,13).  Zweitens  gibt  es  die »eine Taufe«, wodurch die Bekehrten ihr Einssein mit Christus in Tod, Grablegung und Auferstehung bekennen. Obwohl die Taufe heute auf verschiedene Art praktiziert wird, kennt das NT nur die eine Gläubigentaufe im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Durch die Taufe zeigen die Jünger ihre Verbindung zu Christus, das Begräbnis ihres Ichs und die Entschlossenheit, in einem neuen Leben zu wandeln.
4,6 Ein Gott. Jedes Kind Gottes erkennt nur einen »Gott und Vater aller« an, der folgende Eigenschaften hat: Er ist
»über allen« – Er ist der souveräne Herrscher über das Universum. »durch alle« – Er handelt durch alles und benutzt alles, um seine Ziele zu erreichen.
»in allen« – Er wohnt in allen Gläubigen und ist zu allen Zeiten und an allen Orten gegenwärtig. B. Konzept für das richtige Zusammen wirken der Glieder des Leibes (4,7-16)
4,7 Die Lehre vom Leib Christi umfasst zwei Aspekte: den Aspekt der Einheit des Leibes und den Aspekt der Unterschiedlichkeit seiner Glieder. Jedes Glied hat eine besondere Aufgabe. Keine zwei Glieder sind gleich, und keine zwei haben genau die gleiche Funktion. Die Rolle eines jeden wird »nach dem Maß der Gabe Christi« zugewiesen. Das bedeutet: Der Geist gibt die Gaben, wenn er sieht, dass jemand für sie geeignet ist. Wenn mit »Gabe Christi« hier der Heilige Geist gemeint ist (Joh 14,16.17; Apg 2,38.39), dann geht es um den Gedanken, dass der Heilige Geist derjenige ist, der jedem Heiligen Gaben gibt und auch die Fähigkeit zueignet, diese Gabe anzuwenden. Wenn jedes Glied seine Aufgabe erfüllt, dann wächst der Leib Christi sowohl geistlich als auch zahlenmäßig.
4,8 Um jedem Kind Gottes zu helfen, seine Aufgabe zu finden und zu erfüllen, hat der Herr einige besondere »Gaben« für den Dienst in der Gemeinde gegeben. Diese darf man nicht mit den Gaben verwechseln, die im vorherigen Vers erwähnt werden. Jeder Gläubige hat eine Gabe  (V. 7),  aber  nicht  jede  Gabe  gehört zu denen, die in Vers 11 genannt werden. Dies sind besondere »Gaben«, die dem Wachstum des Leibes dienen sollen. Als Erstes sehen wir, dass der Geber dieser besonderen Gaben der auferstandene, aufgefahrene und verherrlichte Herr Jesus Christus ist. Paulus zitiert Psalm 68,19 als Prophezeiung, dass der Messias in den Himmel auffahren, seine Feinde besiegen, sie »gefangen« nehmen und als Belohnung für seinen Sieg »Gaben« für die Menschen empfangen würde.
4,9 Dadurch ergibt sich ein Problem! Wie konnte der Messias in den Himmel auffahren? Hatte er nicht mit Gott dem Vater von aller Ewigkeit her im Himmel gelebt? Offensichtlich musste er erst vom Himmel herabsteigen, um wieder auffahren zu können. Die Prophezeiung seiner Himmelfahrt in Psalm 68,19 bei nhaltet, dass er zuerst hinabgestiegen sein muss. Deshalb können wir Vers 9 etwa so umschreiben: »Wenn es also in Psalm 68 heißt ›er ist hinaufgestiegen‹ – was heißt das anderes, als dass er zunächst auf die Erde herabkommen musste.« Wir wissen, dass genau das geschehen ist. Der Herr Jesus ist zur Krippe von Bethlehem »hina bgestiegen«, zum Tod am Kreuz, ins Grab. Die »unteren Teile der Erde« sind manchmal so verstanden worden, dass er in die Hölle hinabgestiegen sei. Das würde an dieser Stelle jedoch der Argumentationsweise des Paulus widersprechen. Seine Himmelfahrt erforderte es, dass er zuvor auf die Erde hinabgestiegen ist, nicht jedoch die Tatsache, dass er in der Hölle gewesen ist. Außerdem deutet die Schrift an, dass der Geist Christi bei seinem Tod in den Himmel ging, nicht in die Hölle (Lk 23,43.46). Eine englische Bibelübertragung formuliert hier folgendermaßen: »Nun bedeutet das Wort ›hinaufgestiegen‹, dass er auch auf die niedrigste Stufe hinabgestiegen ist, nämlich auf unsere Erde.«
4,10 Die Prophezeiung aus Psalm 68,19 und die darin angedeutete Tatsache, dass Jesus auf die Erde herabgestiegen ist, wurde in der Menschwerdung, dem Tod und der Grablegung des Herrn Jesus genau erfüllt. Der aus dem Himmel »hinabgestiegen« ist, »ist derselbe, der« Sünde, Satan, Dämonen und den Tod besiegt hat und auch »über« die Atmosphäre und den Sternenhimmel »hinaufgestiegen ist, … damit er alles erfüllte«. Er hat in dem Sinne »alles erfüllt«, dass er der Ursprung all unserer Segnungen, die Summe aller Tugenden und der höchste Herrscher über alles ist. »Es gibt keinen Ort zwischen dem Abgrund des Kreuzes und der Erhabenheit der Herrlichkeit, den er nicht kennengelernt hat«, schreibt F. W. Grant.26
Der Hauptgedanke der Verse 8-10 ist, dass der Geber der Gaben der aufgefahrene Christus ist. Gaben wurden erst verteilt, nachdem er in den Himmel zurückgekehrt war. Dies stützt zusätzlich die Vorstellung, dass die Gemeinde im AT noch nicht existiert hat, denn wenn sie existiert hätte, dann wäre sie eine Gemeinde ohne Gaben gewesen.
4,11 Nun werden die Gaben namentlich genannt. Zu unserem Erstaunen handelt es sich um Dienststellungen, nicht um natürliche Gaben oder Talente. »Und er hat die einen als Apostel gegeben und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer.«
»Apostel« waren die Männer, die direkt vom Herrn eingesetzt wurden, das Wort zu predigen und Gemeinden zu gründen. Es handelte sich um diejenigen, die den Auferstandenen gesehen hatten (Apg 1,22). Sie hatten die Vollmacht, Wunder  zu  wirken  (2. Kor  12,12).  Diese dienten als Mittel, die Botschaft, die sie verkündigten, zu beglaubigen (Hebr 2,4). Gemeinsam mit den neutestamentlichen Propheten bestand ihre Aufgabe in der Gründung der Gemeinden (Eph 2,20). Die Apostel, die hier in dem Abschnitt genannt sind, sind nur diejenigen, die nach der Himmelfahrt Christi Apostel waren. »Propheten« waren Männer, die im Namen und Auftrag Gottes redeten. Sie erhielten direkte Offenbarungen vom Herrn und gaben sie an die Gemeinde weiter. Was sie im Heiligen Geist sprachen, war Gottes Wort.
Im eigentlichen Sinne gibt es keine Apostel und Propheten mehr. Ihr Dienst ging zu Ende, als die Grundlagen für die Gemeinde gelegt waren und der neutestamentliche Kanon abgeschlossen war. Wir haben schon betont, dass Paulus hier von neutestamentlichen »Propheten« spricht; sie wurden von Christus nach seiner Himmelfahrt eingesetzt. Wer hier von einer Erwähnung alttestamentlicher Propheten ausgeht, bringt in diesem Abschnitt Schwierigkeiten und Ungereimtheiten ins Spiel.
»Evangelisten« sind diejenigen, die die Gute Nachricht vom Heil predigen. Sie sind von Gott ausgerüstet, verlorene Menschen für Christus zu gewinnen. Sie haben die besondere Gabe, den unheilvollen Zustand eines Sünders zu erkennen, sein Gewissen zu wecken, Einwände zu beantworten, zu Entscheidungen für Christus zu ermutigen und den Bekehrten zu helfen, im Wort gegründet zu werden. Evangelisten sollten von einer Ortsgemeinde ausgesandt sein, der Welt das Evangelium verkündigen, und die Bekehrten wieder einer Ortsgemeinde zuführen, in der sie genährt und im Glauben gestärkt werden.
»Hirten« sind Männer, die als Unterhirten für die Schafe Christi dienen. Sie leiten die Herde und geben ihr Nahrung. Ihr Dienst besteht in weisem Rat, in Korrektur, Ermutigung und Zuspruch. Das Werk des »Hirten« ist mit demjenigen der Ältesten der Ortsgemeinde eng verwandt. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Hirtenschaft eine Gabe ist, die Ältestenschaft dagegen ein Dienst. Das NT zeigt mehrere Hirten in einer Ortsgemeinde (Apg 20,17.28; 1. Petr 5,1.2), nicht nur einen einzigen Hirten oder Ältesten. »Lehrer« sind Männer, die aufgrund der göttlich zugeeigneten Fähigkeiten erklären können, was die Bibel uns sagt. Sie können auslegen, was damit gemeint ist, und sind imstande, diese Wahrh eiten dann auf die Herzen und Gewissen der Heil igen anzuwenden. Während der Evangelist einen Bibeltext außerhalb seines Kontexts behandeln kann, versucht der Lehrer darzulegen, wie der behandelt e Abschnitt in den Zusammenhang passt. Weil die »Hirten und Lehrer« in diesem Vers verbunden sind, schließen einige, dass es sich hier um eine einzige Gabe handelt, sodass es »Hirtenlehrer« heißen müsste. Doch das ist nicht notwendigerweise der Fall. Jemand kann ein Lehrer sein, ohne das Herz eines Hirten zu haben, und ein Hirte mag in der Lage sein, das Wort anzuwenden, ohne dass er die Lehrgabe besitzt. Wenn in Vers 11 »Hirten und Lehrer« von der Person her identisch sind, dann müsste nach derselben grammatischen Regel dies auch für Apostel und Propheten in Kap. 2,20 gelten.27 Ein letztes Wort hierzu. Wir sollten sorgfältig zwischen göttlichen Gaben und angeborenen Talenten unterscheiden. Kein Unerlöster, so sehr er auch talentiert sein mag, kann ein Evangelist, ein Hirte oder Lehrer im Sinne des NT sein. Auch kann kein Christ diese Aufgabe erfüllen, es sei denn, dass er diese besondere Gabe erhalten hat. Die Gaben des Geistes sind übernatürlicher Art. Sie ermöglichen es einem Menschen, etwas zu tun, was für ihn aus menschlicher Sicht unmöglich wäre.
4,12 Wir kommen nun zur Aufgabe oder zum Zweck der Gaben. Sie sind »zur Ausrüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes Christi« gegeben. Dabei gilt folgende Reihenfolge:
1. Die Gabe rüstet »die Heiligen« aus. 2. Daraufhin dienen »die Heiligen«. 3. Als Folge davon wird der »Leib« erbaut.
»Das Werk des Dienstes« ist keine spezielle Beschäftigung für Menschen, die eine besondere theologische oder sonstige Ausbildung erhalten haben. Es geht um einen »Dienst«, nicht um einen Beruf im heutigen Sinne. Es geht hier um jede Art geistlichen Dienstes. Und dieser Vers lehrt weiter, dass jeder Christ einen »Dienst« haben sollte.
Die Gaben sind gegeben, um alle Christen auszurüsten, dem Herrn zu dienen und auf diese Weise den »Leib Christi« aufzuerbauen. Vance Havner erklärt das auf seine unvergleichliche Art: Jeder Christ ist ausgesandt, denn jeder Christ ist ein Missionar. Es ist einmal gesagt worden, dass das Evangelium nicht nur etwas ist, dessentwegen man in die Gemeinde geht, um es anzuhören. Vielmehr ist es auch etwas, dessentwegen man die Gemeinde verlässt, um davon weiterzuerzählen – und dazu sind wir alle berufen. Man hat auch gesagt: »Das Christentum begann als eine Gemeinschaft von Laienpredigern, doch es ist zu einer Organisation professioneller Kanzelredner verkommen, die von Laienzuschauern finanziert wird.« Heutzutage stellen wir Gemeindemitarbeiter an, damit diese die »vollzeitliche Arbeit« im Werk des Herrn leisten. Dann setzen wir uns sonntags hin, um zu sehen, was sie getan haben. Jeder Christ sollte im vollzeitlichen christlichen Dienst stehen … Es gibt natürlich den besonderen Dienst der Hirten, Lehrer und Evangelisten – doch mit welchem Ziel? … damit die Heiligen zu ihrem Dienst ausgerüstet werden.28
Diese von Gott gegebenen Männer sollten nicht so dienen, dass Menschen ständig von ihnen abhängig sind. Stattdessen sollten sie auf den Tag hinarbeiten, an dem die Heiligen imstande sind, selbst weiterzukommen. Wir können das durch folgendes Bild veranschaulichen:
Der  Kreis  im  Mittelpunkt  steht  z. B. für die Gabe eines Lehrers. Er dient denen in dem Kreis in seinem Umfeld, sodass  sie  ausgerüstet,  d. h.  im  Glauben aufe rbaut, werden. Dann gehen diese hin und dienen anderen mit den Gaben, die Gott ihnen gegeben hat. Auf diese Weise wächst die Gemeinde. Das ist die göttl iche Methode, den »Leib Christi« geistlich und zahlenmäßig wachsen zu lassen.
Die Beschränkung des christlichen Dienstes auf einen ausgewählten Personenkreis behindert die Entwicklung des Volkes Gottes, unterdrückt das Anliegen der Weltevangelisation und hemmt das Gemeindewachstum. Die Unterscheidung in Geistlichkeit und Laienschaft ist schriftwidrig und wahrscheinlich das größte Einzelhindernis für die Verbreitung des Evangeliums.
4,13 Vers 13 beantwortet die Frage, wie lange dieser Wachstumsprozess dauern wird. Die Antwort lautet: »… bis wir alle hingelangen« zu einem Zustand der »Einheit«, der Reife und der Christusähnlichkeit.
Einheit. Wenn der Herr seine Gemeinde in den Himmel holen wird, dann erreichen wir alle die »Einheit des Glaubens«. »Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels«, und zwar auf vielen Gebieten. Wir haben bei vielen Themen Meinungsverschiedenheiten. Dann jedoch werden wir einer Meinung sein. Und wir werden die »Einheit … der Erkenntnis des Sohnes Gottes« erreichen. In unserer jetzigen Welt haben wir individuelle Erkenntnisse über das Wesen des Herrn und darüber, wie seine Lehren gemeint sind. Dann werden wir ihn sehen, wie er ist, und erkennen, wie wir erkannt sind. Reife. Bei der Entrückung werden wir auch den Zustand der Reife oder des VollAusgewachsenseins erreichen. Sowohl als Einzelne als auch als Leib Christi werden wir zur Vollkommenheit geistlicher Entwicklung gelangen.
Ähnlichkeit. Wir werden Jesus Christus gleich sein. Wir werden in moralischer Hinsicht Christus ganz gleichen. Und die gesamte Gemeinde wird ein vollständiger Leib sein, ausgewachsen und vollkommen seinem herrlichen Haupt entsprechend. »Die Fülle Christi ist die Gemeinde selbst, die Fülle, die alles in allem erfüllt« (aus F. W. Grants Nu merical Bible). »Das Vollmaß des Wuchses« der Gemeinde bedeutet, dass sie voll entwickelt und dass Gottes Plan zu ihrem Wachstum erfüllt ist.
4,14 Wenn die Gaben auf göttlich gewollte Weise eingesetzt werden, und die Heiligen im Dienst des Herrn aktiv sind, dann werden drei Gefahren vermieden: Unreife, Unbeständigkeit und Leichtgläubigkeit.
Unreife. Gläubige, die sich nie im offensiven Kampf für Christus einsetzen, können niemals aus dem Zustand geistlicher »Unmündiger« herausfinden. Sie entwickeln sich nicht, weil sie ihre Gaben nicht einsetzen. Solchen sagte der Schreiber des Hebräerbriefes: »Denn während ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre …« (Hebr 5,12).
Unbeständigkeit. Eine andere Gefahr ist geistliche Unbeständigkeit. Unreife Christen sind für die grotesken Einfälle und bizarren Ideen professioneller religiöser Scharlatane anfällig. Sie werden zu religiösen Zigeunern, indem sie zwischen den verschiedenen ansprechenden Fantasien »hin und her geworfen« werden. Leichtgläubigkeit. Die größte Gefahr ist der Selbstbetrug. Diejenigen, die noch Unmündige im Glauben sind, haben noch wenig Kenntnis vom Wort der Gerechtigkeit, und ihre Sinne sind noch nicht geübt, zwischen Gut und Böse zu unters cheiden (Hebr 5,13.14). Sie treffen unausweichlich auf irgendeinen Anführer einer Sekte oder Sondergemeinschaft, der sie mit seinem Eifer und seiner scheinbaren Aufr ichtigkeit beeindruckt. Weil er ein relig iöses Vokabular im Munde führt, meinen diese unreifen Gläubigen, dass er ein wahrer Christ sein müsse. Wenn sie jedoch selbst die Bibel studiert hätten, dann wären sie imstande, seine bet rügerischen Wortverdrehungen zu durchschauen. Doch so werden sie »von jedem Wind der Lehre … umhergetrieben« und von gewissenlosen Betrügern zu systemat ischen Irrtümern geführt.
4,15 Die letzten zwei Verse des Abschnitts beschreiben den normalen Wachstumsprozess im Leib Christi. Zunächst besteht die Notwendigkeit, an der Lehre festzuhalten: »Lasst uns aber die Wahrheit bekennen …« Es kann bezüglich der Glaubensgrundlagen keine Kompromisse geben. Zweitens muss alles im rechten Geist geschehen: »… die Wahrheit bekennen in Liebe.« Wenn wir die Wahrheit anders bekennen, dann wird das zu einem einseitigen Zeugnis führen. Blaikie ermahnt:
Wahrheit ist das Element, in dem wir leben, uns bewegen und uns auszeichnen können … Doch die Wahrheit muss untrennbar mit der Liebe verbunden sein, denn gute Nachrichten, die böse verkündigt werden, sind keine guten Nachrichten mehr. Die Anziehungskraft der Botschaft wird durch eine unangemessene Haltung des Boten zunichtegemacht.29
Wenn die Heiligen nun mit Gaben ausgestattet sind und sich im aktiven Dienst engagieren, so wachsen sie »in allem« auf ihn, »das Haupt«, zu. Christus ist das Ziel und der Grund ihres Wachstums, und das Wachstum betrifft »alle« Bereiche. Auf jedem Gebiet ihres Lebens werden sie ihm ähnlicher. Je mehr sich das Haupt in der Gemeinde verwirklicht, umso besser ist das Christuszeugnis, das der Leib der Welt gegenüber ablegt!
4,16 Der Herr Jesus ist nicht nur das Ziel des Wachstums, sondern auch seine Ursache. »Aus ihm wird der ganze Leib« in den Wachstumsprozess einbezogen. Die wunderbare Integration der Glieder des Leibes wird durch die Wendung »gut zusammengefügt und verbunden« beschrieben. Das bedeutet, dass jedes Glied genau für seinen Platz sowie seine Funktion gemacht und vollkommen mit allen anderen Gliedern »verbunden« ist, damit alle zusammen einen vollständigen, lebendigen Organismus ergeben. Wie viel ein Glied bedeutet, wie es sogar unentbehrlich ist, wird danach beschrieben: »Gut zusammengefügt und verbunden durch jedes Gelenk des Dienstes.« Der menschliche Leib besteht hauptsächlich aus Knochen, Organen und Muskeln. Die Knochen werden von Gelenken, Sehnen und Bändern zusammengehalten, und auch die Organe sind miteinander verbunden. Jedes Gelenk, jedes Band und jede Sehne erfüllt ihre Aufgabe beim Wachstum des Leibes und ist für den Leib nützlich. Dasselbe gilt für »den Leib« Christi. Kein Glied ist überflüssig, und auch der geringste Gläubige ist notwendig.
Wenn jeder Gläubige seine Aufgabe erfüllt, dann wächst der »Leib« zu einer harmonischen, wohlausgebildeten Einheit. Er ist dann ähnlich wie ein gesunder menschlicher Körper voll funktionsfähig. In einem ganz realen Sinne wirkt der Leib selbst »das Wachstum des Leibes«, so paradox dies auch klingen mag. Das bedeutet ganz einfach, dass das Wachstum vom Leib veranlasst wird, wenn die Glieder sich vom Wort Gottes nähren, beten und für Christus Zeugnis ablegen. Chafer sagte einmal dazu: »Die Gemeinde entfaltet sich wie der menschliche Leib von selbst.« Zusätzlich zum Größenwachstum gibt es eine »Selbstauferbauung in Liebe«. Das bedeutet die gegenseitige Fürsorge der Glieder untereinander. Wenn Christen in Christus bleiben und ihre Aufgabe in der Gemeinde erfüllen, dann wachsen sie »in Liebe« und Einheit näher zusammen.
C. Aufruf zu einem neuen Lebenswandel (4,17 – 5,21)
4,17 Hier fängt nun der ausführliche Aufruf des Apostels zu einem neuen Lebenswandel an, der sich bis Kapitel 5,21 erstreckt.  Er  bezeugt  »im  Herrn«,  d. h.  in der Autorität des Herrn und durch göttliche Inspiration. Dabei bittet er die Christen, jede Einzelheit ihres vergangenen Lebens abzulegen, als würde es sich um einen schmutzigen Mantel handeln. Stattdessen sollten sie die Tugenden und Vorzüge des Herrn Jesus Christus anziehen. »… dass ihr nicht mehr wandeln sollt, wie auch die Nationen wandeln.« Die Briefempfänger sind keine »Heiden« mehr, sondern Christen. Entsprechend sollte ihr Leben sich verändern. Paulus sah, dass die christuslose Welt der Nationen in Unwissenheit und Erniedrigung versunken ist. Die Heiden werden von sieben schrecklichen Eigenschaften gekennzeichnet, und zwar:
Ziellosigkeit. Sie wandeln »in Nichtigkeit ihres Sinnes«. Ihr Leben ist leer, ziellos und fruchtlos. Man sieht ständige Bewegung, doch keine Fortschritte. Sie jagen hinter Seifenblasen und Schatten her, während sie die entscheidenden Realitäten des Lebens vernachlässigen.
4,18 Blind. »Sie leben verblendet in einer Welt der Illusion« (so nach einer englischen Übertragung). Ihr »Verstand« ist »verfinstert«. Zunächst einmal fehlt ihnen von Natur aus die Fähigkeit, geistliche Wahrheiten zu verstehen, und außerdem kommt noch das göttliche Gericht der Blindheit hinzu, weil sie das Wissen vom wahren Gott abgelehnt haben. Gottlos. Sie sind »fremd dem Leben Gottes«, das heißt, sie leben weit entfernt von ihm. Dies rührt von ihrer willentlichen, tief gehenden Unwissenheit und der Verhärtung ihrer Herzen her. Sie haben das Licht Gottes, das ihnen in der Schöpfung und durch ihr Gewissen schien, abgelehnt und sich dem Götzendienst zugewandt. Danach haben sie sich immer weiter von Gott entfernt.
4,19 Schamlos. Sie sind »abgestumpft«. W. C. Wright erklärt:
Moule übersetzt: »Sie haben den Schmerz verwunden.« Wie ausdrucksstark! Wenn man ein Gewissen erstmals unterdrückt, schmerzt es noch, denn man hört noch die Einwände des Gewissens. Doch wenn man die Stimme zum Schweigen bringt, dann wird die Stimme immer undeutlicher und leiser, die Einwände werden weniger, es schmerzt weniger, bis es schließlich möglich ist, »den Schmerz zu verwinden«.30
Erbärmlich. Sie geben sich wissentlich »selbst der Ausschweifung« hin, d. h. sie verhalten sich auf abscheuliche Weise. Die Hauptsünde der Heiden lag und liegt auf sexuellem Gebiet. Sie erniedrigen sich zu beispiellosen Tiefen der Verderbtheit. Die Mauern von Pompeji künden von dieser Geschichte voller Schande und Schamlosigkeit. Dieselben Sünden kennzeichnen die heutige Heidenwelt. Unzüchtig. Als Sünder auf sexuellem Gebiet praktizieren sie »jede« Form der »Unreinheit«. Es scheint hier angedeutet zu sein, dass sie sich jeder »Unreinheit« hingeben, als hätten sie »Ausschweifung« zu einem Gewerbe oder Geschäft gemacht.
Unersättlich. »Mit Gier.« Sie sind nie zufrieden und können nie genug bekommen. Ihre Sünde führt zu einem grenzenlosen Verlangen nach mehr.
4,20 Welch ein Kontrast zu »Christus«, den die Epheser nun kennen und lieben gelernt hatten. Er war gleichsam die Verkörperung der Reinheit und Sittsamkeit. Er kannte keine Sünde, er tat keine Sünde, und in ihm war keine Sünde.
4,21 Das Wörtchen »wenn« in »wenn ihr ihn wirklich gehört und durch ihn gelehrt worden seid« soll hier nicht die Bekehrung der Epheser in Zweifel ziehen. Vielmehr soll hier einfach betont werden, dass alle, die von Christus gehört haben und »in ihm gelehrt« worden sind, ihn als denjenigen kennengelernt haben, der die Heiligkeit und Gottesfürchtigkeit in seinem Wesen ist. Wer Christus gehört hat, der hat ihn im Glauben gehört – und ihn als Herrn und Heiland angenommen. Der Ausdruck »durch ihn gelehrt« bezieht sich darauf, dass die Epheser nach ihrer Bekehrung in ihm gelehrt wurden, als sie in Gemeinschaft mit ihm lebten. Blaikie bemerkt: »Alle Wahrheiten sehen anders aus, wenn wir eine persönliche Beziehung zu Jesus bekommen. Wahrheit ohne die Person Christi hat kaum Vollmacht.«31 »… wie die Wahrheit in Jesus ist.« Er lehrt nicht nur die Wahrheit, sondern ist die fleischgewordene Wahrheit (Joh 14,6). Der Name »Jesus« führt uns zu seinem Erdenleben zurück, weil das sein Name hier auf Erden war. In diesem makellosen Leben, das er als Mensch in dieser Welt führte, sehen wir das genaue Gegenteil zum Lebensstil der Heiden, den Paulus soeben beschrieben hat.
4,22 In der Schule Christi lernen wir, dass wir bei unserer Bekehrung »den alten Menschen abgelegt« haben, »der sich durch die betrügerischen Begierden zugrunde richtet«. »Der alte Mensch« ist alles, was jemand vor seiner Bekehrung und als Kind Adams war. Er wird als Folge der Hingabe an »betrügerische Begierden« zugrunde gerichtet, und zwar durch böse Begierden, die vorher verlockend und vielversprechend scheinen, die jedoch in der Rückschau nur abscheulich sind und den Betreffenden enttäuschen. In Bezug auf seine Stellung in Christus ist der »alte Mensch« des Gläubigen mit Christus gekreuzigt und begraben. In der Praxis sollte der Gläubige ihn für tot halten. Paulus stellt dies hier als stellungsmäßige Wahrheit dar – wir haben den »alten Menschen abgelegt«, und zwar ein für alle Mal.
4,23 Als zweite Lektion haben die Epheser zu Jesu Füßen gelernt, dass sie »in dem Geist« ihrer »Gesinnung … erneuert« worden sind. Das weist auf eine völlige Umkehr in ihrem Denken hin, eine Umkehr von geistiger Unreinheit zur Heiligung. Der Geist Gottes beeinflusst die Denkprozesse so, dass man von Gottes Standpunkt aus argumentiert, und nicht aus der Sichtweise unerretteter Menschen.
4,24 Die dritte Lektion lautet, dass sie ein für alle Mal »den neuen Menschen angezogen« haben. Der neue Mensch ist das, was ein Gläubiger in Christus ist. Er ist die neue Schöpfung, in der alles Alte vergangen und Neues geworden ist (2. Kor  5,17).  Dieser  »neue  Mensch«  ist »nach Gott«, d. h. nach seinem Bild, »geschaffen«. Und in ihm findet sich »wahrhaftige Gerechtigkeit und Heiligkeit«. »Gerechtigkeit« ist richtiges Verhalten anderen Menschen gegenüber. »Heiligkeit« ist »eine ehrfürchtige Haltung gegenüber Gott, die ihm seine rechtmäßige Stellung einräumt«, wie F. W. Grant definiert.32
4,25 Paulus geht nun von der Stellung des Gläubigen zu seinem Zustand über. Weil die Epheser den alten Menschen abgelegt und den neuen in ihrer Vereinigung mit Christus angelegt haben, sollten sie diese erstaunliche Umkehr auch in ihrem alltäglichen Leben beweisen. Sie konnten das zunächst einmal dadurch tun, dass sie »die Lüge« ablegten und die Wahrhaftigkeit anzogen. »Lüge« umfasst hier jede Art der Unaufrichtigkeit, ob es um das Verdunkeln einer Wahrheit, um Übertreibung, Irreführung, nicht gehaltene Versprechen, gebrochenes Vertrauen, Schmeichelei oder Betrug bei der Einkommenssteuer geht. Das Wort des Christen sollte absolut zuverlässig sein. Sein Ja sollte ein Ja sein, sein Nein ein Nein. Das Leben des Christen gleicht eher einer Schmähschrift als einer Bibel, wenn er sich dazu hinreißen lässt, an irgendeiner Stelle die Wahrheit zu manipulieren.
Wir sind allen Menschen die Wahrheit schuldig. Doch wenn Paulus hier das Wort »Nächster« benutzt, so meint er hier besonders unsere Mitgläubigen. Das wird aus der Begründung deutlich, die er gibt: »Denn wir sind untereinander Glieder« (vgl. Röm 12,5; 1. Kor 12,12-27). Es ist für einen Christen so undenkbar, einen anderen anzulügen, wie es für einen Nerv im Körper undenkbar ist, bewusst eine falsche Botschaft zum Gehirn zu leiten. Man kann dies auch damit vergleichen, dass ein Auge die übrigen Organe des Körpers täuscht, wenn Gefahr im Verzug ist.
4,26 Ein zweiter Bereich für die praktische Erneuerung in unserem Leben steht in Verbindung mit »sündigem Zorn« und gerechten Zorn. Es gibt Zeiten, zu denen ein Gläubiger zu Recht »zürnt«, wenn  z. B.  Gottes  Wesen  in  Zweifel  gezogen wird. In solchen Fällen sollen die Betreffenden zornig werden: »Zürnet!« Zorn gegenüber dem Bösen kann gerecht sein. Doch gibt es andere Zeiten, zu denen Zorn Sünde wird. Zorn ist uns dann verboten, wenn er ein Gefühl von Bosheit, Eifersucht, Groll, Rachsucht oder Hass erzeugt, weil der Betroffene Unrecht erlitten hat. Aristoteles sagt: »Jeder kann zornig werden, das ist ganz einfach, doch mit dem richtigen Menschen, in richtigem Maße, zur rechten Zeit, aus dem rechten Grund und auf die richtige Weise – das ist nicht einfach.«
Wenn ein Gläubiger dem ungerechten Zorn Raum gibt, dann sollte er ihn schnell bekennen und sich davon abkehren. Das Bekenntnis sollte sowohl Gott als auch dem Opfer seines Zornes gegenüber geschehen. Man sollte keinen Groll pflegen, keine Ablehnung im Herzen tragen noch Ärger hegen. »Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn.« Alles, was unsere Gemeinschaft mit Gott oder unseren Geschwistern trübt, sollte sofort bereinigt werden.
4,27 Unbekannte Sünde bezüglich des Zorns verschafft »dem Teufel« eine gute Ausgangsbasis in unserem Leben. Er kann darin in vielerlei Hinsicht Fuß fassen, ohne dass wir ihn bewusst dabei unterstützen. Deshalb dürfen wir Bosheit, Zorn, Neid, Hass und Eifersucht in unserem Leben nicht entschuldigen. Diese Sünden untergraben das christliche Zeugnis, bringen Unerlöste zu Fall, sind ein Anstoß für die Gläubigen und schaden uns selbst geistlich und körperlich.
4,28 Paulus richtet seine Aufmerksamkeit nun auf zwei gegensätzliche Verhaltensweisen: Es geht um das Stehlen und darum, dass wir stattdessen fortan miteinander teilen sollen. Der alte Mensch stiehlt, der neue Mensch teilt. Zieht den alten Menschen aus, und zieht den neuen an! Allein die Tatsache, dass Paulus überhaupt jemals an Christen eine solche Anweisung (»wer gestohlen hat, stehle nicht mehr«) richten muss, beweist: Die Vorstellung, dass Christen sündlos und vollkommen sind, ist unsinnig. In ihnen lebt noch immer die alte böse, selbstsüchtige Natur, die im Alltag für tot gehalten werden muss. Stehlen kann viele Formen annehmen. Es geht um die ganze Bandbreite von Diebstahl im großen Stil, über das Nichtbezahlen von Schulden, das zeitlich ausufernde Christuszeugnis während der Arbeitszeit, über Plagiate und den Gebrauch von falschem Maßeinheiten bis hin zum Fälschen von Einkommensberechnungen. Natürlich ist dieses Diebstahlsverbot nicht neu. Schon das Gesetz des Mose verbietet Diebstahl (2. Mose 20,15). Erst die folgenden Sätze geben diesem Abschnitt ein unverkennbar christliches Gepräge. Wir sollten nicht nur das Stehlen unterlassen, sondern sogar in einer ehrenhaften Stellung arbeiten, damit wir in der Lage sind, mit anderen zu teilen, die weniger Glück haben. Gnade, nicht das Gesetz, ist die Kraft der Heiligung. Nur die positive Macht der Gnade kann einen Dieb in einen Wohltäter umgestalten.
Das ist radikal und revolutionär. Der normale Ansatz für die Menschen lautet, dass sie für ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche arbeiten. Wenn sich ihr Einkommen erhöht, so steigt auch ihr Lebensstandard. Alles in ihrem Leben dreht sich um sie selbst. Dieser Vers legt jedoch eine edlere, erhabenere Sicht der Beschäftigung im weltlichen Bereich nahe. Wir arbeiten, um für die eigene Familie einen bescheidenen Lebensstandard zu sichern, doch auch dazu, um »Bedürftigen« etwas zu geben, sei es geistlich oder zeitlich, sei es zu Hause, im Inland oder im Ausland. Und wie groß ist doch die Zahl der »Bedürftigen«!
4,29 Der Apostel wendet sich nun dem Thema der Wortsünden zu und stellt das Nutzlose dem Erbaulichen gegenüber. Mit dem Ausdruck »faules Wort« ist eine Unterhaltung gemeint, die unanständig und anzüglich ist. Dazu gehören also zweideutige Witze, schmutzige Geschichten und Gotteslästerung. Doch es geht hier wahrscheinlich im weiteren Sinne um jede Art der Unterhaltung, die inhaltslos, wertlos, überflüssig und leichtfertig ist. Paulus behandelt obszöne und unflätige Sprache in 5,4. Hier geht es ihm darum, dass wir nutzlose Rede aufgeben und stattdessen aufbauend reden sollen. Eine christliche Unterhaltung sollte folgende Eigenschaften aufweisen: Erbauend. Sie sollte dazu führen, dass die Zuhörer auferbaut werden. Angemessen. Sie sollte dem Anlass angepasst sein.
Gnädig. Sie sollte »den Hörenden Gnade« geben.
4,30 »Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt worden seid auf den Tag der Erlösung hin.« Wenn wir diesen Vers in Verbindung mit dem Vorhergehenden sehen, dann bedeutet dies, dass nutzloses Geschwätz den Geist betrübt. Man kann ihn auch mit den Versen 25-28 verbinden, um zu zeigen, dass Lüge, ungerechter Zorn und Diebstahl ihn ebenso betrüben. Aber im weiteren Sinne sagt er auch aus, dass wir alles und jeden meiden sollen, das ihn betrübt.
Hier werden drei wichtige Gründe dafür genannt:
1. Er ist der Heilige Geist. Alles, was nicht ebenfalls heilig ist, gefällt ihm nicht. 2. Er ist der Heilige Geist »Gottes«, eine Person der heiligen Dreieinheit. 3. Wir sind mit ihm »versiegelt worden … auf den Tag der Erlösung hin«. Wie schon vorher bemerkt, bedeutet ein Siegel Besitztum und Sicherheit. Der Heilige Geist ist das Siegel, das uns garantiert, dass wir bis zur Wiederkunft Christi bewahrt werden und unsere Erlösung vollständig ist. Interessanterweise erwähnt Paulus hier die ewige Sicherheit des Gläubigen als einen der wichtigsten Gründe, warum wir nicht sündigen sollen. Die Tatsache, dass der Geist »betrübt« werden kann, beweist, dass der Heilige Geist eine Person ist, nicht nur eine Art Einfluss. Es bedeutet auch, dass er uns liebt, weil wir nur jemanden betrüben können, der uns liebt. Der Dienst des Geistes Gottes besteht am häufigsten dari n, Christus zu verherrlichen und den Gläubigen in sein Ebenbild zu verwandeln  (2. Kor  3,18).  Wenn  ein  Christ  sündigt, dann muss er von diesem Dienst ablassen und sich dem Dienst der Wiederherstellung zuwenden. Es betrübt den Heiligen Geist, wenn er sehen muss, dass der geistliche Fortschritt des Gläubigen von der Sünde unterbrochen worden ist. Er muss den Christen zunächst zur Buße und zum Bekenntnis der Sünde führen.
4,31 Alle Zornes- und Wortsünden sollten »weggetan« werden. Der Apostel listet hier einige davon auf. Obwohl es nicht möglich ist, jede von der anderen genau zu unterscheiden, so ist die allgemeine Bedeutung doch klar: Bitterkeit – schwelender Groll, mangelnde Vergebungsbereitschaft, verhärtete Gefühle.
Wut – Wutanfälle, von Leidenschaft motivierte Gewaltausbrüche, Reaktionen, bei denen man die Beherrschung verliert. Zorn – Verdrießlichkeit, Gereiztheit, Feindseligkeit, Feindschaft. Geschrei – laute Zornesbekundungen, Grölen, ärgerliches Gezänk, Gezeter, Niederschreien von Gegnern. Lästerung – Beleidigungen, böse Nachrede, Verleumdungen, Beschimpfungen, Schmähungen.
Bosheit – anderen Böses wünschen, Gehässigkeit, Boshaftigkeit, Niedertracht.
4,32 Die eben genannten Zorness ünden sollten wir aufgeben, doch das Va kuum müssen wir durch das Einüben christusähnlicher Eigenschaften auff üllen. Die gerade genannten Punkte beinhalt en natürliche Laster, während die folgenden Einzelheiten übernatürliche Tugenden umfassen:
Güte – selbstlose Sorge um das Wohlergehen anderer und der Wunsch, Mitmenschen auch unter großen persönlichen Opfern zu helfen. Mitleid – ein mitfühlendes, liebevolles und anteilnehmendes Interesse am anderen und die Bereitschaft, seine Last mitzutragen.
Vergebungsbereitschaft – Bereitschaft, Vergehen zu entschuldigen, persönliches Unrecht, das einem zugefügt wurde, zu übersehen, und kein Verlangen nach Rache zu hegen.
Das großartigste Beispiel für Vergebungsbereitschaft ist Gott selbst. Die Grundlage seiner Vergebung ist das Werk Christi auf Golgatha. Und wir sind die unwürdigen Empfänger seiner Vergebung. Gott hätte uns die Sünde nicht vergeben können, wenn dafür nicht Sühnung erwirkt worden wäre. In seiner Liebe stellte er die Sühnung bereit, die seine Gerechtigkeit erforderte. »In Christus«, das heißt, in seiner Person und in seinem Werk, fand Gott die gerechte Grundlage, auf der er uns vergeben konnte. Weil er uns vergab, als wir »Millionen von Euro« schuldig waren, sollten wir anderen ebenfalls vergeben, wenn sie uns »ein paar Euro« schulden (Matth 18,2328; nach einer englischen Übertragung). Lenski rät:
In dem Augenblick, da mir jemand Unrecht tut, muss ich ihm vergeben. Dann ist mein Gewissen frei. Wenn ich ihm das Unrecht weiter vorhalte, dann sündige ich gegen ihn sowie gegen Gott und setze meine Ver gebung bei Gott aufs Spiel. Ob der andere Reue zeigt, etwas wiedergutmacht, mich um Vergebung bittet oder nicht, ändert nichts an der Situation. Ich habe ihm sofort verg eben. Er muss sich vor Gott für das Unrecht verantworten, das er mir angetan hat, doch das ist seine und Gottes Sache und nicht meine, es sei denn, dass ich ihm nach Matthäus 18,15ff. helfen sollte. Doch ich muss ihm zuallererst vergeben – egal, ob dieses seelsorgerliche Bemühungen Erfolg hat oder nicht.33
5,1 Gottes Beispiel für Vergebungsbereitschaft in 4,32 ist die Basis der Ermahnungen des Paulus an dieser Stelle. Der Zusammenhang ist folgender: Gott hat uns in Christus vergeben. Nun sollen wir »Nachahmer Gottes« sein, indem wir einander vergeben. Ein besonderer Beweggrund wird mit den Worten »als geliebte Kinder« angefügt. Im natürlichen Leben ist bei Kindern eine familiäre Prägung zu erkennen. Sie sollten daher versuchen, den Namen der Familie zu ehren. Im geistlichen Leben sollen wir unseren Vater vor der Welt repräsentieren und versuchen, entsprechend unserer Würde als seine geliebten »Kinder« zu leben.
5,2 Noch auf andere Weise sollten wir dem Herrn gleichen: durch unseren Wandel »in Liebe«. Der zweite Teil des Verses erklärt, dass Wandel »in Liebe« bedeutet, sich selbst für andere hinzugeben. Das ist es, was Christus, unser vollk ommenes Vorbild, getan hat. Welch erstaunliche Tatsache: Er liebte uns! Den Beweis seiner Liebe erbrachte er, als er am Kreuz von Golgatha sich selbst in den Tod gab.
Seine Gabe wird hier als »Gabe und Schlachtopfer« für Gott dargestellt. Eine »Gabe« ist alles, was man Gott gibt, ein »Schlachtopfer« beinhaltet als zusätzliches Element den Tod. Er war das wahre »Schlachtopfer«, der Eine, der dem Willen Gottes ganz hingegeben war, sogar bis zum Tod am Kreuz. Sein »Schlachtopfer« unaussprechlicher Hingabe wird hier schön umschrieben: Es ist ein »duftender Wohlgeruch« für Gott. F. B. Meyer kommentiert: »Hier sehen wir eine so unermessliche Liebe, die keine Kosten für Menschen scheute, die sie eigentlich nicht wert waren; hier fand ein Schauspiel statt, das den Himmel mit Wohlgeruch und Gottes Herz mit Freude erfüllte.«34 Der Herr Jesus erfreute seinen Vater, indem er sich selbst für andere hingab. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass auch wir Gott eine Freude machen können, indem wir uns für andere hingeben. Mach mich zum Segen für andere hier, mach mich zum Segen, ich fleh’ drum zu dir.
Dir will ich geben,
mein armes Leben
fortan in Liebe für andere hier. Verfasser unbekannt
5,3 In den Versen 3 und 4 kommt der Apostel auf das Thema der sexuellen Sünden zurück und ruft entschlossen alle Heiligen auf, sich durch Heiligung von diesen Sünden zu trennen. Als Erstes erwähnt er verschiedene Formen der sexuellen Unmoral:
Unzucht. Wann immer dieses Wort mit Ehebruch im gleichen Atemzug genannt wird, handelt es sich dabei um unerlaubten Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten. Wenn das Wort jedoch wie an dieser Stelle nicht vom Ehebruch unterschieden wird, dann bezieht es sich wahrscheinlich auf jede Form sexueller Unmoral. (Unser Wort »Pornografie«, wörtl. »Hurenschreiberei«, ist mit dem Wort verwandt, das hier mit »Unzucht« übersetzt wird.)
Unreinheit. Hierbei kann es sich ebenfalls um Unmoral handeln. Damit können aber auch unreine Bilder, Bücher obszönen Inhalts und andere anstößige Veröffentlichungen gemeint sein, die zu einem unanständigen Leben gehören und die Sinnlichkeit erregen.
Habsucht. Während wir dieses Wort normalerweise mit Geldgier gleichsetzen, bezieht es sich hier auf sinnliche Begierde – auf das unersättliche Verlangen, den Sexualtrieb außerhalb der Ehe zu befriedigen  (vgl.  2. Mose  20,17:  »Du  sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten.«)
Etwas Derartiges sollte unter Christen »nicht einmal … genannt werden«. Es ist selbstverständlich, wie sich Gläubige diesbezüglich verhalten sollten: Niemals sollte man von ihnen sagen können, dass sie so etwas begangen haben. Man sollte darüber noch nicht einmal diskutieren, denn dadurch könnten diese Schandtaten ihre Sündhaftigkeit und Ungeheuerlichkeit verlieren. Man steht immer in der großen Gefahr, sie zu verharmlosen, sie zu entschuldigen oder ständig und vertraulich davon zu reden. Paulus betont seine Ermahnung mit dem Zusatz: »… wie es Heiligen geziemt.« Die Gläubigen sind von der Verderbnis dieser Welt getrennt, und jetzt sollten sie in praktischer Absonderung von dunklen Leidenschaften leben, und zwar in Wort und Tat.
5,4 Ihr Reden sollte sich durch das Fehlen folgender Eigenschaften auszeichnen:
Unanständigkeit. Das bezieht sich auf schmutzige Geschichten, anzügliche Witze mit sexuellem Bezug, und alle Formen der Schamlosigkeit und Unanständigkeit.
Albernes Geschwätz. Damit ist leeres Gerede gemeint, sodass man den Betreffenden für einen Schwachsinnigen halten könnte; hier kann auch Gossensprache dazugehören.
Witzelei. Damit sind Witze, verbale Geschmacklosigkeiten oder Zweideutigkeiten gemeint. Wenn man über etwas oft redet, darüber Witze macht und es häufig in Unterhaltungen erwähnt, führt man es in sein Denken ein und nähert sich so immer mehr der eigentlichen Tat. Es ist immer gefährlich, sich über Sünde lustig zu machen. Statt seine Zunge für solch unwürdiges und ungehöriges Gerede zu benutzen, sollte der Christ bewusst die Gewohnheit einüben, Gott für alle Segnungen und alle Gaben »Danksagung« darzubringen. Das gefällt dem Herrn; es stellt ein gutes Beispiel für andere dar und ist auch dem eigenen inneren Leben dienlich.
5,5 Es gibt keinerlei Raum für Zweifel bezüglich Gottes Meinung über unmoralische Menschen: Sie haben keinen »Erbteil … in dem Reich Christi und Gottes«. Dieses Urteil steht im scharfen Kontrast zur gegenwärtigen Haltung der Welt. Sie meint, dass sexuelle Triebtäter krank sind und psychiatrische Behandlung benötigen. Menschen sagen, dass Unmoral eine Krankheit ist, doch Gott bezeichnet sie als Sünde. Menschen entschuldigen solches Verhalten, Gott verurteilt es. Der Mensch sagt, die Lösung sei Psychoanalyse, Gott dagegen sagt, dass nur die Wiedergeburt die Lösung ist.
Drei Arten von Sündern werden hier erwähnt, und zwar dieselben, die wir auch in Vers 3 wiederfinden – nämlich die Unzüchtigen, die Unreinen und die Habsüchtigen. Hier wird noch der Gedanke hinzugefügt, dass der »Habsüchtige … ein Götzendiener« ist. Es gibt einen Grund dafür, dass er »ein Götzendiener« ist. Er liegt darin, dass er eine falsche Vorstellung davon hat, wer Gott ist: Seine Vorstellung von Gott zeigt ein Wesen, das sinnliche Begierde toleriert, denn sonst würde er es nicht wagen, auf diesem Gebiet zu sündigen. Ein anderer Grund, warum Habsucht Götzendienst genannt wird, besteht darin, dass der eigene Wille über den Willen Gottes gestellt wird. Ein dritter Grund für diese Aussage ist, dass Habsucht dazu führt, eher das Geschöpf als den Schöpfer zu ehren (Röm 1,25). Wenn Paulus sagt, dass solche Leute kein »Erbteil« haben »in dem Reich«, so kann man dies nicht umdeuten. Menschen, deren Leben durch diese Sünden charakterisiert ist, sind verloren; sie sind auf dem besten Weg in die Hölle. Sie gehören nicht zum unsichtbaren »Reich« in unserem Zeitalter, und sie werden nicht zu dem Reich gehören, wenn Christus wiederkommt, um zu herrschen. Darüber hinaus werden sie auf ewig von dem Reich des Himmels ausgeschlossen sein. Der Apostel sagt hier nicht, dass sie Menschen sind, die trotz ihrer Zugehörigkeit zum Reich am Richterstuhl Christi Schaden erleiden werden. Es geht hier um die Erlösung, nicht um Lohn. Sie mögen sagen, sie seien Christen, doch sie beweisen durch ihr Leben, dass sie nie errettet worden sind. Natürlich können sie gerettet werden, wenn sie umkehren und an den Herrn Jesus glauben. Doch wenn sie wirklich bekehrt sind, werden sie diese Sünden nicht länger tun. Man beachte, dass die Gottheit Christi in dem Ausdruck »Reich Christi und Gottes« enthalten ist. »Christus« wird hier auf eine Stufe mit »Gott« dem Vater als Herrscher über das »Reich« gestellt.
5,6 Viele weltliche Menschen nehmen eine zunehmend tolerante und nachsichtige Haltung gegenüber sexuellen Sünden ein. Sie sagen, dass die Befriedigung körperlicher Triebe notwendig und nützlich sei und ihre Unterdrückung verklemmte und gehemmte Persönlichkeiten hervorbringe. Sie sagen, dass die Moral völlig von der Kultur unseres Lebensumfelds abhänge. Weil »vorehelicher«, »außerehelicher« und »homosexueller« Verkehr (ausnahmslos von Gottes Wort als Unzucht, Ehebruch und Perversion gebrandmarkt) in unserer Kultur akzeptiert sind, sollten sie von daher auch gesetzlich zugelassen werden. Erstaunlicherweise haben viele der führenden Leute in der Bewegung, die sexuelle Sünde legalisieren will, hohe Kirchenämter inne. So werden heute Laien, die immer der Ansicht waren, dass Unmoral falsch ist, von leitenden Kirchenleuten überzeugt, dass solch eine Haltung unzeitgemäß sei. Christen sollten sich durch solche falschen Lehren nicht irreführen lassen, »denn dieser Dinge wegen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams«. Die Haltung des Herrn zu solchen Sünden wie Unzucht und Ehebruch kann man in 4. Mose 25,1-9 sehen: 24 000 Israeliten wurden getötet, weil sie mit den Frauen Moabs gesündigt hatten. Die Haltung des Herrn gegenüber Homosexualität zeigte sich, als Sodom und Gomorra durch Feuer und Schwefel vom Himmel vernichtet wurden (1. Mose 19,24.28). Doch Gottes »Zorn« zeigt sich nicht nur durch solche übernatürliche Strafen. Wer sexuell sündigt, erfährt Gottes Gericht auch noch auf andere Art. Es gibt zum Beispiel körperliche Auswirkungen wie Geschlechtskrankheiten und AIDS. Es gibt psychische Auswirkungen, nervliche und emotionale Defizite, die von einem Schuldgefühl herrühren. Und es gibt Persönlichkeitsveränderungen – der Verweichlichte wird noch mehr verweichlicht (Röm 1,27). Und natürlich gibt es das ewige Endgericht Gottes über die Unzüchtigen und Ehebrecher (Hebr 13,4). Den »Söhnen des Ungehorsams« wird keine Barmherzigkeit widerfahren – denen, die vom ungehorsamen Adam abstammen und die ihm absichtlich darin folgen, Gott ungehorsam zu sein (Offb 21,8).
5,7 Die Gläubigen werden ernsthaft davor gewarnt, sich an solch gottlosem Verhalten zu beteiligen. Wer das tut, entehrt den Namen Christi, zerstört das Leben anderer, richtet sein eigenes Zeugnis zugrunde und muss mit einer Vielzahl ernster Konsequenzen rechnen.
5,8 Um seine dringende Ermahnung in Vers 7 zu betonen, schiebt der Apostel nun eindringliche Ausführungen über »Finsternis«  und  »Licht«  ein  (V. 8-14). Die Epheser waren »einst … Finsternis« gewesen, doch »jetzt« sind sie »Licht im Herrn«. Paulus sagt nicht, dass sie in der Finsternis waren, sondern sie selbst waren gleichsam personifizierte »Finsternis«. Jetzt sind sie jedoch durch ihre Gemeinschaft mit dem Herrn »Licht« geworden. Er ist Licht, und sie sind in ihm. Deshalb sind sie jetzt »Licht im Herrn«. Ihr Zustand sollte von jetzt an mit ihrer Stellung übereinstimmen. Sie sollten als »Kinder des Lichts« wandeln.
5,9 Dieser Einschub erklärt die Art der »Frucht«, welche die Menschen hervorbringen, die im Licht wandeln. Die »Frucht des Lichts«35 besteht aus allen Formen der »Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit«. »Güte« steht hier für alle moralischen Tugenden. »Gerechtigkeit« bedeutet Aufrichtigkeit im Handeln vor Gott und Menschen. »Wahrheit« ist Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Beständigkeit. Wenn wir das alles zusammen nehmen, dann sehen wir hier das Licht eines von Christus erfüllten Lebens vor dem Hintergrund der Finsternis leuchten.
5,10 Diejenigen, die im Licht wandeln, bringen nicht nur die Frucht hervor, die im vorhergehenden Vers erwähnt wurde, sondern finden auch heraus, »was dem Herrn wohlgefällig ist«. Sie prüfen jeden Gedanken, jedes Wort und jede Handlung. Was denkt »der Herr« darüber? Wie sieht das vor seinem Angesicht aus? Jeder Lebensbereich wird durchleuchtet – Reden, Lebensstandard, Kleidung, Bücher, Arbeitsleben, Vergnügungen, Zeitvertreib, Mobiliar, Freundschaft, Urlaub, Auto und Sport.
5,11 Gläubige sollten »mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis« »nichts« gemein haben, weder durch Teilnahme noch durch eine Haltung, die Toleranz oder Gleichgültigkeit nahel egen könnte. Diese »Werke der Finsternis« sind für Gott und Menschen »unfruchtbar«. Es war diese Eigenschaft der völligen Fruchtlosigkeit, die Paulus einst dazu brachte, die römischen Christen zu fragen: »Welche Frucht hattet ihr denn damals von den Dingen, deren ihr euch jetzt schämet?« (Röm 6,21; Elb). Außerdem sind es »Werke der Finsternis«: Sie gehören der Welt des Zwielichts, der zugezogenen Vorhänge, der verschlossenen Türen und Geheimzimmer an. Sie zeigen, dass der Mensch von Natur aus die »Finsternis« bevorzugt. Sie lassen seine Angst vor dem Licht erkennen, wenn er Böses vollbracht hat (Joh 3,19). Der Gläubige ist aufgerufen, sich nicht nur der »unfruchtbaren Werke der Finsternis« zu enthalten, sondern er soll sie auch aktiv »bloßstellen«. Das kann er auf zweierlei Wegen tun: erstens durch ein geheiligtes Leben und zweitens durch ermahnende Worte, die unter der Leitung des Heiligen Geistes weitergegeben werden.
5,12 Nun erklärt der Apostel, warum der Christ keine Gemeinschaft mit moralischer Verderbnis haben darf, sondern sie scheuen muss. Die bösen Sünden, die die Menschen im Geheimen begehen, sind so erniedrigend, dass es schon »schändlich« ist, sie nur zu erwähnen, geschweige denn, sie zu tun. Die unnatürlichen Arten der von Menschen ersonnenen Sünde sind so schlecht, dass schon eine Beschreibung den Geist des Menschen, der dabei zuhört, verunreinigen würde. Deshalb wird der Christ gelehrt, davon noch nicht einmal zu reden.
5,13 Das »Licht« offenbart alles Dunkle. Deshalb offenbart ein geheiligtes christliches Leben die Sünde der Menschen, die nicht wiedergeboren sind. Und angemessene Mahnworte enthüllen die Sünde auch in ihrem wahren Wesen. Blaikie erläutert:
Nehmen wir zum Beispiel unseren Herrn, der die Heuchelei der Pharisäer angriff. Ihre Praxis war den Jüngern vorher nicht sehr böse erschienen, doch als Christus sie unter dem reinen Licht der Wahrheit betrachtete, wurden sie in ihrem wahren Wesen er kennbar. Da erschienen und erscheinen die Pharisäer doch recht abstoßend.36 Der zweite Teil des Verses sollte besser  wie  in  Schl 2000  gelesen  werden: »Denn alles, was offenbar wird, ist Licht.« Das bedeutet einfach, dass andere Menschen zum Licht gebracht werden, wenn Christen ihren Dienst als Licht der Welt tun. Böse Menschen werden zu Kindern des Lichts, wenn Christen ihren Mitmenschen dienen, indem sie diese ermahnen und zurechtweisen.
Natürlich ist dies keine Regel ohne Ausnahme. Nicht jeder, der dem Licht ausgesetzt wird, wird zum Christen. Doch ist es auf geistlichem Gebiet ein allgemeines Prinzip, dass das Licht sich selbst vermehrt. Ein Beispiel dafür finden wir in 1. Petrus 3,1. Dort werden gläubige Ehefrauen unterwiesen, ihre ungläubigen Ehemänner durch das Beispiel ihres Lebens zu gewinnen: »Ebenso ihr Frauen, ordnet euch den eigenen Männern unter, damit sie, wenn auch einige dem Wort nicht gehorchen, ohne Wort durch den Wandel der Frauen gewonnen werden.« So siegt das Licht der christlichen Ehefrau über die Finsternis eines heidnischen Ehemannes, und der Letztere wird »Licht«.
5,14 Das Leben des Gläubigen sollte immer eine Predigt sein, die die ihn umgebende Finsternis bloßstellt und immer folgende Einladung an die Ungläubigen ausspricht: »Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir aufleuchten!« Das ist die Stimme des Lichts, die zu denen spricht, die in Finsternis schlafen und in geistlichem Tod gefangen sind. Das Licht beruft sie zum Leben und zur Erleuchtung. Wenn sie auf die Einladung eingehen, dann wird »Christus« ihnen »aufleuchten«.
5,15 In den nächsten sieben Versen stellt Paulus törichte Schritte und bedachtsames Verhalten durch eine Anzahl von Ermahnungen einander gegenüber. Die erste Ermahnung ist ein allgemeiner Aufruf an seine Leser, »nicht als Unweise, sondern als Weise« zu wandeln. Wie schon weiter oben erwähnt, ist »wandeln« eines der Schlüsselwörter des Briefes. Es wird siebenmal genannt, um das »gesamte Verhalten im Leben des Einzelnen« zu beschreiben. »Sorgfältig wandeln« (Elb) heißt, im Licht unserer Stellung als Gottes Kinder zu leben. Als »Unweise« wandeln heißt, sich aus dieser hohen Stellung auf das Verhaltensn iveau der Weltmenschen herabzubegeben.
5,16 Der Wandel in Weisheit beruft uns dazu, die »gelegene Zeit« auszukaufen, d. h. Gelegenheiten zu ergreifen. Jeder Tag hält für uns offene Türen und ungeheure Möglichkeiten bereit. Die »gelegene Zeit« auszukaufen, bedeutet, ein Leben zu führen, das durch Heiligung, Barmherzigkeit und hilfreiches Reden gekennzeichnet ist. Die Tatsache, dass unsere Zeit »böse« ist, macht das Anliegen noch dringlicher. Sie erinnert uns daran, dass Gott nicht immer den Menschen so gnädig ist und dass der Tag der Gnade bald zu Ende sein wird. Dann wird die Gelegenheit zum Zeugnis und zum Dienst auf der Erde für immer vorbei sein.
5,17 Deshalb sollten wir »nicht töricht« sein, sondern verstehen, »was der Wille des Herrn ist«. Das ist außerordentlich wichtig. Weil das Böse sich vermehrt und die Zeit kurz ist, könnten wir versucht sein, unsere Zeit in fieberhafter Aktivität zu verbringen, die wir uns selbst wählen. Doch dies wäre nichts als Energieverschwendung. Wichtig ist es, jeden Tag Gottes Willen für uns zu erkennen und ihn zu tun. Nur so können wir effektiv und effizient arbeiten. Es ist nur zu leicht möglich, christlichen Dienst nach unseren eigenen Vorstellungen und aus eigener Kraft zu tun, und uns dabei vollkommen außerhalb des Willens Gottes zu bewegen. Der Pfad der Weisheit besteht darin, Gottes Willen für unser persönliches Leben zu erkennen, um ihm dann voll und ganz zu gehorchen.
5,18 »Und berauscht euch nicht mit Wein, worin Ausschweifung ist.« In vielen christlich geprägten Ländern wirkt ein solches Gebot unnötig und schon fast schockierend, weil völlige Abstinenz bei sehr vielen Christen die Regel ist. Doch sind wir dankbar dafür, dass die Bibel für Gläubige aller Kulturen geschrieben wurde. In zahlreichen Ländern gehört Wein bei einer normalen Mahlzeit auf den Tisch. Die Schrift verurteilt nicht allgemein das Weintrinken, sondern den Missbrauch. Wein als Medizin wird ausdrücklich empfohlen (Spr 31,6; 1. Tim 5,23). Der Herr Jesus selbst hat bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa Wasser in Wein verwandelt (Joh 2,1-11).
Doch der Genuss von Wein wird in folgenden Situationen zum Missbrauch und ist dann untersagt:
1. Wenn er zu Ausschweifungen führt (Spr 23,29-35),
2. wenn Weintrinken zur Gewohnheit wird (1. Kor 6,12b), 3. wenn Weintrinken das schwache Gewissen eines anderen Gläubigen verletzt (Röm 14,13; 1. Kor 8,9), 4. wenn das Zeugnis eines Christen in der Gesellschaft dadurch beeinträchtigt wird und deshalb nicht der Ehre Gottes dient (1. Kor 10,31), 5. wenn der Gläubige sich nicht sicher ist, ob er Wein trinken darf (Röm 14,23). Die von Paulus empfohlene Alternative lautet, »voller Geist« zu werden. Dieser Zusammenhang mag uns zunächst erstaunen, doch wenn wir beide Zustände vergleichen und einander gegenüberstellen, können wir erkennen, warum der Apostel sie auf diese Weise verbindet.
Erstens gibt es mehrere Ähnlichkeiten:
1. In beiden Zuständen befindet sich der Betreffende unter der Herrschaft einer anderen Macht. Im ersten Fall ist es die Herrschaft des Alkohols, im zweiten die Herrschaft des Heiligen »Geistes«.
2. In beiden Fällen befindet sich der Mensch in einem außergewöhnlichen Zustand. Zu Pfingsten wurde das Erfülltsein mit dem Heiligen Geist fälschlicherweise als Trunkenheit gedeutet (Apg 2,13).
3. In beiden Fällen wird der Wandel des Betreffenden verändert. Das gilt für den Betrunkenen hinsichtlich dessen, wie er sich äußerlich verhält, und für den vom Geist Erfüllten bezüglich seines moralischen Verhaltens. Doch gibt es zwei Punkte, in denen sich die beiden Zustände deutlich voneinander abheben:
1. Trunkenheit führt zu »Ausschweifung« und Zügellosigkeit. Die Erfüllung mit dem Heiligen Geist hat dies grundsätzlich nie zur Folge. 2. Im Falle der Trunkenheit verliert der Betroffene die Selbstkontrolle. Doch die Frucht des Geistes ist »Selbstbeherrschung« (Gal 5,23; Anm. ER). Ein Gläubiger, der »voller Geist« ist, wird niemals die Kontrolle über sein Handeln verlieren, denn der Geist des Propheten ist dem Propheten untertan (1. Kor 14,32). Manchmal erscheint die Erfüllung mit dem »Geist« in der Bibel als souveränes Geschenk Gottes. So war zum Beispiel Johannes der Täufer »mit Heiligem Geist erfüllt« von seiner Mutter Leib an (Lk 1,15). In solch einem Fall erhält man den Geist, ohne dass vorher Bedingungen erfüllt werden müssten. Man betet nicht darum, und man arbeitet nicht daran. Vielmehr eignet der Herr diese Gabe nach seinem Wohlgefallen zu. Hier in Epheser 5,18 wird dem Gläubigen geboten, sich vom Geist erfüllen zu lassen. Das setzt ein Handeln seinerseits voraus. Er muss bestimmte Bedingungen erfüllen. Er empfängt dies nicht automatisch, sondern die Erfüllung mit dem Geist ist die Folge des Gehorsams.
Aus diesem Grund sollte man die Erfüllung mit dem Heiligen Geist von anderen Diensten des Geistes am Gläubigen unterscheiden. Die Erfüllung mit dem Geist ist nicht gleichbedeutend mit den folgenden Aufgaben:
1. Die Taufe mit dem Heiligen Geist. Dies ist ein Werk des Geistes, das den Gläubigen in den Leib Christi einfügt (1. Kor 12,13). 2. Die Innewohnung. Durch diesen Dienst nimmt der Tröster Wohnung im Leib des Christen und befähigt ihn zur Heiligung, zur Anbetung und zum Dienst (Joh 14,16).
3. Die Salbung. Der Geist selbst ist die Salbung, die das Kind Gottes alles Göttliche lehrt (1. Joh 2,27). 4. Das Unterpfand und das Siegel. Wir haben schon gesehen, dass der Heilige Geist als Unterpfand das Erbe für den Gläubigen gewährleistet, und als Siegel garantiert er den Heiligen das zu erbende Gut (Eph 1,13.14). Dies sind einige der Dienste des Geistes, die er an einem Menschen vollbringt, wenn dieser gerettet wird. Jeder, der in Christus ist, erhält automatisch die Geistestaufe, die Innewohnung, die Salbung, das Unterpfand und das Siegel. Doch mit der Erfüllung ist es anders. Sie ist kein einmaliges Ereignis im Leben eines Jüngers, sondern eher ein ständiger Prozess. Die wörtliche Übersetzung des betreffenden Gebots lautet: »Werdet erfüllt mit dem Geist.« Das kann als ein besonderes Ereignis beginnen, doch es muss danach als ständiger Vorgang weitergeführt werden. Die Erfüllung von heute reicht nicht bis morgen. Und zweifellos handelt es sich um einen Zustand, der besonders wünschenswert ist. Es handelt sich dabei um den idealen Zustand für den Gläubigen auf Erden. Erfülltwerden bedeutet, dass der Heilige Geist seinen Willen im Leben des Christen ungetrübt erfüllen kann und der Gläubige deshalb den Plan, den Gott mit ihm hat, während dieser Zeit erfüllt.
Wie kann ein Gläubiger nun »voller Geist« werden? Der Apostel Paulus erklärt es uns hier im Epheserbrief nicht, sondern fordert uns nur auf, »voller Geist« zu werden. Doch aus anderen Teilen des Wortes Gottes wissen wir, dass man folgende Bedingungen erfüllen muss, wenn man »voller Geist« werden will: 1. Wir müssen alle erkannten Sünden vor Gott bekennen und aus unserem Leben verbannen (1. Joh 1,5-9). Es ist offensichtlich, dass eine so heilige Person wie der Geist nicht vorbehaltlos wirken kann, wenn der Gläubige in seinem Leben Sünde duldet. 2. Wir müssen uns vollständig Gottes Herrschaft unterstellen (Röm 12,1.2). Das bedeutet die Hingabe unseres Willens, unseres Verstandes, unseres Leibes, unserer Zeit, unserer Fähigkeiten und unseres Besitzes. Jedes Gebiet unseres Lebens muss seiner Herrschaft geöffnet werden.
3. Lasst das Wort Christi reichlich in euch wohnen (Kol 3,16). Das bedeutet Bibellesen, Bibelstudium und Gehorsam gegenüber dem Erkannten. Wenn das Wort Christi reichlich in uns wohnt, so folgt daraus dasselbe (Kol 3,16), was auch aus der Erfüllung mit dem Geist folgt (Eph 5,19). 4. Schließlich müssen wir von uns selbst befreit sein (Gal 2,20). Um mit einer neuen Flüssigkeit gefüllt zu werden, muss die alte erst einmal aus der Tasse geschüttet werden. Um mit ihm erfüllt zu werden, müssen wir erst von unserem eigenen Wesen entleert sein. Ein unbekannter Autor schreibt: So wie man die ganze Last der Sünde hinter sich gelassen hat und in dem vollendeten Werk Christi ruht, so sollen wir auch die gesamte Last unseres Lebens und Dienstes hinter uns lassen und uns auf das Werk des uns innewohnenden Heiligen Geistes stützen. Geben Sie sich hin, jeden Morgen, damit Sie vom Heiligen Geist geleitet werden können und damit Sie voller Lob sowie getrost losgehen und ihm überlassen, für Sie Ihren Tag zu planen. Man sollte diese Gewohnheit den ganzen Tag über pflegen, freudig in der Abhängigkeit von ihm zu leben, ihm zu gehorchen und von ihm zu erwarten, dass er erleuchtet, zurechtweist, lehrt, einsetzt sowie in und durch uns tut, was seinem Willen entspricht. Man muss mit seinem Werk als Tatsache rechnen, ohne zu sehen oder zu fühlen. Wir wollen nur an den Heiligen Geist als Herrscher unseres Lebens glauben und ihm gehorchen, und uns von der Last befreien, alles selbst machen zu wollen. Dann wird die Frucht des Geistes nach seinem Willen zur Ehre Gottes in uns entstehen. Weiß man, wenn man »voller Geist« ist? In der Tat sind wir uns unserer eigenen Unwürdigkeit und Sündhaftigkeit umso mehr bewusst, je näher wir dem Herrn sind. In seiner Gegenwart entdecken wir an uns nichts mehr, dessen wir uns rühmen könnten (Lk 5,8). Wir sind uns keiner geistlichen Überlegenheit über andere bewusst. Auch meinen wir nicht, dass wir »am Ziel« angekommen wären. Der Gläubige, der »voller Geist« ist, beschäftigt sich mit Christus und nicht mit sich selbst.
Gleichzeitig kann er jedoch erkennen, dass Gott an und durch sein Leben wirkt. Er sieht, dass vieles Übernatürliche geschieht. Umstände passen auf wunderbare Weise zusammen. Menschen werden von Gott berührt. Die Dinge entwickeln sich nach einem göttlichen Plan. Sogar die Naturgewalten sind auf seiner Seite, denn sie scheinen an die Räder des Streitwagens Gottes gebunden zu sein. Der Gläubige sieht all das; er erkennt, dass Gott für und durch ihn wirkt, und doch kann er sich selbst dafür nicht rühmen. Im innersten Wesen erkennt er, dass alles vom Herrn kommt.
5,19 Nun zeigt uns der Apostel die Auswirkungen, wenn man mit dem Geist erfüllt ist. Als Erstes reden geisterfüllte Christen »zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern«. Die Erfüllung mit dem Geist öffnet den Mund, um von geistlichen Dingen zu reden, und öffnet unser Herz, sodass wir dies anderen mitteilen wollen. Während einige alle drei genannten Kategorien als Teile der Psalmen ansehen, sind nach unserem Verständnis mit den »Psalmen« nur die inspirierten Schriften Davids, Asafs und anderer Autoren gemeint. »Loblieder« sind Lieder, die nicht direkt von Gott inspiriert sind, aber Gott preisen und loben. Geistliche Lieder sind andere lyrische Texte, die sich mit geistlichen Themen befassen, auch wenn sie nicht direkt an Gott gerichtet sind. Ein zweiter Beweis für die Erfüllung mit dem Geist ist innere Freude und Lob Gottes: »Singt und spielt … dem Herrn mit eurem Herzen.« Das geisterfüllte Leben ist wie ein Brunnen, der vor Freude überquillt (Apg 13,52). Zacharias ist ein Beispiel dafür: Als er mit dem Heiligen Geist erfüllt wurde, sang er von ganzem Herzen dem Herrn (Lk 1,67-79).
5,20 Eine dritte Folge der Erfüllung mit dem Heiligen Geist finden wir hier: »Sagt allezeit für alles dem Gott und Vater Dank im Namen unseres Herrn Jesus Christus!« Wo der Geist regiert, finden wir Dankbarkeit gegenüber Gott, eine tiefe Wertschätzung und den spontanen Ausdruck dieser Wertschätzung. Das findet nicht nur gelegentlich, sondern ständig statt. Man dankt nicht nur für das Gute, sondern für alles. Jeder kann für Sonnenschein dankbar sein, doch man braucht die Vollmacht des Heiligen Geistes, um für die Stürme des Lebens dankbar zu sein.
Der kürzeste und sicherste Weg zum Glück ist folgender:
Machen Sie es sich zur Regel, Gott für alles zu danken und zu loben, was Ihnen geschieht. Denn eines ist sicher: Welche scheinbaren Unglücke Sie auch treffen mögen, sie verwandeln sich in Segen, wenn Sie Gott dafür danken und ihn preisen. Wenn Sie Wunder tun könnten, könnten Sie nicht mehr für sich tun als durch diesen dankbaren Geist: Denn man braucht kein einziges Wort zu sagen, und doch verwandelt er alles, was er berührt, in Glück (ohne Quellenangabe).
5,21 Das vierte Kennzeichen eines geisterfüllten Lebens ist die gegenseitige Unterordnung »in der Furcht Christi«. Erdman mahnt:
Dies ist ein Satz, der nur zu oft vernachlässigt wird … Er zeigt uns ein Kennzeichen der Geisterfülltheit, das Christen nur allzu selten haben … Viele sind der Ansicht, dass Hallelujarufe sowie gefühlsbetonte Lieder und Äußerungen in mehr oder weniger »fremden Zungen« schon ein Beweis dafür sind, mit Geist erfüllt zu sein. Doch all das kann bedeutungslos oder unecht sein und auf Irrwege führen. Unterordnung unter unsere Mitchristen, bescheidenes Verhalten, Demut, die Weigerung, Streitgespräche zu führen, Nachsicht, Freundlichkeit – dies sind unmissverständliche Beweise der Macht des Heiligen Geistes … Eine solche gegenseitige Unterordnung unter den Mitchristen sollte »in der Furcht Christi« geschehen, d. h. aus Ehrfurcht vor ihm, den wir als Herrn und Meister aller anerkennen.37 Dies sind nur vier Folgen der Erfüllung mit dem Heiligen Geist – reden, singen, danken und unterordnen. Doch es gibt mindestens noch vier andere: 1. Freimut, Sünde beim Namen zu nennen (Apg 13,9-12) und Zeugnis für den Herrn zu geben (Apg 4,8-12.31; 13,52 – 14,3). 2. Vollmacht für den Dienst (Apg 1,8; 6,3.8; 11,24).
3. Großzügigkeit statt Selbstsucht (Apg 4,31.32).
4. das Anliegen, Christus (Apg 9,17. 20) und Gott zu erhöhen (Apg 2,4.11; 10,44.46). Wir sollten ernsthaft danach streben, mit dem Geist erfüllt zu sein, doch nur zur Ehre Gottes, nicht zur eigenen Ehre. D. Aufruf zur persönlichen Gottesfurcht in der christlichen Familie (5,22 – 6,9)
5,22 Obwohl hier ein neuer Abschnitt beginnt, gibt es eine enge Verbindung zum vorhergehenden Vers. In diesem hatte Paulus die gegenseitige Unterordnung als ein Ergebnis der Erfüllung mit dem Heiligen Geist aufgezählt. Im Abschnitt von
5,22 bis 6,9 nennt er drei besondere Bereiche im christlichen Leben, in denen Unterordnung der Wille Gottes ist: »Ehefrauen« sollen sich ihren »eigenen Männern unterordnen«.
Kinder sollen sich ihren Eltern unterordnen.
Sklaven sollen sich ihren irdischen Herren unterordnen.
Die Tatsache, dass alle Gläubigen in Christus Jesus eins sind, bedeutet nicht, dass alle irdischen Beziehungen damit aufgelöst wären. Wir müssen noch immer die verschiedenen Formen der Autorität und Obrigkeit anerkennen, die Gott eingesetzt hat. Jede wohlgeordnete Gesellschaft ruht auf zwei Säulen – Autorität und Unterordnung. Es muss einige geben, die Autorität ausüben, und andere, die sich dieser Herrschaft unterordnen. Das Prinzip ist dermaßen grundlegend, dass es sich sogar bei Gott findet: »Ich will aber, dass ihr wisst, dass … des Christus Haupt … Gott« ist (1. Kor 11,3). Gott hat die menschliche Obrigkeit eingesetzt. Ganz gleich, wie verdorben eine Obrigkeit sein mag, sie ist von Gottes Standpunkt aus gesehen immer noch besser als keine Obrigkeit. Wir sollten ihr soweit gehorchen, wie wir es können, ohne dem Herrn ungehorsam zu sein oder ihn zu verleugnen. Wenn keine Obrigkeit vorhanden ist, herrscht Anarchie, und keine Gesellschaft kann in der Anarchie überleben.
Dasselbe gilt für die Familie. Es muss ein Haupt geben, und dem Haupt müssen die Betreffenden gehorchen. Gott hat es so angeordnet, dass dem Mann die Stellung als Haupt gegeben ist. Er wies darauf hin, indem er erst den Mann und dann die Frau für den Mann schuf. Auf diese Weise gab er dem Mann die Stellung der Autorität und der Frau die Stellung der Unterordnung, indem er sowohl die Reihenfolge als auch den Zweck der Schöpfung so bestimmte.
Unterordnung bedeutet niemals Unterlegenheit bzw. Stellungsminderung. Obwohl sich der Herr Jesus Gott dem Vater unterordnet, berührt dies auf keinerlei Weise seine Stellungsgleichheit mit dem Vater. Auch die Frau nimmt gegenüber dem Mann nicht die Stellung der Unterlegenen ein. In vielem kann sie ihm sogar überlegen sein: in der Hingabe, in Freundlichkeit, im Fleiß und im tapferen Erdulden. Doch werden Frauen angewiesen, sich ihren »eigenen Männern« unterzuordnen, und zwar »als dem Herrn«. Indem sie sich der Autorität ihres Mannes fügen, ordnen sie sich gleichzeitig der Autorität des Herrn unter. Das allein sollte schon jede Weigerung oder Rebellion ausschließen.
Die Geschichte ist voll von Beispielen für das Chaos, das entsteht, wenn Gottes Plan nicht befolgt wird. Indem sie die Führungsrolle übernahm und anstelle ihres Ehemanns handelte, führte Eva die Sünde samt ihrer schrecklichen Folgen in die Menschheitsfamilie ein. In neuerer Zeit wurden viele Sekten von Frauen gegründet, die sich eine Autoritätsstellung anmaßten, die Gott ihnen nie zugedacht hat. Frauen, die ihren von Gott gegebenen Bereich verlassen, können eine ganze Gemeinde zugrunde richten, eine Ehe in die Brüche gehen lassen und eine Familie zerstören.
Andererseits gibt es nichts Anziehenderes als eine Frau, die die Rolle erfüllt, die Gott ihr gegeben hat. Das vollständige Porträt einer solchen Frau finden wir in Sprüche 31 – ein ewiges Denkmal für die Frau und Mutter, die dem Herrn gefällt.
5,23 Der Grund für die Unterordnung der Frau besteht darin, dass der »Mann« ihr »Haupt« ist. Er hat das gleiche Verhältnis zu ihr, das Christus zur Gemeinde hat. »Der Christus« ist »das Haupt der Gemeinde … , er als der Heiland des Leibes«. (Das Wort Heiland kann hier »Erhalter«  bedeuten,  wie  in  1. Tim  4,10; Anm. ER.) Genauso ist »der Mann … das Haupt der Frau«, und er ist auch ihr Erhalter. Als »Haupt« liebt und führt er sie, wobei er außerdem die Richtung vorgibt. Als Erhalter sorgt er für sie, beschützt sie und kümmert sich um sie. Wir alle wissen, dass es heute gegen diese Lehre viel Auflehnung gibt. Die Leute klagen Paulus als engstirnigen Junggesellen, als Chauvinisten und Frauenhasser an. Oder sie sagen, dass seine Ansichten die sozialen Verhältnisse der damaligen Zeit widerspiegeln, doch heute nicht mehr anwendbar seien. Solche Aussagen sind natürlich ein frontaler Angriff auf die Inspiration der Schrift. Es geht hier nicht einfach um Paulusworte, sondern um Gottes Wort. Wer sie ablehnt, verwirft auch Gott und setzt sich Schwierigkeiten und Katastrophen aus.
5,24 Nichts könnte die Rolle der Frau mehr erhöhen als der Vergleich mit der Stellung der »Gemeinde«, der Braut Christi. Die Unterordnung der Gemeinde ist ein Vorbild, das die Frau befolgen sollte. Sie soll sich »in allem« unterordnen – d. h. in »allem«, was dem Willen Gottes entspricht. Man kann von keiner Frau erwarten, ihrem Mann zu geh orchen, wenn er von ihr verlangt, ihre Treue zum Herrn Jesus aufzugeben. Doch in allen normalen Lebensangelegenheiten muss sie dem Mann gehorchen, auch wenn er ungläubig ist.
5,25 Wenn die vorhergehenden Anweisungen an die »Frauen« für sich allein stünden und es nicht entsprechend hohe Anforderungen an die »Männer« gäbe, so wäre ihre Darstellung mindestens einseitig, wenn nicht unfair. Doch man beachte die wunderbare Ausgewogenheit der Wahrheit in der Schrift und die entsprechenden Anforderungen, die an den Mann gestellt werden. »Männer« sollen ihre Frauen nicht in Unterordnung halten, sondern sollen sie »lieben …, wie auch der Christus die Gemeinde geliebt … hat«. Es hat einmal jemand treffend bemerkt, dass keine Frau Schwierigkeiten mit der Unterordnung hätte, wenn ihr Mann sie so lieben würde, wie »Christus die Gemeinde geliebt … hat«. Jemand hat einmal über einen Mann geschrieben, der fürchtete, er könne Gott missfallen, indem er seine Frau zu sehr liebe. Ein Seelsorger fragte ihn, ob er sie mehr liebe, als Christus die Gemeinde geliebt habe. »Nein«, antwortete er. »Erst wenn du darüber hinausgehst«, antwortete der Seelsorger, »dann liebst du deine Frau zu sehr«. Die Liebe Christi zur »Gemeinde« wird hier in drei majestätischen Entwicklungen von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft beschrieben. In der Vergangenheit zeigte Christus seine Liebe zur »Gemeinde«, indem er »sich selbst für sie hingegeben hat«. Das bezieht sich auf seinen Opfertod am Kreuz. Dort hat der den höchsten Preis gezahlt, um sich seine Braut zu erkaufen. So wie Eva aus der geöffneten Seite Adams entstand, so entstand gewissermaßen die »Gemeinde« aus der durchstochenen Seite unseres Erlösers.
5,26 Heute zeigt sich Christi Liebe zur Gemeinde durch sein Werk der Heiligung: »… um sie zu heiligen, sie reinigend durch das Wasserbad im Wort.« Heiligen bedeutet aussondern. Von ihrer Stellung her ist die Gemeinde bereits geheiligt, doch praktisch muss sie täglich geheiligt werden. Sie durchläuft einen Prozess moralischer und geistlicher Vorbereitung, ähnlich der einjährigen Vorbereitung, der sich Ester zur Vervollkommnung ihrer Schönheit unterziehen musste, bevor sie vor dem König Ahasveros erschien (Est 2,12-16). Der Prozess der Heiligung wird durch »das Wasserbad im Wort« herbeigeführt. Einfach ausgedrückt heißt das, dass das Leben der Gläubigen gereinigt wird, wenn sie das Wort Christi hören und ihm gehorchen. Deshalb sagte Jesus zu den Jüngern: »Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe« (Joh 15,3). Und er verband das Wort auch im hohenpriesterlichen Gebet mit der Heiligung: »Heilige sie durch die Wahrheit! Dein Wort ist Wahrheit« (Joh 17,17). So wie das Blut Christi uns ein für alle Mal von der Schuld und Strafe der Sünde befreit, so reinigt uns das Wort Gottes ständig von der Verunreinigung und Verschmutzung durch die Sünde. Dieser Abschnitt lehrt, dass sich die Gemeinde in der Gegenwart nicht der Reinigung durch Wasser im wörtlichen Sinne unterzieht, sondern durch das Wort Gottes gereinigt wird.
5,27 In der Vergangenheit zeigte sich Christi Liebe in unserer Erlösung. In der Gegenwart zeigt sie sich in unserer Heiligung. In der Zukunft wird sie sich in unserer Verherrlichung zeigen. Er wird »die Gemeinde sich selbst verherrlicht« darstellen, damit sie »nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern dass sie heilig und tadellos sei«. Sie wird dann den Höhepunkt der Schönheit und geistlichen Vollkommenheit erreicht haben.
A. T. Pierson kann zu Recht ausrufen: Man denke nur daran – wenn das allwissende Auge eines Tages auf uns ruht, wird er nichts finden können, das seiner makellosen Heiligkeit entgegenstehen könnte. Wie unglaublich!38
F. W. Grant pflichtet dem bei: Keine Zeichen des Alters mehr, kein Makel! Nichts wird ihn mehr freuen als die Blüte und Vollkommenheit ewiger Jugend, die Frische der Gefühle, die niemals erlahmen wird und die keine Vergänglichkeit kennen. Die Gemeinde wird dann heilig und tadellos sein. Nach allem, was wir von ihrer Geschichte gehört haben, wäre es seltsam, hiervon zu lesen, wenn wir nicht wissen würden, wie herrlich Gott seinen Sieg über die Sünde und das Böse behalten wird.39
5,28 Nachdem er sich zu diesem wunderbaren Hymnus aufgeschwungen hat, der die Liebe Christi für seine Gemeinde zum Thema hat, kehrt Paulus nun zurück, um die Ehemänner daran zu erinnern, dass dies das Vorbild ist, dem sie nacheifern sollen: »So sind auch die Männer schuldig, ihre Frauen zu lieben wie ihre eigenen Leiber.« In der Nachahmung der Liebe Christi sollten sie »ihre Frauen« lieben, als wären sie tatsächlich »ihre eigenen Leiber«.
Im Griechischen kommt das Wort »eigen« in den Versen 22-33 sechsmal vor. Dieser gehäufte Gebrauch des Wortes »eigen« erinnert uns daran, dass die Einehe Gottes Wille für sein Volk ist. Obwohl er die Mehrehe im AT duldete, hat er sie doch nie gutgeheißen.
Es ist weiterhin interessant, die verschiedenen Arten zu beachten, wie Paulus die enge Beziehung von Eheleuten beschreibt. Er sagt, dass ein Mann, indem er  seine  Frau  liebt  (V. 28a),  »sich  selbst« (V. 28b.33) und »sein eigenes Fleisch« liebt (V. 29).  Weil  die  Ehe  eine  echte  Einheit von Menschen bildet und die beiden ein Fleisch werden, liebt ein Mann, der »seine Frau liebt«, ganz praktisch »sich selbst«.
5,29 Der Mensch wird mit dem Instinkt geboren, für seinen eigenen Leib zu sorgen. Er ernährt, kleidet und reinigt ihn, er bewahrt ihn vor Unheil, Schmerzen und Verletzung. Sein Überleben hängt von dieser Fürsorge ab. Diese Sorge ist ein schwaches Abbild der Fürsorge des Herrn für »die Gemeinde«.
5,30 »Denn wir sind Glieder seines Leibes.« Die Gnade Gottes ist doch erstaunlich! Sie errettet uns nicht nur von Sünde und Hölle, sondern fügt uns auch als »Glieder« des geheimnisvollen »Leibes« Christi ein. Das spricht doch Bände für seine Liebe zu uns: Er achtet uns so wert wie seinen eigenen Leib. Welch eine Fürsorge: Er nährt, heiligt und lehrt uns. Welch eine Zusicherung: Er möchte nicht ohne seine »Glieder« im Himmel leben. Wir sind mit ihm im alltäglichen Leben vereint. Was immer den Gliedern widerfährt, es betrifft stets auch das Haupt.
5,31 Der Apostel zitiert nun 1. Mose  2,24  als  Gottes  ursprüngliches Konzept, als er die Ehebeziehung eingesetzt hat. Als Erstes wird die Beziehung des Menschen zu seinen Eltern durch eine höhere Treue ersetzt, d. h. durch die Treue zu seiner Frau. Um das hohe Ideal der Ehe zu erfüllen, verlässt er seine Eltern und »wird … seiner Frau anhängen«. Das zweite Kennzeichen besteht darin, dass Mann und Frau »ein Fleisch« werden: Es entsteht eine echte Einheit zweier Personen. Würde man diese beiden grundlegenden Tatsachen im Auge behalten, würden sie einerseits die Schwierigkeiten mit den Schwiegereltern aufheben und andererseits viele Ehestreitigkeiten verhindern.
5,32 »Dieses Geheimnis ist groß, ich aber deute es auf Christus und die Gemeinde.« Paulus kommt nun zum Höhepunkt der Ausführungen über die eheliche Beziehung, indem er eine bisher unbekannte, wunderbare Wahrheit verkündigt. Sie besteht darin, dass eine Frau dasjenige für ihren Mann ist, was »die Gemeinde« für »Christus« ist. Wenn Paulus davon spricht, dass »dieses Geheimnis … groß« sei, so meint er damit nicht, dass es besonders geheimnisvoll wäre. Vielmehr meint er damit, dass die Auswirkungen dieser Wahrheit gewaltig sind. Das »Geheimnis« bei nhaltet den wundervollen Ratschluss, der von Gott in früheren Zeitaltern verborgen gehalten wurde, der jetzt aber offenbart ist. Dieser Ratschluss lautet, aus den Nat ionen ein Volk herauszurufen, das zum Leib und zur Braut seines verherrlichten Sohnes werden soll. Die ehel iche Bez iehung findet also ihr vollkommenes Vorbild in der Beziehung zwischen »Christus« und der »Gemeinde«. Herr, als deines Leibes Heiland, der Versammlung herrlich Haupt, prüfst du liebend ihren Zustand, nährst und pflegest deine Braut, dass sie heilig vor dir stehe, tadellos, von Flecken rein, und dein Auge an ihr sehe deiner Schönheit Widerschein. Verfasser unbekannt
5,33 Dieser Schlussvers ist eine Zusammenfassung dessen, was der Apostel bisher über Eheleute zu sagen hatte. Für die Ehemänner lautet die Abschlussermahnung folgendermaßen: »Jeder von euch«, ohne Ausnahme, »liebe seine Frau wie sich selbst«. Nicht nur so wie euch selbst, sondern auch in Anerkennung der Tatsache, dass sie mit euch eins ist. An die Frauen ist das Wort gerichtet, »dass sie« stets »Ehrfurcht vor« ihren Männern haben und ihnen gehorchen sollen. Halten wir hier einmal inne und denken einen Augenblick nach! Was würde passieren, wenn diese göttlichen Anweisungen heute überall von Christen befolgt würden? Die Antwort ist offensichtlich. Es gäbe keinen Zank, keine Trennung und keine Scheidung. Unsere Familien wären viel mehr ein Vorgeschmack des Himmels, als sie es heute oft sind.
6,1 In Kapitel 5 erfuhren wir, dass u. a. infolge der Erfüllung mit dem Heiligen Geist die Unterordnung untereinander verwirklicht wird. Wir sahen z. B., dass eine vom Geist erfüllte Frau sich ihrem Ehemann unterordnet. Nun erfahren wir, dass geisterfüllte »Kinder« sich willig der Autorität ihrer Eltern unterordnen. Die grundlegende Pflicht aller Kinder ist es, ihren »Eltern im Herrn« zu gehorchen. Ob die Kinder Christen oder die Eltern Christen sind, spielt dabei keine Rolle. Die Eltern-Kind-Beziehung ist für alle Menschen eingesetzt worden, nicht nur für Gläubige. Das Gebot, »im Herrn« gehorsam zu sein, bedeutet zuerst Folgendes: Die Kinder sollten in der Haltung »gehorchen«, dass sie damit dem »Herrn« gehorchen: Ihr Gehorsam sollte derselbe sein, den sie auch ihm entgegenbringen. Zweitens bedeutet dies, dass sie in allen Angelegenheiten gehorchen sollen, die nicht gegen den Willen Gottes verstoßen. Wenn ihre Eltern ihnen befehlen würden zu sündigen, so brauchen sie nicht zu gehorchen. In solch einem Fall sollten sie sich höflich weigern und die Folgen demütig und ohne Rachsucht ertragen. Doch in allen anderen Fällen müssen sie gehorchen.
Es werden vier Gründe für ihren Gehorsam angegeben. Als Erstes ist es »recht«. Es gibt ein Grundprinzip, das in die Struktur des Familienlebens eingebunden ist: Diejenigen, die unreif, impulsiv und unerfahren sind, sollen sich der Autorität der Eltern unterordnen, die älter und weiser sind.
6,2 Der zweite Grund besteht darin, dass es schriftgemäß ist. Hier zitiert Paulus 2. Mose 20,12: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (s. a. 5. Mose 5,15). Dieses Gebot, die Eltern zu »ehren«, ist das erste der Zehn Gebote, das mit einer besonderen »Verheißung« verbunden ist. Es ruft die Kinder auf, ihre Eltern zu achten, zu lieben, und ihnen zu gehorchen.
6,3 Der dritte Grund besteht darin, dass es im Interesse der Kinder ist: »… damit es dir wohlgehe«. Man denke einmal daran, was einem Kind geschehen würde, wenn es von seinen Eltern nicht belehrt und korrigiert würde. Es befände sich von seiner Persönlichkeit her in einem elenden Zustand und wäre sozial untragbar.
Der vierte Grund ist, dass Gehorsam zu einem erfüllten Leben verhilft: »… damit … du lange lebst auf der Erde.« Im AT hatte ein Kind, das seinen Eltern gehorchte, ein langes Leben. In unserem Zeitalter des Evangeliums kennt diese Regel gewiss Ausnahmen. Kindlicher Gehorsam ist nicht immer mit einem langen Leben verbunden. Ein gehorsamer Sohn kann schon früh sterben. Doch es gilt im Allgemeinen, dass ein Leben der Disz iplin und des Gehorsams Gesundheit und langes Leben fördert, während ein Leben der Rebellion und Rücksichtslosigkeit oft vorzeitig endet.
6,4 Die Anweisungen an die Kinder werden nun durch Ratschläge an die »Väter« ausgeglichen. Sie sollten ihre »Kinder« nicht durch unvernünftige Forderungen, unnötige Härte oder ständiges Nörgeln erzürnen. Vielmehr sollten Kinder »in der Zucht und Ermahnung des Herrn« erzogen werden. »Zucht« bedeutet Disziplinierung und Korrektur, ob das nun durch Worte oder durch körperliche Strafen erfolgt. »Ermahnung« bedeutet Warnung, Zurechtweisung und Tadel. Das alles sollte im »Herrn« geschehen, d. h.  in  Übereinstimmung  mit  seinem Willen, wie er in der Bibel offenbart ist, und zwar durch eine Person, welche die von Gott anvertraute Erziehungsaufgabe wahrnimmt.
Nehmen wir Susannah Wesley. Sie war Mutter von siebzehn Kindern, einschließlich John und Charles Wesley, und hat einmal geschrieben:
Die Eltern, die versuchen, den Selbstwillen des Kindes zu unterdrücken, arbeiten mit Gott bei der Erneuerung und Errettung seiner Seele zusammen. Die Eltern, die ihr Kind verwöhnen, arbeiten dem Teufel in die Hände, verhindern die praktische Umsetzung des Glaubens, machen die Errettung unerreichbar und tun alles in ihrer Macht Stehende, ihr Kinder mit Leib und Seele für immer zu verdammen.40
6,5 Der dritte und abschließende Bereich der Unterordnung in einem christlichen Haus betrifft die Beziehung der »Sklaven« gegenüber ihren Herren. Paulus nennt hier die »Sklaven« oder Knechte, doch dies gilt für alle Bediensteten oder Arbeitnehmer. Die erste Pflicht eines Arbeitnehmers gilt seinem »irdischen Herren«. Der Ausdruck »irdische Herren« erinnert uns dara n, dass der Einflussbereich des Arbeitgebers nur so weit geht, wie die geistige oder körperliche Arbeit betroffen ist. Er darf nicht in geistlichen Angelegenheiten befehlen oder über das Gewissen des Betreffenden verfügen. Zweitens sollten Diener ihren Herren gegenüber respektvoll sein. »Furcht und Zittern« bedeutet nicht, dass man feige Unterwürfigkeit und erbärmliche Furcht erkennen lässt. Vielmehr ist damit gemeint, dass man dem Herren den schuldigen Respekt erweist und sich davor fürchtet, den Herrn und den Arbeitgeber zu erzürnen.
Drittens sollte man den Dienst mit gutem Gewissen oder »in Einfalt« des »Herzens« tun. Wir sollten danach streben, wirklich für jede Stunde Arbeit, die uns vergütet wird, auch 60 Minuten zu arbeiten.
Außerdem sollte unsere Arbeit so geschehen, als würden wir sie für »Christus« tun. Diese Worte zeigen, dass es keine echte Unterscheidung zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Bereich geben sollte. All unser Tun sollte auf ihn gerichtet sein – und wir sollten immer daran denken, dass wir ihn dabei ehren und ihm gefallen und andere zu ihm führen sollen. Die einfachsten und gewöhnlichsten Aufgaben unseres Lebens werden dadurch, dass wir sie zur Ehre Gottes tun, auf eine höhere Ebene gehoben und erhalten von daher ihre Würde. Dazu zählt sogar der tägliche Abwasch. Das ist der Grund, warum einige christliche Frauen über ihrer Spüle dieses Motto stehen haben: »Hier dient man Gott dreimal täglich.«
6,6 Wir sollten immer sorgfältig arbeiten, nicht nur, wenn der Chef gerade hinschaut, sondern im Bewusstsein, dass unser Herr immer zuschaut. Es liegt in unserem natürlichen Wesen, sobald uns der Chef den Rücken zukehrt, alles etwas langsamer laufen zu lassen, doch das ist eine Art der Unaufrichtigkeit. Die Maßstäbe, die ein Christ an seine Arbeit anlegt, sollten sich nicht entsprechend des Aufenthaltsortes des Chefs ändern. Ein Kunde drängte einmal einen christlichen Verkäufer, ihm mehr zu geben, als er bezahlte, und versicherte dabei, dass sein Chef es doch nicht sehen könne. Der Verkäufer antwortete: »Aber mein Herr schaut immer zu.« Als Diener Christi sollten wir »mit Gutwilligkeit als dem Herrn« dienen, d. h. mit dem Verlangen, ihm zu gefallen. Erdman sagt: Unsere Arbeit wird durch Überlegungen wie diese unermesslich gewürdigt. Die Aufgabe des niedrigsten Sklaven wird ausgezeichnet, indem sie zum Wohlgefallen Christi ausgeführt wird – mit großer Bereitschaft, mit gutem Willen und Eifer, der uns die Anerkennung durch den Herrn einbringt.41
6,7 Außerdem sollten wir »mit Gutwilligkeit« dienen. Wir sollten nicht nach außen hin Einverständnis vortäuschen, wenn wir innerlich vor Ablehnung schäumen, sondern willig und freudig dienen. Auch wenn ein Herr anmaßend, beleidigend oder unvernünftig ist, können wir immer noch unsere Arbeit »als dem Herrn und nicht den Menschen« tun. Genau diese Art des übernatürlichen Verhaltens gibt in unserer heutigen Welt am deutlichsten Zeugnis.
6,8 Ein großer Anreiz, alles so zu tun, als ob wir es direkt für Christus täten, ist die Verheißung, dass Gott solch gute Arbeit immer belohnen wird. Ob jemand »Sklave oder Freier« ist, spielt dabei keine Rolle. Der Herr sieht allen Dienst, den wir ihm tun, ob er nun angenehm oder weniger angenehm ist. Er wird jeden Arbeiter einmal belohnen.
Ehe wir den Abschnitt über die Sklaven verlassen, sollten wir noch einige Anmerkungen machen:
1. Das NT verurteilt nicht die Sklaverei als solche. Es vergleicht sogar den gläubigen Christen mit einem Sklaven  Christi  (V. 6;  eigentlich  »Sklave der Bande«, Anm. d. Übers.). Doch die Missstände der Sklaverei sind immer dort verschwunden, wo das Evangelium hinkam – größtenteils durch eine moralische Erneuerung.
2. Das NT hat mehr über Sklaven als über Könige zu sagen. Das kann ein Hinweis auf die Tatsache sein, dass nicht viele Weise, Mächtige oder Edle berufen sind (1. Kor 1,26). Wahrscheinlich findet man die meisten Christen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht in den niederen Schichten. Die Betonung der Sklaven zeigt auch, dass selbst die geringsten Sklaven nicht von den erlesensten Segnungen des Christentums ausgeschlossen sind. 3. Wie wirksam diese Ermahnungen an die Sklaven waren, zeigt sich in der Tatsache, dass in der Zeit der ersten Christen christliche Sklaven auf dem Sklavenmarkt höhere Preise erzielten als heidnische. Es sollte auch heute gelten, dass christliche Arbeitnehmer für ihre Arbeitgeber mehr wert sind als diejenigen, die nie von der Gnade Gottes ergriffen worden sind.
6,9 »Herren« sollten sich von denselben allgemeinen Prinzipien leiten lassen wie die Diener. Sie sollten gerecht, freundlich und ehrlich sein. Sie sollten sich besonders vor Beleidigungen und Drohungen hüten. Wenn sie sich auf diesem Gebiet diszipliniert verhalten, dann werden sie es nie nötig haben, ihre Untergebenen körperlich zu züchtigen. Und sie sollten sich immer daran erinnern, dass auch sie einen »Herrn« haben, nämlich denselben »Herrn in den Himmeln«, dem auch der Sklave gehorcht. Sowohl Herren als auch Sklaven werden dereinst vor ihm Rechenschaft ablegen müssen. E. Ermahnungen bezüglich der christlichen Kampfführung (6,10-20)
6,10 Paulus kommt zum Schluss seines Briefes. Er wendet sich an die ganze Familie Gottes und spricht sie auf bewegende Weise als Streiter Christi an. Jedes echte Kind Gottes erfährt schon bald, dass das christliche Leben Kampf bedeutet. Die Heerscharen Satans bemühen sich, das Werk Christi zu behindern und zu blockieren und den einzelnen Soldaten aus der Schlacht zu werfen. Je effektiver ein Gläubiger für den Herrn arbeitet, desto mehr wird er den heftigen Angriffen des Feindes ausgesetzt sein: Der Teufel verschwendet seine Munition nicht an Namenschristen. In unserer eigenen Kraft sind wir für den Teufel keine ernst zu nehmenden Gegner. Deshalb werden wir hier als Erstes ermahnt, uns »im Herrn und in der« grenzenlosen »Macht seiner Stärke« immer wieder stärken zu lassen. Gottes beste Streiter sind diejenigen, die sich ihrer eigenen Schwäche und Verwundbarkeit bewusst sind und sich völlig auf ihn verlassen. »Das Schwache der Welt hat Gott ausgewählt, damit er das Starke zuschanden  mache«  (1. Kor  1,27b).  Unsere Schwäche befiehlt sich der »Macht seiner Stärke« an.
6,11 Das zweite Gebot hier behandelt die Notwendigkeit einer »Waffenrüstung Gottes«. Der Gläubige muss »die ganze Waffenrüstung Gottes anziehen, damit« er »gegen die Listen des Teufels bestehen« kann. Es ist notwendig, vollständig gerüstet zu sein, ein oder zwei Teile der Waffenrüstung reichen nicht aus. Nur die ganze Rüstung, die Gott uns zur Verfügung stellt, wird uns unverwundbar halten. Der »Teufel« hat verschiedene Strategien: Entmutigung, Frustration, Verwirrung, moralisches Versagen und lehrmäßigen Irrtum. Er kennt unseren schwächsten Punkt und zielt genau darauf. Wenn er uns nicht auf die eine Art unbrauchbar machen kann, dann wird er eine andere Strategie versuchen.
6,12 Bei diesem Kampf geht es nicht darum, gottlose Philosophen, gerissene Kleriker, christusverachtende Sekten oder ungläubige Führungspersönlichkeiten im religiösen Bereich zu bekämpfen. Es geht um einen Kampf gegen dämonische Kräfte, gegen Heere von gefallenen Engeln und gegen böse Geister, die eine enorme Macht ausüben. Obwohl wir sie nicht sehen können, werden wir ständig von bösen Geistwesen umgeben. Es stimmt zwar, dass sie einen wahren Gläubigen nicht bewohnen können, sie können ihn jedoch unterdrücken und belästigen. Der Christ sollte sich weder übermäßig mit dem Thema Dämonen beschäftigen, noch sollte er Angst vor ihnen haben. In der Waffenrüstung Gottes ist ihm alles gegeben, um den Angriffen standhalten zu können. Der Apostel nennt diese gefallenen Engel »Gewalten, … Mächte, … Weltbeherrscher dieser Finsternis« und »Geister der Bosheit in der Himmelswelt«. Wir haben nicht genug Informationen, um zwischen diesen zu unterscheiden. Vielleicht beziehen sich die Bezeichnungen auf Geist-Herrscher unterschiedlicher Ränge, so wie es auf menschlicher Ebene Präsidenten, Kanzler und Minister gibt.
6,13 Als Paulus schrieb, wurde er wahrscheinlich von einem römischen Soldaten in voller Rüstung bewacht. Er war immer bereit, geistliche Lektionen dem natürlichen Bereich zu entnehmen. Hier wendet er die entsprechende Lektion sofort an. Wir werden von schrecklichen Feinden bedroht. Deshalb müssen wir »die ganze Waffenrüstung Gottes« anziehen, damit wir »widerstehen« können, wenn der Konflikt seinen Höhepunkt erreicht. Wir müssen auch dann noch stehen, wenn sich der Rauch der Schlacht verzogen hat. Der »böse Tag« bezieht sich wahrscheinlich auf einen Zeitpunkt, wenn der Feind besonders gegen uns ankämpft. Die Angriffe Satans scheinen in Wellen zu erfolgen, die kommen und gehen. Sogar nachdem der Teufel unseren Herrn in der Wüste versucht hatte, verließ er ihn für eine Weile (Lk 4,13).
6,14 Der erste Teil der Rüstung, der erwähnt wird, ist der Gürtel der »Wahrheit«. Wir müssen zweifellos treu die Wahrheit des Wortes Gottes hochhalten, doch es ist für uns ebenso notwendig, dass die Wahrheit uns hält. Wir müssen sie auf unser tägliches Leben anwenden. Wenn wir alles an der »Wahrheit« messen, dann finden wir Kraft und Schutz in der Schlacht.
Der zweite Teil ist der »Brustpanzer der Gerechtigkeit«. Jeder Gläubige ist mit der Gerechtigkeit Gottes bekleidet  (2. Kor  5,21),  doch  Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit müssen in seinem persönlichen Leben zum Ausdruck kommen. Jemand hat einmal gesagt: »Wer in praktische Gerechtigkeit gekleidet ist, ist unangreifbar. Worte sind keine Verteidigung gegen Anklagen, aber ein gutes Leben sehr wohl.« Wenn unser Gewissen frei von Vergehungen gegen Gott und Menschen ist, dann hat der Teufel nichts, worauf er zielen kann. David legte in Psalm 7,4-6 den »Brustpanzer der Gerechtigkeit« an. Der Herr Jesus trug ihn allezeit (Jes 59,17).
6,15 Der Streiter Gottes muss »an den Füßen mit der Bereitschaft zur Verkündigung des Evangeliums des Friedens« »beschuht« sein. Das bedeutet, dass er bereit ist, die gute Nachricht »des Friedens« zu verbreiten und damit feindliches Gebiet anzugreifen. Wenn wir uns in unseren Zelten ausruhen, sind wir in tödlicher Gefahr. Unsere Geborgenheit finden wir, wenn wir den lieblichen Füßen unseres Heilands über die Berge folgen und dabei die frohe Botschaft sowie Frieden bringen (Jes 52,7; Röm 10,15).
Nimm die Füße, mach sie flink, dir zu folgen auf den Wink. Frances Ridley Havergal
6,16 Außerdem muss der Streiter Gottes »den Schild des Glaubens« ergreifen, damit die »feurigen Pfeile des Bösen« daran abprallen und wirkungslos zu Boden fallen. »Glaube« bedeutet hier festes Vertrauen auf den Herrn und sein Wort. Wenn Versuchungen uns verfolgen, wenn uns Umstände entgegenstehen, wenn Zweifel aufkommen will, wenn wir Schiffbruch zu erleiden drohen, dann blickt der Glaube auf und sagt: »Ich glaube Gott mehr als den Umständen.«
6,17 Der »Helm«, den Gott uns bereitstellt, ist das »Heil« oder die Erlösung (Jes 59,17). Ganz gleich, wie heiß es in der Schlacht hergeht, der Christ lässt sich nicht beirren, weil er weiß, dass der endgültige Sieg sicher ist. Die Verheißung der einstigen Befreiung bewahrt ihn vor Rückzug oder Kapitulation. »Wenn Gott für uns ist, wer kann gegen uns sein?« (Röm 8,31). Schließlich ergreift der Streiter des Herrn noch »das Schwert des Geistes, das ist Gottes Wort«. Das klassische Beispiel dafür ist unser Herr, als er das »Schwert« in seiner Begegnung mit Satan verwendet. Dreimal zitiert er das Wort Gottes – nicht willkürlich gewählte Stellen, sondern die geeigneten Verse, die ihm der Heilige Geist zu diesem Zweck eingab (Lk 4,1-13). Mit »Wort42 Gottes« ist hier nicht die ganze Bibel gemeint, sondern ein besonderer Abschnitt der Bibel, der am besten in die Situation passt. David Watson sagt:
Gott gibt uns allen Schutz, den wir brauchen. Wir müssen darauf achten, dass uns ein »Schutzwall der Wahrheit« in unserem Wandel mit dem Herrn umgibt und unser Leben vor Gott und Menschen rechtschaffen ist. Wir müssen versuchen, Frieden zu stiften, wo immer wir hingehen, und den Schild des Glaubens aufnehmen, um die feurigen Pfeile des Bösen auszulöschen. Ferner müssen wir darauf bedacht sein, dass wir unser Denken vor Angst und Furcht bewahren, die uns schnell befallen. Schließlich müssen wir Gottes Wort in der Kraft des Heiligen Geistes recht anwenden. Man beachte, dass Jesus nur durch wiederholte Schwertschläge mit dem Wort Gottes in der Einöde seinen Widersacher besiegen konnte.43
6,18 »Gebet« wird hier nicht als Teil der Waffenrüstung genannt, doch wir werden seiner Bedeutung gewiss gerecht, wenn wir sagen, dass es die Atmosphäre sein muss, in der der Streiter Gottes lebt und atmet. In diesem Geist muss er die Rüstung anlegen und sich dem Feind stellen. Wir sollten ständig beten, nicht nur sporadisch. »Gebet« sollte eine Gewohnheit sein, keine isolierte Handlung. Der Streiter des Herrn sollte auch alle Arten des Gebetes nutzen: öffentlich und privat, geplant und spontan, Bitte, Flehen und Fürbitte, Bekenntnis und Gebet als Ausdruck einer demütigen Haltung vor Gott, Lob und Dank.
Und wir sollten »im Geist« beten. Dies bedeutet, dass er unsere Gebete anregen und ihren Inhalt bestimmen sollte. Es gibt formelhafte Gebete, die nur routinemäßig dahergeplappert werden (ohne dass man über ihre Bedeutung nachdenkt). Welchen Wert werden sie haben, wenn wir uns in der Schlacht gegen die Heerscharen der Hölle befinden? Wir müssen im Gebet wachsam sein: »Wachet hierzu.« Wir müssen gegen Müdigkeit, Abschweifung und Beschäftigung mit anderen Dingen wachsam sein. »Gebet« erfordert geistlichen Mut, Aufmerksamkeit und Konzentration. Und das Gebet muss anhaltend sein. Wir müssen immer wieder bitten, suchen und anklopfen (Lk 11,9). Wir sollten »für alle Heiligen« flehen. Auch sie stehen in der Schlacht und müssen durch das Gebet ihrer Mitstreiter getragen werden.
6,19 Über die Bitte des Paulus »und auch für mich« bemerkt Blaikie: Man beachte diesen Gedanken, welcher der Vorstellung von einem Ausnahmeheiligen Paulus völlig widerspricht! So weit Paulus davon entfernt ist, einen Vorrat an Gnade für alle Epheser zu haben, brauchte auch er ihre Gebete, damit ihm aus dem lebendigen Vorrat die notwendige Gnade zuteilwerden konnte.(6,19) Blaikie, »Ephesians«, Bd. 46, S. 260.
Paulus schrieb aus dem Gefängnis. Trotzdem bittet er nicht um Gebet für eine baldige Entlassung. Er bittet stattdessen um Gebet, damit ihm »Rede verliehen werde, ... mit Freimütigkeit das Geheimnis des Evangeliums« zu verkündigen. Das ist die letzte Erwähnung des »Geheimnisses« im Epheserbrief. Hier wird es als Ursache für seine Ketten angeführt. Und doch bereut Paulus nichts. Ganz im Gegenteil – er möchte es immer mehr verbreiten.
6,20 Botschafter genießen normalerweise diplomatische Immunität und können nicht in Haft genommen werden. Doch Menschen werden fast alles eher tolerieren als das Evangelium. Kein anderes Thema wühlt so die Gefühle auf, erweckt eine solche Feindschaft, erregt einen sol- chen Argwohn und ruft eine solche Verfolgung hervor. Deshalb war der Beauftragte Christi »ein Gesandter in Ketten«. Eadie drückt es passend aus:
Ein Legat des höchsten Herrschers, der mit einer Botschaft unvergleichlicher Dringlichkeit und Würde betraut war, wird hier in Gefangenschaft gehalten. Er konnte sich ausweisen, weil ihm eine Botschaft von unmissverständlicher Glaubwürdigkeit mitgegeben war.(6,20) Eadie, Ephesians, S. 480.
Derjenige Teil der paulinischen Botschaft, der die Feindschaft religiöser Eiferer und engstirniger Judaisten auf sich zog, war die Verkündigung, dass gläubige Juden und Heiden nun zu einer neuen Gemeinschaft werden, worin sie die gleichen Vorrechte haben und Christus als ihr gemeinsames Haupt anerkennen.
6,21.22 Paulus sandte »Tychikus« von Rom nach Ephesus, um die Heiligen wissen zu lassen, wie es ihm ging. Er empfiehlt »Tychikus« als »geliebten Bruder und treuen Diener im Herrn«. Dieser Mann wird nur fünfmal im NT erwähnt. Er war bei denen, die mit Paulus von Griechenland nach Asien reisten (Apg 20,4). Er war der Bote des Apostels an die Kolosser (Kol 4,7), an die Epheser (vgl. 6,21 mit 2. Tim 4,12) und wahrscheinlich an Titus auf Kreta (Titus 3,12). Seine doppelte Mission bestand diesmal darin, die Hei- ligen über das Ergehen des Paulus im Gefängnis zu unterrichten und auch ihre »Herzen« zu trösten, indem er ihnen unnötige Ängste nahm.
6,23 In den Abschlussversen finden wir wieder die für Paulus typischen Grüße – Friede und Gnade. Indem er diese beiden nennt, wünscht er seinen Lesern die Summe aller Segnungen. Auch könnte er hier noch einmal in verhüllter Form auf das Geheimnis des Evangeliums anspre- chen (dass Juden und Heiden nun eins in Christus sind), indem er hier typisch jüdische und nichtjüdische Worte verwen- det. In Vers 23 wünscht er seinen Lesern »Friede« und »Liebe mit Glauben«. Der Friede sollte ihre Herzen in allen Lebens- umständen bewahren. »Liebe« würde es ihnen ermöglichen, Gott zu ehren und miteinander zu arbeiten. »Glaube« würde sie zu Großtaten im christlichen Kampf befähigen. All diese Segnungen kommen »von Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Dies wäre unmöglich, wenn Gott und Christus nicht stellungsgleich wären.
6,24 Schließlich wünscht der geliebte Apostel »all denen ... Gnade, ... die unseren Herrn Jesus Christus« mit unvergänglicher Liebe ehren. Wahre christliche Liebe ist auf Dauer angelegt: Ihre Flamme mag zwar hin und wieder kleiner werden, doch wird sie niemals ausgelöscht. Das römische Gefängnis hat schon lange diesen Insassen mit seiner edlen Gesinnung freigegeben. Der Apostel hat seinen Lohn erhalten und schaut nun das Angesicht seines Geliebten. Doch wir haben noch seinen Brief – so neu und leben- dig wie an dem Tag, als er ihn schrieb. Selbst im 21. Jahrhundert lehrt, inspiriert, überführt und ermahnt er uns noch. Nun schließen wir unseren Kommentar in Übereinstimmung mit den Worten von H. W. Webb-Peploe:
Es gibt wohl keine Schrift in der Bibel, die so majestätisch und wunderbar ist: Deshalb ist es unmöglich für jeden Menschen, auch wenn ihn Gott selbst als Bote gesandt hat, diesem Buch gerecht zu werden: Ich hoffe, dass wir von ihm angezogen werden – einfach deshalb, weil wir darin Heiligungslehren finden. Es sind Lehren, durch die wir zu einem erhabeneren und höheren Leben als bisher geführt und wodurch wir in die Lage versetzt werden, Gott zu verherrlichen.(6,24) H. W. Webb-Peploe, »Grace and Peace in Four Pauline Epistles«, The Ministry of Keswick, First Series, S. 69.
1,1 Paulus und Timotheus werden zu Beginn des Briefes in einem Atemzug genannt. Das bedeutet nicht, dass Timotheus geholfen hat, den Brief zu schreiben. Er war beim ersten Besuch des Paulus in Philippi dabei gewesen, und deshalb war er den Heiligen dort bekannt. Nun ist »Timotheus« bei »Paulus«, als der Apostel seinen Brief schreibt.
Paulus war nun schon ein älterer Mann (Philem 9), während Timotheus noch recht jung war. So waren Jugend und Alter hier im Dienst des besten Herrn zusammen unter ein Joch gebunden. Jowett drückt das treffend aus: »Es ist die Vereinigung von Frühling und Herbst, von Begeisterung und Erfahrung, von Impulsivität und Weisheit, von liebevoller Hoffnung und ruhiger, reicher Zuversicht.«2
Beide werden als »Knechte Christi Jesu« beschrieben. Beide liebten ihren Herrn. Die Bande von Golgatha verpflichteten sie für immer, im Dienst für ihren Heiland zu stehen.
Der Brief ist an »alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, samt den Aufsehern und Dienern«, gerichtet. Das Wort alle findet sich in diesem Brief recht oft. Paulus war an allen Kindern Gottes von Herzen interessiert. Der Ausdruck »die Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind«, beschreibt die zweifache Stellung der Gläubigen. Ihrer geistlichen Stellung nach waren sie von Gott »in Christus Jesus« ausgesondert. Von ihrer geografischen Stellung her befanden sie sich in »Philippi«. So waren sie an zwei Orten gleichzeitig. Dann erwähnt der Apostel die »Bischöfe und Diakone« (LU 1984). Die »Bischöfe« waren die Ältesten oder Aufseher in der Gemeinde – diejenigen, die als Hirten ein Interesse an der Herde Gottes hatten und sie durch ihr gottesfürchtiges Beispiel leiteten. Die »Diakone« waren dagegen Diener der Gemeinde, die sich wahrscheinlich in erster Linie mit materiellen Belangen, etwa den Finanzen, beschäftigten.
Es gab nur diese drei Gruppen in der Gemeinde – »Heilige«, »Bischöfe« und »Diakone«. Wenn es einen einzelnen »Geistlichen« gegeben hätte, der die Gemeinde leitete, so hätte Paulus ihn ebenfalls erwähnt. Doch er spricht hier nur von »Bischöfen« (Mehrzahl) und Diakonen (ebenfalls Mehrzahl). Hier sehen wir, wie einfach das Gemeindeleben in dieser Anfangszeit war. »Die Heiligen« werden als Erste erwähnt, dann ihre geistlichen Leiter und schließlich die Diener, die ihnen in äußeren Fragen des Gemeindelebens zur Seite standen. Das ist alles!
1,2 In dem für ihn typischen Gruß wünscht Paulus den Heiligen »Gnade« und »Friede«. Mit dem ersteren Sachverhalt ist nicht so sehr die Gnade gemeint, die dem Sünder zur Zeit seiner Bekehrung widerfährt, sondern die Gnade, die er sich ständig am Thron der Gnade erbitten muss, damit sie ihm in Notzeiten zur Verfügung steht (Hebr 4,16). Ebenfalls geht es beim »Frieden«, den Paulus für sie erbittet, nicht so sehr um den Frieden mit Gott, den sie schon haben, als vielmehr um den »Frieden« von Gott, der ihnen durch Gebet und Danksagung zugeeignet wird (4,6.7).
Beide Segnungen kommen »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Der Apostel ehrt den Sohn so, wie er den Vater ehrt (Joh 5,23). Es gibt für Paulus keinen Zweifel: Jesus Christus ist Gott.
1,3 Nun bricht der Apostel in ein Dankl ied aus. Doch das ist für den Apostel nichts Neues. Die Wände des Gefängnisses zu Philippi hatten vom Echo der Lieder des Paulus und Silas bei ihrem ersten dortigen Besuch widergehallt. Als er diese Worte schreibt, ist er wahrscheinlich Gefangener in Rom – doch noch immer singt er »Lieder in der Nacht«. Der unermüdliche Paulus! »Jede Erinnerung« an die Philipper bringt ihm zum herzlichen Danken. Sie waren nicht nur seine Kinder im Glauben, sondern erwiesen sich auch auf vielerlei Weise als vorbildliche Gemeinde.
1,4 »In jedem« seiner »Gebete« trat er für die Philipper »mit Freuden« ein. Für ihn war es eine reine Freude, für sie zu beten. Fürbitte war für ihn keine lästige Pflicht. Aus dieser und vielen ähnlichen Stellen in den Paulusbriefen können wir schließen, dass er ein Mann des Geb etes war. Es ist nicht nötig, nach einem and eren Grund als diesem für die Tatsache zu suchen, warum er so wunderbar von Gott gebraucht wurde. Wenn wir uns das Ausmaß seiner Reisen und die vielen Christen seines Bekanntenkreises vor Augen halten, können wir uns nur wundern, wie er solch ein persönliches Interesse an ihnen allen aufrechterhalten konnte.
1,5 Der besondere Grund für seinen Dank war ihre »Teilnahme« an seinem Vorantreiben des Evangeliums »vom ersten Tag an bis jetzt«. »Teilnahme« kann finanzielle Hilfe bedeuten, aber es handelt sich hier gewiss auch um Gebetsunterstützung und eine Hingabe von ganzem Herzen zur Verbreitung der Guten Nachricht. Wenn Paulus den »ersten Tag« erwähnt, dann können wir nicht anders, als uns zu fragen, ob wohl der Kerkermeister vielleicht noch lebte, als dieser Brief der Gemeinde in Philippi öffentlich vorgelesen wurde. Wenn das der Fall war, wird diese Erwähnung der Einführung des Paulus bei den Gläubigen in Philippi sicherlich sein Herz besonders angesprochen haben.
1,6 Wenn der Apostel an den guten Anfang denkt, den die Gläubigen in ihrem Christenleben gemacht haben, so ist er »in guter Zuversicht«, dass Gott das »gute Werk« vollenden wird, das er »angefangen« hat.
Drum will ich dir anhangen, Erbarmer, dir allein.
Du hast es angefangen,
das gute Werk ist dein.
Vollende, Herr, vollende, was mir dein Wort verheißt! In deine Vaterhände
befehl’ ich Seel’ und Geist. Verfasser unbekannt
Der Begriff »gutes Werk« kann für die Erlösung der Philipper stehen, oder damit kann ihre aktive finanzielle Beteiligung an der Förderung des Evangeliums gemeint sein. Der »Tag Christi Jesu« bezeichnet den Zeitpunkt seiner Wiederkunft, wenn er sein Volk in den Himmel heimholt. Wahrscheinlich gehört dazu auch der Richterstuhl Christi, bei dem unser Dienst für ihn gesichtet und bewertet werden wird.
1,7 Paulus fühlt sich berechtigt, für die Philipper dankbar zu sein. In seinem »Herzen« bewahrt er die Erinnerung dara n, wie loyal sie ihm beigestanden haben, ob er sich vor Gericht verantworten musste, ob er im Gefängnis war oder ob er mit »der Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums« beschäftigt war. »Die Verteidigung des Evangeliums« bezeichnet den Dienst, den Kritikern zu antworten, während die »Bekräftigung des Evangeliums« dafür steht, die Botschaft noch sicherer in den Herzen der Gläubigen zu verankern. W. E. Vine sagt: »Das Evangelium überwindet seine Feinde und stärkt seine Freunde.«3 Gnade bedeutet hier unverdiente Kraft von Gott, das Werk des Herrn auch angesichts heftigsten Widerstands weiterzuführen.
1,8 Wenn sich der Apostel an das treue Handeln der Philipper erinnert, dann »sehnt« er sich nach ihnen. Er ruft »Gott« zum »Zeugen« dafür an, wie er sich »mit der herzlichen Liebe Christi Jesu« nach ihnen sehnt. Wie Paulus hier seiner Liebe Ausdruck verleiht, ist umso bemerkenswerter, wenn wir uns erinnern, dass er als Jude geboren wurde und nun zu Menschen heidnischer Herkunft spricht. Die Gnade Gottes hat den alten Hass weggenommen, und nun waren sie alle eins in Christus.
1,9 Die Danksagung wird nun durch Fürbitte abgelöst. Wird Paulus um Reichtum, Bequemlichkeit oder Freiheit von Schwierigkeiten für sie beten? Nein er bittet darum, dass ihre »Liebe … in Erkenntnis und aller Einsicht« immer stärker werde. Das Hauptziel des christlichen Lebens besteht darin, Gott und seinen Nächsten zu lieben. Doch Liebe hat nicht nur etwas mit den Gefühlen zu tun. In einem wirksamen Dienst für den Herrn müssen wir unsere Intelligenz gebrauchen und dabei »Einsicht« zeigen. Anderenfalls sind unsere Bemühungen wahrscheinlich erfolglos. Deshalb bittet Paulus hier nicht nur darum, dass die Philipper weiterhin ein Beispiel christlicher Liebe darstellen, sondern auch darum, dass ihre »Liebe« in voller »Erkenntnis und aller Einsicht« geübt werde.
1,10 Aufgrund einer Liebe, die so vorurteilsfrei ist, werden die Philipper erkennen können, »worauf es ankommt«. In allen Lebensbereichen gibt es Gutes und Besseres. Das Gute ist dabei oft der Feind des Besten. Um im Dienst erfolgreich zu sein, muss man beides unterscheiden lernen.
Vorurteilsfreie Liebe wird die Philipper auch befähigen, alles zu meiden, was fragwürdig oder ganz verkehrt ist. Paulus möchte dass sie »lauter«4 sind, d. h. völlig transparent und tadellos angesichts des »Tages Christi«. »Unanstößig« bedeutet nicht sündlos. Wir alle sündigen, doch der Unanstößige ist jemand, der seine Sünden bekennt und lässt. Auch bittet er Menschen um Vergebung, denen er Unrecht getan hat, und leistet – wann immer es möglich ist – Wiedergutmachung. Der »Tag Christi« bezeichnet wie in Vers 6 die Entrückung und das darauffolgende Gericht über die Werke des Gläubigen.
1,11 Die Schlussbitte des Apostelgebets lautet, dass die Christen »mit der Frucht der Gerechtigkeit« erfüllt werden  mögen,  d. h.  mit  der  »Frucht«,  die von der »Gerechtigkeit« hervorgebracht wird. Letztlich gehören dazu alle christlichen Tugenden, die ein rechtschaffenes Leben auszeichnen. Der Ursprung dieser Tugenden ist »Jesus Christus«, und ihr Ziel ist die »Herrlichkeit und« der »Lobpreis Gottes«. Diese Bitte des Paulus stellt eine Parallele zu den Worten in Jesaja 61,3 dar: »… damit sie Terebinthen der Gerechtigkeit genannt werden (›erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit‹), eine Pflanzung des Herrn (›die durch Jesus Christus gewirkt wird‹), dass er sich durch sie verherrlicht (›zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes‹).«
»Das Wort ›Frucht‹«, schreibt Lehman Strauss, »hängt eng mit unserer Beziehung zu Christus und seinen Erwartungen an uns zusammen. Die Reben eines Weinstocks sind dazu da, Frucht zu bringen.«5
II. Paulus’ Gefangenschaft, Erwartungen und Ermutigung zum Ausharren (1,12-30)
1,12 Das Gebet ist nun beendet. Als Nächstes betrachtet Paulus, wie er gesegnet  worden  ist,  d. h.  die  Wohltaten,  die ihm aus seiner Gefangenschaft erwachsen sind. Jowett nennt diesen Abschnitt »Glück trotz äußeren Leids«. Nach dem Willen des Apostels sollen die »Brüder« wissen, dass seine »Umstände«, d. h. sein Gerichtsverfahren und seine Haft, »mehr zur Förderung des Evangeliums ausgeschlagen sind«, statt es zu hindern, wie man es vielleicht erwartet haben mag. Das ist nun ein weiteres Beispiel dafür, wie Gott die bösen Pläne von Menschen überwindet und Triumphe aus scheinbaren Tragödien sowie Schönheit aus der Asche hervorbringt. Wie schlimm der Mensch auch sein mag, Gott führt seine Sache zum guten Ende.
1,13 Zunächst einmal ist allgemein »offenbar geworden«, dass Paulus’ »Fesseln« ihre Ursache »in Christus« haben. Damit meint er, dass es allgemein bekannt war, dass er als Folge seines Zeugnisses für Christus und nicht als Krimineller inhaftiert worden war. Der wahre Grund für seine Ketten war »im ganzen Prätorium« und an allen anderen Orten bekannt geworden. »Im gesamten Prätorium« bedeutet hier entweder 1. bei der gesamten Palastwache, die ihren Sitz im Prätorium hatte, oder 2. im gesamten Haus, das als Prätorium bezeichnet wurde. Das Prätorium war gleichzeitig der Palast und würde damit alle dort Arbeitenden einschließen. Jedenfalls sagt Paulus hier aus, dass seine Gefangenschaft als Zeugnis für die Repräsentanten der römischen Besatzungsmacht am Ort diente.
T. W. Drury schreibt:
Genau die Ketten, mit denen die Römer den Arm des Gefangenen an seinen Bewacher fesselten, dienten dazu, dass Paulus einen Zuhörer erhielt, der anschließend die Geschichte des geduldigen Leidens für Christus unter diejenigen trug, die am nächsten Tag vielleicht Nero selbst dienten.6
1,14 Eine zweite günstige Auswirkung seiner Gefangenschaft war, dass andere Christen dadurch ermutigt wurden, furchtloser für den Herrn Jesus Zeugnis abzulegen. Aufgrund von Verfolgung werden furchtsame und zaghafte Gläubige oft zu mutigen Christuszeugen.
1,15 Das Motiv in den Herzen einiger war Eifersucht und Rivalität. Sie predigten Christus »aus Neid« und Streitsucht.
Andere dagegen hatten ehrliche und reine Motive, sie predigten Christus »aus gutem Willen« und in dem ehrlichen Bestreben, dem Apostel zu helfen.
1,16 Die einen verkündigten die Heilsbotschaft »aus« reiner »Liebe«, denn sie wussten, dass Paulus entschlossen war, »das Evangelium« zu verteidigen. In ihrem Dienst fand sich nichts Selbstsüchtiges, Sektiererisches oder Grausames. Sie wussten ganz genau, dass Paulus ins Gefängnis gekommen war, weil er so mutig für das Evangelium eingetreten war. Deshalb waren sie entschlossen, das Werk weiterzuführen, während er unter diesen Umständen eingekerkert war.
1,17 Die eifersüchtigen Prediger dachten, dass sie durch ihre Handlungsweise dem Apostel seine Gefangenschaft vergällen könnten. Ihre Botschaft war gut, doch ihr Charakter schlecht. Es ist traurig, dass es möglich ist, den christlichen Dienst in der Kraft des Fleisches auszuführen und dabei von Streitsucht, Neid, Stolz und Habgier getrieben zu sein. Das lehrt uns, dass wir immer wieder unsere Motive untersuchen sollten, wenn wir dem Herrn dienen. Wir dürfen den Dienst nicht zur Selbstdarstellung, zur Förderung einer Denomination oder dazu missbrauchen, anderen Christen eine Niederlage zuzufügen.
Hier haben wir ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, dass unsere Liebe in Weisheit und mit Urteilsvermögen praktiziert werden soll.
1,18.19 Paulus weist es zurück, sich von den verkehrten Motiven einiger Prediger niederdrücken zu lassen. »Christus« wird von beiden Gruppen »verkündigt«, und das ist für ihn ein großer Grund zur Freude.
Es ist bemerkenswert, dass Paulus sich unter solchen Umständen nicht selbst bedauert oder das Mitgefühl anderer sucht. Stattdessen ist er erfüllt von der Freude des Herrn und ermutigt seine Leser, sich ebenfalls zu freuen.
Die Aussichten sind ermutigend. Der Apostel weiß, dass alle Entwicklungen zu seinem »Heil« führen werden. Mit »Heil« (»Seligkeit«; Elb) ist nicht das Seelenheil des Paulus, sondern seine Befreiung aus dem Gefängnis gemeint. Die Mittel, die Gott zur Herbeiführung dieser Freilassung benutzen möchte, sind das »Gebet« der Philipper und der Dienst oder die Hilfe des »Geistes Jesu Christi«. Wir dürfen uns hier über die Bedeutung wundern, die Paulus dem Gebet einer schwachen Gruppe von Gläubigen beimisst. Er hält sie für ausreichend und kräftig genug, die Pläne der Großmacht Roms zunichtezumachen. Es trifft zu, dass Christen in der Lage sind, das Geschick von Nationen zu beeinflussen und den Gang der Geschichte durch ihr Gebet zu verändern.
»Der Beistand des Geistes Jesu Christi« bedeutet die Macht des Heiligen »Geistes«, die um seinetwillen zur Anwendung kommt – die Kraft, die der Geist ihm geben wird. Im Allgemeinen bezieht sich der Ausdruck auf »die grenzenlosen Möglichkeiten, die der Geist bereithält, um dem Gläubigen einen festen Stand zu ermöglichen, ganz gleich, wie die Umstände sein mögen«.
1,20 Als Paulus an die Gebete der Christen und an den Beistand des Heiligen Geistes dachte, gab er seinem eifrigen Verlangen und seiner »Hoffnung« Ausdruck, dass er niemals »zuschanden« werden würde. Vielmehr war er voller Zuversicht, dass er immer ein furchtloser und freimütiger Zeuge Christi bleiben würde.
Und ganz gleich, wie seine Gerichtsverhandlung ausgehen mochte – ob er freigelassen würde oder sterben müsste – sein Ziel war es, »dass … Christus an« seinem »Leib groß gemacht werden« sollte. »Groß machen« bedeutet hier nicht, dass Christus etwa größer gemacht werden könnte. Er ist schon groß, und nichts, was wir tun können, kann zu seiner Größe beitragen. »Groß machen« bedeutet hier, dass Christus von anderen geschätzt und verehrt wird. Guy King zeigt, wie Christus in unserem Leben durch unsere Leiber »groß gemacht« werden kann: Er wird groß gemacht durch Lippen, die freudig Zeugnis von ihm ablegen, durch Hände, die in seinem frohen Dienst beschäftigt sind, durch Füße, die nur allzu froh sind, seine Sache zu fördern, durch Knie, die sich freudig im Gebet beugen, durch Schultern, die fröhlich die Lasten des anderen tragen.7 Christus kann auch an unseren Leibern »durch Tod« verherrlicht werden – Leiber, die im Dienst für ihn aufgerieben werden, Leiber, die von den Speeren unzivilisierter Wilder durchbohrt, von Steinen zerschmettert oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.
1,21 Hier finden wir eine kurze Zusammenfassung der Lebensphilosophie des Paulus. Er lebte nicht für Geld, Ruhm oder für sein Vergnügen, sondern das Ziel seines Lebens bestand darin, den Herrn Jesus zu lieben, zu ehren und ihm zu dienen. Er wollte, dass sein Leben immer christusähnlicher wurde. Er wollte, dass der Heiland sein Leben im Dasein des Paulus verwirklichte.
»Und das Sterben … ist … Gewinn.« Sterben heißt, bei Christus und für immer ihm gleich zu sein. Es bedeutet, ihm mit sündlosem Herzen und mit Füßen zu dienen, die niemals vom Weg abw eichen. Wir glauben normalerweise nicht, dass der Tod für uns ein Gewinn sein könnte. Es ist traurig, das sagen zu müssen, aber heute scheint zu gelten: »Leben ist irdischer Gewinn, und Sterben würde das Ende dieses Gewinnes bedeuten.« Doch Jowett stellt fest: »Für den Apos tel war der Tod kein dunkler Tunnel, in dem all unsere Schätze ganz schnell der Vernichtung preisgegeben werden, sondern der Ort eines gnädigen Übergangs, ein ›überdachter Weg, der zum Licht führt‹.«8
1,22 »Wenn« es Gottes Wille für Paulus wäre, dass er noch länger »im Fleisch« leben sollte, dann würde das fruchtvolle »Arbeit« bedeuten. Paulus wird weiter imstande sein, dem Volk Gottes zu helfen. Doch war es für ihn eine schwere Entscheidung: Sollte er zu seinem geliebten Heiland heimgehen oder auf der Erde in seinem Dienst zu bleiben, den er auch sehr liebte? Er wusste nicht, was er »erwählen« würde.
1,23 »Von beidem bedrängt« zu werden, bedeutet, eine schwierige Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten treffen zu müssen. Die erste besteht darin, in den Himmel heimzugehen, und die zweite darin, als Apostel Jesu Christi auf Erden zu bleiben.
Er sehnte sich sehr danach, »abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser«. Wenn er nur seine eigenen Interessen im Auge gehabt hätte, dann wäre zweifellos diese Möglichkeit seine Wahl gewesen.
Man beachte hier, dass Paulus nicht an irgendeine Theorie des Seelenschlafs glaubte. Er war der Ansicht, dass der Christ bei seinem Tod abscheidet, um »bei Christus zu sein«, und dass er bewusst die Gegenwart des Herrn genießt. Wie lächerlich wäre es, wenn er behaupten würde, wie es einige heute tun: »Leben ist Christus, und schlafen ist Gewinn«, oder »abscheiden und schlafen ist weit besser«. »Schlafen« wird im NT im Zusammenhang mit dem Leib des Gläubigen zur Zeit seines Todes verwendet  (1. Thess  4,14),  niemals  aber  im  Zusammenhang mit seiner Seele. Der sogenannte »Seelenschlaf« ist ein Mythos. Man beachte auch, dass Tod nicht mit dem Kommen Christi verwechselt werden darf. Wenn wir sterben, dann gehen wir, um »bei Christus zu sein«. Zur Zeit der Entrückung kommt er uns dann entgegen.
1,24 »Um« der Philipper willen war es für Paulus »nötiger«, auf der Erde weiterzuleben. Man kann nicht anders, als sich von der Selbstlosigkeit dieses großartigen Mannes beeindrucken zu lassen. Er denkt nicht an seine eigene Bequemlichkeit oder sein Wohlergehen, sondern an das, was dem Anliegen Christi und dem Wohlergehen des Volkes Gottes am meisten dient.
1,25 »Im Vertrauen hierauf«. Es geht darum, dass er auf Erden noch zur Unterweisung, Tröstung und Ermutigung der Heiligen gebraucht wurde. In diesem Vertrauen wusste Paulus, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht getötet werden würde. Woher wusste er das? Wir sind der Ansicht, dass er in so enger Gemeinschaft mit Gott lebte, dass der Heilige Geist ihm dieses Wissen übermitteln konnte. »Der Herr zieht ins Vertrauen, die ihn fürchten« (Ps 25,14). Diejenigen Menschen, die ganz tief in Gott ruhen, die still über seine Wege nachsinnen, hören Geheimnisse, die durch den Lärm, die Eile und die Unruhe unseres heutigen Lebens übertönt werden. Wir müssen Gott nahe sein, um ihn hören zu können. Und Paulus war ihm nahe.
Indem er im Fleisch blieb, würde Paulus imstande sein, die Philipper geistlich zu fördern und ihre geistliche »Freude« zu vermehren, die sie durch ihr Vertrauen auf den Herrn gewonnen hatten.
1,26 Er würde also vorerst nicht zum Tode verurteilt werden, sondern weiterleben und seinen Dienst auf Erden fortsetzen können. Dadurch würden die Philipper weiteren Grund zur Freude im Herrn haben, wenn er sie nochmals besuchen könnte. Man kann sich deutlich vorstellen, wie sie ihn umarmen und küssen und mit großer Freude den Herrn loben würden, wenn er in Philippi ankäme. Vielleicht würden sie sagen: »Nun Paulus, wir haben für dich gebetet, aber wir haben nie erwartet, dich hier wiederzusehen. Doch nun wollen wir den Herrn loben, dass er dich uns noch einmal geschenkt hat!«
1,27 Nun fügt Paulus eine Warnung hinzu: »Wandelt nur würdig des Evangeliums des Christus.« Christen sollten christusähnlich sein. Bürger des Himmels sollten sich entsprechend verhalten. Wir sollten unserer Stellung gemäß leben. Zusätzlich zu dieser Bitte um Konsequenz bittet Paulus die Philipper auch um Standhaftigkeit. Wenn er Berichte über sie hört, möchte er insbesondere, dass sie »fest« in einem gemeinsamen Geist stehen und gemeinsam ernstlich »für den Glauben des Evangeliums«, d. h. für den christlichen Glauben, wirken. Dabei spielt es keine Rolle, »ob« er nun kommt »oder abwesend« ist. Christen stehen einem gemeinsamen Feind gegenüber, sie sollten nicht gegeneinander kämpfen, sondern sich gegen den Feind verbünden.
1,28 Auch sollten sie sich von den Feinden des Evangeliums nicht »erschrecken« lassen. Furchtlosigkeit angesichts der Verfolgung hat eine doppelte Bedeutung. Erstens ist sie ein Vorzeichen der Verdammnis für diejenigen, die gegen Gott streiten. Zweitens ist sie ein Zeichen des »Heils« für diejenigen, die angesichts des Zornes ihrer Feinde Mut bewahren. »Heil« wird hier wohl in seinem zukünftigen Sinne benutzt. Das Wort bezieht sich auf die endgültige Befreiung der Heiligen von der Versuchung und auf die Erlösung ihres Leibes, ihrer Seele und ihres Geistes.
1,29 Die Philipper sollten sich daran erinnern, dass es ein Vorrecht ist, für »Christus« sowohl »zu leiden« als auch »an ihn zu glauben«.
Dr. Griffith John schrieb einmal Folgend es: Als er einst von einer feindlichen heidnischen Menge umringt und ges chlagen wurde, schlug er seine Hand vor das Gesicht, und als er sie wieder wegnahm, war sie mit Blut bedeckt. »Er hatte das Gefühl außerordentlicher Erh ebung und freute sich, dass er für würdig befunden worden war, um des Namens Christi willen zu leiden.« Ist es nicht bemerkenswert, dass im Christentum selbst das Leiden auf solch eine Ebene erhoben wird, die alles andere überragt? Ja, auch eine »scheinbare Kleinigkeit brennt mit dem Feuer des Unsterblichen, wenn es in Übereinstimmung mit dem Unendl ichen, dem ewigen Gott, steht«. Das Kreuz verleiht Ehre und Würde.
1,30 Die Verbindung dieses Verses zum vorhergehenden versteht man besser, wenn man die Worte »weil ihr ebenfalls an diesem Kampf beteiligt seid« ergänzt:
Das Vorrecht, für Christus zu leiden, ist euch gewährt worden, weil ihr ebenfalls an diesem Kampf beteiligt seid, wie ihr ihn an mir gesehen habt, als ich in Philippi war. Jetzt hört ihr von mir, dass ich diesen Kampf noch immer führe.
III. Ermahnung zur Einheit aufgrund des Vorbildes Christi an Demut und Aufopferung (2,1-16) Obwohl die Gemeinde in Philippi in vieler Hinsicht vorbildlich war und Paulus Grund hatte, die Heiligen dort zu empfehlen, gab es doch im Hintergrund Streitereien. Es gab Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei Frauen, Evodia und Syntyche (4,2). Es ist hilfreich, sich dies zu vergegenwärtigen, weil sich der Apostel in Kapitel 2 direkt mit der Ursache und der Behebung von Auseinandersetzungen im Volk Gottes beschäftigt.
2,1 Das Wort »wenn« in diesem Vers beinhaltet keinen Zweifel, sondern ist die Einleitung eines Arguments. Dieser Vers führt vier große Überlegungen auf, die die Gläubigen in Harmonie zusammenführen und zum gemeinsamen Wirken veranlassen sollen. Der Apostel sagt im Grunde: »Weil es nun so viel Ermunterung in Christus gibt, weil seine Liebe so überzeugend ist, weil der Heilige Geist uns alle in solch wundervoller Gemeinschaft zusammenführt und weil es so viel herzliches Mitleid und Erbarmen gibt, sollten wir in der Lage sein, in froher Harmonie miteinander zu leben.« F. B. Meyer beschreibt diese vier Motive folgendermaßen:
1. Die Überzeugungskraft, die von Christus ausgeht;
2. die mitfühlende Fürsorge, die ihren Ursprung in der Liebe hat; 3. die Tatsache, dass alle Gläubigen am Heiligen Geist Anteil haben; 4. Nächstenliebe und Erbarmen.9 Es ist eindeutig, dass der Apostel hier seinen Appell zur Einheit aufgrund der Tatsache ergehen lässt, dass sie sich gemeinsam Christus hingegeben haben und alle den Heiligen Geist besitzen. Mit allem, was wir in »Christus« finden, sollten sich die Glieder seines Leibes durch Zielstrebigkeit, Liebe, Einvernehmen und Mitgefühl untereinander auszeichnen.
2,2 Wenn die vorangegangenen Argumente für die Philipper auch nur die geringste Bedeutung haben, dann bittet Paulus, dass sie aufgrund dieser Argumente seine »Freude erfüllen« möchten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Philipper Paulus wirklich Freude bereitet. Er streitet das nicht einen Augenblick lang ab, doch er bittet nun darum, dass sie seinen Kelch der Freude bis zum Überfließen füllen. Das könnten sie tun, indem sie »dieselbe Gesinnung und dieselbe Liebe« hätten und »einmütig, eines Sinnes« wären.
Was bedeutet das? Wird von Christen erwartet, dass sie alle gleich denken und handeln? Das Wort Gottes deutet dies nirgends an. Während von uns ausdrücklich erwartet wird, in den grundlegenden Wahrheiten des christlichen Glaubens übereinzustimmen, ist es doch offensichtlich, dass man über weniger wichtigen Fragen zu einer großen Bandbreite an Meinungen kommen wird. Gleichheit und Einheit sind zweierlei. Es ist möglich, Einheit ohne Gleichheit zu erreichen. Obwohl wir in weniger wichtigen Angelegenheiten nicht übereinstimmen, können wir doch um unserer Geschwister willen unsere eigene Meinung beiseitestellen, wenn keine Glaubensgrundlagen gefährdet sind.
»Dieselbe Gesinnung« zu haben, bedeutet in Wirklichkeit, wie Christus gesinnt zu sein und zu reagieren, wie er reagiert hätte. »Dieselbe Liebe« zu haben, bedeutet, anderen »dieselbe Liebe« zu erweisen, wie sie uns der Herr entgegengebracht hat. Es ist eine Liebe, die keinerlei Kosten scheut. »Einmütig« zu sein, bedeutet in Harmonie auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Und »eines Sinnes« zu sein, bedeutet, einmütig zu handeln. Wenn wir dies tun, wird deutlich, dass Christus unser Handeln bestimmt.
2,3 »Nichts«, was wir tun, sollte »aus Eigennutz oder eitler Ruhmsucht« getan werden, weil diese beiden die größten Feinde der Einigkeit unter dem Volk Gottes sind. »Eigennutz« ist das Bestreben, immer an erster Stelle zu stehen, ganz gleich, was es kosten mag. »Eitle Ruhmsucht« spricht von Stolz und übertriebener Selbstdarstellung. Wann immer man Leute findet, die daran interessiert sind, ein Grüppchen um sich selbst zu sammeln oder nur ihre eigenen Interessen zu fördern, wird man die Saat von Streitigkeiten und Zwietracht finden. Die Lösung des Problems wird im zweiten Teil des Verses angegeben. »… sondern dass in der Demut einer den anderen höher achtet als sich selbst.« Das bedeutet nicht, dass wir der Ansicht sein müssten, dass Kriminelle charakterlich besser dastünden als wir selbst. Vielmehr ist damit gemeint, dass wir ohne Selbstsucht für andere leben und ihre Interessen über die eigenen stellen sollten. Es ist leicht, eine solche Ermahnung im Wort Gottes zu lesen. Doch es ist etwas ganz anderes, wirklich zu verstehen, was hier gemeint ist, und es dann auch in die Praxis umzusetzen. Den »anderen höher achten als sich selbst« ist dem menschlichen Wesen außerordentlich fremd, und wir schaffen es nicht, aus eigener Kraft entsprechend zu handeln. Nur weil wir den Heiligen Geist haben und von ihm unsere Kraft empfangen, können wir entsprechend leben.
2,4 Die Lösung für Konflikte im Volk Gottes besteht darin, sich mehr »auf das« Wohl »der anderen« als auf das »seine« zu konzentrieren. Diese Worte sind auf ganz konkrete Weise der Schlüssel zu diesem Kapitel. Wenn wir unser Leben im hingegebenen Dienst für andere führen, dann erheben wir uns über die selbstsüchtigen Streitereien der Menschen. Mach mich zum Segen für andere hier, mach mich zum Segen, ich fleh’ drum zu dir.
Dir will ich geben,
mein armes Leben
fortan in Liebe für andere hier. Verfasser unbekannt
2,5 »Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war.« Paulus weist die Philipper nun auf das Vorbild des Herrn Jesus Christus hin. Welche Haltung hatte er? Was war für sein Verhalten anderen gegenüber kennzeichnend? Guy King hat die Gesinnung Christi treffend beschrieben: 1. die Gesinnung in seiner Selbstlosigkeit, 2. die Gesinnung in seinem Opfer und 3. die Gesinnung in seinem Dienst. Der Herr dachte ständig an andere.10
Für mich den Fluch musst’ er tragen, ging er in die Schmach, den Tod; für mich, den schuldigen Sünder, tat er es, der heilige Gott. Charles H. Gabriel
2,6 Wenn wir lesen, dass Christus »in Gestalt Gottes war«, dann erfahren wir hier, dass er vor aller Ewigkeit schon Gott war. Es bedeutet nicht einfach, dass er Gott glich, sondern dass er im wahrsten Sinne des Wortes Gott war. Doch er »achtete … es nicht für einen Raub …, Gott gleich zu sein«. Hier ist es ausgesprochen wichtig, zwischen der stellungsmäßigen und der persönlichen Gleichheit mit Gott zu unterscheiden. Als Person war Christus immer Gott gleich. Dies ist auch in der Gegenwart und Zukunft stets der Fall. Es wäre ihm unmöglich, dies aufzugeben. Doch in seiner Stellung blieb er nicht Gott gleich. Von aller Ewigkeit her hatte er die gleiche Stellung wie sein Vater und erfreute sich der Herrlichkeit des Himmels. Doch er »achtete« diese Stellung nicht als etwas, das er unter allen Umständen hätte festhalten müssen. Als es darum ging, eine verlorene Menschheit zu erretten, war er gewillt, seine stellungsmäßige Gleichheit mit »Gott« aufzugeben – die Freude und Bequemlichkeit des Himmels. Er war nicht der Ansicht, dass diese etwas seien, das er für immer und unter allen Umständen festhalten musste.
Deshalb war er willig, in diese Welt zu kommen, um den Widerstand der Sünder gegen sich selbst zu ertragen. Gott der Vater wurde nie angespuckt, geschlagen oder gekreuzigt. In diesem Sinne war der Vater größer als der Sohn – nicht als Person, sondern in seiner Stellung und in seiner Seinsweise. Jesus drückt das in Johannes 14,28 aus: »Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich.« Mit anderen Worten, die Jünger hätten sich freuen sollen, dass er in die himmlische Heimat gehen würde. Als er auf Erden war, wurde er gequält und verworfen. Er befand sich in niedrigeren Umständen als sein Vater. In diesem Sinne war sein Vater größer. Doch als er in den Himmel zurückkehrte, war er wieder sowohl von den Umständen her als auch von seiner Person her dem Vater gleich.
Gifford erklärt:
So geht es hier nicht um die Natur oder das Wesen … sondern um die Seinsweise, die in diesem zweiten Halbsatz beschrieben wird [»achtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein«]. Man beachte, dass eine Seinsweise gegen eine andere ausgetauscht werden kann, wenn auch das Wesen selbst nicht veränderbar ist. Wir sollten auf Paulus’ eigenes Bild aus 2. Korinther 8,9 zurückgreifen: »Er, da er reich war, (wurde) um euretwillen arm …, damit ihr durch seine Armut reich würdet.« In beiden Fällen geht es hier um eine Seinsweise, nicht um die Wesensart. Wenn ein Armer reich wird, so wird die Lebensweise verändert, nicht jedoch sein Wesen als Mensch. Genauso ist es mit dem Sohn Gottes: Er stieg aus seiner reichen und herrlichen Seinsweise, die die rechte und passende Verwirklichung seiner göttlichen Natur war, um unsertwillen hinab. Es begab sich in eine bezüglich seines irdischen Lebens unendlich niedrigere und ärmere Seinsweise, die er zusammen mit seinem menschlichen Leib annahm.11
2,7 »Aber er machte sich selbst zu nichts.« Die wörtliche Übersetzung lautet: »Er leerte sich aus.« Sofort erhebt sich die Frage: »Wovon hat sich der Herr Jesus geleert?«
Wenn wir versuchen, diese Frage zu beantworten, müssen wir äußerst vorsichtig sein. Menschliche Versuche, dieses »Leeren« zu definieren, hat ihn oft seiner göttlichen Attribute beraubt. Einige sagen z. B.,  dass  der  Herr  Jesus,  als  er  auf  der Erde war, nicht länger allwissend oder allmächtig war. Er war nicht länger allgegenwärtig. Sie sagen, dass er freiwillig diese Eigenschaften der Gottheit ablegte, als er als Mensch in die Welt kam. Einige sagen sogar, dass er den Beschränkungen aller Menschen unterlegen gewesen wäre. So konnte er gemäß ihren Behauptungen z. B. Irrtümern anheimfallen, wobei er auch die allgemeinen Auffassungen sowie Mythen seiner Tage übernahm! Doch das bestreiten wir ausdrücklich. Der Herr Jesus legte die Eigenschaften der Gottheit nicht beiseite, als er in die Welt kam.
Er war noch immer allwissend. Er war noch immer allgegenwärtig. Er war noch immer allmächtig. Er tat jedoch eines: Er gab seine stellungsmäßige Gleichheit mit Gott auf und verhüllte die Herrlichkeit der Gottheit in einem menschlichen Körper. Die Herrlichkeit, obwohl noch vorhanden, war verborgen. Sie schimmerte bei gewissen Begebenheiten durch, so etwa bei der Verklärung. Es gab keinen Augenblick in seinem irdischen Leben, in dem er nicht alle Eigenschaften der Gottheit besessen hätte. Des ew’gen Vaters einz’ger Sohn kam herab vom Himmelsthron, in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut. Wie schon vorher erwähnt, muss man sehr vorsichtig sein, wenn man die Worte »er machte sich selbst zu nichts« erklären möchte. Die sicherste Methode besteht darin, die Erklärung den anschließenden Beschreibungen zu entnehmen. Er entleerte sich selbst, indem er »Knechtsgestalt« annahm und »den Menschen gleich geworden ist«. Mit anderen Worten, er entleerte sich, indem er etwas auf sich nahm, das er noch nie vorher erlebt hatte – das Menschsein. Er legte dabei seine Göttlichkeit nicht beiseite, er verließ nur seine Stellung im Himmel, und das auch nur zeitweilig. Wenn er nur ein Mensch gewesen wäre, dann wäre das keine Handlung gewesen, die ihn »entleerte«. Keiner von uns macht sich selbst »zu nichts«, weil wir ja alle in diese Welt hineingeboren wurden. Doch wenn Gott Mensch wird, dann »entleert« er sich selbst. Es ist sogar so, dass nur Gott das tun konnte. »Er … nahm Knechtsgestalt an.« Die Menschwerdung und das Leben des Heilandes könnte man durch die wunderbaren Worte in Johannes 13,4 zusammenfassen: »Jesus … legt die Oberkleider ab; und er nahm ein leinenes Tuch und umgürtete sich.« Das Tuch (oder die Schürze) ist ein Zeichen des Dienstes. Sie wurde von Sklaven benutzt. Und sie wurde von unserem Herrn Jesus verwendet, weil er nicht kam, »um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele« (Matth 20,28). Doch sollten wir hier innehalten und uns an den Gedankengang dieses Abschnitts erinnern. Es gab Streit zwischen den Heiligen in Philippi. Paulus ermahnt sie, wie Christus gesinnt zu sein. In Kurzform lautet das Argument: Wenn Christen bereit sind, den unteren Weg zu gehen, anderen zu dienen und ihr Leben als Opfer hinzugeben, wird es keine Streitereien geben. Menschen, die bereit sind, für andere zu sterben, streiten normalerweise nicht mit ihnen. Christus hat schon immer existiert, doch er kam in die Welt »der Gestalt nach wie ein Mensch erfunden«, was etwa im Sinne von »als wirklicher Mensch« verstanden werden kann. Das Menschsein des Herrn ist genauso real wie seine Göttlichkeit. Er ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Doch welch ein Geheimnis ist dies! Kein erschaffener Geist wird je in der Lage sein, das zu verstehen.
2,8 Jeder Teilsatz dieses Abschnitts beschreibt die nächsten Schritte der Demütigung des geliebten Sohnes Gottes. Er war nicht nur bereit, die Herrlichkeit des Himmels zu verlassen. Er leerte sich auch selbst! Er nahm Knechtsgestalt an! Er wurde Mensch! Doch nun lesen wir, dass er »sich selbst … erniedrigte«! Es gab keine Tiefe, zu der er sich nicht hinabließ, um unsere schuldigen Seelen zu erlösen. Gelobt sei sein herrlicher Name in Ewigkeit!
Er »erniedrigte … sich selbst«, indem er »gehorsam bis zum Tod« wurde. Das ist wirklich ein Wunder vor unseren Augen! Er gehorchte, auch wenn ihn dies das Leben kosten mochte. »Gehorsam bis zum Tod« bedeutet, dass er bis ans Ende gehorsam war. Er war der wirkliche Kaufmann, der hinging und alles verkaufte, was er hatte, um die Perle für einen hohen Preis zu erwerben (Matth 13,46). »Ja, zum Tod am Kreuz.« »Tod« durch Kreuzigung war die schmachvollste Hinrichtungsart. Man kann sie mit dem Galgen, dem elektrischen Stuhl oder dem Fallbeil vergleichen – nur für Mörder bestimmt. Und diese Art des Todes stand dem Besten des Himmels bevor, als er in diese Welt kam. Es wurde ihm nicht gestattet, eines natürlichen Todes im Bett zu sterben. Er sollte auch nicht durch einen Unfall umkommen. Er musste den schmachvollen »Tod am Kreuz« erleiden.
2,9 Nun sehen wir hier einen plötzlichen Wechsel. Die vorhergehenden Verse beschreiben, was der Herr Jesus tat. Er beschritt den Pfad der Selbstverleugnung. Er wollte sich nicht selbst einen Namen machen. Er demütigte sich selbst. Doch nun überlegen wir, was Gott getan hat. Als der Heiland sich selbst erniedrigte, »hat Gott ihn auch hoch erhoben«. Als er selbst keinen Namen für sich suchte, »hat Gott … ihm den Namen verliehen, der über jedem Namen ist«. Als er seine Knie im Dienst an anderen beugte, hat Gott bestimmt, dass »jedes Knie« sich vor ihm »beugen« muss.
Und welche Lektion enthält das für die Philipper – und für uns? Die Lektion lautet, dass der Weg nach oben zuerst nach unten führt. Wir sollten nicht uns selbst erhöhen, sondern Diener der anderen sein, damit uns Gott zu seiner Zeit erhöhen kann.
Gott erhöhte Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte und den Himmel öffnete, um ihn wieder als denjenigen zu empfangen, der fortan zu seiner Rechten saß. Und nicht nur das, sondern »Gott hat … ihm den Namen verliehen, der über jedem Namen ist«. Die Ausleger sind geteilter Meinung, welcher Name hier gemeint ist. Einige sagen, es sei der Name Jesus, der den Gottesnamen Jahwe enthält. In Jesaja 45,22.23 wird bestimmt, dass sich jedes Knie im Namen Jahwes (Gottes) beugen wird. Andere Ausleger sind der Ansicht, dass der »Name, der über alle Namen ist«, einfach ein bildlicher Ausdruck dafür ist, dass ihm die höchste Stellung im Universum – eine Herrscher- und Vormachtsstellung – gegeben ist. Beide Erklärungen sind annehmbar.
2,10 Gott fand ein solches Wohlgefallen in dem Erlösungswerk Christi, dass sich nach seinem Willen »jedes Knie« vor ihm »beugen« muss – und zwar die Knie der »Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen«. Das bedeutet nicht, dass alle diese Wesen errettet werden. Diejenigen, die ihre Knie nicht willentlich vor ihm beugen, werden dereinst dazu gezwungen werden. Diejenigen, die sich nicht am Tag der Gnade mit ihm versöhnen lassen, werden am Tag des Gerichts unterworfen werden.
2,11 In unvergleichlicher Liebe kam der Herr aus der Herrlichkeit nach Bethlehem, nach Gethsemane und nach Golgatha hinab. Gott dagegen wird ihn mit ewiger Ehre bedenken und ihn von allen als Herrn anerkennen lassen. Diejenigen, die seinen Anspruch leugnen, werden eines Tages zugeben müssen, dass sie Narren waren und sich fürchterlich geirrt haben. Sie werden erkennen, dass Jesus von Nazareth tatsächlich der Herr der Herrlichkeit ist.
Ehe wir diesen wunderbaren Abschnitt über die Person und das Werk des Herrn Jesus verlassen, sollten wir wiederholen, dass er im Zusammenhang mit einem kleinen Problem in Philippi entstanden ist. Paulus setzte sich nicht hin, um eine Abhandlung über den Herrn zu schreib en. Er wollte einfach nur die Selbstsucht und Ansätze zu einer sektiererischen Gesinnung unter den Heiligen korrigieren. Die Heilung für ihren Zustand ist die Gesinnung Christi. Paulus bringt den Herrn in jede Situation ein. »Sogar, wenn er höchst schwierige, betrübliche und unangenehme Angelegenheiten behandelt«, schreibt Erdman, »ist er imstande, die Wahrheit auf solch wunderbare Weise darzustellen, dass sie wie ein wertvoller Edelstein erscheint, der in einem Klumpen Erde verborgen war.«12
2,12 Nachdem er das Beispiel Christi so brillant dargestellt hat, ist der Apostel nun bereit, die Ermahnung anzubringen, die darauf aufbaut.
Die Philipper waren Paulus »allezeit gehorsam gewesen«, wenn Paulus bei ihnen war. Nun sollten sie in seiner »Abwesenheit« »noch viel mehr« ihr »Heil mit Furcht und Zittern« bewirken. Und wieder haben wir hier eine Schriftstelle, bezüglich derer viel Verwirrung herrscht. Zu Beginn sollten wir uns eindeutig klarmachen, dass die Erlösung gemäß der Lehre des Paulus nicht durch Werke verdient werden kann. In all seinen Schriften betont er immer wieder, dass das Heil nicht aufgrund von Werken, sondern durch Glauben an den Herrn Jesus Christus zugeeignet wird. Was jedoch bedeutet dann dieser Vers? 1. Er könnte bedeuten, dass wir die Erlösung, die Gott uns geschenkt hat, ausleben sollen. Gott hat uns das ewige Leben als kostenloses Geschenk gegeben. Wir sollen es ausleben, indem wir ein praktisches Heiligungsleben führen.
2. Mit »Heil« könnte hier die Lösung der Probleme in Philippi gemeint sein. Die dortigen Gläubigen waren von Zank und Streit geplagt. Der Apostel hat ihnen die Hilfe dafür gegeben. Nun sollen sie diese Hilfe anwenden, indem sie wie Christus gesinnt sind. Sie sollten so ihr eigenes »Heil … bewirken«, d. h. ihr Problem lösen. Das »Heil«, von dem hier die Rede ist, ist nicht das Seelenheil, sondern Befreiung von den Fallstricken, die die Christen daran hindern wollten, den Willen Gottes zu tun. In ähnlichem Sinne beschreibt Vine es als »die gegenwärtige Erfahrung völliger Befreiung vom Bösen«. Heil hat viele verschiedene Bedeutungen im NT. Wir haben schon festgestellt, dass es in 1,19 die Befreiung aus dem Gefängnis bedeutet. In 1,28 ist damit die endgültige Erlösung unserer Leiber von der Gegenwart der Sünde gemeint. Die Bedeutung in jedem einzelnen Fall muss, zumindest teilweise, durch den Kontext bestimmt werden. Wir glauben, dass in diesem Abschnitt mit »Heil« die Lösung der Probleme der Philipper, d. h. die Befreiung von Streitereien, gemeint ist.
2,13 Nun erinnert Paulus die Philipper daran, dass es für sie möglich ist, ihr Heil zu bewirken, weil es »Gott ist, … der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen«. Das bedeutet, dass es »Gott« ist, der zuerst in uns den entsprechenden Wunsch oder das diesbezügliche Verlangen weckt. Dann befähigt er uns auch noch, dieses Wollen auszuführen.
Hier haben wir wieder die wunderbare Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen. In einer Hinsicht sind wir aufgerufen, unsere Erlösung zu bewirken. In anderer Hinsicht kann uns nur Gott dazu befähigen, dies zu tun. Wir müssen unseren Teil dazutun, dann wird Gott seinen Teil dazutun. (Doch betrifft dies nicht die Vergebung der Sünden oder die Wiedergeburt. Die Erlösung ist vollkommen ein Werk Gottes. Wir glauben einfach nur und erhalten sie.)
2,14 Wenn wir zu seinem Wohlgefallen handeln, dann sollten wir dies ohne Murren oder Hinterfragen tun: »Nicht irgendwie, sondern siegreich.« Murren und Zweifel führen oft zu noch schlimmeren Vergehungen.
2,15 Indem wir uns von Beschwerden und Streitgesprächen fernhalten, können wir »tadellos und lauter« (ehrlich und unsträflich) sein. »Tadellos« sein bedeutet, dass man gegen jemanden keine Anklage erheben kann (s. Dan 6,4). Ein »tadelloser« Mensch kann sündigen, doch er entschuldigt sich, bekennt seine Sünde und leistet, wann immer möglich, Wiedergutmachung. Wer »lauter« ist, erweist sich im gemeinten Sinne als ehrlich und handelt ohne Hintersinn.
»Kinder Gottes« sollten »unbescholten« sein »inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts«. Indem sie tadellos leben, werden Kinder Gottes sich noch deutlicher vor dem finsteren Hintergrund dieser Welt abheben.
Dies führt dazu, dass Paulus daran denkt, dass die Christen »Himmelslichter« in einer finsteren Nacht sind. Je finsterer die Nacht ist, desto heller erscheint das Licht. Christen sind Himmelslichter oder Lichtträger. Sie können kein Licht schaffen, aber sie reflektieren die Herrlichkeit des Herrn, sodass andere Jesus in ihnen sehen können.
2,16 »Indem ihr das Wort des Lebens festhaltet.« Wir scheinen als Lichter, doch das entbindet uns nicht von unserem Zeugnis mit dem Mund. Wir sollten das doppelte Zeugnis des Lebens und der Lippen geben.
Wenn die Philipper diese Aufgaben wahrnehmen, weiß der Apostel, dass er am »Tag Christi … Grund zum Rühmen« hat. Er fühlt sich nicht nur dafür verantwortlich, dass Seelen errettet werden. Vielmehr geht es ihm auch darum, »jeden Menschen vollkommen in Christus darzustellen« (Kol 1,28). »Der Tag Christi« ist die Zeit seiner Wiederkunft. Dann wird der Dienst der Gläubigen beurteilt werden (1,6.10). Wenn die Philipper treu in ihrer Arbeit für den Herrn sind, wird es an diesem Tag offensichtlich, dass der Dienst des Paulus nicht »vergeblich« gewesen ist. IV. Das christusähnliche Vorbild von Paulus, Timotheus und Epaphroditus (2,17-30)
Im vorhergehenden Abschnitt hat Paulus den Herrn Jesus als das Beispiel für Demut vorgestellt. Doch einige mögen nun versucht sein zu sagen: »Ja, aber er war schließlich Gott, und wir sind nur sterbliche Menschen.« Deshalb zeigt Paulus nun drei Beispiele für Menschen, die sich die Gesinnung Christi zu eigen gemacht haben – sich selbst, Timotheus und Epaphroditus. Wenn Christus die Sonne ist, dann sind diese drei wie Monde, die die Herrlichkeit der Sonne widerspiegeln. Sie sind Lichter in einer finsteren Welt.
2,17 Der Apostel benutzt ein sehr schönes Bild, um seinen eigenen und den Dienst der Philipper zu beschreiben. Er entlehnt dieses Bild aus der allgemeinen Praxis sowohl der Juden als auch der Heiden, ein »Trankopfer« über ein Opfer auszugießen.
Er spricht hier die Philipper als die Opfernden an. Ihr »Glaube« ist das Opfer. Paulus selbst ist das »Trankopfer«. Er ist  froh,  wenn  er  »als  Trankopfer«  (d. h. als Märtyrer) »über das Opfer und den Dienst« ihres »Glaubens gesprengt« wird. Williams kommentiert:
Der Apostel vergleicht die Selbstaufopferung und die Energie der Philipper mit seiner eigenen opferbereiten Gesinnung. Dabei erhöht er ihre Selbstaufopferung und erniedrigt seine eigene. Beide gaben ihr Leben um des Evangeliums willen hin, doch er sieht ihr Handeln als das große Opfer an, und er ist nur das Trankopfer, das noch darüber gegossen wird. Mit diesem wunderbaren sprachlichen Bild spielt er auf seinen möglichen Märtyrertod an.13
Wenn das sein Schicksal sein sollte, dann würde er sich darüber freuen.
2,18 »Ebenso« sollten sich auch die Philipper mit Paulus freuen. Sie sollten seinen möglichen Märtyrertod nicht als Tragödie sehen, sondern ihn zu einem solch herrlichen Heimgang gratulieren.
2,19 Bis hierher hat Paulus zwei Beispiele sich selbst aufopfernder Liebe genannt – den Herrn Jesus und sich selbst. Beide waren gewillt, ihr Leben in den Tod zu geben. Es bleiben noch zwei weitere Beispiele der Selbstlosigkeit, nämlich »Timotheus« und Epaphroditus. Der Apostel hofft, »Timotheus bald« zu ihnen nach Philippi »zu senden«, damit er durch neue Nachrichten von ihnen ermutigt würde.
2,20 Unter den Gefährten des Paulus war Timotheus einzigartig in seiner selbstlosen Sorge um den geistlichen Zustand der Philipper. Es gab »keinen ihm Gleichgesinnten«, den Paulus mit demselben Vertrauen hätte senden können. Das ist für jemanden, der so jung ist wie Timotheus, wirklich eine großartige Empfehlung!
2,21 Die anderen ließen sich von ihren eigenen Interessen in Beschlag nehmen. Sie hatten sich so sehr dem »Ihren« verschrieben, dass sie keine Zeit mehr hatten für »das, was Jesu Christi ist«. Ist dies nicht eine Botschaft an uns, in unseren selbst geschaffenen »kleinen Reichen«, in unseren Häusern mit Kühlschränken, Fernsehern und vielen anderen »Dingen«? (Vgl. Lk 8,14.)
2,22 Timotheus war des Apostels Kind im Glauben, und er erfüllte treu seine Aufgabe. Die Philipper wussten um seine »Bewährung«, sie kannten seinen wahren Wert, sie wussten, dass Timotheus »wie ein Kind dem Vater« zusammen mit Paulus bei der Predigt des »Evangeliums« gedient hatte.
2,23.24 Weil Timotheus sich so bewährt hatte, hoffte Paulus, ihn »sofort« zu den Philippern zu senden, sobald er über den Ausgang seiner Berufung auf den Kaiser Nachricht hatte. Das meint der Apostel zweifellos mit dem Ausdruck »wenn ich meine Lage übersehe«. Er hofft, dass seine Berufung Erfolg haben und er freigelassen würde, sodass er die Philipper noch einmal besuchen kann.
2,25 Als Nächstes sehen wir die Gesinnung Christi am Beispiel des »Epaphroditus«. Ob dies derselbe Mann wie »Epaphras« in Kolosser 4,12 ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls lebte er in Philippi und war Botschafter der dortigen Gemeinde.
Paulus nennt ihn 1. »meinen Bruder«, 2. meinen »Mitarbeiter« und 3. meinen »Mitstreiter«. Der erste Titel drückt seine Zuneigung aus, der zweite die Anerkennung seiner harten Arbeit und der dritte die Gemeinschaft im Kampf für das Evangelium. Er war jemand, der mit anderen zusammenarbeiten konnte, und das ist im christlichen Leben und Dienst sicherlich eine wichtige Voraussetzung. Es ist eine Sache, unabhängig zu arbeiten und alles nach eigenen Vorstellungen tun zu können. Dagegen ist es viel schwieriger, mit anderen zusammenzuarbeiten, nur die »zweite Geige« zu spielen, individuelle Unterschiede zuzulassen und die eigenen Bestrebungen sowie Meinungen um des Ganzen willen unterzuordnen. Wir sollten »Mitarbeiter« und »Mitstreiter« werden!
Weiter nennt Paulus ihn »euren Abgesandten und Diener meines Bedarfs«. Das zeigt uns noch andere wertvolle Einzelheiten über seinen Charakter. Er war gewillt, einfache Dienste zu tun. Viele sind heute nur an Tätigkeiten intere ssiert, die angenehm sind und in der Öffent lichkeit wahrgenommen werden. Wie dankbar sollten wir für diejenig en sein, die still und unauffällig ihrer Routinea rbeit nachgehen. Epaphroditus erniedrigt e sich selbst, indem er harte Arbeit auf sich nahm. Doch Gott erhob ihn, indem er seinen treuen Dienst in Philipper 2 erwähnen ließ, damit alle kommenden Generationen davon erfahren sollten.
2,26 Die Heiligen hatten Epaphrodit us gesandt, damit er Paulus helfen konnte – er musste dafür eine Reise von mindestens 1100 km zurücklegen. Der treue Bote wurde als Folge davon »krank«, so krank, dass er dem Tode nahe war. Das machte Epaphroditus besorgt. Er fürchtete nicht den nahen Tod, sondern hatte Angst, dass die Heiligen davon erfahren könnten. Wenn sie es erführen, würden sie sich nämlich sicherlich Vorwürfe machen, dass sie ihn auf die Reise geschickt und damit sein Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Ganz sicher sehen wir in Epaphroditus einen Menschen, der »ganz vom eigenen Wesen los« sein konnte. Viele Christen haben die bedauerliche Angewohnheit, lange und ausführlich von ihren Krankheiten und Operationen zu erzählen. Zu oft sind das nur Auswirkungen der unterschiedlichen Sünden eines auf sich selbst ausgerichteten Lebens: Selbstliebe, Selbstmitleid, Beschäftigung mit sich selbst, Selbstdarstellung.
2,27 Epaphroditus war so »krank«, dass er »dem Tod nahe« war, »aber Gott hat sich seiner erbarmt«. Dieser Abschnitt ist für uns sehr wertvoll, weil er einiges Licht auf die Frage einer von Gott bewirkten Heilung wirft:
1. Krankheit ist nicht immer die Folge einer Sünde. Hier haben wir einen Mann vor uns, der krank wurde, weil er seine Pflicht treu erfüllt hat (s. V. 30), »denn um des Werkes Christi willen ist er dem Tod nahe gekommen«. 2. Wir lernen, dass es nicht immer Gottes Willen entspricht, sofort und durch ein Wunder zu heilen. Es scheint so, dass Epaphroditus länger krank war und sich erst allmählich erholte (s. a. 2. Tim 4,20; 3. Joh 2). 3. Wir erfahren, dass Heilung ein Gnadenakt Gottes ist und kein Sachverhalt, den wir rechtmäßigerweise von ihm verlangen könnten.
Paulus fügt hinzu, dass Gott sich »nicht nur seiner, sondern auch« des Apostels »erbarmt« hat, damit er »nicht Traurigkeit auf Traurigkeit« habe. Dem Apostel war bereits mit seiner Gefangenschaft eine beträchtliche Last aufgebürdet worden. Wenn Epaphroditus auch noch gestorben wäre, hätte er noch mehr Kummer gehabt.
2,28 Nachdem es Epaphroditus nun wieder so gut ging, hat Paulus »ihn nun desto eilender« nach Hause »gesandt«. Die Philipper würden »wieder froh« werden, ihren geliebten Bruder zurückzuerhalten, und das würde auch Paulus wieder etwas aufrichten.
2,29 Sie sollten Epaphroditus nicht nur freudig wiederaufnehmen, sondern diesen Mann Gottes auch »in Ehren« halten. Es ist eine große Ehre und ein ebenso großes Vorrecht, im Dienst des Herrn zu stehen. Das sollten die Geschwister anerkennen, auch wenn es jemanden betrifft, mit dem sie sehr vertraut sind.
2,30 Wie schon weiter oben erwähnt, hing die Krankheit des Epaphroditus mit seinem unermüdlichen Dienst »um … Christi willen« zusammen. Das ist in den Augen des Herrn sehr wertvoll. Es ist besser, sich für den Herrn zu verzehren, als vor sich hin zu rosten. Es ist besser, im Dienst Jesu umzukommen, als nur einer mehr in der Statistik derer zu sein, die durch Krankheit oder Unfall sterben. Will Paulus mit dem hier befindlichen Nebensatz (»um den Mangel in eurem Dienst für mich auszugleichen«) andeuten, dass die Philipper Paulus vernachlässigt hatten und Epaphroditus das tat, was eigentlich die Philipper hätten tun sollen? Dies scheint uns unwahrscheinlich zu sein, weil es die Heiligen in Philippi gewesen waren, die Epaphroditus zu Paulus gesandt hatten. Wir sind der Ansicht, dass mit dem Ausdruck »Mangel in eurem Dienst für mich« gemeint ist, dass sie nicht selbst nach Rom hatten kommen können, um Paulus zu helfen, weil es viel zu weit war. Es handelt sich hier also nicht um einen Tadel, sondern um die einfache Feststellung, dass Epaphroditus für die Philipper als Stellvertreter das getan hatte, was sie selbst nicht hatten tun können. V. Warnung vor Irrlehrern (3,1-3)
3,1 »Zum Schluss, meine Brüder« (Es gibt nur wenige deutsche Bibelübersetzungen, in denen diese Formulierung an dieser Stelle vorkommt; vgl. Übersetzung des Neuen Testaments von Fritz Tillmann, Leipzig 1951; Anm. d. Übers.) deutet nicht darauf hin, dass Paulus zum Schlussteil des Briefes kommt. Wörtlich heißt es hier: »Übrigens …« Die gleiche Wendung wird in 4,8 nochmals gebraucht. Paulus ermahnt hier die Philipper, sich immer »im Herrn« zu freuen. Der Christ kann immer echte Freude »im Herrn« finden, ganz gleich, unter welchen Umständen er leben mag. »Die Sonne, die mir lachet, / ist mein Herr Jesus Christ; / das, was mich singen machet, / ist, was im Himmel ist.« Nichts kann seine Freude wirklich beeinflussen, es sei denn, man nehme ihm vorher seinen Heiland, und das ist eindeutig unmöglich. Natürliche Freude wird von Schmerzen, Sorgen, Krankheit, Armut und Katastrophen beeinflusst. Doch die Freude des Christen steht weit über allen Unbilden des Lebens. Den Beweis dafür liefert Paulus, der diese Ermahnung vom Gefängnis aus schreibt. Wir können von einem solchen Mann ganz gewiss einen Rat annehmen!
Er findet es nicht unpassend, sich den Philippern gegenüber zu wiederholen, denn er weiß, dass er es zu ihrer Sicherheit tut. Doch wie wiederholt er sich? Bezieht es sich auf vorhergehende Anweisungen, sich im Herrn zu freuen? Oder sind die folgenden Verse gemeint, wo er vor den jüdischen Irrlehrern warnt? Wir sind der Meinung, dass das Letztere gemeint ist. Dreimal in Vers 2 benutzt er das Wort »seht«. Sich so immer wieder zu wiederholen, ist ihm »nicht verdrießlich«, sondern eine Vorsichtsmaßnahme um ihretwillen.
3,2 Sie sollen »auf die Hunde …, die bösen Arbeiter« und »auf die Zerschneidung« sehen. Alle drei Ausdrücke bezeichnen wahrscheinlich die gleichen Menschen – Irrlehrer, die versuchten, die Christen wieder unter das Gesetz des Judentums zu knechten. Sie lehrten, dass man Gerechtigkeit erlangen könne, indem man sich an das Gesetz und seine Rituale halte.
Als Erstes bezeichnet Paulus diese Irrlehrer als »Hunde«. In der Bibel sind Hunde unreine Tiere. Der Ausdruck wurde normalerweise von Juden benutzt, um damit die Heiden abfällig zu bez eichnen! In den Ländern des Nahen Ostens waren die Hunde heimatlose Wesen, die wild auf den Straßen herumstreunten und sich ihr Futter zusammenstahlen, wo es nur ging. Hier dreht Paulus den Spieß um und wendet diesen Ausdruck auf diese jüdischen Irrlehrer an, die vers uchten, die Gemeinden zu unterwandern. Sie waren in Wirklichkeit diejenigen, die draußen lebten und versuchten, ihr Leben auf Riten und Zeremonien zu gründen. Sie waren diejenigen, die sich »mit Krümeln zufriedengaben, wo sie am Festmahl hätten teilnehmen können«.
Zweitens waren sie »böse Arbeiter«. Sie gaben vor, echte Gläubige zu sein, und hatten so Zugang zu christlichen Gemeinschaften. Dort wollten sie ihre Irrlehren ausbreiten. Ihr Handeln konnte nur Schlimmes zur Folge haben. Dann nennt Paulus sie noch »die Zerschneidung«. Das ist ein sarkastisch gemeinter Ausdruck, um ihre Haltung zur Beschneidung zu bezeichnen. Zweifellos waren sie der Auffassung, dass man beschnitten sein müsse, um errettet zu werden. Doch was sie meinten, war die leibliche Beschneidung. Sie waren an der geistlichen Bedeutung der Beschneidung nicht interessiert. Die Beschneidung steht für den Tod des Fleisches. Sie bedeutet, dass der Anspruch des Fleisches nicht befriedigt werden soll. Diese Irrlehrer aber bestanden auf der Zeremonie der leiblichen Beschneidung im wörtlichen Sinne und gaben damit dem Fleisch Raum. Sie wollten nicht anerkennen, dass das Fleisch am Kreuz in den Tod gegeben wurde. Paulus will also sagen, dass sie zwar das Fleisch beschnitten, aber dabei nicht zwischen der Zeremonie und der ihr zugrunde liegenden Bedeutung zu unterscheiden wussten. Damit unterzogen sie das Fleisch gewissermaßen einer Zwangsbeschneidung, ohne sich in ihrem Wesen zu ändern.
3,3 Im Gegensatz zu diesen stellt Paulus fest, dass »wir«, d. h. die wahren Gläubigen, »die Beschneidung sind«. Es sind nicht diejenigen, die zufällig von jüdischen Eltern geboren und leiblich beschnitten sind. Vielmehr sind es diejenigen, die erkennen, dass das Fleisch nichts Gutes bringt und der Mensch aus eigener Kraft nichts tun kann, um das Wohlgefallen Gottes zu gewinnen. Dann nennt Paulus drei Eigenschaften derer, die zur wahren Beschneidung gehören: 1. Sie »dienen … im Geist Gottes«. Das bedeutet, dass sie wirklich geistlichen Dienst tun und nicht dem toten Dienst der Zeremonien verhaftet sind. Im wirklichen Gottesdienst naht sich der Betreffende Gott im Glauben. Er lobt, preist und betet ihn an. Ein die Seele ansprechender Gottesdienst braucht schöne Gebäude und heilige Einrichtungsgegenstände, zusätzlich ausgefeilte Zeremonien, prächtige Priestergewänder und alles andere, was die Gefühle anspricht.
2. Die Mitglieder der wahren Beschneidung »rühmen« sich »in Christus Jesus«. Er allein ist der Grund all ihres Ruhms. Sie sind nicht stolz auf persönliche Erfolge, auf ihren kulturellen Hintergrund oder auf ihre Treue zum Sakrament.
3. Sie »vertrauen … nicht auf Fleisch«. Sie sind nicht der Ansicht, dass sie durch ihre fleischlichen Bemühungen errettet werden oder dass diese Bemühungen sie im Glauben erhalten könnten. Sie erwarten von ihrer Natur des alten Adam nichts Gutes und sind deshalb auch nicht enttäuscht, wenn sie nichts Gutes vorfinden! VI. Was Paulus als Jude um Christi willen alles aufgegeben hat (3,4-14)
3,4 Als Paulus daran dachte, wie diese Männer sich ihrer fleischlichen Vorteile und Erfolge rühmten, umspielte zweifellos ein Lächeln seine Lippen. Wenn sie sich rühmen konnten, dann konnte er es »noch mehr«. In den nächsten zwei Versen zeigt er uns, in welch erstaunlichem Maße er all diese natürlichen Ziele erreicht hatte, deren sich der Mensch normalerweise rühmt. »Er hat wohl beinahe alle Vorzüge der gehobenen Schichten vorweisen können, die die Träume der Menschen bewegen und ihren Ehrgeiz entfachen.«
Über diese beiden Verse hat Arnot gesagt: »Hier wird das gesamte Inventar des selbstsüchtigen Pharisäers begutachtet. Paulus freut sich, diese schmutzigen Lumpen vorzuzeigen und sie offen bloßzustellen.«
Sie werden feststellen, dass Paulus Folgendes erwähnt: den Stolz auf seine Vorfahren  (V. 5a),  den  Stolz  der  Rechtgläubigkeit (V. 5b), den Stolz auf seine Taten (V. 6a) und den Stolz auf seine moralische Einstellung (V. 6b).
3,5 Hier ist sie nun, die Liste der natürlichen und fleischlichen Vorzüge des Paulus:
»Beschnitten am achten Tag« – er war Jude von Geburt, kein Ismaelit oder Proselyt.
»Vom Geschlecht Israel« – ein Glied des auserwählten Volkes Gottes auf Erden.
»Vom Stamm Benjamin« – ein angesehener Stamm, der zumindest zeitweise eine Führungsstellung innehatte (Ri 5,14). Es war derjenige Stamm, dem der erste König Israels entstammte. »Hebräer von Hebräern« – er gehörte zu dem Teil des Volkes, der an seiner ursprünglichen Sprache, seinen Sitten und Gebräuchen festgehalten hatte. »Dem Gesetz nach ein Pharisäer« – die Pharisäer blieben der herkömmlichen Lehre verhaftet, während die Sadduzäer u. a. die Lehre von der Auferstehung fallen gelassen hatten.
3,6 »Dem Eifer nach ein Verfolger der Gemeinde« – Paulus war ehrlich überzeugt, dass er Gottes Willen tat, als er versuchte, die »Sekte« der Christen auszulöschen. Er sah in ihr eine Gefahr für seine eigene Religion und musste sie deshalb bekämpfen.
»Der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist, untadelig geworden« – das kann nicht bedeuten, dass Paulus das Gesetz völlig gehalten hat. Er bekennt in Römer 7,9.10, dass dies nicht der Fall gewesen ist. Er nennt sich »untadelig«, nicht jedoch sündlos. Wir können nur daraus schließen, dass Paulus, wenn er ein Gesetz verletzt hatte, streng darauf achtete, das entsprechende Opfer zu bringen. Mit anderen Worten, er hatte versucht, die Regeln des Judentums bis auf das i-Tüpfelchen zu halten.
Deshalb war Saulus von Tarsus von seiner Geburt, seinem Stammbaum, seiner Haltung als Rechtgläubiger, seinem Eifer und seiner persönlichen Gerechtigkeit her ein überragender Mann gewesen.
3,7 Doch an diesem Punkt sagt uns Paulus, was ihm das heute noch wert ist. Er zeigt uns seine persönliche »Gewinn- und Verlustrechnung«. Auf der einen Seite führt er die eben erwähnten Eigenschaften auf, die Dinge, die ihm einst »Gewinn« waren. Auf der anderen Seite führt er das eine Wort »Christus« auf. Alles andere ist so gut wie wertlos, wenn man es mit den Schätzen vergleicht, die er in Christus gefunden hat. Er achtete das alles »um Christi willen für Verlust«. Guy King schreibt: »Aller finanzielle Gewinn, alle materiellen Reichtümer, alle leiblichen Vorzüge, alle intellektuellen Vorteile, alle moralische Vortrefflichkeit, alle gottesdienstlichen Vorrechte – all dies ist kein Gewinn, wenn man es mit dem einen großen Gewinn vergleicht.«14 Solange er auf diese Dinge vertraute, konnte er niemals gerettet werden. Als er dann gerettet war, waren sie nicht länger von Bedeutung, denn er hatte die Herrlichkeit des Herrn gesehen, und davon wurde alle irdische Herrlichkeit überstrahlt.
3,8 Als Paulus Christus um seine Errettung bat, hatte Paulus »alles« verlassen und wertete alle seine Erfolge und Vorzüge als wertlos gegenüber »der unübertrefflichen Größe der Erkenntnis Christi Jesu«, seines »Herrn«. »Die unübertreff liche Größe der Erkenntnis« ist eine hebrä ische Ausdrucksweise für »hervorragende Weisheit« oder »überaus wertvolles Wissen«.
Herkunft, Nationalität, Kultur, Ansehen, Ausbildung, Religion, persönliche Erfolge – all das ließ der Apostel als Grund seines Ruhms beiseite. Er betrachtete all dies sogar als »Dreck« oder »Kot« (LU 1912), damit er »Christus gewinnen« konnte.
Obwohl in diesem und dem folgenden Vers die Gegenwart als Zeitform gewählt ist, spricht Paulus hier in erster Linie von der Zeit seiner Bekehrung. Um »Christus« zu »gewinnen«, hatte er allem den Rücken gekehrt, dessen Wertschätzung ihm anerzogen worden war. Wenn er »Christus gewinnen« wollte, dann musste er der Religion seiner Eltern, seinem Erbe und seinen persönlichen Errungenschaften absagen.
Und das tat er! Er löste seine Bande zum Judentum völlig, das ihm bisher die Hoffnung auf die Erlösung geboten hatte. Als er das tat, haben ihn seine Verwandten enterbt, seine früheren Freunde verlassen und seine Landsleute verfolgt. Er erlitt wörtlich den »Verlust« all dessen, als er Christi wurde.
Weil in Vers 8 die Gegenwartsform verwendet wird, sieht es so aus, als ob Paulus immer noch »Christus« zu »gewinnen« suche. Natürlich hatte er Christus schon gewonnen, als er ihn als Herrn und Erretter annahm. Die Gegenwartsform ist hier gewählt, um zu zeigen, dass dies noch immer seine Haltung ist: Nach wie vor sieht er alles andere als »Dreck« an, wenn er es mit dem Wert Jesu Christi vergleicht. Das große Verlangen seines Herzens ist: »Christus soll mein Gewinn sein.« Kein Gold, kein Silber, keine religiöse Anerkennung, sondern Christus.
3,9 »… und in ihm erfunden werde.« Hier klingt es wieder so, als ob Paulus sich immer noch bemühen müsse, in Christus »erfunden« zu werden. Tats ache ist jedoch, dass er immer noch auf die außero rdentliche Entscheidung zurückblickt, die er zu treffen hatte, als er noch nicht errettet war. War er gewillt, seine eigenen Versuche aufzugeben, sich das Heil zu verdienen, um nur noch Christus zu vertrauen? Er hatte seine Wahl getroffen. Er hatte alles andere aufgegeben, damit er in Christus »erfunden« werden könnte. Sobald er an den Herrn Jesus glaubte, hatte er vor Gott eine neue Stellung. Er war nicht mehr Kind des sündigen Adam, sondern in Christus, und konnte alle Vorrechte genießen, die der Herr Jesus bei Gott dem Vater genießt.
Ebenso hatte er die schmutzigen Lumpen seiner eigenen Selbstgerechtigkeit abgelegt, die er zu gewinnen suchte, indem er das Gesetz hielt. Vielmehr hatte er die »Gerechtigkeit aus Gott« gewählt, die jedem gewährt wird, der den Heiland annimmt. »Gerechtigkeit« wird hier als Kleid oder Gewand bezeichnet. Der Mensch braucht Gerechtigkeit, um vor Gott bestehen zu können. Doch der Mensch kann diese Gerechtigkeit nie selbst hervorbringen. Deshalb gibt Gott in seiner Gnade dem Menschen die »Gerechtigkeit aus Gott«, denen, die seinen Sohn als Herrn und Heiland annehmen. »Den, der Sünde nicht kannte, hat er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm« (2. Kor 5,21). Und wieder möchten wir betonen, dass die Verse 8 und 9 nicht andeuten wollen, Paulus hätte zu dem Zeitpunkt, als er schrieb, die Gerechtigkeit Gottes noch nicht erlangt. Im Gegenteil, sie wurde sein Besitz, als er sich auf der Straße nach Damaskus bekehrte. Die Gegenwartsform soll hier lediglich andeuten, dass die Folgen dieses wichtigen Ereignisses bis zur Gegenwart anhielten und Paulus Christus noch immer für weitaus wertvoller hielt als alles, was er aufgegeben hatte.
3,10 Wenn wir diesen Vers lesen, kommen wir zu einer der höchsten Gefühlsregungen des Apostels. F. B. Meyer nennt sie »die Sehnsucht der Seele nach dem persönlichen Christus«.
Meistens wird dieser Abschnitt »vergeistlicht« gesehen. Damit meint man, dass man die Worte »Leiden, Tod und Auferstehung« nicht wörtlich nehmen müsse. Sie würden vielmehr verschiedene geistliche Erfahrungen bezeichnen, wie geistliches Leiden, den Tod des Ichs, das Führen eines Auferstehungsl ebens usw. Wir wollen jedoch darauf hinweisen, dass dieser Abschnitt auch wörtlich zu nehmen ist. Paulus sagt, er wolle leben, wie Christus gelebt hat. Litt Jesus? Dann möchte Paulus dies auch. Starb Jesus? Dann möchte Paulus auch als Märtyrer im Dienst für Christus sterben. Erstand Jesus aus den Toten? Dann möchte Paulus das ebenfalls. Er erkannte, dass der Knecht nicht höher ist als der Meister. Deshalb wollte er Christus in sein »Leiden«, seinen »Tod« und seine »Auferstehung« hinein folgen. Er ist nicht der Auffassung, dass alle diese Haltung einnehmen sollen, doch für ihn gab es keinen anderen Weg.
»… um ihn … zu erkennen«. »Ihn erkennen« bedeutet, eine praktische, tägliche Gemeinschaft mit Christus zu haben. Paulus lernte ihn dabei auf derart innige Weise kennen, dass er selbst Christus immer ähnlicher wurde. Er möchte, dass sich das Leben Christi in ihm und seinem Leben wiederfindet. »… und die Kraft seiner Auferstehung.« Die »Kraft«, die den Herrn aus den Toten auferweckt hat, wird in der Schrift als die größte Macht bezeichnet, die das Universum je gesehen hat (Eph 1,19.20). Es schien so, als ob alle Mächte des Bösen entschlossen waren, den Leib im Grab zu halten. Doch Gottes große Macht besiegte dieses höllische Heer, indem er den Herrn Jesus am dritten Tag aus den Toten auferweckte. Dieselbe »Kraft« steht allen Gläubigen zur Verfügung (Eph 1,19), damit sie sich diese im Glauben zu eigen machen. Paulus drückt nun seinen Wunsch aus, diese Kraft in seinem Leben und Zeugnis zu erfahren.
»… und die Gemeinschaft seiner Leiden.« Es braucht göttliche Kraft, um für Christus leiden zu können. Deshalb steht hier die »Kraft seiner Auferstehung« vor der »Gemeinschaft seiner Leiden«. Im Leben des Herrn kam zuerst das Leiden, dann die Herrlichkeit. Genauso musste es im Leben des Paulus sein. Er musste die »Leiden« Christi teilen. Er erkannte, dass seine Leiden keine Erlösungskraft hatten wie im Fall des Herrn, aber er wusste auch, dass es äußerst inkonsequent für ihn gewesen wäre, in Luxus und Bequemlichkeit in einer Welt zu leben, in der sein Herr verworfen, geschlagen und gekreuzigt wurde. Jowett kommentiert: »Er war nicht damit zufrieden, nur den Triumph des Ölbergs mit ihm zu teilen, er wollte auch etwas von den Leiden, der Kälte und der Einsamkeit Gethsemanes erfahren.«15 »Seinem Tod gleichgestaltet werden«. Wie schon weiter oben angedeutet, wird das normalerweise so erklärt, dass Paulus ein gekreuzigtes Leben führen wollte, praktisch der Sünde, dem Ich und der Welt abgestorben. Doch wir sind der Ansicht, dass eine solche Auslegung dem Abschnitt viel von seiner schockierenden Wirkung nimmt. Natürlich ist dies damit auch gemeint, aber es bedeutet noch viel mehr. Paulus war ein hingegebener Nachfolger des Einen, der am Kreuz von Golgatha gestorben war. Nicht nur das, sondern er war auch zugegen, als der erste Märtyrer der christlichen Gemeinde starb; er war sogar an der Seite derer, die ihn umbrachten! Wir glauben, dass Paulus sich wirklich wünschte, sein Leben auf dieselbe Weise zu beenden. Vielleicht hätte er sich geschämt, Stephanus im Himmel begegnen zu müssen und auf einem bequemeren Weg als dieser dort angekommen zu sein. Jowett stimmt dem zu: Viele Christen geben sich mit Bemühungen zufrieden, die nicht zu »Blutvergießen« führen. Sie geben, was sie ohne Probleme entbehren können. Ihre Gaben sind abgelegte Dinge, und wenn sie diese weggeben, so können sie dies allemal verschmerzen. Sie nehmen am Opfer teil, solange es das Leben nicht mit einbezieht. Wenn es um wirklich Wichtiges geht, so sind sie unauffindbar. Sie sind die Ersten, die einen Sieg feiern, und sie geben willig ein wenig Geld für farbige Dekorationen – für Plakate und Palmzweige, doch wenn das »Hurra« und »Hosianna« in drohendes Gemurmel umschlägt und Golgatha in Sicht kommt, dann stehlen sie sich heimlich davon.16
Doch hier haben wir einen Apos tel, der voller Freude diesem hohen und wichtigen Anspruch entgegensieht. Er ist fast ungeduldig, sein eigenes Blut im Dienste des Reiches Gottes vergossen zu sehen. Er ist völlig bereit, wenn es nötig sein sollte, sein Blut zu vergießen! In ähnlichem Sinne schrieb Hudson Taylor:
Es ist unbedingt notwendig, dass wir uns selbst für das Leben der Welt hingeben … Zum Fruchttragen gehört das Kreuztragen. »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein.« Wir wissen, wie der Herr Jesus Frucht brachte – nicht nur, indem er sein Kreuz trug, sondern auch, indem er daran starb. Wie viel wissen wir von der Gemeinschaft in diesem Tod? Es gibt keine zwei Christusse: nicht einen für leichtlebige Christen bestimmten Christus, der Behaglichkeit und Bequemlichkeit kannte und einen leidenden Christus für außergewöhnliche Gläubige. Es gibt nur einen Christus. Sind wir gewillt, in ihm zu bleiben und so Frucht zu bringen?17
Schließlich sagt C. A. Coates dazu: Die Erkenntnis Christi in Herrlichkeit war das wichtigste Ziel des Paulus, und dieses Ziel konnte nicht erreicht werden, ohne dass in ihm das starke Verlangen entstand, ihn an dem Ort einzuholen, wo er war. Von daher wendet sich eine Seele, die sich nach ihm sehnt, instinktiv dem Pfad zu, auf dem er diesen Ort der Herrlichkeit erreicht hat. Er sehnt sich danach, diese Herrlichkeit auf dem Pfad zu erreichen, den auch Christus beschritten hat. Das Herz fragt: »Wie kam er in diese Herrlichkeit? Durch Auferstehung? Doch gingen der Auferstehung nicht Leid und Tod voran?« Und dann fügt das Herz hinzu: »Nichts würde mich zufriedener machen, als ihn auch in seiner Auferstehungsherrlichkeit zu erreichen, und zwar auf demselben Weg, den er dorthin gegangen ist.« Das ist der Geist der Märtyrer. Paulus wollte als Märtyrer den Pfad des Leidens und des Todes gehen, damit er die Auferstehung und die Herrlichkeit auf demselben Pfad erreichte wie sein geliebter Heiland, der sein Herz gewonnen hatte.18
3,11 Hier werden wir wieder mit einem Auslegungsproblem konfrontiert. Sollen wir diesen Vers wörtlich vers tehen, oder sollen wir ihn vergeistlichen? Verschiedene Erklärungen sind geboten worden, davon sind die wichtigsten: 1. Paulus war sich nicht sicher, ob er aus den Toten auferweckt werden würde. Deshalb unternahm er alle Anstrengungen, um seine Teilnahme an der Auferstehung sicherzustellen. Solch eine Ansicht ist jedoch völlig unsinnig. Paulus lehrte immer, dass man die Auferstehung als Geschenk und nicht als Ergebnis der eigenen Anstrengungen erhält. Außerdem schreibt er in 2. Korinther 5,1-8, dass er sicher sei, an der Auferstehung teilzuhaben. 2. Paulus spricht hier nicht von einer leiblichen Auferstehung, sondern von seinem Verlangen, ein Auferstehungsleben zu führen, während er noch hier auf Erden war. Wohl die meisten Exegeten sind dieser Ansicht. 3. Paulus spricht von der leiblichen Auferstehung, doch er will hier keinen Zweifel an seiner eigenen Auferstehung ausdrücken. Er sagte vielmehr, dass er sich um die Leiden nicht kümmerte, die vor ihm auf dem Weg zur Auferstehung liegen würden. Er war bereit, durch schwere Versuchungen und Verfolgungen zu gehen, wenn diese zwischen seiner Gegenwart und seiner zukünftigen Auferstehung liegen sollten. Der Ausdruck »irgendwie« muss nicht notwendigerweise einen Zweifel beinhalten (s. Apg 27,12; Röm 1,10;11,14). Vielmehr umfasst er das große Verlangen oder die Erwartung, die nicht die Kosten berechnet.
Wir halten die dritte Auslegung für richtig. Der Apostel wollte Christus gleichgestaltet werden. Weil Christus gelitten hatte, gestorben und aus den Toten auferweckt worden war, wollte Paulus nicht mehr und nicht weniger für sich selbst. Wir fürchten, dass unser Verlangen nach Komfort, Luxus und Bequemlichkeit uns dazu bringt, die Durchschlagskraft solcher Bibelverse ein wenig zu vermindern. Wäre es nicht sicherer, sie solange für bare Münze zu nehmen (und damit wörtlich zu verstehen), solange wir nicht sicher sein können, dass eine wörtliche Auslegung im Widerspruch zur restlichen Bibel steht?
Ehe wir diesen Vers hinter uns lassen, sollten wir anmerken, dass Paulus hier von der »Auferstehung aus den Toten« spricht. Damit ist nicht die Auferstehung aller Toten gemeint. Hier wird vielmehr eine »Auferstehung« beschrieben, bei der einige auferweckt werden, andere jedoch im Grab bleiben. Anhand von 1. Thessalonicher 4,13-18 und 1. Korinther 15,51-57 wissen wir, dass die Gläubigen beim Kommen Christi auferweckt werden (einige bei der Entrückung, andere erst am Ende der Drangsalszeit), doch der Rest der Toten wird erst am Ende des Tausendjährigen Reiches Christi auf Erden auferweckt (vgl. Offb 20,5).
3,12 Der Apostel war nicht der Ansicht, dass er schon »vollendet« sei. »Vollendet« bezieht sich damit nicht auf die Auferstehung im vorigen Vers, sondern auf das Gesamtthema der Ähnlichkeit mit Christus. Er war nicht der Ansicht, dass man einen Zustand der Sündlosigkeit bzw. einen Zustand im Leben erreichen könnte, wo man keine weiteren Fortschritt mehr machen kann. Er erkannte, dass »Zufriedenheit das Grab des Fortschritts« ist.
So arbeitete er weiter, damit das Ziel erfüllt werden konnte, zu dem ihn der Herr Jesus erlöst hatte. Der Apostel war auf der Straße nach Damaskus von »Christus Jesus ergriffen« worden. Was war der Zweck dieser außerordentlichen Begegnung? Paulus sollte zu einem Vorbild für die Gläubigen werden, damit Gott an ihm beweisen konnte, was er an einem Menschenleben tun kann. Er war noch nicht völlig in das Bild Christi verwandelt worden. Der Prozess dauerte noch an, und Paulus war es ein wichtiges Anliegen, dass dieses Werk Gottes weitergehen und vertieft würde.
3,13 Dieser Mann, der gelernt hatte, sich mit allen materiellen Umständen zufriedenzugeben, in denen er sich gerade befinden mochte (4,11), konnte niemals mit seinen geistlichen Errungenschaften zufrieden sein. Er dachte nicht, »es« schon »ergriffen« zu haben. Er war noch nicht »angekommen«, wie wir es heute sagen würden. Doch was tat er dann? »Eines aber tue ich.« Er war ein Mann, der nur ein einziges Ziel hatte, eine Leidenschaft. Darin ähnelt er David, der sagte: »Eines habe ich vom Herrn erbeten.«
»Vergessen, was dahinten … ist«. Damit sind nicht nur seine Sünden und Verfehlungen, sondern auch seine natürlichen Vorrechte, Errungenschaften und seine in diesem Kapitel bereits besprochenen Erfolge und sogar seine geistlichen Siege gemeint.
»… strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist«: nämlich nach den Vorrechten und der Verantwortung eines christlichen Lebens, ob es nun um das Lob Gottes, den Dienst in seinem Werk oder die Entfaltung der christlichen Wesensart in seinem Leben geht.
3,14 Paulus sah sich selbst als einen Teilnehmer an einem Rennen. Er beschreibt sich, wie er jede Mühe in seinem Lauf »auf das Ziel zu« auf sich nimmt, »hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus«. Das Ziel ist die Ziellinie am Ende der Rennbahn. Der Preis ist die Medaille des Siegers. Hier ist das Ziel also das Ende unseres irdischen Lebens und vielleicht noch genauer der Richterstuhl Christi. Der Preis ist die Krone der Gerechtigkeit, die Paulus an anderer Stelle als Belohnung für diejenigen beschreibt, die gut gelaufen sind (2. Tim 4,8). Die »Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus« beinhaltet alle Ziele, die Gott mit uns hatte, als er uns errettete. Dazu gehört die Erlösung, das Umgestaltetwerden in das Bild Christi, die gemeinsame Erbschaft mit Christus, eine Heimat im Himmel und weitere unzählbare geistliche Segnungen.
VII. Ermahnung zum himmlischen Wandel nach dem Beispiel des Apostels
3,15 »So viele nun vollkommen sind«. Sie sollten die Bereitschaft des Paulus teilen, für Christus zu leiden und zu sterben und alle Bemühungen nur für das Ziel einzusetzen, Christus ähnlicher zu werden. Das ist die Sicht des reifen Christen. Manche würden es extrem, radikal oder fanatisch nennen. Doch nach den hier befindlichen Worten des Apostels werden diejenigen, die reif sind, erkennen, dass dies die einzige normale, logische und vernünftige Reaktion auf das Werk Dessen ist, der sein Leben für sie auf Golgatha hingegeben hat.
»Und wenn ihr in irgendetwas anders denkt, so wird euch Gott auch dies offenbaren.« Paulus erkennt, dass nicht alle einer solch »gefährlichen Philosophie« zustimmen werden. Aber er vertraut darauf, dass Gott es demjenigen »offenbaren« wird, der wirklich die Wahrheit in diesem Punkt wissen möchte. Der Grund, warum wir heute eine so leichtlebige, selbstzufriedene Christenheit haben, liegt darin, dass wir die Wahrheit nicht wissen wollen. Wir sind nicht bereit, den Anforderungen eines christlichen Glaubens zu gehorchen, der seiner Bestimmung gerecht wird. »Gott« ist bereit, denen die Wahrheit zu zeigen, die gewillt sind, ihr auch zu folgen.
3,16 Dann fügt der Apostel hinzu, dass wir in der Zwischenzeit dem Licht entsprechend leben sollen, das Gott uns schon gegeben hat. Es reicht nicht aus, einfach nur zu warten, bis wir eine umfassendere Erkenntnis dessen besitzen, was von uns als Christen verlangt wird. Wir warten auf den Herrn, damit er uns alle Auswirkungen des Kreuzes offenbart. Währenddessen sollten wir gehorchen – egal, wie viel uns von der Wahrheit bisher offenbart ist.
3,17 Nun wendet sich Paulus der Ermahnung zu, indem er die Philipper zunächst ermutigt, Nachfolger oder »Nachahmer« von ihm zu werden. Es spricht für sein vorbildliches Leben, dass er überhaupt so schreiben konnte. Wir hören oft die nur halb ernst gemeinte Bemerkung: »Tue, was ich sage, aber nicht, was ich tue.« Das gilt für den Apostel nicht! Er konnte sein eigenes Leben als Beispiel für ganzherzige Hingabe an die Sache Christi hochhalten.
Lehman Strauss kommentiert: Paulus war der Ansicht, dass er Gnade von Gott empfangen hatte, damit er ein »Vorbild« sein konnte. So war sein ganzes Leben nach seiner Bekehrung hingegeben, um anderen zu zeigen, wie ein Christ leben sollte. Gott errettete Paulus, damit diese Bekehrung beispielhaften Charakter für uns gewinnt: Gott wollte seine Bereitschaft zeigen, das, was Jesus Christus an Paulus getan hat, auch an anderen Menschen zu tun. War das nicht auch das besondere Ziel unseres Herrn, als er mir und Ihnen seine Gnade zueignete? Ich glaube, dass er uns errettet hat, damit wir für alle zukünftigen Gläubigen ein Beispiel sind. Dienen wir als Beispiel für diejenigen, die durch seine Gnade gerettet sind? Dass es doch so sein möge!19
»Und seht auf die, welche so wandeln, wie ihr uns zum Vorbild habt.« Das bezieht sich auf alle anderen Christen, die ein dem Paulus ähnliches Leben führten. Es geht nicht darum, sie missbilligend hera uszustellen, wie dies bei den im nächsten Vers Erwähnten der Fall ist. Vielmehr sollten die Philipper sie beobachten mit dem Ziel, ihren Fußstapfen zu folgen.
3,18 So wie Vers 17 beschreibt, wem Gläubige nachfolgen sollten, beschreibt dieser Vers wem wir nicht folgen sollten. Der Apostel beschreibt diese Menschen nicht näher. Ob es sich bei ihnen um die jüdischen Irrlehrer handelte, die er zu Beginn von Kapitel 3 schon beschrieben hat, oder um sogenannte »christliche Lehrer«, die sich dem Liberalismus verschrieben hatten und die Gnade als Entschuldigung ihres Sündenlebens missbrauchten, sagt er uns nicht genau. Paulus hat die Heiligen schon vorher vor diesen Männern gewarnt, und er tut es nicht ohne »Weinen«. Aber warum vergießt er Tränen mitten in einer solchen Anklage? Weil diese Männer solchen Schaden in den Gemeinden Gottes anrichteten. Weil sie das Leben vieler Menschen ruinierten. Wegen der Schande, die sie über den Namen Christi brachten. Weil sie die wahre Bedeutung des Kreuzes Christi verschleierten. Ja, und auch, weil echte Liebe selbst dann noch weint, wenn sie die »Feinde des Kreuzes Christi« bloßstellen muss, so wie der Herr Jesus über die Mörderstadt Jerusalem weinte.
3,19 Diese Menschen waren zum ewigen Verderben bestimmt. Das bedeutet nicht, dass sie »vernichtet« werden. Vielmehr ist damit gemeint, dass sie dem ewigen Gericht Gottes im Feuersee entgegengehen.
Ihr »Gott« war »der Bauch«. All ihre Handlungen, sogar ihr sogenannter »Dienst für Gott«, waren auf Essen (und wahrscheinlich Trinken) ausgerichtet, um ihre leibliche Gier zu befriedigen. F. B. Meyer beschreibt diese Männer mit Scharfblick: »Es gibt in ihrem Leben im Grunde keine Orte, wo Gläubige zusammenkommen, sondern nur Orte, wo getafelt wird.«
Ihre »Ehre« lag »in ihrer Schande«. Sie rühmten sich genau dessen, dessen sie sich hätten schämen sollen – ihrer Blöße und ihres unmoralischen Handelns. Sie beschäftigten sich nur mit dem »Irdischen«. Was bei ihnen zählte, war Essen, Kleidung, Ehre, Bequemlichkeit und Vergnügen. Ewiges oder Himmlisches konnte sie nicht bei ihrem Wühlen im Dreck dieser Welt stören. Sie handelten, als ob sie ewig auf dieser Erde leben könnten.
3,20 Der Apostel stellt nun die Lebensweise eines echten Gläubigen dieser Haltung gegenüber.
Zu der Zeit, als der Brief geschrieben wurde, war Philippi eine römische Kolonie (Apg 16,12). Die Philipper waren römische Bürger und genossen den Schutz sowie die Vorrechte Roms. Doch sie waren auch Bürger ihres Ortes. Vor diesem Hintergrund erinnert der Apostel die Gläubigen daran, dass »ihr Bürgerrecht … in den Himmeln« ist. Moffatt übersetzt hier: »Wir sind eine Kolonie des Himmels.«
Das bedeutet nicht, dass Christen nicht auch Bürger ihrer irdischen Nation wären. Andere Schriftstellen lehren eindeutig, dass wir der Obrigkeit untertan sein sollen, weil sie von Gott eingesetzt ist (Röm 13,1-7). So sollten Gläubige der Obrigkeit in allem gehorchen, außer in den Fällen, wo ein obrigkeitliches Gebot dem Willen Gottes widerspricht. Die Philipper schuldeten den Behörden vor Ort ebenso Gehorsam wie dem Kaiser in Rom. Daher haben Gläubige Pflichten gegenüber irdischen Obrigkeiten, aber in erster Linie sollten sie dem Herrn im Himmel treu sein.
Wir sind nicht nur Bürger des Himmels, sondern wir »erwarten … auch den Herrn Jesus Christus als Heiland« vom Himmel her. Für »erwarten« steht im Original ein sehr starker Ausdruck, um die ernsthafte Erwartung eines Ereignisses auszudrücken, von dem man glaubt, dass es bald bevorsteht. Es bedeutet wörtlich »den Kopf erheben und den Hals recken, eifrig bemüht, etwas zu sehen oder zu hören«.
3,21 Wenn der Herr Jesus vom Himmel herabkommen wird, dann wird er unsere Leiber verwandeln. Am menschlichen Leib ist an sich nichts Böses oder Niedriges. Das Böse liegt in der falschen Verwendung unseres Leibes. Doch es handelt sich um einen »Leib der Niedrigkeit«, einen Leib der Demütigung. Er wird irgendwann Falten und Narben bekommen, er wird altern, leiden, von Krankheiten befallen werden und eines Tages sterben. Er begrenzt uns und engt uns ein!
Der Herr wird ihn in einen »Leib der Herrlichkeit … umgestalten«. Wir kennen nicht das volle Ausmaß der Bedeutung dieses Satzes. Der Herrlichkeitsleib wird jedenfalls nicht mehr dem Verfall und dem Tod preisgegeben sein, auch werden die Beschränkungen von Raum und Zeit für ihn nicht mehr gelten. Es wird ein echter Leib sein, der jedoch den Bedingungen im Himmel erstklassig angepasst sein wird. Er wird dem Auferstehungsleib des Herrn Jesus gleichen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass wir alle gleich aussehen werden. Jesus war nach seiner Auferstehung noch immer zu erkennen, und zweifellos wird jeder von uns in der Ewigkeit seine persönlichen Charakterzüge weiter behalten. Auch lehrt dieser Abschnitt nicht, dass wir dem Herrn Jesus in seiner Göttlichkeit gleich sein werden. Wir werden nie allwissend oder allmächtig sein, auch werden wir nicht allgegenwärtig sein. Doch wir werden in moralischer Hinsicht wie der Herr Jesus, d. h. für immer frei von der Sünde, sein. Dieser Abschnitt befriedigt nicht unsere Neugier, aber er reicht aus, um uns Zuspruch zu vermitteln und unsere Hoffnung anzuregen. »… nach der wirksamen Kraft, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen.« Die Umgestaltung unseres Leibes wird durch dieselbe göttliche Kraft bewirkt werden, die der Herr später einmal benutzen wird, um »alle Dinge sich zu unterwerfen«. Er kann »retten« (Hebr 7,25). Er kann »helfen« (Hebr 2,18). Er kann »erhalten« (Judas 24). Und nun erfahren wir in diesem Vers, dass er »alle Dinge sich unterwerfen« kann. »Ja, dieser ist Gott, unser Gott für immer und ewig! Er wird uns leiten« (Ps 48,15). VIII. Ermahnung zu Einmütigkeit, gegenseitiger Unterstützung, Freude, Vergebung, Gebet und einem disziplinierten Gedankenleben (4,1-9)
4,1 Auf der Grundlage der wundervollen Hoffnung, die der Apostel gerade im vorigen Vers den Gläubigen vorgestellt hat, ermahnt er sie nun, »im Herrn« festzustehen. Dieser Vers enthält mehrere liebevolle Bezeichnungen für die Gläubigen. Zunächst einmal nennt Paulus die Philipper seine »Brüder«. Aber nicht nur Brüder, sondern auch seine »geliebten … Brüder«. Und dann fügt er den Gedanken hinzu, dass er sich nach ihnen sehnt, weil er gern wieder mit ihnen zusammen wäre. Außerdem spricht er von ihnen als seiner »Freude« und seinem »Siegeskranz«. Zweifellos meint er, dass sie zu dieser Zeit seine Freude waren und vor dem Richterstuhl Christi sein »Siegeskranz« sein werden. Und dann schließt er den Satz mit der Bezeichnung »Geliebte«. Der Apostel liebte die Menschen wirklich, und zweifellos ist dies eines der Geheimnisse seines erfolgreichen Wirkens für den Herrn.
4,2 »Evodia« und »Syntyche« waren Frauen in der Gemeinde in Philippi, die Schwierigkeiten hatten, miteinander zurechtzukommen. Es wird hier nicht weiter beschrieben, welcher Art diese Schwierigkeiten waren (und wahrscheinlich ist das auch gut so!). Der Apostel verwendet zweimal das Wort »ermahnen«, um zu zeigen, dass er alle beide und nicht nur eine von beiden ermahnt. Paulus bittet sie, »dieselbe Gesinnung zu haben im Herrn«. Es ist für uns unmöglich, in allen Dingen des täglichen Lebens die gleiche Meinung zu haben. Soweit es aber die Angelegenheiten des »Herrn« betrifft, so sind wir imstande, unsere kleinlichen, persönlichen Streitereien beiseitezulegen, damit der Herr verherrlicht und sein Werk gefördert wird.
4,3 Es ist schon viel darüber spekuliert worden, wer wohl der »rechte Gefährte« (oder Jochgenosse20) gewesen ist, den Paulus in diesem Vers anspricht. Timotheus und Lukas sind beide vorgeschlagen worden, doch ist es wahrscheinlich Epaphroditus, von dem hier die Rede ist. Er wird ermahnt, den Frauen beizustehen, die mit Paulus »in dem Evangelium … gekämpft haben«. Wir nehmen an, dass die in diesem Vers erwähnten Frauen Evodia und Syntyche sind und der Apostel Paulus hier weitergibt, welche Erfahrung sich als guter Rat bewährt hat. Oftmals kann ein Streit zwischen zwei Leuten am einfachsten dadurch geschlichtet werden, dass man eine dritte Person hinzuzieht – jemanden mit reifer, geistlicher Urteilsfähigkeit. Es geht hier nicht darum, diesen Fall willkürlich zu behandeln und eine Entscheidung zu fällen, sondern darum, dass der Beratende in der Lage ist, die streitenden Parteien auf das Wort Gottes hinzuweisen und eine schriftgemäße Lösung aufzuzeigen.
Man sollte die hier befindlichen Worte (»die in dem Evangelium zusammen mit mir gekämpft haben«) besonders sorgfältig auslegen. Auch wenn wir unserer Fantasie die Zügel schießen lassen, kann das nicht bedeuten, dass die beiden gemeinsam mit dem Apostel Paulus das Evangelium predigten. Es gibt viele andere Arten, auf die Frauen »in dem Evangelium kämpfen« können: Sie können gastfreundlich die Diener Christi aufnehmen, Hausbesuche machen und jüngere Frauen sowie Kinder lehren. Man muss also keineswegs annehmen, dass es sich hier um einen öffentlichen Predigt- oder Lehrdienst handelt.
Ein weiterer Mitarbeiter namens »Klemens« wird hier erwähnt. Außer dieser Erwähnung ist weiter nichts über ihn bekannt. Dann erwähnt Paulus seine »übrigen Mitarbeiter, deren Namen im Buch des Lebens sind«. Er drückt auf liebevolle Art und Weise aus, wie für uns der Glaube an Christus und der Dienst für ihn mit ewigem und unaussprechlichem Segen verbunden ist.
4,4 Paulus wiederholt nun seine liebste Ermahnung, indem er sich an die gesamte Gemeinde wendet. Das Geheimnis seiner Ermahnungen findet sich in den Worten »im Herrn«. Ganz gleich, wie finster die Lebensumstände sein mögen, es ist für den Christen immer möglich, sich »im Herrn« zu freuen. Jowett teilt seine Erfahrungen hinsichtlich der christlichen Freude: Die christliche Freude ist eine Gemütslage, die von unseren unmittelbaren Umständen unabhängig ist. Wäre sie von unserer Umwelt abhängig, dann wäre sie so unsicher wie eine ungeschützte Kerze in einer stürmischen Nacht. Einen Augenblick lang brennt die Kerze klar und hell, und im nächsten Augenblick springt die Flamme bis ans Ende des Dochts, sodass sie wenig oder gar kein Licht mehr gibt. Doch die christliche Freude steht in keinerlei Beziehung zu den vergänglichen Lebensumständen, und deshalb wird sie auch nicht das Opfer dahineilender Tage. Zu bestimmten Zeiten sind meine Umstände wie ein sonniger Junitag, und schon wenig später wie ein trüber Novembertag. An einem Tag besuche ich eine Hochzeit, am nächsten kann ich schon an einem offenen Grab stehen. An einem Tag mag ich durch meinen Dienst für den Herrn zehn Bekehrte gewinnen, und dann wieder bekehrt sich tagelang niemand. Ja, unsere Tage sind so veränderlich wie das Wetter, und doch kann die christliche Freude beständig bleiben. Wo liegt das Geheimnis dieser herrlichen Beständigkeit? Es liegt hierin begründet: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage.« In allen sich wandelnden Tagen »ist er unwandelbar und ermüdet nicht«. Er ist kein Gefährte für die sonnigen Augenblicke des Lebens, der mich verlässt, wenn die Jahre dunkel und kalt werden. Er wählt nicht die Tage aus, wenn es mir gut geht und ich feiern kann, um mich zu verlassen, wenn ich arm bin und Niederlagen einstecken muss. Er zeigt sich nicht nur, wenn ich feierlich bekränzt bin, um sich zu verbergen, wenn ich den Dornenkranz trage. Er ist bei mir »alle Tage« – in den guten Tagen wie in den schlechten, an den Tagen, an denen das Totenglöcklein läutet, und an den Tagen, an denen Hochzeit gefeiert wird. »Alle Tage«. Er ist bei mir am Tag des Lebens, am Tag des Todes und am Tag des Gerichts.21
4,5 Paulus ermahnt die Philipper, ihre »Milde … allen Menschen bekannt werden« zu lassen. Hier wird auch mit »Hingabe«, »liebevolle Verlässlichkeit« und »Bereitschaft, den eigenen Weg aufzugeben«, übersetzt. Die Schwierigkeit besteht jedoch nicht so sehr darin, zu verstehen, was gemeint ist, sondern darin, der Vorschrift »allen Menschen« gerecht zu werden.
»Der Herr ist nahe« kann bedeuten, dass der Herr jetzt gegenwärtig ist, aber auch, dass das Kommen des Herrn nahe ist. Beide Deutungen sind möglich, doch wir bevorzugen die zweite Deutung.
4,6 Ist es einem Christen wirklich möglich, »um nichts besorgt« zu ein? Es ist solange möglich, wie wir das gläubige Gebet als Hilfsquelle haben. Der Rest des Verses erklärt nun, wie unser Leben von sündigen Sehnsüchten frei werden kann. Alles sollte dem Herrn im »Gebet« gebracht werden. »Alles« heißt wirklich alles. Es ist nichts zu groß oder zu klein für seine liebevolle Fürsorge. »Gebet« ist sowohl eine Handlung als auch eine Haltung. Wir kommen zu bestimmten Zeiten zum Herrn und bringen ihm bestimmte Anliegen. Doch es ist auch möglich, in einer Haltung des Gebets zu leben. Es ist möglich, dass unsere Lebenshaltung vom Gebet geprägt ist. Vielleicht steht das Wort Gebet in diesem Vers für das Wesen unseres Lebens, während »Flehen« für bestimmte »Anliegen« steht, die wir dem Herrn bringen.
Doch sollten wir weiter festhalten, dass unsere »Anliegen« Gott »mit Danksagung … kund werden« sollen. Jemand hat diesen Vers einmal zusammengefasst, indem er sagte, dass wir »uns um nichts sorgen sollen, immer im Gebet leben sollten und für alles dankbar sein sollten«.
4,7 Wenn diese Haltungen unser Leben bestimmen, dann wird »der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt«, unsere »Herzen und« unsere »Gedanken bewahren in Christus Jesus«. Der Friede Gottes ist das Empfinden heiliger Ruhe und Zufriedenheit, das die Seele des Gläubigen durchströmt, wenn er sich auf den Herrn stützt.
Wie ein Strom von oben
aus der Herrlichkeit
fließt der Friede Gottes durch das Land der Zeit. Tiefer, reicher, klarer
strömt er Tag und Nacht
mit unwiderstehlich
wunderbarer Macht.
Frances Ridley Havergal
Dieser »Friede … übersteigt … allen Verstand«. Die Weltmenschen können das nicht verstehen, und sogar Christen, die ihn besitzen, sehen darin ein wunderbares Geheimnis. Sie sind von ihrer eig enen Furchtlosigkeit angesichts von Tragödien oder hinderlichen Umständen erstaunt.
Dieser Friede bewacht das Herz und das Gedankenleben. Welch ein notwendiger Grundton ist er in unserer Zeit der Neurosen, der Nervenzusammenbrüche, der Beruhigungsmittel und der seelischen Not.
4,8 Nun gibt der Apostel noch einen abschließenden Rat zum Gedankenleben. Die gesamte Bibel lehrt uns, dass wir kontrollieren können, was wir denken. Es ist sinnlos, die Haltung eines Menschen einzunehmen, der bereits resigniert hat und behauptet, dass wir einfach nichts dafür können, wenn unser Geist mit unwillkommenen Gedanken erfüllt ist. Die Tatsache bleibt, dass wir etwas dafür können. Das Geheimnis liegt dari n, unsere Gedanken aktiv zu steuern. Man kann keine bösen Gedanken hegen und gleichzeitig an den Herrn Jesus denken. Wenn also jemand von bösen Gedanken gequält wird, sollte er sie so schnell wie möglich loswerden, indem er über die Person und das Werk Christi nachdenkt. Die einsichtigeren Psychologen und Psychoanalytiker unserer Tage sind sich mit Paulus in dieser Angelegenheit einig. Sie betonen die Gefahren negativen Denkens.
Man braucht nicht sehr genau hinzuschauen, um den Herrn Jesus Christus in Vers 8 zu entdecken. »Alles, was wahr, alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles, was rein, alles, was liebenswert, alles, was wohllautend ist, wenn es irgende ine Tugend und wenn es irgende in Lob gibt«, dann findet es sich in ihm. »Wahr« bedeutet hier das Gegenteil von unzuv erlässig, es bedeutet echt und wahrhaftig. »Ehrbar« bedeutet ehrlich oder moralisch anziehend. »Gerecht« be deutet rechtschaffen vor Gott und vor Menschen. »Rein« bezieht sich auf den hohen moralischen Maßstab im Leben eines Menschen. Mit »liebenswert« ist alles Bewunderungswürdige oder dasjenige gemeint, was man gern betrachtet bzw. bedenkt. Das Wort »wohllautend« ist auch so übersetzt worden, wie LU 1984 es wiedergibt (»was einen guten Ruf hat«). »Tugend« zeugt natürlich von moralischer Größe, und mit »Lob« wird alles bedacht, was empfehlenswert ist.
In Vers 7 hat Paulus den Heiligen versichert, dass Gott ihre Herzen und Gedanken in Christus bewahren würde. Doch er vergisst nicht, sie daran zu erinnern, dass auch sie in dieser Angelegenheit Verantwortung tragen. Gott wird das Gedankenleben eines Menschen, der dessen Reinhaltung nicht wünscht, nicht bewahren.
4,9 Und wieder weist der Apostel Paulus auf sein eigenes Vorbild hin. Er ermahnt die Gläubigen, das umzusetzen, was sie von ihm »gelernt und empfangen … und an« seinem Leben »gesehen« haben.
Die Tatsache, dass diese Ermahnung unmittelbar auf Vers 8 folgt, ist bedeutsam. Rechtes Leben ergibt sich aus rechtem Denken. Wenn das Gedankenleben eines Menschen rein ist, dann wird sein Leben auch rein sein. Wenn jemand dagegen ein Brunnen der Verderbnis ist, dann kann man sicher sein, dass der daraus hervorgehende Bach ebenso verdorben ist. Und wir sollten uns immer daran erinnern, dass jemand einem bösen Gedanken nur lange genug nachhängen muss, um ihn schließlich in die Tat umzusetzen. Denjenigen, die treu dem Beispiel des Apostels folgen, wird verheißen, dass »der Gott des Friedens« mit ihnen sein wird. In Vers 7 ist der Friede Gottes das Erbe derer, die im Gebet ausharren. Hier nun ist »der Gott des Friedens« der Begleiter derer, die ein geheiligtes Leben führen. Es geht hier darum, dass Gott den Menschen, deren Leben eine Verwirkl ichung der Wahrheit ist, durch gegenwärtige Erfahrungen ganz besonders nahe und vertraut wird. IX. Paulus’ Dank für die Gabe der Heiligen (4,10-20)
4,10 In den Versen 10-19 spricht Paulus von der Beziehung, die zwischen der Gemeinde in Philippi und ihm durch finanzielle Unterstützung entstand. Niemand kann jemals ausdrücken, wie bedeutungsvoll diese Verse für einzelne Heilige waren, die berufen waren, durch Zeiten finanzieller Engpässe und Widrigkeiten zu gehen!
Paulus freut sich, dass die Philipper ihm nach einiger Zeit »endlich einmal wieder« praktische Hilfe für seinen Dienst im Werk des Herrn gesandt haben. Er tadelt sie nicht für die Zeit, in der er nichts erhalten hat; er bezeugt ihnen ja, dass sie ihm Gaben senden wollten, aber »keine Gelegenheit« dazu hatten. Moffatt übersetzt: »Euch hat es nicht an Fürsorge gefehlt, sondern an Gelegenheit, diese zu erweisen.«
4,11 Es ist sehr schön zu sehen, wie taktvoll, liebevoll und höflich Paulus das Thema Geld behandelt. Er möchte nicht, dass sie denken, er beklage sich über mangelnde Geldmittel. Er möchte ihnen vielmehr zeigen, dass er von solchen materiellen Umständen völlig unabhängig ist. Er hatte es »gelernt«, sich »darin zu begnügen«, ganz gleich, wie seine finanzielle Situation sein mochte. Zufriedenheit ist wirklich besser als Reichtum, »denn wenn Zufriedenheit auch keinen Reichtum hervorbringt, so erreicht sie doch dasselbe Ziel, indem sie das Verlangen nach Reichtum beseitigt.« »Es ist ein wunderbares Geheimnis, wenn der Gläubige lernt, seinen Kopf hochzuhalten, auch wenn der Magen leer ist. Es ist wunderbar, wenn er angesichts leerer Taschen aufrecht gehen und ein frohes Herz behalten kann, auch wenn das Gehalt nicht gezahlt wurde. Wie schön, wenn er sich in Gott freuen kann, wo anderen der Glaube fehlt« (ohne Quellenangabe).
4,12 Paulus wusste, was es bedeutet, »erniedrigt  zu  sein«,  d. h.  nicht  einmal das Notwendigste zum Leben zu haben. Er wusste auch, wie es ist, »Überfluss zu haben«. Das bedeutet, dass ihm zu einer bestimmten Zeit mehr gegeben wurde, als seine unmittelbaren Bedürfnisse erforderten. »In jedes und in alles« war er »eingeweiht, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden«. Wie hatte der Apostel diese Lektion »gelernt«? Einfach so: Er war sich sicher, dass er im Willen Gottes lebte. Er wusste, dass er sich immer im göttlichen Auftrag bewegte, wo und in welchen Umständen er sich auch befinden mochte. Wenn er hungrig war, dann wollte Gott, dass er hungerte. Wenn er genug hatte, dann deshalb, weil sein Herr es so geplant hatte. Als eifrig und treu im Dienst seines Königs Beschäftigter konnte er sagen: »So sei es, Vater, denn so hat es dir gefallen.«
4,13 Dann fügt der Apostel die Worte hinzu, die für viele ein Rätsel sind: »Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.« Konnte er dies etwa wörtlich meinen? Glaubte der Apostel wirklich, dass er tun könne, was ihm nur einfiele? Die Antwort lautet: Wenn der Apostel Paulus sagte, dass er »alles« tun könne, dann meinte er »alles«, was dem Willen Gottes entsprach. Er hatte gelernt, dass die Aufträge Gottes gleichzeitig Befähigung sind. Er wusste, dass Gott ihn niemals berufen würde, eine Aufgabe zu lösen, ohne ihm die dazu notwendige Gnade zu schenken. »Alles« bezieht sich wahrscheinlich nicht auf waghalsige Leistungen, sondern auf große Entbehrungen und Hungerzeiten.
4,14 Trotz seiner vorhergehenden Worte möchte er deutlich machen, dass die Philipper »wohl daran getan« haben, dass sie an seiner »Bedrängnis teilgenommen« haben. Damit ist wahrscheinlich das Geld gemeint, das sie ihm sandten, damit er seinen Lebensunterhalt im Gefängnis damit bestreiten konnte.
4,15 In der Vergangenheit hatten sich die Philipper in der Gnadengabe des Gebens sehr hervorgetan. Als Paulus seinen Dienst in Europa begann und »aus Mazedonien wegging«, hatte ihn außer den Philippern »keine Gemeinde … am gegenseitigen Geben und Empfangen beteiligt«.
Es ist bemerkenswert, wie diese scheinbar unwichtigen Einzelheiten für immer in Gottes kostbarem Wort festgehalten sind. Das lehrt uns, dass das, was wir den Dienern des Herrn geben, letztlich dem Herrn gegeben wird. Gott ist an jedem Cent interessiert. Er zeichnet alles auf, was wir ihm geben, und er belohnt mit einem guten, gedrückten, gerüttelten und überlaufenden Maß.
4,16 »Sogar« als er »in Thessalonich war«, hatten die Philipper »nicht nur einmal, sondern zweimal für« seinen »Bedarf gesandt«. Es ist offensichtlich, dass die Philipper so eng mit dem Herrn lebten, dass er sie auch beim Geben leiten konnte. Der Herr legte ihrem Herzen eine Last für den Apostel Paulus auf. Sie reagierten darauf, indem sie ihm »zweimal« Geld sandten. Wenn wir uns daran erinnern, dass Paulus nur kurze Zeit in Thessalonich war, so lässt dies ihre Fürsorge für ihn umso bemerkenswerter werden.
4,17 Die ausgesprochene Selbstlosigkeit des Paulus wird aus diesem Vers deutlich. Er war über ihren geistlichen Fortschritt begeisterter als über ihre eigentliche »Gabe«. Größer als sein Bedürfnis nach finanzieller Hilfe war sein Sehnen, dass sich »Frucht … zugunsten« der »Rechnung« der Philipper mehren möge. Genau das passiert, wenn wir Gott unser Geld zur Verfügung stellen. Es wird in den Rechnungsbüchern vermerkt und an einem künftigen Tag hundertfältig zurückgezahlt.
All unser Eigentum gehört dem Herrn; wenn wir ihm also etwas geben, dann geben wir es ihm nur zurück. Christen, die darüber diskutieren, ob sie den Zehnten geben sollen oder nicht, haben nicht verstanden, worum es geht. Der Zehnte, d. h. der zehnte Teil des Einkommens, war für die Israeliten im Rahmen des Gesetzes die Mindestgabe. In unserem Zeitalter der Gnade sollte die Frage nicht lauten: »Wie viel soll ich dem Herrn geben?«, sondern: »Wie viel wage ich, für mich selbst zu behalten?« Es sollte das Verlangen des Christen sein, sparsam und aufopferungsvoll zu leben, um einen immer größeren Teil seines Einkommens in das Werk des Herrn zu investieren, damit nicht Menschen verlorengehen, weil sie das Evangelium Christi nicht gehört haben.
4,18 Wenn Paulus sagt: »Ich habe alles«  (Schl 2000),  dann  meint  er:  »Ich habe alles Notwendige und ›Überfluss‹«. Es scheint in unseren, vom Kommerz so bestimmten Tagen befremdend, von einem Diener des Herrn zu hören, der nicht um Geld bettelt, sondern im Gegenteil zugibt, dass er ausreichend hat. Die ung ezügelten Bettelkampagnen unserer Tage sind Gott ein Gräuel und eine Schmach für den Namen Christi. Sie sind völlig unnötig. Hudson Taylor hat einmal gesagt: »Dem Werk Gottes, das auf Gottes Weise getan wird, wird es nie an Gottes Reichtum mangeln.« Unser heutiges Problem besteht darin, dass wir nicht mehr unterscheiden zwischen dem Wirken für Gott und dem Werk Gottes. Es ist möglich, sich in sogenanntem christlichen Dienst zu engagieren und trotzdem nicht nach dem Willen Gottes zu handeln. Wo sehr viel Geld im Spiel ist, da besteht immer die Möglichkeit, dass Projekte in Angriff genommen werden, die nicht die göttliche Genehmigung erhalten haben. Zitieren wir nochmals Hudson Taylor: »Was wir zu fürchten haben, sind nicht leere Kassen, sondern zu viel ungeweihtes Geld.«
Die Liebesgabe, die »Epaphroditus« Paulus von den Philippern brachte, wird als »duftender Wohlgeruch«, als »ein angenehmes Opfer, Gott wohlg efällig« beschrieben. Sonst kommen diese Worte in dieser Kombination nur noch in Epheser 5,2 vor. Dort sind sie auf Christus selbst bezogen. Paulus würdigt die aufo pferungsvolle Gabe der Philipper, indem er beschreibt, was sie für Gott bedeutet. Sie stieg zu ihm wie ein wohlriechendes »Opfer« auf. Es war sowohl »angenehm« als auch »wohlgefällig«. Jowett ruft aus:
Wie groß sind doch die Auswirkungen von scheinbar unbedeutender Freundlichkeit! Wir dachten, dass wir einem Armen dienen, und in Wirklichkeit unterhielten wir uns mit dem König. Wir stellten uns vor, dass der Duft auf unsere unmittelbare Nachbarschaft beschränkt sei, und siehe, der Wohlgeruch durchzieht das Universum. Wir dachten, wir hätten es nur mit Paulus zu tun, während wir entdecken, dass wir dem Herrn und Heiland des Paulus gedient haben.22
4,19 Nun fügt Paulus noch den bekanntesten und vielleicht den am meisten geliebten Vers dieses gesamten Kapitels an. Wir sollten festhalten, dass diese Verheißung auf die Beschreibung der treuen Haushalterschaft folgt. Mit anderen Worten, es geht um die Philipper, die ihre materiellen Güter Gott zur Verfügung gestellt hatten – sogar in einem Maße, der ihren eigenen Lebensunterhalt infrage stellte. Aufgrund dessen würde Gott »alles, was« sie bedürfen, zur Verfügung stellen. Wie einfach ist es, diesen Vers aus seinem Zusammenhang zu reißen und ihn als Ruhekissen für Christen zu missbrauchen, die ihr Geld für sich selbst ver- schwenden und nur selten einen Gedanken für das Werk des Herrn übrig haben! »Alles in Ordnung, Gott wird schon für alles sorgen.«
Es ist zwar allgemein richtig, dass Gott für die Bedürfnisse seines Volkes sorgt. Es handelt sich hier jedoch um die Verheißung, dass diejenigen, die in ihrem Geben für Christus treu und hingegeben sind, niemals Mangel leiden werden. Es ist oft angemerkt worden, dass Gott die Bedürfnisse seines Volkes nicht von seinem Reichtum bestreitet, sondern »nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus«. Wenn ein Millionär einem Kind einen Groschen gibt, dann gibt er von seinem Reichtum. Doch wenn er für eine gute Sache 100 000 Euro spendet, dann gibt er nach seinem Reichtum. Gott versorgt uns »nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus«, und nichts könnte dies übertreffen!
Williams nennt Vers 19 einen Scheck von der Glaubensbank:
»Mein Gott« – Name des Bankiers.
»Wird erfüllen« – die Zahlungsvereinbarung.
»Alles, was ihr bedürft« – der Wert des Schecks.
»Nach seinem Reichtum« – das Kapital der Bank.
»In Herrlichkeit« – der Sitz der Bank.
»In Christus Jesus« – die Unterschrift unter dem Scheck, ohne die der Scheck ungültig wäre. 23
4,20 Als der Apostel an Gottes überreiche Fürsorge denkt, bricht er in Lobpreis aus. Dies ist eine angemessene Sprache für jedes Kind Gottes, das täglich die gnädige Fürsorge Gottes erlebt – nicht nur darin, dass ihm materielle Dinge geschenkt werden. Vielmehr wird diese Fürsorge auch darin deutlich, dass es Führung erlebt, Hilfe in der Versuchung erfährt und sieht, wie sein mattes geistliches Leben wieder erquickt wird.
4,21 Als Paulus an die Gläubigen denkt, wie sie versammelt sind und auf den eben verfassten Brief hören, den er ihnen schrieb, grüßt er »jeden Heiligen in Christus Jesus«: Er sendet ihnen Grüße von den Brüdern, »die bei« ihm »sind«.
4,22 Wir lieben diesen Vers ganz besonders wegen der Erwähnung des Hauses »des Kaisers«. Dieser Satz regt unsere Fantasie an. Wer sind die Glieder des Hauses Nero, die hier erwähnt werden? Waren es einige der Soldaten, die bestimmt waren, den Apostel Paulus zu bewachen, und die durch seinen Dienst errettet wurden? Waren es Sklaven oder Freigelassene, die im Palast arbeiteten? Oder könnte es sich auch um einige Glieder der römischen Verwaltung handeln? Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, doch wir haben hier eine wunderschöne Illustration der Wahrheit, dass Christen wie Spinnen ihren Weg auch in die Paläste der Könige finden (Spr 30,28; vgl. LU 1912 und Anm. Schl; Anm. d. Übers.)! Das Evangelium kennt keine Grenzen. Es kann die unüberwindlichsten Mauern durchdringen. Es kann sich selbst in­ mitten derer festsetzen, die versuchen, es auszurotten. Ja, die Pforten des Hades werden die Gemeinde Christi nicht be­siegen!
4,23 Nun schließt Paulus mit dem für ihn charakteristischen Gruß. »Gnade« funkelte auf der ersten Seite diese Briefes und findet sich nun an seinem Schluss wieder. Aus der Fülle des Herzens redet der Mund. Das Herz des Paulus war zum Überfließen erfüllt mit dem großartigsten Thema aller Zeiten – der »Gnade« Gottes durch den »Herrn Jesus Christus«. Dabei ist es nicht erstaunlich, dass diese wertvolle Wahrheit jede Faser seines Wesens durchdringt.
Paul Rees fasst für uns zusammen:
Der großartigste Mensch hat den liebevollsten seiner Briefe geschrieben. Der Liebesdienst ist vollendet. Der Tag ist vergangen. Die Hand des Apostels ist noch immer festgekettet, der Soldat bewacht ihn nach wie vor. Doch darum braucht sich niemand zu kümmern. Der Geist des Paulus ist frei, sein Verstand klar, und sein Herz wallt gleichsam über. Und am nächsten Morgen bricht Epaphroditus schnellen Schrittes nach Philippi auf! 24
1,1 Zur Zeit, als das NT geschrieben wurde, war es üblich, einen Brief mit dem Namen des Schreibers zu beginnen. Deshalb stellt »Paulus« sich hier als »Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen« vor. Ein »Apostel« war jemand, der vom Herrn Jesus auf besondere Weise als Bote gesandt worden war. Damit die Apostel die von ihnen verkündigte Botschaft beglaubigen konnten, wurde ihnen die Kraft gegeben, Wunder  zu  vollbringen  (2. Kor  12,12). Außerdem lesen wir, dass in bestimmten Fällen der Heilige Geist gegeben wurde, wenn die Apostel Gläubigen die Hände auflegten (Apg 8,15-20; 19,6). Es gibt heute im engeren Sinne des Wortes unter uns keine Apostel mehr, und es ist Unsinn, wenn Menschen behaupten, dass sie Nachfolger der Zwölf seien. Viele werten Epheser 2,20 als Hinweis darauf, dass sich die Arbeit derer, die die besondere Gabe des Apostels und Propheten hatten, vorwiegend auf die Gemeindegründung konzentrierte. Im Unterschied dazu sollte man den Dienst von Evangelisten, Hirten und Lehrern sehen (Eph 4,11), die es im gesamten Zeitalter der Gemeinde gibt.
Paulus führt seine Apostelschaft auf »Gottes Willen« zurück (s. a. Apg 9,15; Gal 1,1). Es war keine Tätigkeit, die er sich selbst erwählt hätte oder wofür er von Menschen ausgebildet worden wäre. Auch war ihm sein Dienst nicht durch menschliche Ordination gegeben. Sein Dienst war nicht »von Menschen« (was den Ursprung betrifft) und auch nicht »durch Menschen« (was die Werkzeuge angeht). Er tat seinen ganzen Dienst in dem ernsten Bewusstsein, dass Gott selbst ihn erwählt hatte, ein Apostel zu sein.
Als Paulus den Brief schrieb, war »Timotheus, der Bruder«, bei ihm. Es ist gut, hier festzuhalten, dass Paulus keinerlei »Amtsbezeichnungen« verwendet, als er Timotheus hier nennt. Beide waren Glieder einer allgemeinen Bruderschaft, und es gab keinen Gedanken an eine Hierarchie von Kirchenoberen mit pompösen Titeln und aufwendigen Gewändern.
1,2 Der Brief ist an die »heiligen und gläubigen Brüder in Christus zu Kolossä« gerichtet. Hier haben wir zwei der wunderbaren Namen, die im NT allen Christen gegeben werden. »Heilige« sind Menschen, die für Gott aus der Welt ausgesondert sind, und die deshalb ein geheiligtes Leben führen sollten. Der Ausdruck »gläubige Brüder« steht dafür, dass sie durch den Glauben an den Herrn Jesus Kinder eines gemeinsamen Vaters sind; sie sind gläubige Brüder und Schwestern. Christen werden an anderen Stellen des NT auch noch Jünger und Gläubige genannt.
Die Worte »in Christus« sprechen von ihrer »geistlichen« Stellung. Als sie errettet wurden, hat Gott sie in Christus hineinversetzt, sodass sie »in dem Geliebten« »angenommen« sind. Seitdem besitzen sie Leben aus Christus und sein Wesen. Fortan sind sie in Gottes Augen nicht mehr Söhne Adams oder unbekehrte Menschen, sondern er sieht sie nun in all dem Wohlgefallen, mit dem er seinen eigenen Sohn ansieht. Der Ausdruck »in Christus« bedeutet mehr Annahme, Nähe und Sicherheit, als ein menschlicher Geist verstehen kann. Der geografische Aufenthaltsort der Gläubigen wird durch den Ausdruck »zu Kolossä« beschrieben. Es ist zu bezweifeln, dass wir je von dieser Stadt gehört hätten, wenn dort nicht das Evangelium gepredigt und Menschen errettet worden wären.
Paulus entbietet nun den Heiligen diesen wunderschönen Gruß: »Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater!« Keine Worte könnten besser die Segnungen des christlichen Glaubens zusammenfassen als »Gnade und Friede«. »Gnade« war ein üblicher griechischer Gruß, während »Friede« der jüdische Gruß war. Diese Worte wurden gesagt, wenn man sich traf, und wenn man wieder auseinanderging. Paulus nahm beide zusammen und hob ihre Bedeutung sowie Verwendung auf eine höhere Ebene. »Gnade« zeigt uns Gott, wie er sich zur sündigen, verlorenen Menschheit in Liebe und mitfühlender Zuwendung hinabbeugt. »Friede« fasst alle Folgen im Leben eines Menschen zusammen, wenn er Gottes Gnade als Geschenk annimmt. R. J. Little sagt: »Gnade kann vieles bedeuten, sie ist wie ein Blankoscheck. Friede ist ausdrücklich ein Teil des christlichen Erbes, und deshalb sollten wir Satan nicht gestatten, dass er ihn uns raubt.« Auch die Reihenfolge der Worte ist von Bedeutung: erst kommt die »Gnade«, dann der »Friede«. Wenn Gott nicht als Erster in Liebe und Barmherzigkeit an uns gehandelt hätte, dann wären wir noch immer in unseren Sünden. Doch weil er die Initiative ergriffen hat und seinen Sohn sandte, damit er für uns starb, können wir nun Frieden mit Gott und mit den Menschen haben. Fortan tragen wir den Frieden Gottes in unseren Herzen. Auch wenn man all dies gesagt hat, muss man doch vor der Aufgabe verzweifeln, solche herrlichen Worte wie diese zu erklären. B. Der Dank des Paulus und sein Gebet für die Gläubigen (1,3-14)
1,3 Nachdem er die Heiligen mit Worten gegrüßt hat, die zu den gängigsten Begriffen des Christentums wurden, handelt der Apostel wieder ganz charakteristisch: Er fällt auf seine Knie, um zu »danken« und zu beten. Anscheinend hat der Apostel immer sein Gebet mit dem Lobpreis seines Herrn begonnen, und wir tun gut daran, diesem Beispiel zu folgen. Sein Gebet ist an den »Vater unseres Herrn Jesus Christus« gerichtet. Gebet ist das unaussprechliche Vorrecht, eine Audienz beim Herrscher des Universums zu haben. Doch kann man fragen: »Wie kann es ein einfacher Mensch wagen, sich in die Ehrfurcht gebietende Gegenwart des allerhöchsten Gottes zu begeben?« Die Antwort findet sich in unserem Text. Der herrliche und majestätische Gott des Universums ist der »Vater unseres Herrn Jesus Christus«. Der Gott, der so unendlich hoch ist, kommt uns ganz nahe. Weil wir als Gläubige in Christus an seinem Leben teilhaben, ist Gott auch unser Vater (Joh 20,17). Wir dürfen uns durch Christus nähern. »Allezeit … für euch beten.« Wenn man diesen Satz für sich allein sieht, scheint er nicht so bemerkenswert zu sein. Er bekommt jedoch eine neue Bedeutung, wenn wir uns daran erinnern, dass dies das Interesse des Paulus an Menschen beschreibt, denen er noch nie begegnet ist. Wir finden es oft schwer, vor dem Thron der Gnade an unsere eigene Verwandtschaft und unsere Freunde zu denken, doch man stelle sich die Gebetsliste vor, die der Apostel Paulus gehabt haben muss! Er betete nicht nur für Christen, die er persönlich kannte, sondern auch für solche an entfernten Orten, deren Namen ihm von anderen lediglich genannt worden waren. Es ist wirklich so, dass das unermüdliche Gebetsleben des Paulus uns hilft, ihn besser zu verstehen.
1,4 Er hatte von dem »Glauben« der Kolosser »an Christus Jesus« gehört und von ihrer »Liebe … zu allen Heiligen«. Er erwähnt als Erstes ihren »Glauben an Christus Jesus«. Dort müssen wir immer anfangen. Es gibt heute viele relig iöse Menschen auf der Welt, die immer von ihrer Liebe zu anderen sprechen. Doch wenn man sie hinterfragt, dann findet man heraus, dass sie keinen »Glauben« an den Herrn »Jesus« haben. Solche Liebe ist hohl und bedeutungslos. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die bekennen, »Glauben an Christus« zu haben, doch man sucht vergebens nach Beweisen der »Liebe« in ihrem Leben. Paulus würde auch die Echtheit ihres Glaubens infrage stellen. Es ist echter »Glaube« an den Heiland nötig, und dieser Glaube muss sich in einem Leben der Liebe zu Gott und den Nächsten beweisen. Paulus spricht vom »Glauben an Christus Jesus«. Es ist sehr bedeutsam, dies festzuhalten. Der Herr Jesus wird in der Schrift immer als Gegenstand unseres Glaubens genannt. Man mag unbegrenztes Vertrauen zu einer Bank haben, doch dieser Glaube ist nur dann berechtigt, wenn diese Bank auch verlässlich ist. Der Glaube selbst wird nicht die Sicherheit des Geldes garantieren, das auf einer schlecht verwalteten Bank liegt. Genauso ist es im geistlichen Leben. Glaube an sich reicht nicht aus. Der Glaube muss sich auf den Herrn Jesus Christus richten. Weil der Herr niemals unzuverlässig sein kann, wird keiner, der auf ihn vertraut, enttäuscht werden.
Die Tatsache, dass Paulus von ihrem »Glauben« und ihrer Liebe gehört hat, zeigt uns, dass sie ganz gewiss nicht im Geheimen gläubig waren. Es ist so, dass das NT kaum dazu ermutigt, eine geheime Jüngerschaft zu führen. Die Lehre des Wortes Gottes lautet folgendermaßen: Wenn jemand wirklich den Heiland angenommen hat, ist es unvermeidlich, dass er Christus öffentlich bekennt. Die Liebe der Kolosser erstreckte sich auf »alle Heiligen«. Ihre Liebe war weder auf ihr Umfeld noch auf enge konfessionelle oder denominationelle Grenzen beschränkt. Sie liebten nicht nur die anderen Glieder ihrer Ortsgemeinde. Vielmehr verbreiteten sie, wo immer sie echte Gläubige fanden, ihre warmherzige und großzügige Liebe. Das sollte für uns alle eine Lektion sein, dass unsere Liebe nicht engstirnig und nur auf unsere Ortsgemeinde oder Missionare aus unserem eigenen Land beschränkt sein darf. Wir sollten die Schafe Christi anerkennen, wo immer wir sie finden, und ihnen – wenn irgend möglich – unsere Liebe erweisen.
1,5 Es ist nicht ganz eindeutig, wie dieser Vers mit dem vorangegangenen Vers zusammenhängt. Hängt er mit Vers 3 zusammen: Wir danken … »wegen der Hoffnung, die für euch in den Himmeln aufbewahrt ist«? Oder gehört er zum zweiten Teil von Vers 4: Eure Liebe zu allen Heiligen … »wegen der Hoffnung, die für euch in den Himmeln aufbewahrt ist«? Beide Deutungen sind möglich. Es kann sein, dass der Apostel nicht nur für ihren Glauben und ihre Liebe, sondern auch für ihr Erbe Dank sagt, das sie eines Tages einnehmen werden. Andererseits gilt auch, dass der Glaube an Christus Jesus und die Liebe zu allen Heiligen im Hinblick auf das Kommende sichtbar wird. Jedenfalls können wir erkennen, dass Paulus hier die drei Kardinalt ugenden des christlichen Lebens aufzählt: Glaube, Liebe und »Hoffnung«. Diese drei werden auch in 1. Korinther 13,13 und in 1. Thessalonicher 1,3 und 5,8 erwähnt. Lightfoot sagt: »Der Glaube ruht auf der Vergangenheit, die Liebe wirkt in der Gegenwart und die Hoffnung erstreckt sich auf die Zukunft.«4
In diesem Vers bedeutet »Hoffnung« nicht die Haltung, auf etwas zu warten oder einem Sachverhalt entgegenzusehen. Vielmehr bezieht sich das Wort auf den Gegenstand der Hoffnung. Hier bedeutet es die Erfüllung unserer Erlösung, wenn wir in den Himmel aufgenommen werden und unser ewiges Erbe antreten. Die Kolosser hatten von dieser Hoffnung schon vorher gehört. Vielleicht geschah dies, als Epaphras ihnen das Evangelium predigte. Was sie gehört hatten, wird als »Wort der Wahrheit des Evangeliums« beschrieben. Das Evangelium wird als Kunde bezeichnet, welche die wahre Heilsbotschaft umfasst. Vielleicht denkt Paulus hier beim Schreiben an die falschen Lehren der Gnostiker. Jemand hat »Wahrheit« einmal definiert als das, was Gott über eine Sache denkt (Joh 17,17). Das »Evangelium« ist wahr, weil es Gottes Wort ist.
1,6 Die Wahrheit des Evangeliums war zu den Kolossern ebenso »gekommen«, wie in die »ganze« damals bekannte »Welt«. Das darf man nicht im absoluten Sinne verstehen. Es kann nicht bedeuten, dass jeder Mann und jede Frau auf der Welt das Evangelium gehört hatten. Damit könnte stattdessen gemeint sein, dass Menschen aus jeder Nation das Evangelium von der Erlösung gehört hatten (Apg 2). Es kann auch heißen, dass das Evangelium für alle Menschen gedacht ist und es ohne bewusste Einschränkungen verbreitet wurde. Paulus beschreibt auch die unausweichlichen Folgen der Evangeliumsverkündigung. In Kolossä und in allen anderen Teilen der »Welt«, wo das Evangelium verkündigt wurde, »bringt« es »Frucht … und wächst«.5 Das wird ausgesagt, um den übernatürlichen Charakter des Evangeliums zu betonen. In der Natur bringt eine Pflanze normalerweise nicht gleichzeitig mit dem Wachstum Früchte. Oftmals müssen Pflanzen sogar zurückgeschnitten werden, damit sie Frucht bringen. Wenn man der Pflanze nämlich erlaubt, ungehemmt zu wachsen, dann folgt daraus, dass alle Kraft an Blätter und Zweige verschwendet wird, statt zum Fruchttragen genutzt zu werden. Doch das Evangelium kann beides gleichzeitig. Es bringt »Frucht« der Errettung von Menschen und verbreitet sich gleichzeitig von Stadt zu Stadt und von Land zu Land.
Das ist genau die Auswirkung, die das Evangelium im Leben der Kolosser hatte, und zwar »von dem Tag an, da« sie »es gehört und die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt« hatten. Es gab in der Gemeinde zu Kolossä zahlenmäßiges Wachstum, und gleichzeitig gab es geistliches Wachstum im Leben der dortigen Gläubigen.
Es scheint so, dass das Evangelium im 1. Jahrhundert große Fortschritte machte und Europa, Asien sowie Afrika erreichte. Dabei drang es weiter vor, als viele Leute glaubten. Doch es gibt trotzdem keinen Grund zu der Annahme, dass es wirklich die ganze Erde erreichte. Die Worte »die Gnade Gottes« sind eine schöne Beschreibung der Evangeliumsbotschaft. Was könnte die Gute Nachricht besser zusammenfassen als die wunderbare Wahrheit von der Gnade Gottes, die schuldigen Menschen zugeeignet wird, die eigentlich Gottes Zorn verdient hätten?
1,7 Der Apostel sagt deutlich, dass die Gläubigen die Evangeliumsbotschaft von »Epaphras« gehört hatten und sie durch ihn auch in ihrem Leben erfahren haben. Paulus empfiehlt Epaphras als »geliebten Mitknecht« und »treuen Diener des Christus für« sie. Paulus war niemals bitter oder eifersüchtig. Es störte ihn nicht, wenn ein anderer Prediger empfohlen wurde. Er war sogar der Erste, der seiner Wertschätzung gegenüber anderen Dienern des Herrn Ausdruck verlieh.
1,8 Von Epaphras selbst hatte Paulus über die »Liebe im Geist« der Kol osser gehört. Diese Liebe war nicht einfach menschliche Zuneigung, sondern echte Liebe zum Herrn und zu seinem Volk, die durch die Innewohnung des Heiligen Geistes in ihrem Leben hervorgebracht wurde. Das ist die einzige Erwähnung des Heiligen Geistes in diesem Brief.
1,9 Nachdem Paulus seinen Dank beendet hat, bittet er nun besonders für die Heiligen. Wir haben schon erwähnt, wie umfassend das Gebet des Apostels war. Wir sollten weiter festhalten, dass seine Bitten immer den Bedürfnissen des Volkes Gottes an dem jeweiligen Ort angepasst waren. Seine Gebete verloren sich nie in allgemeinen Aussagen. Hier bittet er um viererlei für die Kolosser: 1. um geistliche Erkenntnis, 2. um einen würdigen Wandel, 3. um überfließende Kraft, und 4. um einen dankbaren Geist. Paulus lässt bei seinen Bitten keine selbst gesteckten Grenzen oder Einengungen erkennen. Das wird besonders in den Versen 9, 10 und 11 deutlich, wo er die Worte »alles« und »jedes« verwendet.
1. »In aller Weisheit und geistlichem Verständnis« (V. 9)
2.  »Zu allem Wohlgefallen« (V. 10). 3.  »In jedem guten Werk« (V. 10). 4.  »Mit aller Kraft« (V. 11). 5. »Zu allem Ausharren und aller Langmut« (V. 11).
Das Wort »deshalb« verbindet diesen Abschnitt mit den vorangegangenen Versen. Es bedeutet: Wegen des Berichts von Epaphras  (V. 4.5.8).  Von  der  Zeit  an, da er erstmalig von den geliebten Heiligen in Kolossä und ihrem Glauben, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung »gehört« hatte, hatte es der Apostel sich zur Angewohnheit gemacht, für sie zu beten. Zuerst betete er, dass sie »erfüllt« würden  »mit  der  Erkenntnis  seines«  (d. h. Gottes) »Willens … in aller Weisheit und geistlichem Verständnis«. Er bat nicht daru m, dass sie mit der aufgeblasenen »Erkenntnis« der Gnostiker erfüllt würden. Vielmehr wollte er, dass sie »die Erkenntnis seines Willens« für ihr Leben haben, wie sie in Gottes Wort offenbart ist. Diese Erkenntnis ist weder weltlicher noch fleischlicher Art; sie zeichnet sich vielmehr durch »Weisheit und geistliches Verständnis« bzw. durch »Weisheit« aus, um das Erkannte auf die beste Weise anzuwenden, und durch »Verständnis«, um zu erkennen, was mit Gottes Willen übereinstimmt und was nicht.
1,10 Zwischen Vers 9 und Vers 10 besteht eine sehr wichtige Verbindung. Waru m wollte der Apostel Paulus, dass die Kolosser mit der Erkenntnis des Willens Gottes erfüllt würden? Damit sie vollmächtige Prediger oder aufsehenerregende Lehrer würden? Damit sie eine große Anhängerschaft um sich sammeln könnten, wie es die Gnostiker versuchten? Nein, der wahre Zweck geistlicher Weisheit und Einsicht ist es, dem Christen zu ermöglichen, »des Herrn würdig zu wandeln zu allem Wohlgefallen«. Hier haben wir eine sehr wichtige Lektion zum Thema Führung. Gott offenbart uns seinen Willen nicht, um unsere Neugier zu befriedigen. Auch soll diese Offenbarung nicht unseren Stolz oder unseren Ehrgeiz fördern. Der Herr zeigt uns stattd essen seinen Willen für unser Leben, damit wir ihm durch alles, was wir tun, wohlgefallen.
»Fruchtbringend in jedem guten Werk.« Hier ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass man zwar nicht durch gute Werke gerettet wird, aber ganz sicher zu guten Werken. Manchmal kann es sein, dass wir den Eindruck erwecken, als hielten wir nichts von guten Werken, wenn wir so stark betonen, dass gute Werke zum Heil von Menschen nichts nützen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein! In Epheser 2,10 erfahren wir, dass wir »sein Gebilde« sind, »in Christus Jesus geschaffen zu guten Werken«. Auch schrieb Paulus an Titus: »Das Wort ist gewiss; und ich will, dass du auf diesen Dingen fest bestehst, damit die, welche Gott geglaubt haben, Sorge tragen, gute Werke zu betreiben« (Tit 3,8). Paulus wollte nicht nur, dass sie »in jedem guten Werk« Frucht brächten, sondern auch ihre »Erkenntnis Gottes« vermehrten. Wie kann man das erreichen? Zunächst einmal ist dazu das sorgfältige Studium des Wortes Gottes erforderlich. Dann ist auch der Gehorsam gegenüber seinen Lehren und der treue Dienst notwendig. (Um den letztgenannten Sachverhalt scheint es in unserem Fall in erster Linie zu gehen.) Wenn wir das tun, dann tauchen wir tiefer in die »Erkenntnis« des Herrn ein. »Dann werden wir erkennen, wenn wir danach streben, den Herrn zu erkennen« (Hos 6,3 nach der KJV). Man beachte die Wiederholung von Worten in Kapitel 1, die mit Erkenntnis zu tun haben, und erkenne, wie der Gedankengang des Paulus mit jeder Erwähnung fortschreitet. In Vers 6 hieß es, dass sie »die Gnade Gottes … erkannt« hatten. In Vers 9 hatten sie »Erkenntnis seines Willens«. In Vers 10 wuchsen sie »durch die Erkenntnis Gottes«. Vielleicht können wir sagen, dass sich das Erste auf die Erlösung bezieht, das Zweite auf das Studium der Heiligen Schrift, und das Dritte auf den Dienst sowie auf christliche Lebensführung. Gesunde Lehre sollte zum rechten Verhalten führen, das sich im gehorsamen Dienst äußert.
1,11 Die dritte Bitte des Apostels lautet, dass die Heiligen »gekräftigt« würden »mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit«. (Man beachte die Reihenfolge: erfüllt, V. 9; fruchtbringend, V. 10; gekräftigt, V. 11.) Das christliche Leben kann nicht aus rein menschlicher Kraft geführt werden. Man braucht dazu geistliche Kraft. Deshalb möchte Paulus, dass die Gläubigen die Kraft des auferstandenen Sohnes Gottes kennenlernen. Er wünscht sich weiter, dass sie diese Kraft »nach der Macht seiner Herrlichkeit« erfahren. Die Bitte lautet hier nicht, dass diese Macht aus seiner Herrlichkeit kommen solle, sondern »nach«  ihr,  d. h.  entsprechend dieser Herrlichkeit. »Seine Herrlichkeit« ist grenzenlos, und dies ist genau der Geltungsbereich dieses Gebets. Peake schreibt: »Die Ausrüstung mit Macht geschieht nicht nur einfach proportional zu den Bedürfnissen des Empfängers, sondern entsprechend den göttlichen Möglichkeiten.«6
Weshalb wollte Paulus, dass die Christen diese Kraft hätten? Damit sie hinausgehen und spektakuläre Wunder vollbringen könnten? Damit sie die Toten auferwecken, die Kranken heilen und die Dämonen austreiben sollten? Und wieder lautet die Antwort: »Nein«. Diese Kraft wird gebraucht, damit das Kind Gottes alles »Ausharren und alle Langmut, mit Freuden« habe. Das sollten wir ganz sorgfältig beachten! In einem Teil der Christenheit heute wird großer Wert auf sogenannte Wunder gelegt, etwa auf die Zungenrede, die Krankenheilung und andere aufsehenerregende Vorkommnisse. Doch es gibt in unserem Zeitalter ein noch größeres Wunder als all dies: Ein Kind Gottes, das inmitten von Versuchungen geduldig und dankbar sein Leid erträgt! In 1. Korinther 13,4 wird Langmut mit Freundlichkeit zusammen gesehen, hier ist die »Freude« damit verbunden. Wir leiden, weil wir nicht unserem Anteil am Seufzen der Kreatur entgehen können. Um darin die innere »Freude« und Freundlichkeit anderen gegenüber zu behalten, brauchen wir Gottes Kraft. Das ist Sieg im Leben des Christen. Der Unterschied zwischen »Ausharren« und »Langmut« ist einmal als der Unterschied definiert worden, ob man etwas einfach nur klaglos erträgt oder ohne Vergeltungsabsichten erduldet. Gottes Gnade hat eines ihrer höchsten Ziele im Leben desjenigen Gläubigen erreicht, der geduldig leiden und Gott noch inmitten heftigster Versuchung preisen kann.
1,12 »Danksagend« bezieht sich in diesem Vers auf die Kolosser, nicht auf Paulus (im Gr. steht hier der Plural). Paulus bittet darum, dass sie nicht nur mit aller Kraft gestärkt werden, sondern auch einen dankbaren Geist erhalten und niemals vergessen, »dem Vater« ihren Dank auszusprechen, der sie »fähig gemacht« hat »zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht«. Als Söhne Adams könnten wir die Herrlichkeit des Himmels überhaupt nicht ertragen. Wenn unerlöste Menschen irgendwie in den Himmel gebracht würden, dann könnten sie ihn nicht genießen, sondern wären äußerst unglücklich. Um den Himmel schätzen zu können, braucht man eine bestimmte Eignung. Auch als Gläubige haben wir persönlich keine Eignung für den Himmel. Der einzige Anspruch auf die Herrlichkeit, den wir haben, findet sich in der Person unseres Herrn Jesus Christus. Aus Gnaden! Hier gilt kein Verdienen, die eignen Werke fallen hin; der Mittler, der im Fleisch erschienen, hat diese Ehre zum Gewinn, dass uns sein Tod das Heil gebracht und uns aus Gnaden selig macht. Christian Ludwig Scheidt Wenn Gott jemanden rettet, dann gibt er dieser Person sofort die Eignung für den Himmel. Diese Eignung ist Christus selbst. Sie ist durch nichts zu verbessern. Noch nicht einmal ein langes Leben des Gehorsams und des Dienstes hier auf Erden lässt jemanden geeigneter für den Himmel sein, als er es am Tag seiner Bekehrung war. Unser Anspruch auf die Herrlichkeit gründet sich in Jesu Blut. Während das Erbe »im Licht« ist und in den Himmeln aufbewahrt wird (vgl. 1. Petr 1,4), haben wir Gläubigen hier auf Erden den Heiligen Geist als »Garantie für unser Erbe«. Deshalb können wir uns über das freuen, was vor uns liegt, während wir schon jetzt die »Erstlingsfrüchte des Geistes« genießen.
1,13 Indem Gott uns »zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht … fähig gemacht« hat, hat er »uns errettet aus der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe« (vgl. 1. Joh  2,11).  Das  kann  man  anhand  der Erfahrung der Kinder Israel veranschaulichen, die im 2. Buch Mose aufgezeichnet ist. Sie hatten in Ägypten gewohnt und unter der Knute der dortigen Sklaventreiber geseufzt. Durch wunderbares göttliches Eingreifen befreite Gott sie aus dieser fürchterlichen Knechtschaft und führte sie durch die Wüste ins Gelobte Land. In ähnlicher Weise waren wir als Sünder Knechte Satans, doch durch Christus sind wir aus seinen Klauen »errettet« und nun Bürger des Reiches Christi. Satans Reich ist ein Reich der »Finsternis«, wo es kein Licht gibt, keine Wärme und keine Freude, während das Reich Christi ein Reich der »Liebe« ist. Damit ist gemeint, dass es dort all das gibt, was man in Satans Reich vergeblich sucht. Das »Reich« Christi zeigt sich in der Schrift unter verschiedenen Aspekten. Als Jesus erstmalig auf die Erde kam, bot er dem Volk Israel ein Reich im wörtlichen Sinne an. Die Juden wollten Befreiung von den römischen Unterdrückern, doch sie wollten sich nicht von ihren Sünden abkehren. Christus konnte jedoch nur über ein Volk herrschen, das in einer angemessenen geistlichen Beziehung zu ihm lebte. Als den Angehörigen des Volkes dies verdeutlicht wurde, verwarfen sie ihren König und kreuzigten ihn. Seitdem ist der Herr Jesus in den Himmel zurückgekehrt, und das Reich besteht nun in seiner verborgenen Gestalt (Matth 13). Dies bedeutet, dass das Reich jetzt nicht sichtbar erscheint. Der König ist abwesend. Doch alle, die den Herrn Jesus Christus in unserem gegenwärtigen Zeitalter annehmen, erkennen ihn als ihren rechtmäßigen Herrscher an und werden somit Bürger seines Reiches. Eines Tages wird der Herr Jesus auf die Erde zurückkehren, sein Reich mit Jerusalem als Hauptstadt aufrichten und tausend Jahre lang herrschen. Am Ende dieser Zeit wird Christus alle seine Feinde unter seine Füße legen und dann das Reich Gott dem Vater übergeben. Damit wird das Reich eingeleitet, das sich durch ewige Zeiten erstrecken wird.
1,14 Nachdem er das Reich des Sohnes der Liebe Gottes erwähnt hat, beginnt Paulus mit einem der großartigsten Abschnitte des Wortes Gottes über die Person und das Werk des Herrn Jesus. Wir wissen nicht, ob er sein Gebet schon beendet hat, oder ob es sich noch auf diese Verse erstreckt, die wir nun genauer betrachten wollen. Doch das ist von untergeordneter Bedeutung, denn auch wenn die folgenden Verse kein reines Gebet sind, so enthalten sie zweifellos nichts als Anbetung.
Sturz hat darauf hingewiesen, dass »in diesem erstaunlichen Abschnitt, der Jesus Christus mehr erhebt als jeder andere, der Name unseres Herrn kein einziges Mal auf irgendeine Weise vorkommt«. Während das im gewissen Sinne bemerkenswert ist, brauchen wir uns darüber nicht zu wundern. Denn auf wen sonst als auf unseren hochgelobten Heiland könnte jemals die Beschreibung passen, die uns hier gegeben wird? Der Abschnitt erinnert uns an Marias Frage an den Gärtner: »Herr, wenn du ihn weggetragen (hast), so sage mir, wo du ihn hingelegt hast! Und ich werde ihn wegholen« (Joh 20,15). Sie nannte seinen Namen nicht. Sie hatte nur einen Einzigen im Sinn. Christus wird zuerst als der Eine vorgestellt, in dem wir »die Erlösung7, die Vergebung der Sünden« haben. »Erlösung« beschreibt die Tat, wodurch wir vom Sklavenmarkt der Sünde erkauft worden sind. Der Herr Jesus steckte uns gewissermaßen ein Preisschild an. Wie hoch schätzte er uns? Er sagte im Grunde: »Sie sind mir so wertvoll, dass ich bereit bin, mein Blut zu vergießen, um sie zu erkaufen.« Weil wir um einen solch hohen Preis erkauft worden sind, sollte es für uns klar sein, dass wir nicht länger uns selbst gehören. Deshalb sollten wir unser Leben nicht so führen, wie es uns gefällt. Diesbezüglich sei Borden zitiert, der an der Yale University studiert hatte. (Gemeint ist William Whiting Borden, [1887 – 1913], der als Missionar unter Muslimen arbeiten wollte und während der Reise auf das Missionsfeld bereits im 26. Lebensjahr heimging.) Er hat darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir unser Leben nehmen und mit ihm nach unserem Belieben verfahren, uns etwas aneignen, das uns nicht gehört, und deshalb Diebe sind. Christus hat uns nicht nur erlöst, er hat uns auch die »Vergebung der Sünden« geschenkt. Das heißt, dass Gott die Schulden vergeben hat, die unsere Sünden verursacht haben. Der Herr Jesus Christus hat die Strafe am Kreuz bezahlt, und sie muss niemals wieder bezahlt werden. Die Rechnung ist beglichen, und Gott hat uns nicht nur vergeben, sondern er hat unsere Sünden so weit von uns weggenommen, wie der Osten vom Westen ist (Ps 103,12). C. Die Herrlichkeit Christi als Haupt der Gemeinde (1,15-23)
1,15 In den nächsten vier Versen wird unser Herr Jesus beschrieben: 1. in seiner Beziehung zu Gott (V. 15); 2. in seiner Beziehung zur Schöpfung (V. 16.17); und 3. in seiner Beziehung zur Gemeinde (V. 18). Der Herr wird hier als »Bild des unsichtbaren Gottes« beschrieben. Das Wort »Bild« vermittelt hier mindestens zwei Vorstellungen: Erstens vermittelt es den Gedanken, dass der Herr Jesus es uns ermöglicht hat zu erkennen, wie Gott ist. Gott ist Geist und deshalb unsichtbar. Doch in der Person Christi hat Gott sich sterblichen Augen sichtbar gemacht. In diesem Sinne ist der Herr Jesus »das Bild des unsichtbaren Gottes«. Wer ihn gesehen hat, der hat den Vater gesehen (s. Joh 14,9). Doch das Wort »Bild« hat auch die Bedeutung des »Stellvertreters« oder »Repräsentanten«. Gott hatte ursprünglich Adam auf die Erde gesetzt, um seine Interessen zu vertreten, doch Adam versagte. Deshalb sandte Gott seinen eingeborenen Sohn als Stellvertreter auf die Erde. Er sollte Gottes Interessen wahren und sein liebendes Herz den Menschen offenbaren. In diesem Sinne ist er das Bild Gottes. Dasselbe Wort »Bild« wird auch in 3,10 verwendet, wo es heißt, dass die Gläubigen »nach dem Bild« Christi gestaltet werden. Christus ist auch »der Erstgeborene aller Schöpfung« oder »jedes geschaffenen Lebewesens«. Was bedeutet das? Einige Irrlehrer sind der Ansicht, dass der Herr Jesus selbst ein geschaffenes Wesen ist und die erste Person war, die Gott geschaffen hat. Einige gehen sogar so weit, dass sie behaupten, er sei die herrlichste Schöpfung, die je aus den Händen Gottes hervorgegangen ist. Doch nichts könnte der Lehre des Wortes Gottes deutlicher widersprechen.
Der Ausdruck »Erstgeborener« hat in der Bibel mindestens drei verschiedene Bedeutungen. In Lukas 2,7 (wo Maria ihren erstgeborenen Sohn bekommt) wird er in der wörtlichen Bedeutung verwendet. Dort bedeutet das Wort, dass der Herr Jesus das erste Kind war, das sie gebar. In  2. Mose  4,22  dagegen  wird  das  Wort im übertragenen Sinne verwendet: »Mein erstgeborener Sohn ist Israel.« In diesem Vers geht es nicht um eine wirkliche Geburt, die stattgefunden hat. Vielmehr benutzt der Herr dieses Wort, um die herausr agende Stellung zu bezeichnen, die das Volk Israel in seinen Plänen hat. Schließlich wird in Psalm 89,27 das Wort »Erstg eborener« gebraucht, um eine überlegene, einzigartige und vorrangige Stellung zu bezeichnen. Dort sagt Gott, dass er David zu seinem Erstgeborenen machen will, der höher ist als alle Könige der Erde. Nach dem Fleisch war David in Wirklichkeit der letztgeborene Sohn Isais. Doch Gott hatte beschlossen, ihm in einzigartiger Weise eine Vorrechts-, Vorrang- und Souveränitätsstellung zu geben.
Ist das nicht genau der Gedanke von Kolosser 1,15 (»der Erstgeborene aller Schöpfung«)? Der Herr Jesus Christus ist Gottes einziger Sohn. Im gewissen Sinn sind zwar alle Gläubigen Söhne Gottes, doch der Herr Jesus ist auf eine Art Gottes Sohn, wie es sonst auf niemanden zu trifft. Er war schon vor aller Schöpfung und hat eine Vorrangstellung allen Geschöpfen gegenüber. Er hat den Vorrang und die Herrschaft. Der Ausdruck »Erstgeborener aller Schöpfung« hat nichts mit einer Geburt zu tun. Es bedeutet einfach, dass Christus durch eine ewige Beziehung Gottes Sohn ist. Es handelt sich um den Vorrangstitel hinsichtlich seiner Stellung, nicht bezüglich einer zeitlichen Reihenfolge.
1,16 Irrlehrer benutzen Vers 15 (insbesondere nach LU), um zu lehren, dass der Herr Jesus ein geschaffenes Wesen sei. Man kann Irrtümer normalerweise aus demselben Abschnitt widerlegen, den die Sektenprediger missbrauchen. Das ist hier der Fall. Vers 16 sagt ausdrücklich, dass der Herr Jesus nicht geschaffen ist, sondern der Schöpfer selbst ist. In diesem Vers erfahren wir, dass »alles« (das gesamte materielle Universum) nicht nur »in ihm«, sondern auch »durch ihn« und »für ihn geschaffen« worden ist. Als Erstes lesen wir, dass »in ihm … alles … geschaffen worden« ist. Hier geht es darum, dass die Macht zur Schöpfung in seinem Wesen lag. Er war der Baumeister. Im weiteren Verlauf des Verses sehen wir, dass »alles … durch ihn … geschaffen« ist. Das zeigt, dass er derjenige ist, der aktiv geschaffen hat. Er ist diejenige Person der Gottheit, auf die im eigentlichen Sinne die Schöpfung zurückgeht. Auch wurde »alles … für ihn ges chaffen«. Er ist der Eine, für den alles erschaffen wurde, er ist das Ziel der Schöpfung. Paulus bemüht sich sehr zu betonen, dass »alles … durch« Christus »geschaffen« ist, ob es um Dinge »in den Himmeln« oder »auf der Erde« geht. Das lässt keine Schlupflöcher für jemanden, der behaupten möchte, dass er zwar alle Dinge geschaffen habe, doch selbst am Anfang geschaffen wurde.
Der Apostel fährt nun mit der Feststellung fort, dass die Schöpfung des Herrn »das Sichtbare und das Unsichtbare« umfasst. Das Wort »sichtbar« verlangt keine Erklärung, doch zweifellos erkannte der Apostel Paulus, dass er unsere Neugier wecken würde, wenn er das »Unsichtbare« nennt. Deshalb schlüsselt er auf, was er mit dem »Unsichtbaren« meint. Dazu gehören »Throne«, »Herrschaften«, »Gewalten« und »Mächte«. Wir sind der Ansicht, dass sich diese Begriffe auf Engelwesen beziehen, obwohl wir nicht zwischen verschiedenen Rangstufen dieser intelligenten Wesen unterscheiden können.
Die Gnostiker lehrten, dass es verschiedene Rangstufen und Klassen von Geistwesen zwischen Gott und der Materie gebe und Christus zu einer dieser Klassen gehöre. In unseren Tagen behaupten Spiritisten, dass Christus ein hoher Geist der sechsten Sphäre ist. Die Zeugen Jehovas lehren, dass unser Herr vor seinem Kommen in die Welt ein geschaffener Engel war, und zwar kein anderer als der Erzengel Michael! Hier widerlegt Paulus energisch solche absurden Vorstellungen, indem er mit den eindeutigsten Worten sagt, dass der Herr Jesus Christus der Schöpfer der Engel ist – ja, aller Wesen, ob sie nun sichtbar oder unsichtbar sind.
1,17 »… und er vor allem, und alles besteht durch ihn.« Paulus sagt: »Er ist (LU 1984)  vor  allen  Dingen«,  nicht:  »Er war vor allen Dingen«. Die Gegenwartsform wird in der Bibel oft verwendet, um die Zeitlosigkeit der Gottheit darzustellen. So sagte der Herr Jesus z. B.: »Ehe Abraham war, bin ich« (Joh 8,58). Doch der Herr Jesus existierte nicht nur, ehe es eine Schöpfung gab, sondern »alles besteht« auch »durch ihn«. Das bedeutet, dass er der Erhalter des Universums und die Ursache seiner ständigen Bewegung ist. Er ist der Herr über Sonne, Mond und Sterne. Sogar während er hier auf der Erde war, war er derjenige, der die Gesetze bestimmte, wodurch unser Universum in geordneter Weise funktioniert.
1,18 Das Reich des Herrn Jesus umfasst nicht nur das materielle Universum, sondern bezieht auch das geistliche Reich mit ein. »Er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde.« Während des gegenwärtigen Zeitalters werden alle Gläubigen in den »Leib« Christi, nämlich in die »Gemeinde«, eingefügt. So wie ein menschlicher Körper ein Mittel ist, wodurch sich die betreffende Person ausdrückt, so ist der Leib Christi das Mittel, das Christus auf Erden erwählt hat, um sich selbst vor der Welt darzustellen. »Und er ist das Haupt« dieses »Leibes«. Das Wort »Haupt« spricht von Führung, Leitung und Herrschaft. Er nimmt in der Gemeinde die Vorrangstellung ein. »Er ist der Anfang.« Wir verstehen darunter, dass er »der Anfang« der neuen Schöpfung ist (s. Offb 3,14), die Quelle des geistlichen Lebens. Das wird durch den Ausdruck »der Erstgeborene aus den Toten« weiter erklärt. Hier müssen wir wieder sorgfältig betonen, was dies nicht bedeutet: Der Herr Jesus ist nicht der Erste gewesen, der aus den Toten auferstanden ist. Es gab sowohl im AT als auch im NT Fälle von Totenauferweckungen. Doch der Herr Jesus war der Erste, der aus den Toten auferstand, um niemals mehr zu sterben; er war der Erste, der mit einem verherrlichten Leib und als Haupt einer neuen Schöpfung auferstand. Seine Auferstehung ist einzigartig und die Garantie dafür, dass alle, die auf ihn vertrauen, ebenfalls auferstehen werden. Sie kündet von ihm als demjenigen, der über der gesamten geistlichen Schöpfung steht. Alfred Mace hat dies treffend ausgedrückt:
Christus kann nirgends den zweiten Platz einnehmen. Er ist der »Erstgeborene aller Schöpfung«, weil er alles geschaffen hat (Kol 1,15.16). Er ist auch der Erstgeborene aus den Toten in Verbindung mit einer erlösten himmlischen Familie. So geben Schöpfung und Erlösung ihm die Ehre des Vorranges, wegen seiner Eigenschaften und wegen seines Werkes, »damit er in allem den Vorrang habe«. Er ist überall der Erste.8 Der Herr Jesus hat so den doppelten Vorrang – zunächst in der Schöpfung, und dann in der Gemeinde. Gott hat bestimmt, dass er »in allem den Vorrang habe«. Welch eine Antwort ist das an diejenigen, die zur Zeit des Paulus (und in unseren Tagen) versuchten bzw. versuchen, Christus seiner Göttlichkeit zu berauben, und ihn nur zu einem Geschöpf machen wollten bzw. wollen, sei es auch noch so hochstehend!
Wenn wir lesen »damit er in allem den Vorrang habe«, so ist es nur recht, wenn wir uns selbst fragen: »Hat er auch in meinem persönlichen Leben den Vorrang?«
1,19 Darby übersetzt Vers 19 folgendermaßen: »Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen« (Elb). Aus manchen Übers etzungen könnte  man  entnehmen  (z. B.  Luther), dass es Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt gefallen habe, alle Fülle im Sohn wohnen zu lassen. Die wirkliche Bedeutung hier ist, dass die »Fülle« der Gottheit immer in Christus gewohnt hat. Die gnostischen Irrlehrer lehrten, dass Christus eine Art »Zwischenstufe« auf dem Weg zu Gott sei, ein notwendiges Glied in der Kette. Aber es gäbe auf dem weiteren Weg noch bessere Glieder. »Geh weiter, nachdem du dich mit ihm beschäftigt hast«, drängten sie, »und du wirst die Fülle erlangen«. »Nein«, sagt Paulus, »Christus selbst ist die ganze Fülle«.
Alle Fülle wohnt in Christus. Das Wort, das hier steht, bedeutet »dauernd wohnen«9 und nicht nur einen kurzen Besuch abstatten.
1,20 Vers 19 ist folgendermaßen mit Vers 20 verbunden: »Und es gefiel dem Vater, ›durch ihn (Christus) alles mit sich zu versöhnen – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes‹.« Mit anderen Worten, es gefiel der Gottheit nicht nur, dass die ganze Fülle in ihm wohnen sollte. Vielmehr wollte sie auch, dass Christus »alles mit sich … versöhnen« sollte.
In diesem Kapitel werden zwei Versöhnungen erwähnt: 1. Die Versöhnung von Dingen (alles; V. 20) und 2. die Versöhnung von Menschen (V. 21). Die erste liegt noch in der Zukunft, während die zweite für diejenigen in der Vergangenheit liegt, die an Christus glauben.
Exkurs zum Thema Versöhnung
Versöhnen bedeutet, eine rechte Beziehung oder einen Maßstab wiederherzustellen. Es geht darum, dort Frieden zu machen, wo vorher Feindschaft war. Die Bibel spricht nirgendwo davon, dass Gott mit den Menschen versöhnt werden müsse, sondern immer muss der Mensch mit Gott versöhnt werden. Die fleischliche Gesinnung ist Feindschaft gegen Gott (Röm 8,7), und deshalb muss der Mensch versöhnt werden.
Als die Sünde in die Welt kam, wurde der Mensch von Gott entfremdet. Er nahm eine feindselige Haltung gegenüber Gott ein. Deshalb muss er versöhnt werden.
Doch die Sünde hat die gesamte Schöpfung in Mitleidenschaft gezogen, nicht nur die Menschheitsfamilie. 1. Bestimmte Engel haben in der Vergangenheit gesündigt. (Doch gibt es in Gottes Wort keinerlei Hinweis darauf, dass diese Engel wieder versöhnt werden könnten. Sie werden »zum Gericht des großen Tages mit ewigen Fesseln in Finsternis verwahrt« [Judas 6].) In Hiob 4,18 spricht Elifas davon, dass Gott seine Engel des Irrtums anklagt.
2. Die Tiere der Schöpfung wurden durch die Sünde in Mitleidenschaft gezogen. »Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden … Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt« (Röm 8,19-22). Die Tatsache, dass Tiere unter Krankheit, Schmerz und Tod leiden, ist ein Beweis dafür, dass die Schöpfung vom Fluch der Sünde nicht ausgenommen wurde.
3. Der Erdboden wurde von Gott verflucht, nachdem Adam gesündigt hatte  (1. Mose  3,17).  Das  zeigt  sich durch Unkraut, Dornen und Disteln. 4. Im Buch Hiob berichtet uns Bildad, dass selbst die Sterne in Gottes Augen nicht rein sind (Hiob 25,5), sodass die Sünde offenbar auch die Sternenwelt in Mitleidenschaft gezogen hat. 5. Hebräer 9,23 sagt, dass selbst Dinge im Himmel gereinigt werden müssen. Wir wissen nicht, was alles damit gemeint ist, doch vielleicht geht dieser Vers davon aus, dass Dinge im Himmel durch die Gegenwart Satans verunreinigt worden sind, der als Ankläger der Brüder Zugang zu Gott hat (Hiob 1,6.7; Offb 12,10). Einige Ausleger sind der Ansicht, dass dieser Abschnitt sich auf die Wohnstätte Gottes bezieht, andere denken an den Sternenhimmel. Die letztgenannten Exegeten sind der Ansicht, dass Satan im Sternenhimmel Zugang zu Gott hat. Jedenfalls sind sich alle einig, dass der Thron Gottes sicherlich nicht durch Sünde verunreinigt ist.
Eine der Zielsetzungen des Todes Christi war es, die Versöhnung von Menschen und Dingen mit Gott zu ermöglichen. Um das zu erreichen, musste Christus die Ursache von Feindschaft und Entfremdung beseitigen. Das gelang ihm vollständig, indem er die Sündenfrage zu Gottes völligem Wohlgefallen löste.
Die Tragweite der Versöhnung wird wie folgt in Kolosser 1 ausgeführt: 1. Alle, die an den Herrn Jesus Christus glauben, sind schon mit Gott versöhnt (V. 21).  Obwohl  das  Versöhnungswerk Christi für die gesamte Menschheit ausreicht, tritt es nur für die in Kraft, die es für sich in Anspruch nehmen.
2. Am Ende der Zeiten werden alle Dinge versöhnt, ob es sich um Irdisches oder Himmlisches handelt (V. 20). Das bezieht sich auf die Tiere und auf alles Unbelebte, das durch die Sünde verunreinigt ist. Doch bezieht es sich nicht auf Satan, auf andere gefallene Engel oder auf ungläubige Menschen. Ihr ewiges Schicksal wird in der Schrift unmissverständlich dargestellt.
Versöhnung bezieht sich nach den Aussagen der Schrift nicht auf »Dinge unter der Erde«. Es gibt einen Unterschied zwischen Versöhnung und Unterwerfung. Der letztgenannte Sachverhalt wird in Philipper 2,10 beschrieben: »… damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen.« Oder, wie Darby es übersetzt, »der himmlischen und irdischen und höllischen Wesen«. Alle geschaffenen Wesen, sogar die gefallenen Engel, werden eines Tages gezwungen werden, sich vor dem Herrn Jesus zu verneigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie versöhnt werden. Wir betonen das, weil Kolosser 1,20 benutzt worden ist, die Irrlehre von der Allversöhnung zu unters tützen – nämlich die Behauptung, dass Satan selbst, die gefallenen Engel, und die ungläubigen Menschen alle eines Tages mit Gott versöhnt werden. Unser Abschnitt beschränkt das Ausmaß der Versöhnung auf Irdisches und Himmlisches. »Dinge unter der Erde« oder »Höllisches« sind nicht eingeschlossen.
1,21 Paulus erinnert die Kolosser daran, dass in ihrem Fall die Versöhnung schon geschehen ist. Vor ihrer Bekehrung waren die Kolosser heidnische Sünder gewesen, »entfremdet« von Gott und Gottes »Feinde nach der Gesinnung« durch ihre »bösen Werke« (Eph 4,17.18). Sie mussten unbedingt versöhnt werden, und der Herr Jesus Christus hat in seiner unvergleichlichen Gnade die Initiative dazu ergriffen.
1,22 Er versöhnte sie »in dem Leib seines Fleisches durch den Tod«. Der Ausdruck »Leib seines Fleisches« bedeutet einfach, dass der Herr Jesus die Versöhnung dadurch zustande brachte, dass er am Kreuz in einem echten menschlichen Leib starb (nicht als Geistwesen, für den ihn die Gnostiker hielten). Man vergleiche dies mit Hebräer 2,14-16, wo die Fleischwerdung Christi als notwendiger Bestandteil der Erlösung dargestellt wird. Das gnostische Konzept leugnete diesen Punkt.
Das wunderbare Ergebnis dieser Versöhnung wird durch die hier gebrauchten Worte (»um euch heilig und tadellos und unsträflich vor sich hinzustellen«) ausgedrückt. Welch eine erstaunliche Gnade, dass gottlose Sünder von ihrem vergangenen bösen Leben befreit und in ein Reich solcher Segnungen versetzt werden können!
C. R. Erdman konnte ganz recht sagen: »In Christus finden wir einen Gott, der nahe ist, der sich sorgt, der hört, der Mitleid hat und der rettet.«10 Die ganze Wirkung der Versöhnung Christi bezüglich seines Volkes wird eines Tages deutlich werden. Dann werden wir ohne Sünde und makellos vor Gott den Vater gestellt werden und als Anbeter Christus froh als den Würdigen anerkennen (Offb 5).
1,23 Nun fügt der Apostel einen der »sofern«11-Abschnitte an, die schon so viele Kinder Gottes entmutigt haben. Oberflächlich gesehen hängt nach der Lehre dieses Verses die Fortsetzung unserer Erlösung davon ab, dass wir »im Glauben« bleiben. Wenn das so wäre, wie könnte man diesen Vers dann in Übereinstimmung mit anderen Teilen des Wortes Gottes bringen, etwa Johannes 10,28.29 (wo es heißt, dass kein Schaf Christi je verlorengehen kann)?
Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage, wollen wir zu Beginn gern feststellen, dass die ewige Sicherheit des Gläubigen eine wunderbare Wahrheit ist, die sehr deutlich auf den Seiten des NT festgehalten ist. Dennoch lehrt die Schrift wie in diesem Vers auch, dass wahrer Glaube immer von Beständigkeit gekennzeichnet ist und jemand, der wirklich von Gott geboren wird, treu bis zum Ende bleiben wird. Beständigkeit ist also ein Beweis der Echtheit des Glaubens. Natürlich gibt es immer die Gefahr, zurückzufallen, doch ein Christ fällt nur, um wiederaufzustehen (Spr 24,16). Er wird nie den Glauben aufgeben.
Der Geist Gottes hat es für gut gehalten, viele solcher sogenannter »sofern«Abschnitte im Wort Gottes zu verteilen, um diejenigen herauszufordern, die den Namen Christi bekennen, ohne dass ihr Bekenntnis den Tatsachen entspricht. Wir möchten nichts sagen, was diesen Abschnitten die Spitze nehmen könnte. Jemand hat einmal dazu gesagt: »Dieser Begriff (›sofern‹) in der Schrift richtet sich an Namenschristen hier in der Welt, damit sich diese einer angemessenen Herzensprüfung unterziehen.«
Pridham kommentiert diese herausfordernden Verse folgendermaßen: Man wird durch sorgfältiges Studium des Wortes feststellen, worin die Gewohnheit des Geistes besteht: Die großartigsten und in jeder Beziehung absoluten Wahrheiten über die Gnade gehen mit Warnungen einher, die erkennen lassen, dass diejenigen, die nur dem Namen nach dem Glauben angehören, schlimm versagen werden … Warnungen, die in den Ohren falscher Bekenner hart klingen, werden von gottesfürchtigen Menschen bereitwillig als Medizin eingenommen … Das Ziel all dieser Lehren, die wir hier haben, besteht darin, den Glauben zu stärken und durch Aussagen über vorweggenommene Zustände rücksichtslose und selbstbewusste Namenschristen zu brandmarken.12 Zweifellos hat Paulus in erster Linie die Gnostiker im Sinn, wenn er die Kolosser ermahnt, sich nicht »von der Hoffnung« abbringen zu lassen, die zum »Evangelium« gehört bzw. die es weckt. Sie sollen »im Glauben« bleiben, den sie von Epaphras gelernt haben, und zwar »gegründet und fest«.
Und wieder spricht Paulus davon, dass das Evangelium »der ganzen Schöpfung unter dem Himmel gepredigt worden ist«. Das Evangelium richtet sich an die gesamte Schöpfung, doch hat es noch nicht wirklich jedes Lebewesen erreicht. Paulus führt die weltweite Verkündigung des Evangeliums als Zeugnis seiner Echtheit an. Er sieht das in der Tatsache, dass es den Bedürfnissen der Menschen an jedem Ort angepasst werden kann. Dieser Vers bedeutet nicht, dass jeder Mensch zu der Zeit das Evangelium gehört hatte. Es handelte sich nicht um eine vollendete Tatsache, sondern um einen Prozess, der noch im Gange war. Auch war das Evangelium in die gesamte Welt der Bibel, d. h. in die Mittelmeerländer, gelangt. Paulus spricht von sich selbst als »Diener«. Dieses Wort hat nichts Offizielles an sich. Es beschreibt kein erhabenes Amt, sondern eine niedrige Aufgabe. D. Der Dienst, dem Paulus verpflichtet ist (1,24-29)
1,24 Die letzten sechs Verse des ersten Kapitels beschreiben den Dienst des Paulus. Zunächst einmal tat er diesen Dienst in einer Atmosphäre des Leidens. Paulus schreibt aus dem Gefängnis und kann sagen, dass er sich jetzt »in den Leiden« für die  Heiligen,  d. h.  um  ihretwillen,  freut. Als Diener des Herrn Jesus Christus war er berufen, unzählige Mühen, Verfolgungen und »Drangsale« zu erleiden. Das war für ihn ein Vorrecht – das Privileg, das zu erfüllen, was von den »Drangsalen des Christus« auf Erden »noch aussteht«. Was meint der Apostel damit? Zunächst kann dies sich nicht auf das Sühneleiden Christi am Kreuz beziehen. Dies ist ein für alle Mal vollendet, und kein Mensch kann an ihm jemals teilhaben. Doch es gibt einen Aspekt, hinsichtlich dessen der Herr Jesus noch immer leidet. Als Saulus von Tarsus auf der Straße nach Damaskus zu Boden geworfen wurde, hörte er eine Stimme vom Himmel, die sagte: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« Saulus hatte nicht bewusst den Herrn verfolgt, er hatte nur die Christen verfolgt. Er erkannte jedoch, dass er als Verfolger der Gläubigen eigentlich ihren Heiland verfolgte. Das Haupt im Himmel spürt die Leiden seines Leibes auf Erden. Deshalb hält Paulus alle Leiden, die Christen um des Herrn Jesus willen ertragen müssen, für einen Teil der Leiden Christi, die »noch ausstehen«. Dazu gehören Leiden um der Gerechtigkeit willen, Leiden um seinetwillen (wenn Gläubige seine Schmach tragen) und um des Evangeliums willen.
Doch die »Drangsale des Christus« sind nicht nur Leiden für Christus, sondern auch dieselbe Art von Leiden, wie sie der Heiland erduldete, als er auf Erden war, wenn auch in einem sehr viel geringerem Ausmaß.
Die Leiden, die der Apostel »in« seinem »Fleisch« erduldete, geschahen »für« Christi »Leib«, d. h. für seine Gemeinde. Die Leiden unerlöster Menschen sind in gewissem Sinne zwecklos. Es ist keinerlei hohe Würde damit verbunden. Sie sind nur ein Vorgeschmack der Schmerzen der Hölle, die dann die Betreffenden für immer erdulden müssen. Das gilt jedoch nicht für die Leiden von Christen. Wenn sie für Christus leiden, dann leidet Christus auf eine sehr reale Weise mit ihnen.
1,25 »Ihr Diener bin ich geworden.« Paulus hat diesen Ausdruck schon am Ende von Vers 23 benutzt. Nun wiederholt er ihn. Doch gibt es hier einen Unterschied in der Verwendung. Der Apostel hatte einen zweifachen Dienst: Erstens war er gesandt, das Evangelium zu predigen  (V. 23),  und  zweitens  war  er  gesandt, das wunderbare Geheimnis der Gemeinde zu lehren (V. 25). Es gibt hier eine Lehre für jeden wahren Diener Christi. Es wird von uns nicht erwartet, durch das Evangelium Menschen nur zu Christus zu führen und sie sich dann selbst zu überlassen, damit sie weiterkommen, so gut sie es eben vermögen. Von uns wird vielmehr erwartet, dass wir unsere evangelistischen Bemühungen darauf richten, neutestamentliche Gemeinden vor Ort zu gründen, in denen Bekehrte in ihrem Glauben erbaut werden können, und zwar auch bezüglich der Wahrheit über die Gemeinde. Der Herr will, dass seine Kinder dahin geführt werden, wo sie genährt werden und wachsen können. So haben wir in Kolosser 1 nun Folgendes gesehen: 1. Christi zweifache Vorrangstellung, 2. Christi zweifache Versöhnung und 3. Paulus’ zweifachen Dienst. Wenn Paulus hier in Vers 25 sagt: »Ihr Diener bin ich geworden«, bezieht er sich auf seinen Dienst an der Gemeinde und nicht am Evangelium. Das wird aus dem folgenden Teil deutlich: »… nach der Verwaltung (oder Haushaltung) Gottes, die mir im Blick auf euch gegeben ist.« Ein Verwalter ist jemand, der für die Interessen eines anderen einsteht bzw. sein Eigentum verwaltet. Paulus war in dem Sinne ein Verwalter, dass ihm die großartige Wahrheit über die Gemeinde auf besondere Weise anvertraut war. Das Geheimnis des Leibes Christi wurde ihm zwar nicht allein offenbart, aber er war erwählt, diese kostbare Wahrheit den Heiden zu bringen. Zu dieser Wahrheit gehört die einzigartige Stellung der Gemeinde in ihrer Beziehung zu Christus und zu den Haushaltungen mit ihren jeweiligen  Einrichtungen  (z. B.  mit  dem Opferdienst Israels in der Haushaltung des Gesetzes, Anm. d. Übers.), ihrer besonderen Hoffnung und ihrer besonderen Bestimmung. Dazu zählen ferner die vielen anderen Wahrheiten über das Leben der Gemeinde und ihre Ordnung, die Gott Paulus und den anderen Aposteln gegeben hat.
Wenn Paulus sagt: »… die mir im Blick auf euch gegeben ist«, dann denkt er an die Kolosser als Heidenchristen. Der Apostel Petrus war gesandt worden, dem jüdischen Volk zu predigen, während der gleiche Auftrag an Paulus mit dem Unterschied erging, dass er zu den Heiden gesandt war.
Einer der schwierigsten Teile diese Kapitels ist der Ausdruck: »… um das Wort Gottes zu vollenden.« Was genau meint der Apostel damit? Zunächst wissen wir, dass er nicht das vollständige Wort Gottes meint, zu dem er das letzte Buch beitragen wollte. Soweit wir wissen, war die von Johannes geschriebene Offenbarung das zeitlich gesehen letzte Buch, das dem NT hinzugefügt wurde. In welchem Sinne hat Paulus also »das Wort Gottes« vollendet?
Als Erstes kann »vollenden« so viel wie »vollständig verkünden« oder »völlig bekannt machen« heißen. So hat Paulus den ganzen Ratschluss Gottes verkündigt. Wir wollen zweitens sagen, dass er das Wort Gottes lehrmäßig »vollendete«. Die große Wahrheit vom Geheimnis Christi und der Gemeinde ist der Schlussstein der neutestamentlichen Offenbarung. Auf ganz bestimmte Weise vervollständigt sie den Kreis der Themen, die vom NT behandelt werden. Während andere Bücher später als die Paulusbriefe geschrieben wurden, enthalten sie doch keine großen Geheimnisse des Glaubens, die nicht auch in den Schriften des Apostels Paulus zu finden wären. In einem sehr realen Sinn erfüllten die Offenbarungen über das Geheimnis der Gemeinde das Wort Gottes. Nichts, was später noch hinzugefügt wurde, war im gleichen Sinne eine neue Wahrheit.
1,26 Dass Paulus’ Vollendung des Wortes Gottes etwas mit dem »Geheimnis« zu tun hat, wird in diesem Vers ausgeführt. Es geht nämlich um das »Geheimnis, das von den Weltzeiten und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen geoffenbart worden ist«. Im NT ist ein Geheimnis eine Wahrheit, die bisher noch nicht offenbart worden ist, aber den Menschen durch die Apostel und Propheten des NT bekannt gemacht wurde. Es handelt sich um Wahrheiten, die der Mensch niemals von sich aus erdacht haben könnte, deren Verkündigung Gott aber in seiner Gnade verfügt hat.
Dieser Vers ist einer der vielen des NT, die lehren, dass die Wahrheit über die Gemeinde im AT unbekannt war. Diese Wahrheit war »von den Weltz eiten und von den Geschlechtern her verb orgen« (Eph 3,2-13; Röm 16,25-27). Deshalb ist es falsch, davon zu reden, dass die Gemeinde mit Adam oder mit Abraham begonnen habe. Die Gemeinde wurde zu Pfingsten gegründet, und die Wahrheit der Gemeinde wurde durch die Apostel offenbart. Die Gemeinde des NT ist nicht mit Israel im AT identisch. Sie ist eine Einrichtung, die vorher nicht existiert hat.
Israels nationale Existenz begann, als Gott Abraham aus Ur in Chaldäa berief und damit die übrigen Völker ihren Sünden und ihrem Götzendienst überließ. Er machte Abrahams Nachkommen zu einem Volk, das sich von allen anderen unterschied und von ihnen abgesondert war. Bei der Gemeinde ist es umgekehrt, denn sie ist eine Vereinigung von Gläubigen aller Rassen und Nationalitäten in einem Leib, der in moralischer und geistlicher Hinsicht von allen anderen abgesondert ist. Dass die Gemeinde nicht die Fortsetzung Israels ist, kann man an verschiedenen Dingen sehen. Dazu gehört das Bild vom Ölbaum, das Paulus in Römer 11 benutzt, um zu zeigen, dass das Volk Israel seine Identität behält, auch wenn der einzelne Jude, der an Christus glaubt, Teil der Gemeinde wird (Kol 3,10.11).
1,27 Die Wahrheit dieses »Geheimnisses« kann man folgendermaßen zusammenfassen:
1. Die Gemeinde ist der Leib Christi. Alle wahren Gläubigen sind Glieder an diesem Leib und werden Christi Herrlichkeit für immer teilen. 2. Der Herr Jesus ist das Haupt des Leibes und sorgt für sein Leben, seine Nahrung und seine Führung. 3. Juden haben in der Gemeinde hinsichtlich des Zugangs keinen Vorteil, auch haben die Heiden keinerlei Nachteil. Sowohl Juden als auch Heiden werden durch den Glauben Glieder des Leibes und bilden einen neuen Menschen (Eph 2,15; 3,6). Dass Heiden errettet werden können, war im AT keine verborgene Wahrheit. Dass bekehrte Heiden jedoch Glieder am Leib Christi werden konnten, um in der Herrlichkeit bei ihm zu sein und mit ihm zu regieren, das ist eine Wahrheit, die bis dahin unbekannt war. Paulus betont in Vers 27 besonders den Aspekt des Geheimnisses, dass der Herr Jesus bereit ist, in einem heidnischen Herzen zu wohnen. »Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.« Das war an die Kolosser gerichtet, die von ihrer Geburt her Heiden waren. F. B. Meyer ruft aus: »Dass Gott im Herzen eines Kindes Abrahams wohnen sollte, war schon ein wunderbarer Akt der Herablassung, doch dass er eine Heimat im Herzen eines Heiden finden sollte, war unglaublich.« Und doch geht es in diesem Geheimnis genau darum, dass nämlich »die Nationen … Miterben und Miteinverleibte … und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium« sein sollten (Eph 3,6). Um die Bedeutung dieser Wahrheit zu betonen, sagt der Apostel nicht einfach »dieses Geheimnis« oder »die Herrlichkeit dieses Geheimnisses«, sondern »der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses«. Er reiht hier wieder Worte aneinander, um seinen Lesern die Tatsache klarzumachen, dass dies eine wunderbare Wahrheit ist, die unsere gesamte Aufmerksamkeit verdient. »Das ist: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.« Christus, der in uns wohnt, ist »die Hoffnung der Herrlichkeit« für den Gläubigen. Wir haben keine andere Zugangsberechtigung für den Himmel als den Heiland selbst. Die Tatsache, dass er in uns wohnt, macht uns den Himmel so sicher, als ob wir schon dort wären.
1,28 Der Ausdruck »ihn verkündigen wir« ist bedeutsam. Das »ihn« bezieht sich natürlich auf den Herrn Jesus (V. 27). Paulus sagt hier, dass er eine Person predigt. Er verbrachte seine Zeit nicht mit Politik oder Philosophie, sondern konzent rierte sich auf den Herrn Jesus selbst, weil er erkannte, dass Christus das Herzstück des christlichen Glaubens ist. »… indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden Menschen in aller Weisheit lehren, um jeden Menschen vollkommen in Christus darzustellen.« Hier erhalten wir weitere Einsicht in den Dienst des geliebten Apostels. Es war ein Dienst von Mensch zu Mensch. Er warnte die Unerlösten vor dem zukünftigen furchtbaren Zorn, und er lehrte die Heiligen die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens. Dann sehen wir, welche Bedeutung Paulus der Nacharbeit beimisst. Er fühlte sich wirklich für diejenigen verantwortlich, die er auf den Herrn hingewiesen hat. Er gab sich nicht damit zufrieden, dass sich etliche bekehrten und er weitergehen konnte. Er wollte »jeden Menschen vollkommen in Christus darstellen«. Paulus stellt sich hier selbst als der Priester dar, der Gott Opfer darbringt. Die Opfer sind hier Männer und Frauen. In welchem Zustand bringt er sie dem Herrn dar? Als Schwache oder Säuglinge im Glauben? Nein, er möchte, dass sie reife, erwachsene Christen im Mannesalter sind. Er möchte, dass sie in der Wahrheit wohlgegründet sind. Haben wir das gleiche Anliegen für diejenigen, die wir zu Christus geführt haben?
1,29 Auf dieses Ziel arbeitete der Apostel hin, genauso wie die anderen Apostel. Und doch erkannte er, dass er dies nicht aus eigener Kraft tat, sondern »gemäß seiner Wirksamkeit, die in mir wirkt in Kraft«. Mit anderen Worten, er erkannte, dass er nur deshalb imstande war, dem Herrn zu dienen, weil er von ihm die Kraft dazu erhielt. Er war sich der Tatsache bewusst, dass der Herr »in« ihm »in Kraft« wirkte, wenn er von Ort zu Ort zog, Gemeinden gründete und die Heiligen Gottes erbaute.
Die Verse 28 und 29 sind nach der Phillips-Übersetzung besonders hilfreich: Deshalb können wir nicht anders, als Christus zu verkündigen. Wir warnen jeden, dem wir begegnen, und wir lehren jeden, den wir nur lehren können, alles, was wir über Jesus Christus wissen. Damit wollen wir, wenn möglich, jeden zur vollen Reife in Christus bringen. Daran arbeite ich ständig, und zwar mit all der Kraft, die Gott mir gibt. E. Christi Hinlänglichkeit gegenüber den Gefahren der Philosophie, der Gesetzlichkeit, der Mystik und der Askese (2,1-23)
2,1 Dieser Vers ist eng mit den letzten zwei Versen von Kapitel 1 verbunden. Dort hat der Apostel Paulus seine Anstrengungen beim Lehren und Predigen beschrieben, um jeden Einzelnen in Christus als reifen Gläubigen darzustellen. Hier sind nun seine Anstrengungen anderer Natur. Es wird von einem »großen Kampf« im Gebet gesprochen. Und in diesem »großen Kampf« geht es um Menschen, denen er noch nie begegnet ist. Vom ersten Tag an, an dem er von den Kolossern gehört hatte, hatte er für sie alle gebetet. Dazu gehörten auch die Gläubigen »in Laodizea« und andere Christen, die  ihm  noch  nie  begegnet  waren  (vgl. Offb 3,14 bezüglich des späteren traurigen Zustands dieser Gemeinde). Vers 1 ist ein Trost für all diejenigen, die niemals das Vorrecht eines öffentliches Dienstes in der Gemeinde genießen. Er lehrt, dass wir nicht auf das beschränkt sein müssen, was wir vor den Menschen tun. Wir können dem Herrn auf unseren Knien in der Abgeschiedenheit unseres Zimmers dienen. Wenn wir in der Öffentlichkeit dienen, dann hängt unsere Wirksamkeit in großem Maße von unserer persönlichen Hingabe gegenüber dem Herrn ab.
2,2 Hier wird der genaue Inhalt des Gebetes des Paulus wiedergeben. Der erste Teil des Gebets lautet, dass »ihre Herzen getröstet werden«. Die Kolosser waren durch die gnostischen Lehren gefährdet. Deshalb bedeutet »getröstet« hier so viel wie festgemacht oder bestärkt. Der zweite Teil des Gebetes lautet: »… vereinigt in Liebe«. Wenn die Heiligen eine frohe, liebevolle Gemeinschaft untereinander aufrechterhielten, dann hätten sie eine gesicherte Flanke gegen die Angriffe des Feindes. Auch würde Christus, wenn sie ihn von Herzen lieben würden, ihnen die tieferen Geheimnisse des christlichen Glaubens enthüllen. Es ist eine wohlbekannte biblische Tatsache, dass der Herr seine Geheimnisse denen enthüllt, die sich eng an ihn halten. Johannes etwa war der Apostel, der an der Brust Jesu ruhte, und es war kein Zufall, dass er derjenige war, dem die große Offenbarung Jesu Christi gegeben wurde. Als Nächstes betet Paulus darum, dass sie allen »Reichtum an Gewissheit des Verständnisses« erhalten sollten. Je mehr »Verständnis« des christlichen Glaubens sie erhielten, desto überzeugter würden sie von seiner Wahrheit sein. Je fester die Christen im Glauben gegründet waren, desto weniger würden sie in der Gefahr stehen, von den damaligen Verkündigern falscher Lehren in die Irre geleitet zu werden.
Der Ausdruck »volle Gewissheit« wird im NT dreimal verwendet. 1. Volle Gewissheit des Glaubens – wir ruhen auf Gottes Wort, seinem Zeugnis für uns (Hebr 10,22). 2. Volle Gewissheit des Verständnisses – wir wissen und wir haben Gewissheit (Kol 2,2).
3. Volle Gewissheit der Hoffnung – wir schreiten voran und sind zuversichtlich, was den Ausgang betrifft (Hebr 6,11).
Der Höhepunkt des Gebets des Paulus findet sich in den Worten »zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes, das ist Christus«.
Was meint Paulus nun, wenn er sagt, dass wir das »Geheimnis Gottes … Christus« erkennen sollen? Er bezieht sich noch immer auf die Wahrheit von der Gemeinde – auf Christus, das Haupt des Leibes, und auf die Gläubigen als Glieder des Leibes. Doch er hat hier den besonderen Aspekt im Auge, dass Christus das Haupt ist. Ihm ist daran gelegen, dass die Heiligen diese Wahrheit anerkennen. Er weiß, dass sie, wenn sie die Größe ihres Hauptes erkennen, von den Gnostikern oder anderen Irrlehrern nicht mehr bedroht werden können.
Paulus möchte, dass die Heiligen Christus in Anspruch nehmen, seine Hilfsquellen ausschöpfen und in jedem Notfall von ihm abhängig sind. Er will, dass sie Folgendes erkennen: Christus ist, wie Alfred Mace es ausdrückt, … inmitten der Angehörigen seines Volkes, besitzt jede Eigenschaft der Gottheit und hat unendliche, unaussprechliche und unermessliche Reichtümer, sodass sie niemals jemand anders um etwas bitten mussten. »Ihnen wollte Gott zu erkennen geben, was der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses unter den Nationen sei, und das ist: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit« (Kol 1,27). Diese Wahrheit, die man anhand der Kraft erkennt, ist das sichere Gegengift gegen laodizeischen Stolz, rationalistische Theologie, traditionsverhaftete Religion, von Dämonen besessene spiritistische Medien und jede andere Form von Widerstand und nachgeäffter Glaubenspraxis.13
2,3 »In« Christus sind »alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen«. Die Gnostiker rühmten sich eines Verständnisses, das alles weit übersteige, was sich in der schriftlichen göttlichen Offenbarung finden ließ. Doch hier sagt Paulus, dass »alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis« in Christus, dem Haupt, verborgen sind. Deshalb gibt es für die Gläubigen keinen Grund, über das hinauszugehen, was in der Schrift steht. »Die Schätze«, die in Christus sind, sind dem Unglauben verborgen. Sogar der Gläubige muss Christus gut kennen, um sie zu verstehen.
Christus ist in dem Gläubigen und zwar als Haupt, als Zentrum und als Ursprung für alles, was er braucht. Durch seine immensen unausforschlichen Reichtümer, durch den überragenden Reichtum seiner unendlichen Größe, durch alles, was er als Gott ist, durch alles, was er in der Schöpfung und Erlösung geschaffen hat, durch seine persönlichen, moralischen und mit seinen Stellungen verbundenen Herrlichkeiten ist er weitaus mehr als ein ganzes Heer von Professoren, Schriftstellern, Medien, Kritikern und allen anderen, die gegen ihn aufgeführt werden mögen (ohne Quellenangabe).
Dieser Vers enthält mehr, als auf den ersten Blick erscheint. Alle »Erkenntnis« ist in Christus zu finden. Er ist die fleischgewordene Wahrheit. Er sagte: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Nichts, was wirklich wahr ist, wird je seinem Wort oder Werk widersprechen. Der Unterschied zwischen »Erkenntnis« und »Weisheit« ist oft folgendermaßen erklärt worden: »Erkenntnis« ist das Verstehen oder Herausfinden einer Wahrheit, während »Weisheit« die Fähigkeit ist, die gelernte Wahrheit anzuwenden.
2,4 Weil alle Weisheit und alle Erkenntnis in Christus sind, sollten Christen sich nicht von »überredenden Worten« irgendwelcher verlogenen Sektenanhänger täuschen lassen. Wenn jemand nicht die Wahrheit hat, dann muss er versuchen, durch geschickte Darbietung seiner Botschaft eine Gefolgschaft anzuziehen. Das ist genau das, was Irrlehrer immer tun. Sie argumentieren mit Wahrscheinlichkeiten und bauen ein Lehrsystem auf Schlussfolgerungen auf. Wenn dagegen jemand die Wahrheit Gottes predigt, dann braucht er sich nicht auf Dinge wie Redegewandtheit oder clevere Argumente zu verlassen. Die Wahrheit ist selbst ihr bestes Argument und wird sich wie ein Löwe selbst verteidigen.
2,5 Dieser Vers zeigt, wie ausführlich dem Apostel Paulus die Probleme und die Bedrohung der Kolosser bekannt waren. Er stellt sich hier im Bild eines Offiziers dar, der die versammelte Truppe mustert, die sich vor ihm zum Appell versammelt hat. Die Worte »Ordnung« und »Festigkeit« sind Begriffe aus dem militärischen Bereich. Der erste beschreibt die Schlachtordnung einer Schar Soldaten, während der zweite für die starke Flanke steht, die sie bieten. Paulus freut sich, wenn er (»im Geist« und nicht leiblich) sieht, wie die Kolosser getreu dem Wort Gottes leben.
2,6 Nun ermutigt er sie, auf dieselbe Art, wie sie angefangen hatten (d. h. durch den Glauben), weiterzumachen. »Wie ihr nun den Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt, so wandelt in ihm.« Die Betonung liegt hier wohl auf dem Wort »Herr«. Mit anderen Worten, sie hatten anerkannt, dass der Herr für alle Bedürfnisse vollkommen ausreicht. Er war genug, nicht nur für ihr Heil, sondern auch für ihr gesamtes Christenleben. Nun drängt Paulus die Heiligen, auch weiterhin die Herrschaft Christi anzuerkennen. Sie sollten nicht von ihm abweichen, indem sie menschliche Lehren annahmen, so überzeugend diese auch klingen mochten. Das Wort »wandeln« wird oft benutzt, um das christliche Leben zu beschreiben. Es spricht von Handlung und Fortschritt. Man kann nicht laufen und gleichzeitig am selben Ort bleiben. Genauso ist es im Christenleben: Entweder gehen wir vorwärts oder zurück.
2,7 Paulus benutzt als Erstes ein Wort aus der Landwirtschaft, dann einen Begriff aus der Architektur. Der Ausdruck »gewurzelt« bezieht sich auf die Ereignisse zur Zeit unserer Bekehrung. Es ist, als ob der Herr Jesus Christus der Erdboden ist und wir Wurzeln in ihn schlagen, um all unsere Nahrung von ihm zu erhalten. Damit wird auch betont, wie wichtig es ist, dass wir tief verwurzelt sind, sodass wir nicht ausgerissen werden, wenn stürmische Winde wehen (Matth 13,5.20.21). Dann wechselt Paulus zum Bild eines Gebäudes. »… auferbaut in ihm.« Hier ist Jesus der Grundstein, und wir sind auf ihm als dem Fels der Ewigkeit auferbaut (Lk 6,47-49). Wir sind ein für alle Mal »eingewurzelt«, doch wir werden ständig »auferbaut«.
»Und gefestigt im Glauben.« Das Wort »gefestigt« kann auch mit »bestätigt« übersetzt werden. Hier geht es um den Gedanken, dass es sich um einen ständigen Prozess handelt, der im Leben des Christen stattfindet. Epaphras hatte die Kolosser in den Grundlagen des Glaubens unterwiesen. Während sie nun auf dem christlichen Pfad wandelten, würden diese kostbaren Wahrheiten in ihren Herzen und Leben ständig »bestätigt«. 2. Petrus 1,9 zeigt im Gegensatz dazu, dass mangelnder Fortschritt im geistlichen Leben zu Zweifeln, Freudlosigkeit und Verlust der Segnungen des Evan geliums führt.
Paulus beschließt die Beschreibung mit den Worten: »… darin überströmend mit Danksagung.« Er möchte nicht, dass die Christen sterile Lehre in sich aufnehmen. Vielmehr will er, dass ihre Herzen von den wunderbaren Wahrheiten des Evangeliums erfüllt werden, sodass sie wiederum von Lob und Dank gegenüber dem Herrn überfließen. »Danksagung« für die Segnungen des christlichen Glaubens ist ein wundervolles Gegengift gegen das Gift der Irrlehre. Arthur Way übersetzt Vers 7 folgendermaßen: »Seid wie Bäume tief verwurzelt, steht fest wie Gebäude, entdeckt seine Gegenwart bei euch, und seid auch (denn diesbezüglich haben wir euch unterwiesen) unerschütterlich in eurem Glauben und fließt über vor Dankbarkeit.«
2,8 Nun ist Paulus bereit, sich direkt mit den besonderen Irrlehren zu befassen, die die Gläubigen im Tal des Lycus, in dem Kolossä lag, bedrohten. »Seht zu, dass niemand euch einfange durch die Philosophie und leeren Betrug.« Irrlehrer versuchen, den Menschen das Wertvolle zu rauben, das sie besitzen, und etwas Wertloses als Ersatz dafür anzubieten. »Philosophie« bedeutet wörtlich »Weisheitsliebe«. Sie ist nicht an sich böse, sondern wird dann zum unheilvollen Erkenntnisstreben, wenn Menschen Weisheit außerhalb des Herrn Jesus Christus suchen. Hier wird das Wort benutzt, um den Versuch des Menschen zu beschreiben, durch seinen eigenen Intellekt und seine Nachforschungen die Tatsachen herauszufinden, die man nur durch göttliche Offenbarung erkennen kann (1. Kor 2,14). Dieser Versuch ist böse, weil er den menschlichen Verstand über Gott stellt und damit das Geschöpf mehr ehrt als den Schöpfer. Es ist für die Liberalen unserer Zeit charakteristisch, dass sie sich ihres Intellekts und ihres Rationalismus rühmen. Der Ausdruck »leerer Betrug« bezieht sich auf die falschen und wertlosen Lehren derer, die angeblich geheime Wahrheiten eines besonderen Personenkreises anbieten wollen. Es steckt wirklich nichts dahinter. Doch diese Lehrer sammeln eine Gefolgschaft um sich, indem sie die natürliche Neugier des Menschen ansprechen. Auch appellieren sie an ihre Eitelkeit, indem sie diese zu Mitgliedern einer »auserwählten Gruppe« machen.
Die »Philosophie« und der »leere Betrug«, die Paulus beide bekämpft, entsprechen »der Überlieferung der Menschen, … den Elementen der Welt und nicht Christus«. Mit »Überlieferung der Menschen« sind hier religiöse Lehren gemeint, die von Menschen erdacht sind, aber keine echte Grundlage in der Schrift haben. (Eine Überlieferung entsteht, wenn eine Gewohnheit, die als gut erkannt wurde oder in bestimmten Umständen etwas Gutes bewirkte, als verbindlich festgelegt und an die Nachgeborenen weitergegeben wird.) Die »Elemente der Welt« beziehen sich auf jüdis che Rituale, Zeremonien und Ordnungen, wodurch Menschen erhoffen, Gottes Wohlwollen zu erlangen. Das Gesetz des Mose hat seinen Zweck als Vorbild des Zukünftigen erfüllt. Es war eine »Grundschule« gewesen, um die Herzen für den kommenden Christus zuzubereiten. Zu diesem Gesetz jetzt zurückzukehren, hieße, den Irrlehrern in die Hände zu spielen. Diese hatten sich nämlich verschworen, an die Stelle des Sohnes Gottes ein überholtes System zu setzen. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
Paulus wünschte, dass die Kolosser alle Lehren daran messen würden, ob sie mit der Lehre von »Christus« übereinstimmten oder nicht. Die Übersetzung von Phillips ist bei diesem Vers hilfreich: »Gebt acht, dass niemand euren Glauben durch Intellektualismus oder wohlklingenden Irrtum verdirbt. All das beruht im besten Fall auf menschlichen Vorstellungen vom Wesen der Welt und hat mit Christus nichts zu tun.«
2,9 Es ist wunderbar zu sehen, wie der Apostel Paulus seine Leser immer wieder zur Person Jesu Christi zurückbringt. Hier stellt er ihnen einen der überragendsten und unmissverständlichsten Schriftverse hinsichtlich der Gottheit unseres Herrn Jesus Christus vor. »Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.« Man beachte die beabsichtigte Anhäufung von Beweisen für die Tatsache, dass Christus Gott ist. Als Erstes haben wir seine Göttlichkeit: »Denn in ihm wohnt … die Gottheit leibhaftig.« Zweitens finden wir etwas, das jemand einmal die »Göttlichkeit in ihrer Fülle« genannt hat: »Denn in ihm wohnt die … Fülle der Gottheit leibhaftig.« Und schließlich haben wir, was man auch die »absolute Vollkommenheit der Göttlichkeit« genannt hat: »Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.« (Das ist eine treffende Antwort auf alle Formen des Gnostizismus, die die Göttlichkeit des Herrn Jesus leugnen, sowie auf die Lehren der Christlichen Wissenschaft, der Zeugen Jehovas, der Unitarier, der Theosophen usw.)
Vincent sagt: »Dieser Vers enthält zwei unterschiedliche Aussagen: 1. dass die Fülle der Gottheit ewig in Christus wohnt, und 2. dass die Fülle der Gottheit in demjenigen wohnt, der einen menschlichen Leib hat.«14 Viele der oben erwähnten Sekten geben zu, dass irgendeine Form der Gottheit in Jesus wohnte. Doch dieser Vers sagt aus, dass »die ganze Fülle der Gottheit« in ihm war, und zwar auch in seinem Menschsein. Das Argument ist eindeutig: Warum sollten wir uns mit Lehren zufriedengeben, die den Herrn Jesus Christus herabsetzen oder ignorieren, wenn er als Person völlig hinreichend ist?
2,10 Der Apostel versucht noch immer, seinen Lesern klarzumachen, dass der Herr Jesus Christus für alle unsere Bedürfnisse ausreicht. Er will ihnen zeigen, welch eine vollkommene Stellung sie »in ihm« haben. Es ist ein wunderbarer Ausdruck der Gnade Gottes, dass die Wahrheit von Vers 10 derjenigen von Vers 9 folgen sollte. In Christus wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig, und die Gläubigen sind »in ihm zur Fülle gebracht«. Das bedeutet natürlich nicht, dass im Gläubigen die ganze Fülle der Gottheit wohnt. Der Einzige, für den das je gegolten hat, gilt oder gelten wird, ist der Herr Jesus Christus. Doch dieser Vers lehrt, dass der Gläubige in Christus alles hat, was er für sein Leben und die Gottesfurcht benötigt. Spurgeon gibt uns eine gute Definition der Fülle. Er sagt, wir haben 1. die Fülle ohne Hilfe jüdischer Zeremonien, 2. die Fülle ohne Hilfe der Philosophie, 3. die Fülle ohne die Erfindungen des Aberglaubens, 4. die Fülle ohne menschliches Verdienst.
Dieser Eine, in dem wir die Fülle haben, »ist das Haupt jeder Gewalt und jeder Macht«. Die Gnostiker waren ganz eifrig mit dem Thema »Engel« beschäftigt. Das wird etwas später in diesem Kapitel erwähnt. Doch Christus ist das Haupt aller Engelwesen, und es wäre lächerlich, sich mit den Engeln zu beschäftigen, wenn wir den Schöpfer der Engel lieben und mit ihm Gemeinschaft haben dürfen.
2,11 »Beschneidung« war das für das Judentum kennzeichnende Ritual. Es handelt sich dabei um eine kleine Operation, bei dem das Fleisch der Vorhaut jüdischer Jungen mit dem Messer entfernt wurde. In geistlicher Hinsicht bedeutete dies den Tod des Fleisches oder das Beiseitesetzen der bösen, verdorbenen und nicht wiedergeborenen Natur des Menschen. Leider beschäftigten sich die Juden zu sehr mit der äußeren Zeremonie und vergaßen darüber ihre geistliche Bedeutung. Indem sie Gottes Wohlgefallen durch Zeremonien und gute Werke erlangen wollten, sagten sie im Grunde, dass es etwas am menschlichen Fleisch gab, das Gott gefallen könnte. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Im vorliegenden Vers geht es nicht um die leibliche, sondern um die geistliche Beschneidung, die für jeden gilt, der seinen Glauben und sein Vertrauen auf den Herrn Jesus gesetzt hat. Dies wird deutlich durch den Ausdruck »Beschneidung, die nicht mit Händen geschehen ist«. Folgendes lehrt uns dieser Vers: Jeder Gläubige ist mit der »Beschneidung des Christus« beschnitten worden. »Die Beschneidung des Christus« bezieht sich auf seinen Tod am Kreuz von Golgatha. Der Gedanke dabei ist, dass auch der Gläubige starb, als der Herr Jesus in den Tod ging. Der Gläubige starb der Sünde (Röm 6,11), dem Gesetz, sich selbst (Gal 2,20) und der Welt (Gal 6,14). (Diese Beschneidung ist »nicht mit Händen geschehen« in dem Sinne, dass menschliche Hände daran durch eigene Leistung keinen Anteil haben können. Der Mensch kann sie nicht verdienen. Es ist allein Gottes Werk.) So hat er den »fleischlichen Leib« ausgezogen. Mit anderen Worten, wenn jemand gerettet wird, dann wird er mit Christus in seinem Tod vereinigt. Er entsagt jeder Hoffnung, sich seine Erlösung durch fleischliche Bemühungen zu verdienen. Samuel Ridout schreibt: »Der Tod unseres Herrn hat nicht nur die Frucht der Sünde beseitigt, sondern auch die Wurzel, die die Frucht trug, verurteilt und beiseitegesetzt.«
2,12 Paulus wendet sich nun dem Thema der »Taufe« zu. So wie die Beschneidung vom Tode des Fleisches spricht, so spricht die »Taufe« vom Begrabenwerden des alten Menschen. Deshalb lesen wir: »Mit ihm begraben in der Taufe, in ihm auch mitauferweckt durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat.« Die Lehre hier lautet, dass wir nicht nur mit Christus gestorben, sondern auch »mit ihm begraben« sind. Das wurde durch unsere Taufe versinnbildlicht. Dass wir mit begraben wurden, geschah schon bei unserer Bekehrung, doch wir gaben dieser Tatsache durch das öffentliche Bekenntnis Ausdruck, als wir ins Taufwasser stiegen. Die Taufe ist ein Begräbnis, das Begräbnis all dessen, was wir als Kinder Adams sind. In der Taufe erkennen wir an, dass nichts an uns selbst Gott je gefallen kann, und so tun wir das Fleisch für immer von Gottes Angesicht hinweg. Doch bleibt es nicht allein beim Begräbnis. Wir sind nicht nur mit Christus gekreuzigt und begraben, sondern auch mit ihm auferstanden, um in Neuheit des Lebens zu wandeln. All das findet bei unserer Bekehrung statt. Es geschieht »durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der« Christus »aus den Toten auferweckt hat«.
2,13 Der Apostel Paulus wendet dies nun alles auf die Kolosser an. Vor ihrer Bekehrung waren sie »tot« in ihren »Vergehungen«. Das bedeutet, dass sie vor Gott aufgrund ihrer Sünden geistlich tot waren. Es heißt nicht, dass sie selbst gestorben wären. Vielmehr ist gemeint, dass es in ihnen keinerlei Bewegung zu Gott hin gab und in ihnen nichts vorhanden war, das Gottes Wohlgefallen erlangen konnte. Sie waren nicht nur »tot … in« ihren Sünden, sondern Paulus spricht auch von »der Unbeschnittenheit« ihres »Fleisches«. Das Wort »Unbeschnittenheit« wird im NT oft benutzt, um damit die Heidenvölker zu bezeichnen. Die Kolosser waren Heiden gewesen. Sie gehörten nicht zum irdischen Volk Gottes, den Juden. Deshalb waren sie von Gott entfernt gewesen und hatten ihrem Fleisch mit seinen Begierden ganz nachgegeben. Doch als sie das Evangelium hörten und an den Herrn Jesus Christus glaubten, waren sie »mit« Christus »mit lebendig gemacht« worden. Alle ihre »Vergehungen« sind ihnen »vergeben« worden. Mit anderen Worten, die Kolosser hatten ihren gesamten Lebensstil geändert. Ihre Geschichte als Sünder war zu Ende, und nun waren sie Neuschöpfungen in Christus. Sie lebten auf der Auferstehungsseite des Grabes. Deshalb sollten sie sich von allem abkehren, das sie als Menschen im Fleisch charakterisiert hatte.
2,14 Paulus fährt nun fort, indem er etwas anderes beschreibt, das im Werk Christi enthalten war. »Er hat den Schuldschein gegen uns gelöscht, den in Satzungen bestehenden, der gegen uns war, und ihn auch aus unserer Mitte fortgeschafft, indem er ihn ans Kreuz nagelte.« In gewissem Sinne standen die Zehn Gebote gegen uns, indem sie uns verurteilten, weil wir sie nicht vollkommen gehalten haben. Doch der Apostel Paulus denkt nicht nur an die Zehn Gebote, sondern auch an das Zeremonialgesetz, das Israel gegeben war. Im Zeremonialgesetz gab es alle möglichen Anordnungen über Festtage, Speisen und andere religiöse Rituale. All diese waren Teil der den Juden vorgeschriebenen gottesdienstlichen Ordnung. Sie wiesen auf das Kommen des Herrn Jesus hin. Sie waren Schatten seiner Person und seines Werkes. Mit seinem Tod am Kreuz hat er sie »fortgeschafft«, indem er sie »ans Kreuz nagelte« und sie so gelöscht hat, wie ein Schuldschein gelöscht wird, wenn die Schuld abgegolten ist. Meyer hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Durch den Tod Christi am Kreuz hat das Gesetz, das den Menschen verurteilt, seine Strafautorität verloren. Dies gilt insofern, als dass Christus durch seinen Tod den Fluch des Gesetzes für den Menschen trug und damit das Ende des Gesetzes wurde.«15 Kelly fasst das treffend zusammen: »Das Gesetz ist nicht tot, sondern wir sind ihm gestorben.«
Die Worte des Paulus beziehen sich hier sehr wahrscheinlich auf einen alten Brauch, den schriftlichen Beweis einer Schuld, die bezahlt ist, an einem Platz anzunageln. Damit sollen alle darauf hingewiesen werden, dass der Gläubiger keine Ansprüche mehr an den Schuldner zu stellen hat.
2,15 Durch seinen Tod am Kreuz und die darauffolgende Auferstehung und Himmelfahrt hat der Herr Jesus auch die bösen »Mächte« besiegt, indem er »sie öffentlich zur Schau gestellt« und »den Triumph über sie gehalten« hat. Wir glauben, dass dies derselbe Sieg ist, den Epheser 4 beschreibt, wo von dem Herrn Jesus gesagt wird, dass er Gefangene gefangen geführt hat. Sein Tod, seine Grablegung, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt waren ein herrlicher Triumph über alle Feinde der Hölle und über Satan. Als er den Luftbereich auf seinem Weg zurück in den Himmel durchquerte, durchschritt er genau das Reich dessen, der der Fürst der Mächte der Lüfte ist. Vielleicht hält dieser Vers besonderen Trost für die bereit, die sich vom Dämonenglauben bekehrt haben, aber sich möglicherweise noch immer vor bösen Geistern fürchten. Es gibt nichts zu fürchten, wenn wir in Christus sind, weil er »die Gewalten und die Mächte völlig entwaffnet« hat.
2,16 Und wieder ist der Apostel Paulus sofort bereit, das soeben Gesagte anzuwenden. Wir könnten das folgendermaßen zusammenfassen: Die Kolosser waren allen Anstrengungen, Gott durch das Fleisch zu gefallen, gestorben. Sie waren nicht nur gestorben, sondern auch mit Christus begraben worden und mit ihm zu einem neuen Leben auferstanden. Deshalb sollten sie immun sein gegenüber jüdischen Irrlehrern und Gnostikern, die versuchten, sie genau zu den Dingen zurückzuziehen, denen sie als Gläubige doch gestorben waren. »So richte euch nun niemand wegen Speise oder Trank oder betreffs eines Festes oder Neumondes oder Sabbats.« Jede menschliche Religion unterjocht den Menschen, indem sie ihnen Vorschriften, Regeln, und einen religiösen Kalender aufzwingt. Dieser Kalender beinhaltet normalerweise Feste im Kirchenjahr (heilige »Feste«), monatliche Feste (»Neumonde«) oder wöchentliche Feiertage (»Sabbate«). Der Ausdruck »so richte euch nun niemand« bedeutet, dass ein Christ von anderen nicht zu Recht verurteilt werden kann, wenn er z. B. Schweinefleisch isst oder nicht an einem religiösen Fest bzw. an sogenannten »heiligen Tagen« festhält. Einige Sekten, wie etwa spiritistische Richtungen, halten ihre Mitglieder zur vegetarischen Lebensweise an. Über Jahrhunderte hinweg durften Katholiken freitags kein Fleisch essen. Viele Konfessionen verlangen von ihren Mitgliedern Abstinenz von bestimmten Speisen während bestimmter Fastenzeiten. Andere,  wie  z. B.  die  Mormonen, sind der Ansicht, dass man bei ihnen nicht Mitglied sein kann, wenn man Tee oder Kaffee trinkt. Noch andere, besonders die Siebenten-Tags-Adventisten, sind der Ansicht, dass man den Sabbat halten muss, damit man Gott gefällt. Der Christ untersteht solchen Anordnungen nicht. Das Thema Gesetz, Sabbat und Gesetzlichkeit wird in den Exkursen zu Matthäus 5,18; 12,8 und Galater 6,18 ausführlicher behandelt.
2,17 Die jüdischen religiösen Vorschriften waren nur »Schatten der künftigen Dinge …, der Körper selbst aber ist des Christus«. Sie wurden zur Zeit des AT als Vorbild eingesetzt. So ist z. B. der Sabbat als Bild für die Ruhe gegeben worden, die das Erbteil aller ist, die an den Herrn Jesus Christus glauben. Nun, da der Herr Jesus gekommen ist, stellt sich die Frage: Wieso sollten die Menschen sich weiter mit den Schatten abgeben? Es ist, als ob man sich mit einem Foto beschäftigt, wenn die abgebildete Person anwesend ist.
2,18 Es ist ziemlich schwierig, die genaue Bedeutung dieses Verses herauszufinden, da wir die Lehren der Gnostiker nicht vollständig kennen. Vielleicht bedeutet er Folgendes: Diese Menschen gaben vor, so demütig zu sein, dass sie es nicht wagten, Gott direkt anzusprechen. Möglicherweise lehrten die Gnostiker, dass man Gott durch Engel ansprechen müsse, und so verehrten sie in ihrer vermeintlichen »Demut« die »Engel« statt den Herrn. Es gibt heute etwas ganz Ähnliches. Es gibt Katholiken, die sagen, dass sie nicht daran denken würden, direkt zu Gott oder zum Herrn Jesus zu beten, und deshalb ist ihr Motto: »durch Maria zu Jesus«. Das ist eine »falsche Demut« und die Verehrung eines Geschöpfes. Christen sollten niemandem erlauben, ihnen ihren Lohn durch solch unbiblische Praktiken zu nehmen. Das Wort ist eindeutig: »Einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus« (1. Tim 2,5). Der Apostel Paulus fährt mit den unverständlichen Worten fort: … der »sich in Sachen einlässt, die er nicht16 gesehen hat«  (2.  Teil  zitiert  nach  Schl 2000).  Die Gnostiker behaupteten, tiefe, geheime Mysterien zu kennen. Um zu erfahren, worum es sich bei diesen Geheimlehren handelte, musste man eingeweiht werden. Vielleicht gehörten viele sogenannte Visionen zu diesen Geheimlehren. Sogenannte Visionen sind ein wichtiger Bestandteil heutiger Irrlehren wie des Mormonentums, des Spiritismus, des Katholizismus, der Swedenborgianer und anderer. Diejenigen, die in diese Mysterien eingeweiht waren, bildeten sich natürlich auf ihr Geheimwissen viel ein. Deshalb fügt Paulus hinzu: »… ohne Ursache aufgeblasen«. Sie nahmen anderen gegenüber eine überhebliche Haltung ein und erweckten den Eindruck, dass man nur glücklich werden konnte, wenn man in diese tiefen Geheimnisse eingeweiht würde. Wir sollten hier innehalten, um zu sagen, dass vieles davon auch für heutige Geheimgesellschaften gilt. Der Christ, der in Gemeinschaft mit seinem Herrn wandelt, wird weder die Zeit noch den Wunsch haben, solche Organisationen in irgendeiner Weise zu unterstützen. Wichtig ist hier anzumerken, dass die verschiedenen religiösen Praktiken dieser Menschen ihrem eigenen Willen entsprangen. Sie hatten kein biblisches Fundament. Sie handelten nicht im Auftrag Christi. Sie waren »ohne Ursache aufgeblasen von dem Sinn« ihres »Fleisches«, weil sie nur das taten, was sie selbst wollten, ganz unabhängig vom Herrn; doch ihr Verhalten schien demütig und religiös zu sein.
2,19 »… und nicht festhält das Haupt.« Hier wird vom Herrn Jesus als dem »Haupt« des Leibes gesprochen. »Das Haupt festhalten« bedeutet, in dem Bewusstsein zu leben, dass Christus das »Haupt« ist, alle eigenen Bedürfnisse aus seinen unerschöpflichen Quellen zu schöpfen und alles zu seiner Verherrlichung zu tun. Es bedeutet, auf den verherrlichten Herrn zu schauen, um Stärkung und Führung zu erhalten, und mit ihm in Kontakt zu bleiben. Das wird weiter durch den folgenden Satz erklärt: »… von dem aus der ganze Leib, durch die Gelenke und Bänder unterstützt und zusammengefügt, das Wachstum Gottes wächst.« Die verschiedenen Glieder des menschlichen Leibes sind durch »Gelenke und Bänder« verbunden. Der Leib dagegen ist mit dem Haupt verbunden. Der Leib erwartet vom Haupt Führung und Leitung. Das ist genau der Gedanke, den der Apostel Paulus hier betonen will. Die Glieder des Leibes Christi auf Erden sollten all ihr Glück sowie all ihre Genüge in ihm finden und sich nicht von den scheinbar so überzeugenden Argumenten dieser Irrlehrer weglocken lassen. »Das Haupt festhalten« betont die Notwendigkeit, in jedem einzelnen Augenblick vom Herrn abhängig zu sein. Die gestrige Hilfe reicht für heute nicht aus. Wir können mit dem Wasser, das schon über die Staumauer gelaufen ist, keine Mühle mehr betreiben. Man sollte noch hinzufügen, dass Christen dort, wo sie sich an das Haupt halten, spontan auf eine Weise handeln werden, die mit den anderen Gliedern des Leibes auf wunderbare Weise abgestimmt ist.
2,20 Die »Elemente der Welt« sind in diesem Vers Rituale und Vorschriften. Zum Beispiel waren die Rituale des AT Überbleibsel der Welt in dem Sinne, dass sie die »Elemente« der Religion lehrten, gewissermaßen das ABC (Gal 4,9-11). Vielleicht denkt Paulus auch an die Rituale und Vorschriften im Zusammenhang mit dem Gnostizismus und anderen Religionen. Insbesondere behandelt der Apostel die Askese, die sich aus dem Judentum entwickelt hat, das schon seine Stellung vor Gott verloren hatte. Dagegen hatten der Gnostizismus oder irgendwelche anderen Kultgemeinschaften niemals eine Stellung vor Gott innegehabt. Weil die Kolosser »mit Christus … gestorben« waren, fragt Paulus sie, warum sie immer noch das Verlangen hatten, sich solchen »Satzungen« zu unterwerfen. Indem sie das nämlich täten, würden sie vergessen, dass sie ihre Bindungen an die Welt gelöst haben. Vielleicht wird sich bei einigen die Frage erheben: »Wenn ein Christ den Vorschriften gestorben ist, warum hält er dann an Taufe und Herrenmahl fest?« Die offensichtliche Antwort lautet, dass diese beiden Vorschriften der christlichen Gemeinde im NT gelehrt werden. Doch sie sind keine »Gnadenmittel«, die uns irgendwie für den Himmel geeigneter machen oder uns vor Gott Verdienste sichern. Vielmehr sind es einfache Handlungen, denen wir im Gehorsam gegenüber dem Herrn nachkommen. In der Taufe machen wir uns mit Christus in seinem Erlösungswerk eins, während das Mahl als Gedächtnis an seinen Tod gefeiert wird. Diese Ordnungen sind also keine Gesetze, die wir halten müssten, sondern Vorrechte, die wir genießen dürfen.
2,21 Dieser Vers lässt sich besser verstehen, wenn wir die Worte »wie etwa« voranstellen. Mit anderen Worten, Paulus sagt in Vers 20: »Warum unterwerft ihr euch noch immer solchen Anordnungen, als ob ihr noch in der Welt leben würdet, wie etwa (V. 21) berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!« Es ist sehr befremdend, dass gewisse Leute behaupten, Paulus habe den Kolossern hier befohlen, nicht zu berühren, zu kosten oder zu betasten. Das ist natürlich das genaue Gegenteil der Bedeutung dieses Abschnitts. Man sollte hier erwähnen, dass einige Ausleger,  wie  z. B.  William  Kelly,  glauben, dass die Reihenfolge dieser Teilsätze eher lauten sollte: »Betaste nicht, koste auch nicht, berühre noch nicht einmal.« Diese Reihenfolge würde eine fortschreitende Verschärfung der Askese nahelegen.
2,22 Die Bedeutung dieses Abschnitts wird in Vers 22 noch weiter erklärt. Es geht um Verbote, die von Menschen aufgestellt sind, wie durch den Ausdruck »nach den Geboten und Lehren der Menschen« nahegelegt wird. Ist das etwa die Grundlage wahrer Glaubenspraxis, sich mit Essen und Trinken statt mit dem lebendigen Christus selbst zu beschäftigen? Weymouth übersetzt die Verse 20-22 folgendermaßen:
Wenn ihr mit Christus gestorben und den elementaren Vorstellungen dieser Welt entkommen seid, warum unterwerft ihr euch dann, als ob euer Leben noch von dieser Welt wäre? Zu diesen Vorstellungen gehören gewisse Vorschriften (»Gebrauche dieses nicht, fasse jenes nicht an, probiere ein anderes nicht«), die sich auf solche Dinge beziehen, die dazu gemacht sind, verbraucht zu werden und zu vergehen. Weshalb seid ihr noch einer Lehre gehorsam, die rein menschlich ist?
2,23 Diese Praktiken der menschlichen Religion schaffen eine scheinbare »Weisheit … in eigenwilligem Gottesdienst und in Demut« und in Härte gegen den »Leib«. »Eigenwilliger Gottesdienst« bedeutet, dass diese Menschen eine Art des Gottesdienstes übern ehmen, die ihren eigenen Vorstellungen von Richtig und Falsch entspricht, anstatt Gottes Wort. Sie sind scheinbar religiös, haben jedoch mit wahrem christlichen Glauben nichts zu tun. »Demut« bezieht sich hier auf die falsche Demut, die wir schon näher erklärt haben – sie geben vor, zu dem ütig zu sein, um Gott direkt anzusprechen, und wenden sich an Engel als Vermittler. »Nichtverschonen des Leibes« bezieht sich auf Askese. Es geht hier um den Glauben, dass man durch Selbstverleugnung oder Selbstzüchtigung einen höheren Grad an Heiligung erlangen könne. Das findet sich vor allem im Hinduismus und anderen mystischen Relig ionen des Ostens.
Was sind alle diese Praktiken wert? Vielleicht wird das am besten mit dem Ende dieses Verses ausgedrückt: »… also nicht in einer gewissen Wertschätzung, sondern zur Befriedigung des Fleisches.« All das lässt uns von nach außen hin besser erscheinen, versagt aber bei dem Bemühen, »das Fleisch« nicht zu »befriedigen«  (vgl.  jeweils  LU 1984).  (Sogar  die wohlgemeinten Abstinenzversprechen erreichen ihr Ziel nicht.) Kein falsches System kann den Menschen verbessern. Während man den Eindruck erweckt, dass man durch das Fleisch Gottes Wohlgefallen erreichen könne, ist man nicht in der Lage, die Leidenschaften und Begierden des Fleisches in Schach zu halten. Die christliche Haltung lautet, dass wir dem Fleisch mit seinen Lüsten und Begierden gestorben sind und fortan zur Ehre Gottes leben. Wir tun das nicht aus Angst vor Bestrafung, sondern aus Liebe zu dem Einen, der sich für uns hingegeben hat. A. T. Robertson hat dies treffend ausgedrückt: »Es ist die Liebe, die uns wirklich befreit, das Richtige zu tun. Die Liebe macht uns die Wahl leicht. Die Liebe verschönt das Angesicht der Pflicht. Die Liebe macht es uns zum Vergnügen, bei Christus zu bleiben. Die Liebe lässt den Dienst des Guten zur Freiheit werden.« II. Die Pflichten des Gläubigen gegenüber dem unübertrefflichen Christus (Kap. 3 – 4)
A. Das neue Leben des Gläubigen: Den alten Menschen ausziehen und den neuen anlegen (3,1-17)
3,1 »Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes.« Das Wort »wenn« in diesem Vers soll keinen Zweifel des Apostels Paulus ausdrücken. Es ist auch das »Wenn der Argumentation« genannt worden und kann auch mit »weil« übersetzt werden: »Weil ihr nun mit Christus auferweckt seid …«
Wie in Kapitel 2 erwähnt, wird der Gläubige als derjenige angesehen, der mit Christus gestorben, mit ihm begraben und mit ihm aus den Toten auferstanden ist. Die geistliche Bedeutung dessen ist, dass wir unserem früheren Lebensstil abgesagt und ein völlig neues Leben begonnen haben, nämlich das Leben des auferstandenen Herrn Jesus Christus. Weil wir »mit dem Christus auferweckt worden« sind, sollten wir nach dem suchen, »was droben ist«. Wir sind zwar noch auf der Erde, aber wir sollten himmlische Handlungsweisen ausbilden.
3,2 Der Christ sollte in seinen Erwartungen nicht erdgebunden sein. Er sollte die Dinge nicht so sehen, wie sie dem natürlichen Auge erscheinen, sondern sie in Bezug auf ihre Bedeutung für Gott und für die Ewigkeit betrachten. Vincent ist der Ansicht, dass »suchen« in Vers 1 für das praktische Streben steht, während »den Sinn darauf richten« in Vers 2 die innere Einstellung und Motivation beschreibt. Der Ausdruck »darauf sinnen« entspricht dem Begriff in Philipper 3,19: »… die auf das Irdische sinnen.« A. T. Robertson schreibt: »Das getaufte Leben bedeutet, dass der Christ den Himmel sucht und ständig an ihn denkt. Seine Füße sind auf der Erde, während sein Haupt im Himmel ist. Er lebt wie ein Bürger des Himmels hier auf Erden.«17 Während des Zweiten Weltkriegs berichtete ein junger Christ begeistert einem reifen Diener Christi: »Ich habe gehört, dass unsere Bomber gestern Abend über feindliche Städte flogen.« Darauf erwiderte der ältere Gläubige: »Ich wusste nicht, dass die Gemeinde Gottes Bomber besitzt.« Er betrachtete die Dinge offenbar vom göttlichen Standpunkt, statt sich über den Tod von Frauen und Kindern zu freuen, der zwangsläufig mit Bombenangriffen einhergeht.
F. B. Hole erklärt unsere Stellung eindeutig:
Das Gegenstück zu unserer Identifikation mit Christus in seinem Tod ist der Tatbestand, dass wir mit ihm in seiner Auferstehung eins gemacht wurden. Die Folge des ersteren Sachverhalts ist es, dass wir von der Welt der Menschen getrennt sind, von ihrer Religion und ihrer Weisheit. Die Folge der letzteren Tatsache besteht darin, uns mit Gottes Welt und allem, was in ihr ist, in Berührung zu bringen. Die ersten vier Verse von Kapitel 3 entfalten uns die Segnungen, denen wir zugeführt werden.18
3,3 Wenn Paulus sagt, dass der Gläubige »gestorben« ist, dann spricht er von der Stellung, nicht von der Praxis. Weil wir mit Christus in seinem Tod eins gemacht werden, möchte Gott, dass wir uns selbst für »gestorben« mit ihm halten. Unsere eigenen Herzen sind immer bereit, diese Tatsache zu bestreiten, weil für uns Sünde und Versuchung nach wie vor sehr real sind. Wenn wir uns selbst für ges torben halten, ist es aber eine wundervolle Tatsache, dass dies dann auch zu einer moralischen Realität in unserem Leben wird. Wenn wir Gestorbene sind, dann wird unser Leben immer mehr dem Leben des Herrn Jesus Christus ähnlich. Natürlich werden wir in diesem Leben niemals Vollkommenheit erreichen, aber es handelt sich um einen Prozess, der in jedem Gläubigen stattfinden sollte. Wir sind nicht nur »gestorben«, sondern unser »Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott«. Was die Weltmenschen interessiert und bewegt, findet sich auf dem Planeten, auf dem wir leben. Doch was den Gläubigen bewegt, ist alles in der Person des Herrn Jesus Christus zusammengefasst. Christi Bestimmung und unser künftiges Los sind untrennbar miteinander verbunden. Paulus ist der Ansicht, dass, weil unser »Leben« »mit dem Christus in Gott« »verborgen« ist, wir uns nicht mit den kleinlichen Anliegen dieser Welt befassen sollten, und zwar insbesondere nicht mit ihren religiösen Belanglosigkeiten.
Doch mit diesem Satz (»euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott«) ist noch ein anderer Gedanke verbunden. Die Welt sieht unser geistliches Leben nicht. Die Menschen können uns nicht verstehen. Ihrer Ansicht nach ist es seltsam, dass wir anders leben als sie. Sie können unsere Gedanken, unsere Motive und unsere Lebensweise nicht verstehen. So wie es vom Heiligen Geist ausgesagt ist, dass die Welt ihn weder sieht noch kennt, so ist es mit unserem geistlichen Leben: Es »ist verborgen mit dem Christus  in  Gott«.  1. Johannes  3,1  sagt uns: »Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.« Die wirkliche Trennung von der Welt besteht in der Tatsache, dass die Welt das Verhalten des Gläubigen missversteht und seine Motive verkennt.
3,4 Um seiner Beschreibung des Anteils des Gläubigen an Christus einen Höhepunkt zu verleihen, schaut der Apostel auf die Wiederkunft Christi. »Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit.« In der Gegenwart sind wir mit Christus auferweckt und genießen ein Leben, das Menschen weder sehen noch verstehen. Doch eines Tages wird der Herr Jesus für seine Heiligen wiederkommen. Dann werden wir »mit ihm … in Herrlichkeit … geoffenbart werden«. Die Menschen werden uns dann verstehen und wissen, warum wir uns so und nicht anders verhalten haben.
3,5 In Vers 3 wurde uns gesagt, dass wir gestorben sind. Hier wird uns gesagt, dass wir unsere »Glieder« töten sollen, »die auf der Erde sind«. In diesen beiden Versen haben wir die klare Darstellung des Unterschieds zwischen der Stellung des Gläubigen und seinem Zustand. Seine Stellung ist, dass er gestorben ist. Sein Zustand sollte sein, dass er sich selbst der Sünde für tot hält, indem er seine »Glieder, die auf der Erde sind«, tötet. Unsere Stellung entspricht dem, was wir in Christus sind. Unser Zustand ist das, was wir in uns selbst sind. Unsere Stellung ist das kostenlose Geschenk Gottes durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus. Unser Zustand stellt unsere Reaktion auf Gottes Gnadenzuwendung dar.
Hier sollten wir auch noch den Unterschied zwischen Gesetz und Gnade festhalten. Gott sagt nicht: »Wenn du ein Leben ohne Sünde führst, dann werde ich dir die Stellung ›mit Christus gestorben‹ geben.« Das wäre Gesetz. Unsere Stellung würde von unseren eigenen Bemühungen abhängen, und man braucht es kaum zu sagen, dass keiner je diese Stellung erlangen würde. Stattdessen sagt Gott: »Ich gebe allen, die an den Herrn Jesus glauben, die Stellung eines in meinen Augen Begnadigten. Nun geht hin und führt ein Leben, das zu solch einer hohen Berufung passt.« Das ist Gnade!
Der Apostel sagt hier, dass wir unsere »Glieder, die auf der Erde sind«, töten sollen. Damit meint er nicht, dass wir eines der Glieder unseres Leibes im wörtlichen Sinne entfernen sollten. Es handelt sich um einen bildlichen Ausdruck, der in den folgenden Sätzen erklärt wird. Das Wort »Glieder« steht für die verschiedenen Formen von Begierde und Hass, die aufgezählt werden.
»Unzucht« beschreibt normalerweise ungesetzlichen sexuellen Kontakt oder Unmoral, insbesondere von Unverheirateten (Matth 15,19; Mk 7,21). Manchmal reicht die Bedeutung weiter, sodass man darunter jede sexuelle Sünde versteht. »Unreinheit« bezieht sich auf unreine Gedanken, Taten oder Handlungen. Es geht hier mehr um moralische als um körperliche Verunreinigung. »Leidenschaft« bezeichnet starke und ungezügelte Begierden. »Böse Lust« spricht vom intensiven und oft gewalttätigen Streben. Mit »Habsucht« sind im Allgemeinen Geiz oder die Anstrengungen gemeint, immer mehr haben zu wollen. Hier kann es sich jedoch auch um ein unheiliges Verlangen handeln, die sexuellen Begierden zu befriedigen, was »Götzendienst« ist. Die Liste beginnt mit Handlungen und endet mit den Motiven. Es werden die verschiedenen Arten sexueller Sünde beschrieben und dann auf ihre Ursache hin verfolgt, nämlich auf das habsüchtige Herz des Menschen. Das Wort Gottes lehrt eindeutig, dass die Sexualität an sich nicht böse ist. Gott hat den Menschen mit der Fähigkeit zur Vermehrung geschaffen. Doch es wird zu Sünde, wenn man diese Dinge, die Gott uns als seinen Geschöpfen in seiner Gnade gegeben hat, zu bösen Zwecken missbraucht. Die sexuelle Sünde war die Hauptsünde der Heidenwelt zur Zeit des Paulus, und auch heute noch steht sie auf Platz eins. Wo Gläubige nicht dem Heiligen Geist hingegeben leben, kommen oft sexuelle Sünden in ihr Leben und stellen unter Beweis, dass sie gefallen sind.
3,6 Die Menschen denken, dass sie diese schrecklichen Sünden begehen und gleichzeitig der Strafe entgehen können. Scheinbar schweigt der Himmel dazu, und der Mensch geht in seiner Unverschämtheit immer weiter. Doch Gott lässt sich nicht spotten. »Der Zorn Gottes« wird um dieser Sünden willen »über die Söhne des Ungehorsams« (ER, Anm.) kommen. Diese Sünden haben schon in diesem Leben Auswirkungen, denn die Menschen ernten am eigenen Leib die Folgen ihrer sexuellen Ausschweifung. Zusätzlich werden sie dereinst noch die furchtbare Ernte des Gerichts einsammeln müssen.
3,7 Paulus erinnert die Kolosser daran, dass auch sie sich vor ihrer Bekehrung diesen Sünden hingegeben haben. Doch die Gnade Gottes kam und hat sie von ihrer Unreinheit erlöst. Damit wurde ihr Sündenleben ein Kapitel ihres Lebens, das nun vom Blut Christi bedeckt wurde. Sie hatten nun neues Leben, das ihnen die Kraft zueignete, für Gott zu leben. Siehe Galater 5,25: »Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns durch den Geist wandeln.«
3,8 Weil die Kolosser für einen solch hohen Preis erkauft worden sind, sollten sie nun all das wie ein schmutziges Kleidungsstück »ablegen«. Der Apostel bezieht sich dabei nicht nur auf die verschiedenen Formen unheiliger Begierden, die in Vers 5 aufgezählt sind, sondern auch auf die Formen bösen Hasses, die er danach aufzählt.
»Zorn« ist eine starke Abneigung oder Feindseligkeit, ein rachsüchtiger Geist, ein tief sitzendes Hassgefühl. »Wut« beschreibt eine stärkere Form des Zorns, die unter Umständen auch gewalttätige Ausbrüche umfasst. »Bosheit« ist böses Verhalten gegenüber jemand and erem mit dem Ziel, diese Person oder ihren Ruf zu schädigen. Es handelt sich um eine unv ernünftige Abneigung, die Gefallen daran findet, einen anderen leiden zu sehen. »Lästerung« bedeutet hier Schmähungen, d. h. ungezügelte Beschimpfung eines anderen. Es bedeutet, auf böse, unv ersöhnliche Weise zu schimpfen. »Schändliches Reden« bedeutet schmutzige Sprache und beschreibt alles, was unanständig, lüstern oder verdorben ist. Es handelt sich um entehrende, unreine Sprache. In diesem Sündenkatalog bewegt sich der Apostel von den Motiven zu den Handlungen. Die Bitterkeit beginnt im menschlichen Herzen und zeigt sich dann auf die verschiedenen, hier beschriebenen Arten.
3,9 In Vers 9 sagt der Apostel im Grunde: »Lasst euren Zustand eurer Stellung entsprechen.« Die Kolosser haben »den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen«; deshalb sollen sie ihn nun auch praktisch ausziehen, indem sie sich der Lüge enthalten. Lüge ist eine der Eigenschaften, die zum »alten Menschen« gehört, und sie sollte im Leben des Kindes Gottes keinen Platz haben. An jedem Tag unseres Lebens werden wir versucht, die Wahrheit zu verzerren. Es kann sein, dass wir auf einem Einkommenssteuerformular Informationen vorenthalten oder bei einer Prüfung betrügen. Wir können auch die Einzelheiten einer Geschichte übertreiben. Lügen wird zweifellos zu einer ernsten Angelegenheit, wenn wir einen anderen Menschen durch eine falsche Aussage verletzen oder ihm gegenüber dadurch unehrlich sind, dass wir einen falschen Eindruck erwecken.
3,10 Wir haben nicht nur den alten Menschen abgelegt, sondern haben auch »den neuen angezogen … der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn erschaffen hat«. So wie der alte Mensch all das bezeichnet, was wir als Kinder Adams mit unserem unerlösten Wesen waren, so bezieht sich der »neue Mensch« auf unsere neue Stellung als Kinder Gottes. Er hat etwas Neues geschaffen, und wir sind neue Geschöpfe. Gottes Ziel ist es, dass dieser neue Mensch immer mehr wächst und dem Herrn Jesus Christus ähnlicher wird. Wir sollten niemals mit unseren gegenwärtigen Errungenschaften zufrieden sein, sondern sollten uns immer weiter auf das Ziel zubewegen, unserem Heiland ähnlicher zu werden. Er ist unser Vorbild und der Maßstab für unser Leben. Eines Tages, wenn wir vor dem Richterstuhl Christi stehen werden, werden wir nicht danach beurteilt, wie viel besser unser Leben als das Dasein der anderen war, sondern vielmehr danach, inwieweit es den Maßstäben unseres Herrn Jesus selbst entsprach.
Das Bild Gottes sieht man nicht an der äußeren Form unseres Leibes, sondern in der Schönheit eines erneuerten Herzens und Sinnes. Heiligung, Liebe, Demut, Sanftmut, Freundlichkeit und Vergebungsbereitschaft – daraus besteht die göttliche Wesensart. (Aus dem englischen Material des Bibellesebundes.)
3,11 In der neuen Schöpfung, von der der Apostel gesprochen hat, ist »weder Grieche noch Jude, Beschneidung noch Unbeschnittenheit, Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern Christus alles und in allen«. Unterschiede der Nationalität, der Religion, der Kultur und der sozialen Schicht zählen hier nicht mehr. Bezüglich ihrer Stellung vor Gott sind alle Gläubigen gleich, und in der Ortsgemeinde sollte dieselbe Haltung eingenommen werden.
Das bedeutet nicht, dass es in der Gemeinde keine Unterschiede gäbe. Einige haben die Gabe des Evangelisten, anderen ist der Dienst des Hirten und wieder anderen der Lehrdienst anvertraut worden. Einige sind Älteste, andere wiederum Diakone. Deshalb werden in diesem Vers die wirklichen Unterschiede nicht geringschätzig behandelt. Auch sollte der Vers nicht dazu benutzt werden, um zu lehren, dass diese Unterschiede in der Welt abgeschafft wären. Dies ist nicht der Fall. In der Welt gibt es noch immer Griechen und Juden, wobei die Griechen hier für die Heidenvölker allgemein stehen. Es gibt noch immer »Beschneidung« und »Unbeschnittenheit«. Diese zwei Ausdrücke werden im NT allgemein gebraucht, um die Juden bzw. die Heiden zu beschreiben. Hier kann es sich jedoch auch noch auf das Ritual selbst beziehen, das von den Juden praktiziert wurde und dem sich die Heiden nicht unterzogen.
Es gibt noch immer den »Barbar« (den unkultivierten Menschen) und den Skythen. Diese beiden Ausdrücke sind hier nicht im Gegensatz zueinander gebraucht. Die Skythen waren ebenfalls Barbaren, doch sie waren noch schlimmere Barbaren als andere, sie erwiesen sich als die weitaus wildesten und grausamsten. Der letzte Kontrast besteht zwischen Sklaven und Freien. »Freie« bezeichnet hier solche Menschen, die nie in Knechtschaft waren, sondern als Freie geboren wurden. Für den Christen sind diese weltlichen Unterscheidungen nicht mehr wichtig. Was wirklich zählt, ist Christus. Für den Gläubigen ist er alles und in allem. Er ist das Zentrum und die Peripherie des christlichen Lebens. Bischof Ryle drückt diese Wahrheit sehr treffend aus:
Die drei Worte – Christus in allem – sind Wesen und Inhalt des christlichen Glaubens. Wenn unsere Herzen mit diesen Worten wirklich übereinstimmen, dann steht es gut um unsere Seele … Viele räumen Christus einen gewissen Platz in ihrer Religion ein, jedoch nicht den Platz, den Gott für ihn vorgesehen hat. Christus allein ist nicht »alles in allem« für ihre Seele. Nein! Es ist entweder Christus und die Gemeinde, Christus und die Sakramente, Christus und seine berufenen Geistlichen, Christus und ihre eigene Bekehrung, Christus und ihre eigenen guten Taten, Christus und ihre eigenen Gebete oder Christus und ihre eigene Ehrlichkeit sowie Spendenbereitschaft, worauf ihre Seele im Grunde ruht.19
3,12 In Vers 10 hat Paulus gesagt, dass wir den neuen Menschen angezogen haben. Nun zeigt er uns, wie sich das in unserem täglichen Leben in die Praxis umsetzen lässt. Zunächst spricht er die Kolosser als die »Auserwählten Gottes« an. Das bezieht sich auf die Tatsache, dass sie von Gott in Christus vor Grundlegung der Welt erwählt worden sind. Gottes erwählende Gnade ist eines der Geheimnisse göttlicher Offenbarung. Wir glauben, dass die Schrift eindeutig lehrt, dass Gott in seiner Souveränität Menschen erwählt hat, zu Christus zu gehören. Wir glauben nicht, dass Gott jemals jemanden zur Verdammnis erwählt hat. Eine solche Lehre steht der Schrift völlig entgegen. So wie wir an Gottes auserwählende Gnade glauben, so glauben wir an die Verantwortung des Menschen. Gott rettet Menschen nicht gegen ihren Willen. Dieselbe Bibel, worin es heißt: »… auserwählt … nach Vorkenntnis Gottes« (vgl. 1. Petr 1,2; Anm. d. Übers.), sagt auch: »Jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden« (vgl. Röm 10,13; Anm. d. Übers.).
Als Nächstes spricht Paulus die Kolosser »als Heilige und Geliebte« an. Heilig bedeutet hier geheiligt oder für Gott von der Welt abgesondert. Wir sind von unserer Stellung her heilig, und wir sollten in unserem Leben auch in praktischer Hinsicht heilig sein. Weil Gott uns liebt, haben wir das Verlangen, ihm auf jede Weise zu gefallen.
Nun beschreibt Paulus die christlichen Tugenden, die wir als Kleider »anziehen« sollen. »Herzliches Erbarmen« beschreibt das mitleidsvolle Herz. »Güte« spricht von selbstlosen Taten für andere. Es ist die Haltung der Zuneigung und des Wohlwollens. »Demut« bedeutet die Bereitschaft, auch niedrige Dienste zu verrichten und andere höher zu achten als sich selbst. »Milde« zeugt nicht von Schwäche, sondern von der Stärke, sich selbst zu verleugnen und allen Menschen gegenüber in göttlich zugeeigneter Gnade zu wandeln. Vine schreibt: Man nimmt allgemein an, dass jemand, der sanftmütig ist, sich nicht durchsetzen kann. Doch auch der Herr war »sanftmütig«, obwohl ihm die unendlichen Machtmittel Gottes zur Verfügung standen. Wenn man es negativ beschreiben will, dann ist Sanftmut das Gegenteil von Selbstbewusstsein und Eigeninteresse, es ist Zufriedenheit des Geistes, die weder in Hochstimmung versetzt noch verzweifeln lässt, einfach deshalb, weil sie sich überhaupt nicht mit dem Ich beschäftigt.20
Wenn »Demut« die »Abwesenheit von Stolz« ist, dann ist »Milde« die »Abwesenheit von Zorn«. Mit »Langmut« ist Geduld, die sich trotz provozierender Umstände nicht erbittern lässt, und ausdauerndes Ertragen von Beleidigungen gemeint. Es gehören Freude und eine freundliche Haltung anderen gegenüber dazu, die mit dem Ausharren in Leiden einhergehen.
3,13 »Ertragt einander« beschreibt die Geduld, die wir mit den Fehlern und Eigenarten unserer Geschwister haben sollten. Wenn wir mit anderen zusammenleben, ist es unausweichlich, dass wir ihre Fehler kennenlernen. Wir benötigen oft die Gnade Gottes, um die Eigenarten anderer zu ertragen, so wie es für sie schwer sein muss, mit unseren zurechtzukommen. »Und vergebt euch gegenseitig, wenn einer Klage gegen den anderen hat.« Es gibt nur wenige Meinungsverschiedenheiten im Volk Gottes, die nicht schnell gelöst werden könnten, wenn man diesen Aufforderungen folgen würde. Vergebung sollte man anderen gegenüber üben, wenn sie sich uns gegenüber versündigt haben. Wie oft hören wir die Klage: »Aber der hat angefangen …« Das ist genau die Situation, worin wir vergeben sollen. Wenn der andere nicht angefangen hätte, dann gäbe es keine Ursache, Vergebung zu praktizieren. Wenn wir derjenige sind, der angefangen hat, dann sollten wir hingehen und um Vergebung bitten. Sind wir nachsichtig, nehmen wir nicht Anstoß; leben wir in der Vergebung, rechnen wir Situationen nicht mehr auf, wo wir Anstoß nahmen. Es kann wohl kaum einen größeren Anreiz für Vergebungsbereitschaft geben, als in diesem Vers zu finden ist: »… wie auch der Christus euch vergeben hat, so auch ihr.« Wie hat Christus uns »vergeben«? Er vergab uns grundlos. Dasselbe sollten auch wir tun. Er schenkte uns die Vergebung. Dasselbe sollten auch wir tun. Sowohl in der Art und Weise als auch im Ausmaß sollten wir unserem Herrn in dieser wunderbaren Haltung folgen.
3,14 Die Liebe wird hier als äußeres Gewand bezeichnet, oder als der Gürtel, der alle anderen Tugenden zusammenbindet, damit alles »vollkommen« wird. Dieses Band hält alle Teile des christlichen Charakters im Gleichgewicht. Es ist möglich, dass jemand eine dieser Tugenden hat, ohne Liebe im Herzen zu haben. Deshalb betont Paulus hier, dass alles, was wir tun, in einem Geist echter »Liebe« zu den Geschwistern getan werden muss. Wir sollten nicht widerwillig handeln. Vielmehr sollten unsere Taten der Liebe aus ganzem Herzen entspringen. Die Gnostiker meinten, dass Erkenntnis das »Band der Vollkommenheit« sei, doch Paulus korrigiert diese Ansicht, indem er feststellt, dass die »Liebe … das Band der Vollkommenheit ist«.
3,15 »Der Friede Gottes« sollte als Schiedsmann »in« unseren »Herzen« regieren. Wenn wir irgendwelche Zweifel haben, dann sollten wir uns die Frage stellen: »Dient es dem Frieden?«, oder: »Habe ich Frieden in meinem Herzen, wenn ich hingehe und so handle?« Dieser Vers ist besonders hilfreich, wenn wir Leitung durch den Herrn brauchen. Wenn der Herr wirklich möchte, dass wir etwas Bestimmtes tun, dann wird er uns ganz sicher »Frieden« darüber geben. Wenn Sie keinen Frieden haben, dann sollten Sie nicht weitermachen. Jemand hat einmal dazu gesagt: »Finsternis auf dem weiteren Weg ist ›grünes Licht‹ zum Stehenbleiben.« Christus hat uns berufen, seinen Frieden zu genießen, sowohl als einzelne Personen als auch in der Gemeinde. Man sollte nicht die Bedeutung des zweiten Teiles dieses Verses übersehen: »… zu dem ihr auch berufen worden seid in einem Leib.« Wir könnten den Frieden auch genießen, indem wir in Isolation von allen anderen Christen lebten. Doch das ist nicht Gottes Ziel. Er hat den Einzelnen in die Familiengemeinschaft eingebunden. Es ist Gottes Absicht, dass wir uns in Ortsgemeinden sammeln. Obwohl das Zusammenleben mit anderen Christen manchmal unsere Geduld erproben kann, so kann doch Gott auf diese Weise Tugenden im Leben des Christen entwickeln, die er auf keine andere Weise hervorbringen könnte. Deshalb sollten wir nicht von unserer Verantwortung in der Ortsgemeinde zurückschrecken, noch sie aufgeben, wenn wir gereizt oder herausgefordert werden. Wir sollten stattdessen versuchen, in Frieden mit unseren Mitgläubigen zu leben und ihnen mit allem, was wir tun und sagen, zu helfen. »… und seid dankbar.« Dieser Refrain findet sich immer wieder in den Schriften des Paulus. Das hat wohl seinen guten Grund: Der Geist Gottes hält einen dankbaren Geist für sehr wichtig. Und wir glauben, dass es wirklich so ist – wichtig nicht nur für das geistliche Leben eines Menschen, sondern auch für sein leibliches Wohlergehen. Ärzte haben herausgefunden, was die Schrift schon immer gelehrt hat: Eine freudige, dankbare Geisteshaltung ist gut für den Leib, während Sorgen, Depressionen und ein ständiges Murren sowie Klagen ausgesprochen schädlich für die Gesundheit sind. Normalerweise meinen wir, dass Dankbarkeit etwas ist, das durch die gerade gegebenen Umstände bestimmt wird, doch Paulus zeigt hier, dass es sich um eine Gabe handelt, die wir fördern sollen. Wir sind verantwortlich dafür, »dankbar« zu sein. Von allen Völkern der Erde haben wir den meisten Grund zur Dankbarkeit (vgl. 5. Mose 33,29). Es liegt nicht daran, dass wir nicht Grund genug zum Danken haben, sondern nur an unseren selbstsüchtigen Herzen.
3,16 Man ist sich nicht über die Zeichensetzung von Vers 16 einig. In den Originalhandschriften des NT gab es keine Satzzeichen, und die Bedeutung eines solchen Verses wird sehr stark von den Satzzeichen bestimmt, die benutzt werden. Wir schlagen folgende Zeichensetzung vor: »Das Wort Christus wohne reichlich in euch; in aller Weisheit lehrt und ermahnt euch gegenseitig! Mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern singt Gott in euren Herzen in Gnade«. Damit haben wir drei Abschnitte in diesem Vers. Zunächst einmal sollen wir »Das Wort des Christus … reichlich in« uns wohnen lassen. »Das Wort des Christus« ist die Lehre Christi, wie wir sie in der Bibel finden. Wenn wir unser Herz und unseren Geist mit seinem heiligen Wort sättigen und danach streben, im Gehorsam ihm gegenüber zu wandeln, dann ist »das Wort des Christus« wirklich in unseren Herzen zu Hause. Der zweite Gedanke lautet, dass wir uns »in aller Weisheit … gegenseitig« lehren und ermahnen sollen. Jeder Christ trägt gegenüber seinen Brüdern und Schwestern in Christus in dieser Hinsicht eine Verantwortung. »Lehren« hat mit Glaubenstatsachen zu tun, während sich »ermahnen« auf die Pflichten des Christen bezieht. Wir schulden es unseren Brüdern und Schwestern, unsere biblische Erkenntnis mit ihnen zu teilen und zu versuchen, ihnen durch praktischen und gottesfürchtigen Rat zu helfen. Wenn wir »in aller Weisheit« lehren und ermahnen, dann wird solcher Rat viel eher akzeptiert, als wenn wir unweise oder lieblos sprechen.
Der dritte Gedanke lautet, dass wir »mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern … Gott in« unseren »Herzen in Gnade« singen sollen. »Psalmen« bezieht sich auf die von Gott eingegebenen Texte im gleichnamigen Buch der Bibel, die im israelitischen Gottesdienst gesungen wurden. »Loblieder« dagegen sind Lieder, die an Gott den Vater oder an den Herrn Jesus Christus gerichtet sind und ihn loben sowie anbeten. Dazu gehört z. B.: Herr Jesus, dass Dein Name bliebe im Grunde tief gedrücket ein! Möcht’ Deine große Jesusliebe in Herz und Sinn gepräget sein! Im Wort, im Werk, in allem Wesen sei Jesus und sonst nichts zu lesen. Gerhard Tersteegen
»Loblieder« sind nicht in dem demselben Sinne inspiriert wie die »Psalmen«. Der Begriff »geistliche Lieder« bezieht sich auf christliche Poesie, die christliche Erfahrungen widerspiegelt. Eine Vera nschaulichung dessen kann man in folgend en Worten finden: Oft wir uns den Frieden rauben, und die Ruhe ist uns fern, weil nicht immer gleich wir bringen alles im Gebet zum Herrn. Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals von Joseph Scriven Wenn wir diese verschiedenen Arten von Liedern singen, dann sollten wir »in Gnade« oder mit Dank »in« unserem »Herzen« für »Gott« singen. An diesem Punkt mag eine Anmerkung angemessen sein: Der Christ sollte unterscheiden, welche Art von Musik er benutzt. Viele sogenannte »christliche« Musik von heute ist leichtfertig und hohl. Ein Großteil dieser Musik ist ausgesprochen schriftwidrig. Darüber hinaus ähnelt ein großer Teil der weltlichen Pop- und Rockmusik, sodass der Name Christi dadurch verunehrt wird.
Vers 16 ist Epheser 5,18.19 sehr ähnlich, wo wir Folgendes lesen: »Und berauscht euch nicht mit Wein, worin Ausschweifung ist, sondern werdet voller Geist, indem ihr zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern redet und dem Herrn mit eurem Herzen singt und spielt.« In Kol osser 3,16 ist der Hauptunterschied, dass es nicht heißt: »Werdet voller Geist«, sondern Paulus sagt: »Das Wort des Christus wohne reichlich in euch.« Mit anderen Worten, mit dem Heiligen Geist und mit dem Wort Gottes erfüllt zu sein, ist notwendig, um ein freudiges, nützl iches und fruchtbares Leben zu führen. Wir werden nicht mit dem Geist erfüllt, wenn wir nicht voll des Wortes Gottes sind, und das Studium des Wortes Gottes wird so lange ine ffektiv bleiben, wie wir uns nicht von Herzen der Herrschaft des Heiligen Geistes hingeben. Können wir daraus nicht schließen, dass mit dem Heiligen Geist erfüllt zu werden, bedeutet, auch mit dem Wort Gottes erfüllt zu sein? Dieser Zustand des Erfülltseins ist kein geheimnisvoller, emotional bedingter Augenblick, der uns einmal im Leben geschenkt wird. Vielmehr besteht er darin, sich täglich von der Schrift zu nähren, über sie nachzusinnen, ihr zu gehorchen und nach ihr zu leben.
3,17 Vers 17 ist eine allgemeine Regel, wonach wir unser Verhalten als Christen beurteilen können. Heutzutage haben es junge Leute besonders schwer zu entscheiden, ob bestimmte Dinge richtig oder falsch sind. Dieser Vers kann sich, wenn er in unserem Gedächtnis eingebrannt ist, als Schlüssel für viele dieser Probleme erweisen. Die Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen, ist: Kann ich das »im Namen des Herrn Jesus« tun? Kann ich es ihm zu Ehren tun? Kann ich erwarten, dass sein Segen darauf ruht? Möchte ich diese Tätigkeit ausüben, wenn er wiederkommt? Man beachte, dass man diesen Maßstab sowohl auf unsere Worte als auch auf unsere Taten anwenden sollte. Wenn wir diesem Gebot gehorchen, dann hebt dies unser ganzes Leben auf eine höhere Ebene. Es ist ein kostbares Geheimnis, wenn ein Christ es lernt, alles für den Herrn und zu seiner Ehre zu tun. Und wieder fügt der Apostel die Worte hinzu: »Und sagt Gott, dem Vater, Dank durch ihn.« Dank, Dank und nochmals Dank! Das ist die ewige Pflicht derer, die durch die Gnade errettet und für den Himmel bestimmt sind.
B. Angemessenes Verhalten für Angehörige der christlichen Hausgemeinschaft (3,18 – 4,1) Paulus gibt nun den Gliedern der christlichen Hausgemeinschaft einige Ermahnungen. Sie reichen bis Kapitel 4,1. Er hat Ratschläge für Ehefrauen, Ehemänner, Kinder, Eltern, Diener und Herren. Zunächst mag dies wie ein abrupter Themenwechsel erscheinen – von den Themen, die Paulus bisher beschäftigt haben, zu solch einem profanen Thema wie dem Familienleben. Doch in Wirklichkeit ist dies höchst bedeutsam.
Exkurs zum Thema christliche Familie
In Gottes Augen beeinflusst die Familie an entscheidender Stelle das Leben des Christen. Ein diesbezügliches Sprichwort (»Die Hand an der Wiege regiert die Welt«) enthält mehr Wahrheit, als man bei oberflächlicher Betrachtung meint. Die Familieneinheit wurde von Gott dazu geschaffen, vieles, was das Leben lebenswert macht, zu bewahren. Weil wir immer weniger auf die Familie achten, verkommt unsere Zivilisation immer mehr. Der erste Brief des Paulus an Timotheus lehrt auf besondere Weise, dass Gott das Familienleben als Mittel angeordnet hat, durch das man geistliche Qualitäten erlangen kann, sodass die Eignung eines Menschen für die Leiterschaft in der Gemeinde aus der Bewährung im Familienleben entspringt. In den folgenden Versen finden wir einige der Prinzipien, die uns bei der Gründung einer christlichen Familie leiten sollten. Wenn wir diesen Abschnitt betrachten, sollten wir uns die folgenden Grundbedingungen vor Augen halten: 1. Es muss eine Familienandacht geben – eine Zeit am Tag, zu der sich die Familie zum Lesen der Heiligen Schrift und zum Gebet versammelt. 2. Der Vater muss seine Autoritätsstellung in der Familie haben und sie in Weisheit sowie Liebe ausüben. 3. Die Frau und Mutter sollte erkennen, dass sich ihre erste Verantwortung vor Gott und der Familie in ihrem häuslichen Umfeld befindet. Im Allgemeinen ist es nicht weise, wenn eine Frau einer Arbeit außerhalb des Hauses nachgeht. Natürlich gibt es hier Ausnahmen.
4. Der Ehemann und die Frau sollten für ihre Kinder ein Beispiel an Gottesfurcht sein. Sie sollten in allem einig sein, wenn nötig auch in der Züchtigung der Kinder.
5. Die Einheit der Familie sollte aufrechterhalten werden. Es ist viel zu schnell möglich, sich so im Beruf, im sozialen Leben und sogar im christlichen Dienst zu engagieren, dass die Kinder unter mangelnder Zuneigung, Gemeinschaft, Anleitung und Erziehung leiden. Viele Eltern mussten trauernd angesichts eines abgewichenen Sohnes oder einer ausgescherten Tochter bekennen: »Und es geschah, während dein Knecht da und dort zu tun hatte, da war er nicht mehr da« (1. Kön 20,40).
6. Bezüglich der Züchtigung von Kindern sind drei Grundregeln empfohlen worden. Strafe nie im Zorn. Strafe nie ungerecht. Strafe nie ohne Erklärung.
7. Es ist gut für die Kinder, in der Jugend zu lernen, ihr Joch zu tragen (Klgl 3,27), diszipliniert arbeiten zu lernen, Verantwortung zu übernehmen und den Wert des Geldes kennenzulernen.
8. Vor allem sollten christliche Eltern vermeiden, auf fleischliche und weltliche Weise nach ehrgeizigen Zielen für ihre Kinder zu streben. Vielmehr sollten sie ihnen ständig den Dienst des Herrn als die beste Art vor Augen halten, ihr Leben einzusetzen. Für einige kann das den vollzeitigen Dienst auf dem Missionsfeld bedeuten, für andere mag es den Dienst für den Herrn in einem säkularen Beruf umfassen. Doch auf jeden Fall sollte das Werk des Herrn das wichtigste Kriterium sein. Ob zu Hause, bei der Arbeit oder wo auch immer – wir sollten uns der Tatsache bewusst sein, dass wir unseren Heiland repräsentieren. Deshalb sollte jedes Wort und jede Tat ihm würdig sein, und, kurz gesagt, von ihm bestimmt werden.
3,18 Die erste Ermahnung des Apostels ist an die »Frauen« gerichtet. Sie werden eindringlich ermahnt, sich ihren »Männern« unterzuordnen, »wie es sich im Herrn geziemt«. Der göttliche Plan ist, dass der Ehemann das Oberhaupt der Familie ist. Die Frau ist eine unterg eordnete Stellung unter ihren Mann gegeben worden. Sie soll weder dominieren noch leiten, sondern seiner Leitung folgen, wo immer sie es kann, ohne ihre Treue zu Christus zu gefährden. Es gibt natürlich Fälle, in denen eine Frau ihrem Ehemann nicht gehorchen darf und trotzdem Christus treu bleibt. In einem solchen Fall muss sie zuerst dem Herrn Jesus gehorchen. Wenn eine christliche Frau einen Mann hat, der den an ihn gestellten Anforderungen nicht in jeder Beziehung gerecht wird, dann bedeutet dieser Vers, dass sie ihm helfen sollte, seine Aufgaben in der Familie zu erfüllen. Sie sollte die ents prechenden Aufgaben nicht selbst an sich zu reißen, weil sie in der betreffenden Ang elegenheit vielleicht begabter ist.
3,19 Es ist wunderschön, wie ausgeglichen das Wort Gottes ist. Der Apostel bleibt nicht bei seinem Rat für die Frauen stehen, sondern zeigt, dass auch die Ehemänner eine Verantwortung haben. Die »Männer« sollen ihre »Frauen« lieben und »nicht bitter gegen sie« sein. Wenn man diesen einfachen Anweisungen folgen würde, dann würden viele Ehep robleme verschwinden, und Familien wären sehr viel glücklicher im Herrn. Denn keine Frau würde sich wohl weigern, sich einem Ehemann zu unterwerfen, der sie wirklich liebt. Man hat zu Recht bemerkt, dass dem Ehemann hier nicht gesagt wird, er solle seine Frau dazu bringen, ihm zu gehorchen. Wenn sie es nicht tut, dann sollte er die Angelegenheit vor den Herrn bringen. Die Untero rdnung sollte von ihrer Seite aus freiwillig geschehen, »wie es sich im Herrn geziemt«.
3,20 Die »Kinder« werden ermahnt: »Gehorcht euren Eltern in allem, denn dies ist wohlgefällig im Herrn.« Zu allen Zeiten sind Familien durch zwei einfache Prinzipien zusammengehalten worden – Autorität und Gehorsam. Hier geht es um das letztere Prinzip. Man beachte hier, dass Gehorsam »in allem« gefordert wird. Damit sind nicht nur angenehme Dinge, sondern auch Bereiche gemeint, wo Gehorsam nicht so angenehm ist. Gläubige Kinder, die ungläubige Eltern haben, stehen oft in einer schwierigen Position. Sie wollen dem Herrn treu sei und werden gleichzeitig mit den Ansprüchen konfrontiert, die ihre Eltern an sie stellen. Im Allgemeinen sind wir der Ansicht, dass Gott, wenn sie ihre Eltern ehren, auch sie ehren wird. Solange sie im Hause ihrer Eltern leben, haben sie ganz besonders die Verpflichtung zum Gehorsam. Natürlich sollten sie nichts tun, das den Lehren Christi entg egensteht, doch normalerweise werden sie nicht dazu aufgefordert. Oft mögen sie aufgefordert werden, Dinge zu tun, die sie ungern tun, doch solange sie nicht eindeutig falsch oder sündig sind, können sie sich entschließen, sie für den Herrn zu tun. Auf diese Weise können sie ein gutes Zeugnis für ihre Eltern sein und versuchen, sie für den Herrn zu gewinnen.
3,21 »Väter« sollten ihre Kinder nicht »reizen, … damit sie nicht mutlos werden«. Es ist interessant, dass dieser Rat an die »Väter« und nicht an die Mütter gerichtet ist. Enthüllt das nicht, dass die Väter eher in der Gefahr stehen, diesen Fehler zu begehen, als es bei den Müttern der Fall ist? Kelly ist der Ansicht, dass Mütter eher Gefahr laufen, ihre Kinder zu verwöhnen.
3,22 Von Vers 22 bis zum Ende des Kapitels spricht der Geist Gottes die »Sklaven« oder Knechte an. Es ist interessant zu sehen, wie viel Platz das NT den Sklaven widmet. Das ist nicht bedeutungslos. Es zeigt, dass es keine Rolle spielt, welchen sozialen Status jemand hat. Er kann in einem Leben als Christ durch die Treue zum Wort Gottes dennoch die allerh öchste Stellung erlangen. Vielleicht zeigt das auch das Vorherwissen Gottes, dass die meisten Christen eher in dienenden als in herrschenden Positionen zu finden sein würden. Z. B. gibt es im NT sehr wenig Anweisungen, die sich an Herrscher richten, doch es gibt sehr viele Ratschläge für diejenigen, die ihr Leben im Dienst für andere zubringen. Die Sklaven zur Zeit des Paulus erhielten normalerweise recht wenig Aufmerksamkeit, und zweifellos erschien es den frühen Christen als ung ewöhnlich, dass ihnen in diesen Briefen so viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Doch das lässt erkennen, wie die Gnade Gottes allen Menschen gilt, ganz gleich, wie gering ihre Stellung auch sein mag. C. H. Mackintosh bemerkt: »Der Sklave ist nicht vom Dienst für Gott ausgeschlossen. Indem er einfach seine Pflicht vor dem Angesicht Gottes tut, kann er den Schmuck der Glaubenslehre tragen und Gott Ehre einbringen.« Den »Sklaven« wird befohlen, »in allem« denen, die ihre »Herren nach dem Fleisch« sind, zu gehorchen. Wir haben hier die behutsame Erinnerung daran, dass diese nur »Herren nach dem Fleisch« sind. Sie hingegen haben einen and eren Herrn, der über allen steht und alles sieht, was dem geringsten seiner Kinder zug efügt wird. Sklaven sollen »nicht in Augendienerei, als Menschengefällige, sondern in Einfalt des Herzens« dienen und dabei »den Herrn fürchten«. (In Bezug auf ein gutes alttestamentliches Beispiel siehe 1. Mose 24,33.) Wenn insbesondere jemand unterdrückt wird, dann ist er versucht, die Arbeit schleifen zu lassen, wenn sein Herr gerade nicht hinschaut. Doch der gläubige Diener wird erkennen, dass sein Herr immer zuschaut. Auch wenn seine irdischen Umstände sehr bitter sein mögen, wird er seine Arbeit für den Herrn im Himmel tun. »In Einfalt des Herzens« bedeutet, dass er reine Motive hat – er will nur dem Herrn Jesus gefallen. Es ist interessant, dass im NT die Sklaverei nicht verboten wird. Das Evangelium beseitigt nicht Einrichtungen und Ordnungen innerhalb der Gesellschaft durch Revolutionen. Doch wo immer das Evangelium hinkam, ist die Sklaverei beseitigt und ausgerottet worden. Das bedeutet nicht, dass diese Anweisungen deshalb bedeutungslos für uns wären. Alles, was hier gesagt wird, kann man auch auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber anwenden.
3,23 »Was« auch immer getan wird, es sollte »von Herzen« (wörtlich »aus der Seele«) »als dem Herrn und nicht den Menschen« getan werden. In jeder Form des christlichen Dienstes wie auch in jedem Lebensbereich gibt es viele Aufgaben, die Menschen widerwärtig finden. Wir brauchen kaum zu sagen, dass wir solchen Arbeiten lieber aus dem Weg gehen. Doch dieser Vers lehrt uns die wichtige Lektion, dass der niedrigste Dienst verherrlicht und auf eine höhere Ebene gehoben werden kann, wenn wir ihn für den Herrn tun. In diesem Sinne gibt es keinen Unterschied zwischen säkularer und christlicher Arbeit. Alles ist heilig. Im Himmel werden wir nicht dafür belohnt, dass man unseren Dienst gesehen hat oder wir besonders erfolgreich gewesen wären. Auch zählen dann nicht unsere Talente oder Gelegenheiten, sondern unsere Treue und Hingabe. So wird es auch unscheinbaren Menschen eines Tages sehr gut ergehen, wenn sie ihre Pflichten treu als dem Herrn getan haben. Zwei Mottos werden gerne über die Küchenspüle gehängt: »Nicht irgendwie, sondern triumphierend«, und: »Hier dient man Gott dreimal täglich«.
3,24 Der »Herr« ist jetzt dabei, die Bücher zu führen. Dabei erregt alles, was für ihn getan wird, seine Aufmerksamkeit. »Die Freundlichkeit Gottes wird die Freundlichkeit der Menschen vergelten.« Diejenigen, die wenig irdisches Erbe haben, werden »das Erbe« des Himmels empfangen. Wir sollten uns daran erinnern, wenn wir das nächste Mal etwas tun müssen, das wir nicht gerne tun, sei es in der Gemeinde, zu Hause oder am Arbeitsplatz. Es ist ein Zeugnis für Christus, es klaglos zu erledigen, und zwar auf die bestmögliche Weise.
3,25 Paulus sagt in Vers 25 nicht ausdrücklich, wen er meint. Vielleicht würden wir am ehesten an einen ungerechten Herrn denken, der seine Sklaven unterdrückt. Vielleicht ist ein gläubiger Diener müde geworden, seinen ungerechten Forderungen zu gehorchen. »Kümmere dich nicht darum«, sagt Paulus, »denn der Herr weiß alles darüber, und er wird auch die Ungerechtigkeiten, die du ertragen musst, in seine Hand nehmen.« Doch obwohl dies auch die Herren einschließen könnte, ist es in erster Linie an die Sklaven gerichtet. Nachlässiger Dienst, Betrug, Faulenzerei und andere Formen der Unehrlichkeit werden nicht unbemerkt bleiben. »Da ist kein Ansehen der Person« vor Gott. Er ist der Herr aller, und die Unterschiede unter den Menschen bedeuten ihm nichts. Wenn Sklaven ihre Herrn berauben (wie es Onesimus wohl getan hat), dann werden sie darüber dem Herrn im Himmel Rechenschaft ablegen müssen.
4,1 Dieser Vers gehört von der Logik her zum Schlussvers von Kapitel 3. »Herren« sollten ihren »Sklaven« geben, »was recht und billig ist«. Sie sollten ihnen nicht einen gerechten Lohn vorenthalten, sondern sie für ihre Arbeit gut bezahlen. Das ist direkt an gläubige Arbeitgeber gerichtet. Gott hasst es, wenn Arme unterdrückt werden. Die Gaben eines Menschen, der sein Geld durch ungerechte Arbeitsbedingungen und Praktiken verdient hat, lehnt Gott mit den Worten ab: »Behalte dein Geld; wie du es erworben hast, missfällt mir« (s. Jak 5,1-4). Herren sollten nicht überheblich sein, sondern ehrfürchtig. Auch sie haben »einen Herrn in den Himmeln«, den Einen, der immer gerecht ist.
Ehe wir diesen Abschnitt beschließen, ist es noch interessant zu bemerken, wie der Apostel Paulus diese Angelegenheiten des Alltagslebens erneut in das Licht der Herrschaft Christi stellt: 1. Frauen – wie es sich im Herrn geziemt (V. 18).
2. Kinder – wohlgefällig im Herrn (V. 20).
3.  Sklaven – den Herrn fürchtend (V. 22). 4.  Sklaven – als dem Herrn (V. 23). C. Das Gebetsleben des Gläubigen und sein Zeugnis durch Leben und Worte (4,2-6)
4,2 Paulus wird nie müde, das Volk Gottes zu ermahnen, sorgfältig ihr Gebetsleben zu pflegen. Zweifellos werden wir alle einmal bedauern, wenn wir in den Himmel kommen, dass wir nicht mehr Zeit im Gebet verbracht haben. Das gilt insbesondere dann, wenn wir sehen werden, wie sehr unsere Gebete erhört wurden. Mit dem gesamten Thema »Gebet« ist viel Geheimnisvolles verbunden, und viele Fragen kann man nicht beantworten. Doch die beste Haltung für den Christen besteht darin, nicht zu versuchen, diese tieferen Geheimnisse des Gebetes zu analysieren oder zu verstehen. Der beste Ansatz ist es, im einfachen Glauben zu beten und die intellektuellen Zweifel beiseitezuschieben.
Wir sollen »am Gebet« nicht nur festhalten, sondern sollen auch »darin wachen«. Das erinnert uns sofort an die Aufforderung des Herrn Jesus an seine Jünger im Garten Gethsemane: »Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt.« Sie wachten nicht, sondern schliefen fest ein. Wir sollen uns nicht nur vor dem Schlaf, sondern auch vor abschweifenden Gedanken, Gleichgültigkeit und davor hüten, dass wir den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Und wir sollen aufpassen, dass uns nicht die Zeit zum Gebet geraubt wird (Eph 6,18). Außerdem sollen wir unsere Gebete »mit Danksagung« verbinden. Wir sollten nicht nur dankbar für geschehene Gebetserhörungen sein, sondern im Glauben können wir dem Herrn schon für Gebete danken, die er noch nicht erhört hat. Guy King fasst das schön zusammen: »Seine Liebe will das Beste für uns, und seine Weisheit weiß, was das Beste für uns ist, und seine Macht erreicht das Beste für uns.«21
4,3 Paulus bittet, dass die Kolosser »auch für« ihn beten, und für die Diener des Herrn, die bei ihm in Rom sind. Es ist schön zu sehen, dass er nicht darum bittet, aus dem Gefängnis zu kommen. Vielmehr will er, »dass Gott« ihm »eine Tür … öffne«, um das Wort zu predigen. Der Apostel wünschte sich, dass Gott ihm die Türen öffnete. Welch eine wichtige Lehre enthält das doch für uns! Es ist nur zu leicht möglich, dass wir uns im christlichen Dienst die Türen selbst aufmachen. Doch das ist eine Gefahr, die wir meiden sollten. Wenn der Herr die Türen für uns öffnet, dann können wir sie mutig durchschreiten, und zwar in dem Bewusstsein, dass er uns leitet. Wenn wir dagegen die Türen selbst öffnen, dann können wir uns nicht sicher sein, im Willen Gottes zu leben. Wir könnten uns schon bald fleischlicher Mittel bedienen, um das sogenannte Werk des Herrn zu tun. Die besondere Bitte des Paulus ist es, dass ihm »eine Tür des Wortes« geöffnet werde, »das Geheimnis des Christus zu reden, dessentwegen« er »auch gebunden« war. »Das Geheimnis des Christus« in diesem Vers ist die Wahrheit über die Gemeinde, und besonders der Aspekt, den man durch den Ausdruck »Christus für die Heiden« definieren könnte. Das war der besondere Aspekt der Evangeliumsbotschaft, die Paulus als Verkündiger anvertraut war. Weil er es gewagt hatte zu behaupten, dass Heiden auf die gleiche Weise wie die Juden erlöst werden könnten, war es den Obersten der Juden letztendlich gelungen, ihn als Gefangenen nach Rom senden zu lassen. Es gibt einige Ausleger, die der Ansicht sind, dass das große Geheimnis der Gemeinde Paulus im Gefängnis offenbart wurde. Sie legen deshalb großen Wert auf die »Gefangenschaftsbriefe«, während sie offensichtlich die Bedeutung der Evangelien und der anderen Bücher des NT unterschätzen. Doch aus diesem Vers geht hervor, dass die Predigt des Geheimnisses die Ursache für die Gefangenschaft des Paulus war. Es muss ihm deshalb bereits einige Zeit vor seiner Gefangenschaft geoffenbart worden sein.
4,4 Er möchte das Geheimnis gerne »kundmachen«, d. h. auf solch klare und eindeutige Weise predigen, dass es von den Menschen leicht verstanden wird. Dies sollte das Anliegen jedes Christen sein, der Christus bekannt machen möchte. Es ist keine Tugend, »tiefsinnig« zu predigen. Wir sollten darauf abzielen, die Massen zu erreichen, und dazu muss die Botschaft einfach und deutlich präsentiert werden.
4,5 Christen sollten »in Weisheit gegenüber denen« wandeln, »die draußen sind«. Sie sollten erkennen, dass ihr alltägliches Verhalten sorgfältig von Ungläubigen beobachtet wird. Die Welt ist an unserem Wandel mehr interessiert als an unseren Worten. Edgar Guest drückte es so aus: »Ich sehe lieber jeden Tag eine Predigt, als mir eine solche anzuhören.« Das bedeutet nicht, dass der Christ auf das mündliche Christuszeugnis verzichten sollte, doch es geht hier darum, dass sein Wandel mit seinen Worten übereinstimmen sollte. Man soll nie von ihm sagen können: »Große Worte, nichts dahinter.«
»Die gelegene Zeit« auszukaufen, bedeutet, jede Gelegenheit wahrzunehmen. An jedem Tag unseres Lebens haben wir Gelegenheiten, von der erlösenden Macht unseres Herrn Jesus Christus Zeugnis abzulegen. Wenn diese Gelegenheiten kommen, dann sollten wir bereit sein, sie wahrzunehmen. Das Wort »auskaufen« bedeutet, dass damit oft Kosten verbunden sind. Doch was immer es uns kosten mag, wir sollten bereit sein, von unserem geliebten Herrn denen weiterzusagen, die ihn nicht kennen.
4,6 Unser »Wort« sollte immer »in Gnade, mit Salz gewürzt« sein, damit wir »wissen, wie« wir »jedem einzelnen antworten« sollen. Wenn unsere Gespräche immer »in Gnade« sein sollen, so müssen sie von Höflichkeit, Demut und Christusähnlichkeit geprägt sein. Sie sollten ohne Klatsch, Leichtfertigkeit, Unreinheit und Bitterkeit sein. Der Ausdruck »mit Salz gewürzt« kann mehrere Bedeutungen haben. Einige Ausleger denken, dass unsere Sprache zwar freundlich, aber auch ebenso ehrlich und ohne Heuchelei sein soll. Andere denken, dass Salz den Geschmack verbessert, sodass Paulus hier sagen will, dass unsere Gespräche niemals flach, langweilig oder geistlos, sondern immer nützlich und wertvoll sein sollten. Lightfoot sagt, das die heidnischen Autoren »Salz« als Bild für »geistreichen Witz« benutzten. Paulus würde wahrscheinlich hier statt Witz Weisheit meinen. Vielleicht kann man diesen Satz am besten erklären, wenn wir die Sprache unseres Herrn Jesus untersuchen. Zu der Frau, die beim Ehebruch ergriffen wurde, sagte er: »So verurteile auch ich dich nicht: Geh hin und sündige nicht mehr.« Und zu der Frau am Jakobsbrunnen sagte er: »Gib mir zu trinken … geh hin, rufe deinen Mann!« Das erste Beispiel zeugt von Gnade, während das zweite uns mehr an das Salz erinnert.
»Ihr sollt wissen, wie ihr jedem einzelnen antworten sollt.« Vielleicht denkt der Apostel Paulus hier besonders an die Gnostiker, die mit ihren wohlklingenden Lehren zu den Kolossern kamen. Die Kolosser sollten bereit sein, diesen Irrlehrern mit weisen und glaubensvollen Worten zu »antworten«.
D. Einige kurze Mitteilungen über die Mitarbeiter des Paulus (4,7-14)
4,7 »Tychikus« war offensichtlich derjenige, der vom Apostel Paulus ausgewählt worden war, um diesen Brief von Rom nach Kolossä zu bringen. Maclaren stellt dar, wie erstaunt Tychikus gewesen wäre, wenn man ihm gesagt hätte, dass »diese Pergamentstücke all den riesigen Pomp der Stadt überleben würden. Wie sprachlos wäre er gewesen, wenn er erfahren hätte, dass sein Name aufgrund der Erwähnung in diesem Brief der ganzen Welt bis ans Ende der Zeit bekannt sein würde«.
Paulus versichert hier den Heiligen, dass Tychikus ihnen nach seiner Ankunft »alles … mitteilen« werde, was die Angelegenheiten des Apostels betraf. Und wieder ist es schön zu sehen, welche Titel Paulus diesem Bruder gibt. Er nennt ihn den »geliebten Bruder, treuen Diener und Mitknecht im Herrn«. Wie viel mehr sollten wir uns nach solchen Titeln sehnen als nach den hochtrabenden Amtsbezeichnungen in Kirchen und Gemeinden, die den »Würdenträgern« unserer Tage gegeben werden!
4,8 Die Reise des Tychikus nach Kolossä hatte zwei Ziele. Zunächst sollte er den Heiligen aus erster Hand Nachrichten von Paulus und seinen Gefährten in Rom überbringen, und er sollte auch die »Herzen« der Kolosser trösten. Hier hat »trösten« wahrscheinlich wieder mehr die Bedeutung von »stärken« oder »ermutigen« (s. 2,2). Sein Dienst an ihnen sollte die allgemeine Auswirkung haben, dass sie gegen die Irrlehre der Gnostiker bestehen konnten.
4,9 Die Erwähnung des Namens »Onesimus« bringt uns die schöne Geschichte in Erinnerung, die wir in Paulus’ Brief an Philemon erfahren. Onesimus war ein entlaufener Sklave, der versucht hatte, einer Bestrafung zu entgehen, indem er nach Rom floh. Irgendwie war er mit Paulus in Kontakt gekommen, der ihn wiederum auf Christus hingewiesen hatte. Nun wird Onesimus zu seinem früheren Meister, Philemon in Kolossä, zurückkehren, während Tychikus den Brief an die Gemeinde in Kolossä überbringen würde. Man halte sich die Aufregung der Gläubigen in Kolossä vor Augen, wenn die beiden Brüder mit Briefen von Paulus ankämen. Zweifellos würde man bis spät in die Nacht aufbleiben, Fragen über die Haftumstände in Rom stellen und von Paulus’ Mut im Dienst für seinen Heiland hören.
4,10 Wir wissen nicht viel über »Aristarch« – außer der Tatsache, dass er schon vorher einmal wegen seines Dienstes für den Herrn gefangen gewesen war, wie es in Apostelgeschichte 19,29 festgehalten ist. Nun ist er Paulus’ »Mitgefangener« in Rom.
»Markus« wird hier als »Vetter des Barnabas« erwähnt. Dieser junge Mann war mit Paulus und Barnabas zu den ersten Missionsreisen aufgebrochen. Weil er versagt hatte, beschloss Paulus, ihn bei der nächsten Reise zu Hause zu lassen, doch Barnabas hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen. Aufgrund dessen trennten sich die beiden älteren Missionare. Dennoch ist es schön zu erfahren, dass das Versagen des Markus nicht das Ende war, sondern er nun wieder das Vertrauen des geliebten Paulus besitzt. Wenn Markus nach Kolossä käme, sollten die dortigen Heiligen ihn »aufnehmen«. Der hier befindliche Ausdruck (»dessentwegen ihr Befehle erhalten habt«) bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Kolosser schon vorher Anweisung wegen Markus bekommen haben. Es kann sich auf die Anweisungen beziehen, die Paulus ihnen jetzt gibt: »Wenn er zu euch kommt, so nehmt ihn auf.« Die Zeitform des Verbs »erhalten« kann einfach bedeuten, dass die Kolosser die Anweisungen durch den gerade verlesenen Brief erhalten haben. Hier wird Markus, der Schreiber des zweiten Evangeliums, erwähnt. Er hinterließ uns damit ein Christuszeugnis. Dies erinnert uns daran, dass wir alle tagtäglich durch unser Leben Christus bezeugen.
Wer zeugt treu für Christus, setzt sich für ihn ein?
Wer lässt sich gebrauchen, geht zu Groß und Klein?
Wer wird, wo es Not gibt, im Dienst Jesu steh’n?
Wer zeugt treu für Christus, wer will für ihn geh’n?
Seit uns seine Gnade
in den Dienst gestellt
zeugen wir für Christus ihn, der uns erwählt!
4,11 Von einem anderen Mitarbeiter des Paulus ist hier die Rede, nämlich von »Jesus, genannt Justus«. Jesus war damals ein gewöhnlicher Name, wie es noch heute in bestimmten Ländern der Fall ist. Es war die griechische Entsprechung des hebräischen Namens »Joschua«. Zweifellos wurde dieser Mann »Justus genannt«, weil seine christlichen Freunde es als unangemessen ansahen, ihm denselben Namen beizulegen, den der Sohn Gottes trug.
Die drei vorhergehenden Männer waren alle bekehrte Juden. Sie waren sogar die einzigen ehemaligen Juden, die »Mitarbeiter am Reich Gottes« zusammen mit Paulus waren, Männer, die ihm »ein Trost gewesen« sind.
4,12 Während Paulus allmählich das Ende seines Briefs erreicht, erinnert Epaphras ihn daran, seine persönlichen Grüße an die lieben Heiligen in Kolossä hinzuzufügen. Epaphras, der in Kolossä geboren war, erinnerte sich immer der Gläubigen »in den Gebeten« und bat den Herrn, dass sie »vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes« dastehen mögen.
4,13 Paulus gibt »Zeugnis«, dass Epaphras im Gebet nicht nur für die Gläubigen in Kolossä, sondern auch für die Christen »in Laodizea und die in Hierapolis« gerungen hat. Dieser Mann hatte ein persönliches Interesse an den Kindern Gottes, mit denen er bekannt war. Zweifellos hatte er eine sehr lange Gebetsliste, und es wäre kaum überraschend, wenn er jeden Einzelnen täglich im Gebet erwähnt hätte. Die New English Bible übersetzt: »Er betet immer sehr für euch, dass ihr fest stehen mögt, als in der Überz eugung Gereifte und ganz dem Tun des Willens Gottes hingegeben.«
4,14 Nun sendet Paulus noch Grüße von »Lukas, dem geliebten Arzt, und Demas«. Hier können wir bestimmte Gegensätze beobachten. Lukas war viel mit Paulus gereist und hat ihm wohl sowohl in leiblicher als auch in geistlicher Hinsicht während Krankheit, Verfolgung und Gefangenschaft gedient.
Demas dagegen war wohl eine Weile bei dem Apostel gewesen, doch schließlich musste der Apostel von ihm sagen: »Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf lieb gewonnen hat, und ist nach Thessalonich gegangen« (2. Tim 4,10). E. Grüße und Anweisungen (4,15-18)
4,15 Nun werden noch Grüße an »die Brüder in Laodizea und Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus« gesandt. Wir lesen von der Gemeinde in Laodizea noch einmal in Offenbarung 3,14-22. Die dortige Gemeinde war in geistlichen Angelegenheiten lau geworden. Sie war ausgesprochen materialistisch eingestellt und selbstzufrieden. Man meinte, dass alles in Ordnung sei, und sah die eigene Blöße nicht. Die Manuskripte unterscheiden sich im Blick darauf, ob Nymphas (ein Mann) oder Nympha (eine Frau) angesprochen ist. Doch es ist ausreichend zu bemerken, dass sich in diesem Haus in Kolossä eine Gemeinde befand. In diesen Tagen hatten die Christen keine be­sonderen Gebäude, wie wir es heute gewohnt sind. Doch die meisten von uns werden sicherlich zustimmen, dass die Kraft Gottes in einer Ortsgemeinde weitaus wichtiger ist, als ein schönes Gebäude mit exquisiten Einrichtungsgegen­ ständen. Die Kraft Gottes ist von diesen Dingen unabhängig, und luxuriöse Gemeindehäuser waren oft ein Hindernis für die Kraft Gottes.
4,16 »Wenn der Brief« in Kolossä »gelesen« worden war, dann sollte er an die »Gemeinde der Laodizeer« weiter­geleitet werden, damit er dort auch verlesen werden konnte. Zweifellos wurde das getan, doch wir erfahren aus Offenbarung 3, dass die Laodizeer nicht auf die Botschaft dieses Briefes hörten, zumindest nicht dauerhaft. Paulus gibt auch die Anweisung, dass der Brief »aus Laodizea« ebenso in Kolossä gelesen werden solle. Wir können nicht wissen, auf welchen Brief sich das bezieht. Einige glauben, dass der sogenannte Epheserbrief des Paulus gemeint war. Einige alte Handschriften lassen die Worte »in Ephesus« in Epheser 1,1 aus. Das hat viele Exegeten zu der Annahme veranlasst, dass der Epheserbrief vielleicht ein Rundbrief war, der in verschiedenen Gemeinden vorgelesen werden sollte – z. B. in Ephesus, Laodizea und dann in Kolossä. Diese Ansicht wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass im Epheserbrief wesentlich weniger persönliche Anspielungen enthalten sind als im Kolosserbrief.(4,16) Andererseits hat Paulus aufgrund seines dreijährigen Aufenthalts in Ephesus wahrscheinlich so viele Menschen dort gekannt, dass es unangemessen gewesen wäre, einige auszuwählen – aus Angst davor, den Rest zu verärgern.
4,17 »Archippus« erhält folgende Anweisung: »Sieh auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast, dass du ihn erfüllst.« Hier haben wir wieder keine genaue Information darüber, welcher »Dienst« gemeint ist. Viele glauben, dass »Archippus« ein Sohn des Philemon war und in der Gemeinde in Kolossä aktiv gewesen sei. Der Vers wird bedeutsamer für uns, wenn wir für den Namen »Archippus« unseren eigenen einsetzen, und hören, wie der Geist Gottes zu uns sagt: »Sieh auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast, dass du ihn erfüllst.« Jedem von uns ist ein Dienst vom Herrn gegeben worden, und wir werden dereinst Rechenschaft darüber ablegen müssen, was wir damit getan haben.
4,18 An diesem Punkt nahm der Apostel die Feder in die eigene »Hand« und unterschrieb seinen »Gruß« mit seinem heidnischen Namen »Paulus«. Zweifellos waren die »Fesseln« an seinen Händen beim Schreiben hinderlich, doch es erinnerte ihn daran, die Kolosser aufzufordern: »Gedenkt meiner Fesseln.« »Das Kratzen der Feder und das Klirren der Ketten sind zusammen das endgültige Zeichen dafür, dass die Ketten des Predigers das Wort Gottes nicht fesseln können.«(4,18) New Bible Commentary, S. 1051
Dann schließt er den Brief mit den Worten: »Die Gnade sei mit euch. Amen.« (Schl 2000). A. T. Robertson schreibt: »Es gibt kein größeres Wort als das Wort ›Gnade‹, denn es enthält die ganze Liebe Gottes, wie wir sie im Geschenk seines Sohnes für uns sehen.« (4,18) Robertson, Intellectuals, S. 211. »Amen.«
1,1 Der Brief beginnt mit den Namen dreier Männer, die angeklagt waren, die Welt in Aufruhr versetzt zu haben. Diese Anschuldigung war als Verleumdung gedacht, in Wirklichkeit stellte sie jedoch ein Kompliment dar.
»Paulus« war der Autor des Briefes. Zu dieser Zeit reisten »Silvanus und Timotheus« mit ihm, deshalb werden ihre Namen erwähnt. »Silvanus« ist eventuell derselbe wie Silas, der gemeinsam mit Paulus im Gefängnis von Philippi Loblieder sang (Apg 16,25). »Timotheus« ist der junge Bruder aus Lystra, der kurz vor Paulus’ Reise nach Thessalonich zu diesem gestoßen war (Apg 16,1).
Der Brief ist an die »Gemeinde der Thessalonicher in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« gerichtet. Das Wort, das wir mit »Gemeinde« übersetzen, wurde zu dieser Zeit für jede Art von Versammlung benutzt. Deshalb will Paulus verdeutlichen, dass es sich nicht um irgendeine heidnische Versammlung handelte, sondern um eine Gemeinde, die mit »Gott« als »Vater« und mit »Jesus Christus« als »Herrn« verbunden ist.
Der Gruß »Gnade euch und Friede« umfasst die besten Wünsche, die auf dieser Erde in Erfüllung gehen können. »Gnade« ist Gottes unverdiente Zuwendung in allen Lebensumständen. »Friede« ist die ungestörte Ruhe, die den zermürbenden, niederdrückenden Umständen unseres Lebens standhält. »Gnade« ist die Ursache, »Friede« die Auswirkung. Paulus wiederholt die göttlichen Namen als gemeinsame Quelle des Segens und setzt dabei das Possessivpronomen »unser« vor das Wort Vater.3
II. Die persönliche Beziehung des Paulus zu den Thessalonichern (1,2 – 3,13) A. Paulus empfiehlt die Thessalonicher (1,2-10)
1,2.3 Wann immer Paulus betete, erwähnte er die Thessalonicher. (Sind wir so treu und gedenken so oft unserer christlichen Brüder und Schwestern?) Und immer betete er mit Dank für sie, weil er an ihr »Werk des Glaubens« dachte, an ihre »Bemühung der Liebe« und ihr »Ausharren in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus«.
Mit »Werk des Glaubens« ist wahrscheinlich in erster Linie die Bekehrung der Thessalonicher gemeint. Diese Beschreibung des »Glaubens« als »Werk« erinnert uns an den Vorfall, als einige Menschen Jesus fragten: »Was sollen wir tun, damit wir die Werke Gottes wirken?« Jesus antwortete ihnen: »Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat« (Joh 6,28.29). In diesem Sinne ist der Glaube eine Handlung oder ein Werk. Doch ist er keine Anstrengung, wodurch der Mensch ein Verdienst erlangt oder dessen er sich rühmen kann. Der Glaube ist sogar das einzige Werk, das er tun kann, ohne Christus seiner Herrl ichkeit als Heiland zu berauben und seinen eigenen Zustand als verlorener Sünder zu leugnen. Glaube ist ein verdienstl oses Werk, wodurch das Geschöpf seinen Schöpfer und der Sünder seinen Heiland anerkennt. Der Ausdruck »Werk des Glaubens« umfasst auch das Leben des Glaubens, das auf die Bekehrung folgt.
Neben ihrem »Werk des Glaubens« erinnert sich Paulus auch noch an ihre »Bemühung der Liebe«. Damit ist ihr Dienst für Gott gemeint, dessen Beweggrund die Liebe zum Herrn Jesus war. Der christliche Glaube umfasst kein Leben, das man um der Pflicht willen erduldet. Vielmehr hat er mit einer Person zu tun, der man aus Liebe dient. Christi Knecht zu sein, ist völlige Freiheit. »Liebe verleiht selbst der harten Arbeit göttliche Züge«. Der von Liebe Bewegte unterscheidet sich völlig von demjenigen, der nach Gewinn strebt. Dieser wird von niederen, schmutzigen Motiven getrieben. Liebe zu Christus bringt Dienste hervor, die das Geld nie hervorbringen könnte. Die Thessalonicher waren lebendige Zeugnisse dieser Tatsache.
Schließlich war Paulus noch für das »Ausharren« der Thessalonicher »in der Hoffnung« dankbar. Damit ist ihr standhaftes Warten auf Jesus gemeint. Sie waren schwer verfolgt worden, weil sie so tapfer für Christus eingetreten waren. Doch ihr »unentwegtes, unerschütterliches Ausharren«, wie Phillips es ausdrückt, war nicht ins Wanken geraten. Der Ort der Erinnerung wird mit den Worten »vor unserem Gott und Vater« angegeben. Wenn Paulus im Gebet in die Gegenwart Gottes trat, dann erinnerte er sich an die geistliche Geburt und das Wachstum der Heiligen. Vor Gott gab er seinem Dank für ihren Glauben, ihre Liebe und ihre Hoffnung Ausdruck.
1,4 Der Apostel war sich sicher, dass diese Heiligen »von Gott« vor Grundlegung der Welt erwählt waren. Doch woher wusste er das? Hatte er übernatürliche Erkenntnis? Nein. Vielmehr gab ihm die Art, wie sie das Evangelium angenommen hatten, die Zusicherung, dass sie zu den Erwählten gehörten. Die Lehre von der »Auserwählung«4 lautet, dass Gott bestimmte Menschen in Christus vor Grundlegung der Welt erwählte (Eph 1,4). Sie lehrt nicht, dass einige zur Verdammnis auserwählt sind. Wenn Menschen einmal verlorengehen, dann wegen ihrer eigenen Sünde und wegen ihres Unglaubens.
Dieselbe Bibel, die die Erwählung lehrt, enthält auch die Lehre von der menschlichen Verantwortung bzw. vom freien Willen des Menschen. Gott macht allen Menschen ein aufrichtiges Erlösungsa ngebot. Wer zu Christus kommt, wird voller Liebe aufgenommen werden. Diese beiden Lehren, die Erwählung und die Entscheidungsfreiheit, sind für den menschlichen Geist ein nicht zu vereinbarender Konflikt. Doch die Bibel lehrt beides, und deshalb sollten wir auch beides glauben, selbst wenn wir die entsprechenden Grundgedanken nicht miteinander vereinbaren können.
Wir wissen nicht, wer die Erwählten sind, deshalb sollten wir das Evangelium in alle Welt tragen. Die Sünder dürfen die Lehre von der Erwählung nicht als Entschuldigung für ihren Unglauben benutzen. Wenn sie Buße tun und an den Herrn Jesus Christus glauben, dann wird Gott auch sie erretten.
1,5 Wenn Paulus von »unserem Evangelium« spricht, so meint er damit nicht eine andere Botschaft als diejenige der anderen Apostel. Der Inhalt war derselbe, der Unterschied lag in den Boten. Die Thessalonicher hatten die Botschaft nicht wie einen religiösen Vortrag behandelt. Sie hatten die Botschaft natürlich durch das Wort empfangen, aber »nicht im Wort allein«.
Das Evangelium kam zu ihnen »in Kraft und im Heiligen Geist und in großer Gewissheit«: 1. »In Kraft«. Die Botschaft wirkte mit übernatürlicher Kraft in ihrem Leben und bewirkte Überführung von Sünde, Buße und Bekehrung. 2. »Im Heiligen Geist«. Diese Kraft hatte ihren Ursprung im Heiligen Geist. 3. »In großer Gewissheit«. Paulus predigte mit großer Gewissheit und Zuversicht, was die Botschaft anging. Die Thessalonicher nahmen sie mit »großer Gewissheit« als Wort Gottes an. Das Ergebnis in ihrem Leben war die völlige Glaubensgewissheit. Paulus erinnert die Thessalonicher nun an sein eigenes Verhalten, als er bei ihnen war. Er predigte nicht nur das Evangelium, sondern lebte auch entsprechend. Die beste Predigt ist ein geheiligtes Leben.
1,6 Deshalb konnte Paulus sagen: »Und ihr seid unsere Nachahmer geworden und die des Herrn.« Man würde erwarten, dass er sagte: »Ihr seid Nachahmer des Herrn und von uns geworden«. Damit hätte er den Herrn zuerst erwähnt. Doch hier gibt er jene Reihenfolge an, die sich auf die Erfahrung der Thessalonicher bezog. Ihre erste Begegnung mit dem Herrn Jesus hatten sie durch das Leben des Apostels.
Wie ernüchternd ist es, sich daran zu erinnern, dass Menschen Christus an uns sehen sollen. Wir sollten imstande sein, mit Paulus zu sagen: »Seid meine Nachahmer, wie auch ich Christi Nachahmer bin« (1. Kor 11,1). Man beachte, dass sie das Wort »in viel Drangsal« und »Freude« empfangen haben. Damit haben sie den Herrn und die Apostel nachgeahmt. Nach außen hin war »Drangsal«, nach innen »Freude«. Das ist eine ungewöhnliche Kombination! Für den Weltmenschen ist es unmöglich, gleichzeitig »Drangsal« und »Freude« zu empfinden, für ihn ist Leid das Gegenteil von »Freude«. Der Christ hat eine »Freude des Heiligen Geistes«, die von den Umständen unabhängig ist; für ihn ist das Gegenteil von »Freude« Sünde.
Die »Drangsal«, die sie erlitten, war die Verfolgung, die im Anschluss an ihre Bekehrung einsetzte.
1,7 Die Thessalonicher wurden vorbildliche Christen. In erster Linie war ihr Beispiel der Freude inmitten der Verfolgung ein Vorbild für die Gläubigen »in Mazedonien und in Achaja«, d. h. für alle Christen in Griechenland.
1,8 Doch ihr Zeugnis hörte dort nicht auf. Sie wurden Christen, die sich vermehrten. Wie die Wellen in einem Teich verbreitete sich »das Wort des Herrn« in immer größeren Kreisen: erst »in Mazedonien und Achaja«, dann an »jedem Ort«. Schon bald verbreitete sich die Nachricht ihres »Glaubens an Gott« so weit, dass Paulus kaum davon zu sprechen brauchte, denn die Menschen hatten davon schon gehört.
Wir sollen nicht Endstationen der Segnungen sein, sondern Kanäle, wodurch diese anderen zufließen können. Gott leuchtet in unserem Herzen auf, sodass das Licht auch anderen scheinen kann (2. Kor 4,6). Wenn wir wirklich vom Wasser des Heils gekostet haben, dann werden von uns auch Ströme lebendigen Wassers zu den Menschen in unserem Umfeld fließen (Joh 7,37.38).
1,9 Man sprach allgemein davon, dass der Apostel und seine Gefährten eine herzliche Aufnahme gefunden hatten, als sie nach Thessalonich kamen. Auch war es allgemein bekannt, dass sich im Leben vieler Menschen eine erstaunliche Veränderung ergeben hatte. Sie hatten sich »von den« heidnischen »Götzen zu Gott bekehrt« und hatten als Knechte Gottes ihm ihren Willen unterworfen. Man beachte, dass sie sich »zu Gott von  den  Abgöttern«  (LU 1912)  bekehrt haben, nicht von den Götzen zu Gott. Es ging nicht darum, dass sie von ihren Götzen genug hatten und sich dann entschlossen, Gott eine Chance zu geben. Nein, sie bekehrten sich »zu Gott« und fanden ihn so erfüllend, dass sie ihre Götzen aufgaben.
O Jesus, nur Jesus, ist heilig und rein, seitdem ich ihn fand, wohnt er in mir allein,
zerbricht alle Götzen und endet mein Weh;
er wäscht mich im Blute jetzt weißer als Schnee.
Verfasser unbekannt
Wir sollten niemals das Gefühl der Erregung und Ehrfurcht vergessen, das in diesem Bericht liegt. Zwei Männer gehen mit dem Wort Gottes in eine heidnische Stadt. Sie predigen das Evangelium in der Kraft und im Geist Gottes. Das Wunder der Wiedergeburt findet statt: Männer und Frauen werden so von ihrem Heiland in Beschlag genommen, dass sie ihre Götzen aufgeben. Als Nächstes haben wir eine Ortsgemeinde von Gläubigen, die Gott loben, ein Leben der Heiligung führen, tapfer Verfolgung ertragen und andere für Christus gewinnen. Wahrhaftig, der Dienst des Herrn ist die allerhöchste Berufung!
1,10 Die Thessalonicher dienten nun nicht nur dem lebendigen und wahrhaftigen Gott (im Gegensatz zu den Götzen, die leblos und nichtig sind), sondern sie erwarteten auch den Herrn Jesus. Man beachte die Einzelheiten ihrer Erwartung:
1. Die Person – »sein Sohn«. 2. Der Ort – »aus den Himmeln«. 3. Die Zusicherung – »den er aus den Toten auferweckt hat«.
4. Der kostbare Name – »Jesus«. 5. Die Aussicht – »der uns errettet von dem kommenden Zorn«.
So haben wir in den Versen 9 und 10 drei Aspekte, was die Erfahrung der Thessalonicher betrifft: Umkehr (vgl. Werk des Glaubens, V. 3)
Dienst (vgl. Bemühung der Liebe, V. 3) Warten (vgl. Ausharren in der Hoffnung, V. 3)
G. R. Harding Wood5 analysiert die Erfahrung der Thessalonicher folgendermaßen:
Nachfolge – auf Gott schauen Dienen – auf die Ernte schauen Warten – auf Jesus schauen Die Thessalonicher warteten auf Gottes »Sohn aus den Himmeln«. Sie hielten es demzufolge für möglich, dass er jeden Moment während ihres Lebens wiederkommen konnte. Die nahe bevorstehende Wiederkunft des Herrn Jesus ist die Hoffnung des Christen. Sie findet sich in vielen Abschnitten des NT, von denen die folgenden nur einige sind: Lukas 12,36 – »… ihr seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten.« Römer 8,23 – »Wir … erwarten die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes.« 1. Korinther 11,26 – »Denn sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.«
2. Korinther 5,2 – »Denn in diesem freilich seufzen wir und sehnen uns danach, mit unserer Behausung aus dem Himmel überkleidet zu werden.« Galater 5,5 – »Wir nämlich erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit.« Philipper 3,20 – »Denn unser Bürgerrecht ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten.«
Philipper 4,5 – »Der Herr ist nahe.« Titus 2,13 – »… indem wir die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus erwarten.« Hebräer 9,28 – »… so wird auch der Christus, nachdem er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male ohne Beziehung zur Sünde denen zum Heil erscheinen, die ihn erwarten.«
Jakobus 5,7-9 – »Habt nun Geduld, Brüder, bis zur Ankunft des Herrn! … Habt auch ihr Geduld, … denn die Ankunft des Herrn ist nahe gekommen … Siehe, der Richter steht vor der Tür.« 1. Petrus  4,7  –  »Es  ist  aber  nahe  gekommen das Ende aller Dinge.« 1. Johannes 3,3 – »Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist.«
Judas 21 – »… indem ihr die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwartet zum ewigen Leben.« Offenbarung 3,11 – »Ich komme bald.« 22,12 – »Siehe, ich komme bald …« 22,20 – »Ja, ich komme bald. Amen, komm, Herr Jesus.«
Der Christ weiß, dass er eventuell den Tod durchschreiten muss, doch er weiß auch, dass der Herr jeden Moment kommen kann und er in diesem Fall in den Himmel kommt, ohne sterben zu müssen. Keine Prophezeiung der Schrift muss vor dem Kommen Christi für sein Volk noch erfüllt werden. Es handelt sich dabei um das nächste große Ereignis in Gottes Heilsplan.
Wir könnten nicht ständig das Kommen des Herrn erwarten, wenn es vorher noch ein Ereignis oder eine Zeitspanne geben müsste. Die Anschauung, dass die Entrückung noch vor der Großen Trübsal stattfindet, ist die einzige Sichtweise, die es dem Gläubigen erlaubt, jeden Tag die Wiederkunft Christi zu erwarten. Andere Ansichten würden es erfordern, nicht mehr daran zu glauben, dass seine Wiederkunft unmittelbar bevorsteht. Der Eine, auf den wir warten, ist Jesus, unser Erlöser »von dem kommenden Zorn«. Diese Beschreibung unseres kommenden Erretters kann man auf zweierlei Weise verstehen:
1. Er erlöst uns von der ewigen Bes trafung für unsere Sünden. Am Kreuz erlitt er den Zorn Gottes gegen unsere Sünden. Durch Glauben an ihn wird uns der Wert seines Werkes angerechnet. Fortan gibt es für uns keine Verdammnis mehr, da wir in Christus Jesus sind (Röm 8,1).
2. Doch er erlöst uns auch vom zukünftigen Zeitalter des Gerichts. Dann wird der »Zorn« Gottes auf die Welt, die seinen Sohn verworfen hat, ausgegossen. Diese Zeit ist als »Große Trübsal« bekannt oder auch als Zeit der »Bedrängnis für Jakob« (Dan 9,27; Matth  24,4-28;  1. Thess  5,1-11; 2. Thess 2,1-12; Offb 6,1 – 19,10). B. Rückblick auf den Dienst des Paulus, seine Botschaft und sein Verhalten in Thessalonich (2,1-12)
2,1 Im zweiten Teil von 1,5 hat Paulus kurz seinen persönlichen Charakter und sein Verhalten bei seinem Besuch in Thessalonich erwähnt. Nun beginnt er mit einem etwas ausführlicheren Rückblick auf seinen Dienst, seine Botschaft und seinen Lebensstil.
Es geht für einen Christen zunächst vorrangig darum, seinen Charakter prägen zu lassen. Was wir sind, ist weitaus wichtiger als das, was wir je sagen werden. Unser unbewusster Einfluss spricht lauter als unser bewusster Einfluss. James Denney sagte:
Der Charakter eines Christen ist das einzige Kapital, das er hat, um seine Aufgabe zu erledigen. In den meisten anderen Berufen kann man weiterarbeiten, ganz gleich, welchen Charakter man hat, wenn nur das Bankkonto stimmt; doch ein Christ, der seinen Charakter verloren hat, hat alles verloren.6 Der Missionar und Märtyrer Jim Elliot schreibt in seinem Tagebuch: Wenn in irgendeinem Bereich der Charakter die Qualität der Arbeit beeinflusst, dann im geistlichen Dienst. Shelley und Byron mögen moralische Freidenker sein, dennoch können sie gute Poesie schreiben. Wagner mag lüstern gewesen sein, doch er konnte noch immer gute Musik komponieren. Doch so geht es im Werk Gottes nicht. Paulus konnte den Thessalonichern seinen eigenen Charakter und seine Lebensweise als Beweis für seine Worte bringen. Im ersten Brief an diese Gemeinde sagt er neunmal »ihr wisst«. Damit meint er, dass die Thessalonicher unmittelbar das Privat- sowie das öffentliche Leben des Paulus hatten beobachten können. Paulus ging nach Thessalonich und führte ein Leben, das mehr als beispielhaft für seine Predigt war, es war ein überzeugender Beweis. Kein Wunder, dass so viel Arbeit im Reich Gottes wertlos ist, man betrachte sich nur einmal den moralischen Charakter der Arbeiter.7 Vielleicht verteidigt sich der Apostel in diesen Versen auch gegen falsche Anklagen seiner Kritiker. Jedenfalls erinnert er die Thessalonicher zuerst daran, dass sein Dienst erfolgreich war. Sie selbst waren der lebendige Beweis dafür, dass sein Werk fruchtbar gewesen war. Sie wussten, dass sein Besuch »nicht vergeblich« gewesen war. Sie selbst waren bekehrt worden, und eine Gemeinde hatte sich gebildet.
2,2 Außerdem war sein Dienst mutig gewesen. Der erbitterte Widerstand und die ungeheuerliche Behandlung »in Philippi« einschließlich der Gefangenschaft mit Silas konnten ihn weder einschüchtern noch entmutigen oder in Schrecken versetzen. Er ging sofort nach Thessalonich weiter. Dort predigte er angesichts von »viel Kampf … das Evangelium Gottes« mit einem Mut, den nur Gott geben konnte. Ein weniger robuster Mensch hätte sich vielleicht zahlreiche theologische Gründe ausdenken können, warum Gott ihn zu angenehmeren Zuhörern berufen habe. Nicht so Paulus! Er predigte die Botschaft furchtlos trotz großen Widerspruchs, eine direkte Auswirkung der Erfüllung mit dem Geist.
2,3 Die »Ermahnung« des Paulus, das Evangelium zu predigen, erwies sich als wahr hinsichtlich ihres Ursprungs, rein bezüglich ihrer Motive und verlässlich im Blick auf die Vorgehensweise. Vom Ursprung her entsprang seine Ermahnung nicht einer Irrlehre, sondern der Wahrheit Gottes. Vom Motiv her war der Apostel selbstlos in Bezug auf die Thessalonicher; er hatte nur ihr Bestes im Sinn, ohne Hintergedanken oder ein unreines Verlangen zu hegen. Von der Vorgehensweise her hatte er keinen raffinierten Plan gefasst, um sie zu täuschen. Offensichtlich klagten ihn seine neidischen Feinde der Irrlehre, der Begierde seiner eigenen Lust und der Hinterlist an.
2,4 Für Paulus war der Dienst eine heilige Verwalterschaft. Er war der Verwalter, »von Gott tauglich befunden«, und »das Evangelium« umfasste einen kostbaren Schatz, der ihm von Gott anvertraut worden war. Er war verantwortlich dafür, Gott durch die treue Verkündigung der Botschaft zu gefallen, ganz gleich, wie Menschen darauf reagieren würden. Es war ihm klar, dass er nicht sowohl Gott als auch Menschen gefallen konnte. Also wählte er Gott, dem er gefallen wollte, »der unsere Herzen prüft«, und anschließend entsprechend belohnt. Ein Verwalter hat die Aufgabe, dem zu gefallen, der ihn bezahlt. Prediger mögen manchmal versucht sein, nicht die volle Wahrheit zu sagen, weil sie Angst vor den Maßnahmen derer haben, die zu ihrem Unterhalt beitragen. Aber Gott ist der über allen stehende Herr und weiß, wann die Botschaft verwässert oder unterdrückt wird.
2,5 In Vers 5-12 legt Paulus Rechenschaft über sein Verhalten in Thessalonich ab, womit er uns ein wunderbares Vorbild für alle Diener Christi hinterlassen hat. Als Erstes hat er sich nie zu Schmeichelei oder Unehrlichkeit hinreißen lassen, um bestimmte Ergebnisse hervorzubringen. Seine Worte waren ehrlich und geradeheraus, und seine Motive waren frei von Heuchelei.
Zweitens benutzte er nie das Werk des Herrn als »Vorwand«, hinter dem er ein selbstsüchtiges Verlangen nach Reichtum verbergen konnte. Sein Dienst war keine Fassade für »Habsucht«.
Um jede Anklage wegen Schmeichelei abzuschmettern, wendet er sich an die Heiligen. Um jedoch jeden Gedanken der Habsucht zu widerlegen, wendet er sich an Gott. Er ist der Einzige, der in unsere Herzen sehen kann.
2,6.7a Hier gewinnen wir eine weitere eindrückliche Einsicht in den Charakter dieses großen Mannes Gottes. »Als Christi Apostel« hatten er und seine Mitarbeiter ein Anrecht auf finanzielle Unterstützung (hier als »Ehre« bezeichnet) von den Thessalonichern. Doch waren die Apostel entschlossen, den Thessalonichern nicht zur Last zu fallen. Daher arbeiteten sie Tag und Nacht, um ihr eigenes Einkommen sicherzustellen. Es war eine andere Situation als in Korinth. Dort arbeitete Paulus, damit er seinen Kritikern keine Ursache gab, ihn anzuklagen, dass er für Geld predige. In Thessalonich arbeitete er, weil die Heiligen arm und verfolgt waren, und er wollte ihnen nicht noch zusätzlich zur Last fallen.
2,7b Statt sich als Herr in Gottes Erbe aufzuspielen, war er »zart« gewesen, »wie eine stillende Mutter ihre Kinder versorgt«. Paulus erkannte, dass Neubekehrte »Pflege« brauchen, und er übte diesen Dienst mit allem Eifer einer hingegebenen Mutter aus.
2,8 Er umsorgte sie so liebevoll, dass er mit ihnen lieber teilen wollte, als von ihnen etwas anzunehmen. Sein Anliegen bestand nicht in einer gleichgültigen, oberflächlichen Verkündigung des »Evangeliums Gottes«, sondern darin, seinen Zuhörern Anteil an seinen innersten Herzensregungen zu geben. Er liebte sie, und Liebe scheut keine Kosten. Wie sein Herr kam er nicht, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben (Mk 10,45).
2,9 Hier haben wir einen weiteren Beweis der Selbstlosigkeit des Paulus. Wir sehen, wie er als Zeltmacher arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, damit er den Menschen dienen konnte, ohne ihnen »beschwerlich zu fallen«. Es stimmt zwar, dass der Prediger Anspruch auf Unterstützung durch andere Christen hat, doch es ist empfehlenswert, wenn er dieses Recht gelegentlich aufgibt. Ein wahrer Diener Christi wird das Evangelium weiterhin verkündigen – ob er nun Geld dafür bekommt oder arbeiten muss, um sich selbst zu finanzieren. Man beachte die Ausdrücke »Mühe und Beschwerde« und »Nacht und Tag«. Das Evangelium kostete die Thessalonicher keinen einzigen Cent, doch Paulus kostete es viel.
2,10 Die Gläubigen konnten das vorbildliche Verhalten des Paulus ihnen gegenüber bezeugen. Auch »Gott« war Zeuge, dass er hingegeben (oder »heilig«), »gerecht« und »untadelig« war. Heilig bedeutet von der Sünde abgesondert. Er war vom Charakter und Verhalten her gerecht, untadelig vor Gott und Menschen. Wenn die beste Predigt ein geheiligtes Leben ist, dann war Paulus ein großartiger Prediger. Er unterschied sich völlig von einem anderen Verkündiger, dessen Beredsamkeit größer war als sein Verhalten: Wenn er auf der Kanzel stand, wünschten die Leute, dass er sie nie verlassen würde. Wenn er jedoch heruntergestiegen war, wünschten sie, dass er sie nie wieder betreten würde!
2,11 In Vers 7 hatte Paulus sich mit einer stillenden Mutter verglichen, nun nimmt er ein anderes Bild, nämlich das Beispiel eines hingegebenen Vaters. Wenn in dem vorhergehenden Bild Zartheit und Zuneigung zum Ausdruck kamen, so will diese Veranschaulichung Weisheit und Güte vermitteln. »Wie ein Vater« hat er die Thessalonicher ermahnt, heilig zu leben und trotz Verfolgungen im Herrn zu bleiben. Er bezeugte, wie segensreich der Gehorsam gegenüber dem Willen und dem Wort Gottes ist.
2,12 Das Ziel des Dienstes von Paulus war, dass die Heiligen »des Gottes würdig … wandeln, der« sie »zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit beruft«. Aus uns selbst sind wir sowohl Gottes als auch eines Platzes im Himmel unwürdig; das einzige Verdienst, das wir haben, findet sich in dem Herrn Jesus Christus. Doch als Söhne Gottes wird von uns erwartet, unserer hohen Berufung »würdig zu wandeln«. Wir können das tun, indem wir uns der Führung des Heiligen Geistes unterstellen und Sünde in unserem Leben ständig bekennen und uns davon abkehren.
Alle Erretteten sind Untertane des Reiches Gottes. Zur Zeit ist dieses »Reich« unsichtbar, und der König ist abwesend. Doch die Moral und die ethischen Lehren des Reiches gelten für uns heute. Wenn der Herr Jesus wiederkommt, um zu regieren, wird das »Reich« in seiner sichtbaren Form errichtet werden. Dann werden wir die »Herrlichkeit« des Königs an diesem Tag teilen.
C. Rückblick auf die Reaktion der Thessalonicher auf das Evangelium (2,13-16)
2,13 Nun nimmt der Apostel ein anderes Thema auf, das er schon in 1,5a angesprochen hat – die Reaktion der Thessalonicher auf die Predigt des Evangeliums. Als sie die Botschaft hörten, nahmen sie diese nicht als Menschenwort, sondern als Gotteswort an. Das bringt V. 13 deutlich zum Ausdruck:
Und darum danken auch wir Gott unablässig, dass, als ihr von uns das Wort der Kunde von Gott empfingt, ihr es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das in euch, den Glaubenden, auch wirkt. Paulus ist sehr dankbar für ihre Aufnahme und die Annahme der Botschaft. Dies ist ein weiteres Beispiel für seine Selbstlosigkeit. Die meisten von uns wollen, dass andere uns glauben, weil wir es gesagt haben. Doch Menschenwort ist ein schwankendes Fundament für den Glauben. Nur Gott kann man ganz vertrauen. Lediglich dann, wenn man seinem Wort vertraut, werden Herz und Leben verändert. Das geschah bei den Thessalonichern; das Wort »wirkte« an ihnen, weil sie glaubten. Walter Scott schrieb: Sein Wort, die Bibel, ist inspiriert oder von Gott eingehaucht, und zwar in allen Büchern und Teilen der Urschriften. Sie ist unsere einzige Autorität in allen Angelegenheiten, unter allen Umständen und zu allen Zeiten. Wir brauchen wieder eine Generation, die vor dem Wort Gottes zittert. Die Bibel ist die Landkarte für unser Leben, unsere Führung, unser Licht und unser mora lischer Maßstab. Ich danke Gott für dieses heilige Buch.8
2,14 Welche Auswirkungen hatte die Bibel nun auf das Leben dieser Gläubigen? Sie sind nicht nur gerettet, sondern auch befähigt worden, angesichts der Verfolgung fest zu bleiben. Das war ein guter Beweis für die Echtheit ihrer Bekehrung. Durch ihr standhaftes Erdulden waren sie »Nachahmer« der christlichen »Gemeinden Gottes … in Judäa« geworden. Der einzige Unterschied war, dass die Thessalonicher unter ihren heidnischen »Landsleuten« litten, während die Gläubigen in Judäa »von den Juden« verfolgt worden waren.
2,15 Bei dieser Erwähnung der Juden beginnt Paulus mit einer Anschuldigung der Juden als Erzfeinde des Evangeliums. Und wer sollte besser darüber Bescheid wissen als er? Er selbst gehörte doch einst zu den führenden Kräften, die versuchten, den christlichen Glauben auszurotten. Dann, nach seiner eigenen Bekehrung, bekam er die Schärfe des Schwertes ihrer Verfolgung selbst zu spüren. Die Hauptsünde der Juden bestand darin, »den Herrn Jesus« getötet zu haben. Zwar war die eigentliche Kreuzigung von den Römern ausgeführt worden, doch es waren die Juden, die sie dazu brachten. Dies war der Höhepunkt der jahrhundertelangen Verfolgung der »Propheten« Gottes, die zum Volk Israel gesandt wurden (Matth 21,33-39). Zur Zeit der Christen hatten sie auch schon Paulus und andere Apostel »verfolgt« und gedacht, mit ihrem Tun »Gott« zu gefallen. Ihre Handlungen gefielen Gott aber nicht, und sie machten sich »allen Menschen feindlich«.
2,16 Die Juden waren nicht zufrieden, für sich selbst das Evangelium abzulehnen, sondern zudem entschlossen, Paulus und seine Mitarbeiter davon abzuhalten, die Botschaft »den Nationen« zu predigen. Nichts konnte sie mehr erzürnen, als zu hören, dass Heiden auf dieselbe Art »errettet werden« können wie die Juden. In ihrem Widerstand gegen den Willen Gottes führten sie fort, was ihre Väter begonnen hatten: »… um ihr Sündenmaß stets voll zu machen.« Es war, als ob sie entschlossen waren, den Kelch ihrer Sünde stets gut gefüllt zu halten. Doch ihr Schicksal ist schon beschlossen, denn »der Zorn ist endgültig über sie gekommen«. Paulus führt hier nicht aus, was er mit »Zorn« meint. Vielleicht will er hier allgemein auf das kommende Gericht als Ergebnis eines vollen Maßes an Schuld anspielen. Wir wissen, dass schon zwanzig Jahre später (70 n. Chr.) Jerusalem zerstört wurde und die überlebenden Juden in alle Winde zerstreut wurden. Aus solchen Abschnitten haben einige Ausleger geschlossen, dass Paulus ein Antisemit gewesen sei und das NT als antisemitisches Buch bezeichnet werden müsse. Die Wahrheit ist, dass Paulus seine jüdischen Landsleute sehr liebte, und sogar bereit war, sich von Christus trennen zu lassen, wenn er damit ihre Erlösung hätte erwirken können (Röm 9,1-3). Obwohl er in erster Linie zu den Heiden geschickt war, verlor er nie das Anliegen der Judenmission aus den Augen, und zeitweilig scheint dieses Anliegen sogar stärker gewesen zu sein als sein vorrangiger Auftrag.
Was der Apostel hier über die jüdischen Führer sagt, ist eine historische Tatsache und keine bösartige Verleumdung. Und wir müssen uns daran erinnern, dass Gott ihn dazu brachte, so zu schreiben. Antisemitismus ist unchristlich und kann unter keinen Umständen gerechtfertigt werden. Doch ist es nicht antisemitisch zu sagen, dass das jüdische Volk von Gott für den Tod seines Sohnes verantwortlich gemacht wird (Apg 2,23), so wie die Heiden ihrerseits verantwortlich gemacht werden (1. Kor 2,8). D. Erklärung für das Fernbleiben des Paulus von Thessalonich (2,17-20)
2,17 In den nächsten vier Versen erklärt der Apostel, warum er nicht nach Thessalonich zurückgekehrt war. Vielleicht haben ihn seine nörgelnden Kritiker der Feigheit angeklagt, dass er nicht zurückkehre, weil er den dortigen Widerstand fürchte.
Paulus macht als Erstes deutlich, dass die Trennung von den Thessalonichern rein räumlicher Art war. Der Ausdruck »da wir für kurze Zeit von euch verwaist waren« bedeutet, dass sie durch den Weggang ihres geistlichen Vaters zu Waisen geworden waren. Dennoch hatte sich sein liebevolles Interesse an ihnen nicht verändert. Man beachte die Worte, mit denen er seine Liebe beschreibt: »… umso mehr mit großem Verlangen bemüht«.
2,18 Zweimal versuchte Paulus, nach Thessalonich zurückzukehren, doch zweimal hat »Satan« ihn »gehindert«. Wie Satan genau vorging, ist nicht bekannt. Auch ist uns unbekannt, wie Paulus sicher sein konnte, dass es nicht Gott, sondern Satan gewesen war, der »gehindert« hatte. In Apostelgeschichte 16,6 lesen wir, dass Paulus und seine Gefährten durch den Heiligen Geist gehindert wurden, das Wort in Asien zu predigen. Im nächsten Vers versuchen sie, nach Bithynien zu reisen, doch wieder erlaubt es ihnen der Geist nicht. Wie können wir wissen, wann der Geist und wann Satan uns hindert? Vielleicht auf diese Weise: Wenn wir wissen, dass wir uns im Willen Gottes bewegen, dann sind alle Hindernisse, die sich auf diesem Weg auftun, von Satan und nicht vom Geist. Auch kann man erwarten, dass Satan immer dann hindert, wenn Gott segnet. Doch Gott kann Satans Gegenwehr immer besiegen. In diesem besonderen Fall führte die Tatsache, dass Paulus an der Reise nach Thessalonich gehindert wurde, dazu, dass er diesen Brief schrieb. Der Brief wiederum hat zu großer Verherrlichung Gottes und zu großem Segen für uns geführt.
2,19 Warum war der Apostel so interessiert daran, zu den Gläubigen in Thessalonich zurückzukehren? Weil sie seine Kinder im Glauben waren. Er hatte sie auf Christus hingewiesen und fühlte sich für ihr geistliches Wachstum verantwortlich. Er wusste, dass er darüber eines Tages Rechenschaft abgeben muss. Sie waren seine »Hoffnung« auf Belohnung am Richterstuhl Christi. Er wollte sich an ihnen freuen können. Sie würden sein »Ruhmeskranz … vor« dem »Herrn Jesus bei seiner Ankunft« sein.
Offensichtlich geht aus diesem Vers hervor, dass Paulus erwartete, die Thessalonicher im Himmel wiederzuerkennen. Und daraus folgt, dass auch wir unsere Lieben im Himmel wiedererkennen werden.
In Vers 19 spricht Paulus davon, dass seine Kinder im Glauben sein »Ruhmeskranz« sind. An anderer Stelle im NT lesen wir von weiteren Kränzen: dem Siegeskranz  der  Gerechtigkeit  (2. Tim  4,8), vom Siegeskranz des Lebens (Jak 1,12; Offb 2,10) und vom Siegeskranz der Herrlichkeit (1. Petr 5,4) – und sie alle sind unvergänglich (1. Kor 9,15).
2,20 Die Heiligen waren seine »Herrlichkeit und Freude«. Er hatte in menschliche Persönlichkeiten investiert und seine Belohnung waren geistliche Söhne und Töchter, die in alle Ewigkeit das Lamm Gottes anbeten würden.
Exkurs zum Kommen des Herrn
In Vers 19 lesen wir das erste Mal in 1. Thessalonicher von der »Ankunft« in Bezug auf das Wiederkommen des Herrn. Weil dies das Hauptthema dieses Briefes ist, halten wir an dieser Stelle inne und erklären die nach unserer Meinung schriftgemäße Lehre zu diesem Thema. Es gibt drei griechische Worte, die im NT für die Wiederkunft Christi benutzt werden:
parousia: Ankunft und anschließende Anwesenheit
apokalypsis: Enthüllung, Entschleierung, Offenbarung
epiphaneia: Erscheinung, Sichtbarwerden, Offenbarwerden
Das Wort, das allgemein benutzt wird, ist der Begriff parousia. Es bedeutet Anwesenheit oder Ankunft. Vine sagt, dass es sowohl Ankunft als auch die darauf folgende Anwesenheit bezeichnet. Wenn wir an das Kommen des Herrn denken, dann sollten wir es uns nicht nur als ein Einzelereignis, sondern vor allem als einen Zeitraum vorstellen. Sogar im Deutschen kann man das Wort Kommen auf diese Weise benutzen, etwa: »Die Ankunft Christi in Galiläa brachte der Volksmenge Heilung.« Hier meinen wir nicht den Tag, an dem er in Galiläa ankam, sondern die gesamte Zeit, die er in diesem Gebiet verbrachte. Wenn wir also an die Ankunft Christi denken, dann sollten wir eher einen Zeitraum als ein für sich stehendes Ereignis vor Augen haben.
Wenn wir nun alle Stellen untersuchen, an denen im NT das Wort parousia vorkommt, so werden wir finden, dass diese Stellen einen Zeitraum mit 1. einem Anfang, 2. einem Verlauf, 3. einer Erscheinung und 4. einem Höhepunkt beschreiben.
1. Der Anfang der parousia ist die Entrückung. Sie wird in den folgenden Abschnitten beschrieben (die Übersetzung des Wortes parousia wird jeweils kursiv hervorgehoben): Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden. Jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling, Christus; sodann die, welche Christus gehören bei seiner Ankunft (1. Kor 15,22.23). Wir wollen euch aber, Brüder, nicht in Unkenntnis lassen über die Entschlafenen, damit ihr nicht betrübt seid wie die Übrigen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, wird auch Gott ebenso die Entschlafenen durch Jesus mit ihm bringen. Denn dies sagen wir euch in einem Wort des Herrn, dass wir, die Lebenden, die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der Herr selbst wird beim Befehlsruf, bei der Stimme eines Erzengels und bei dem Schall der Posaune Gottes herabkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir allezeit beim Herrn sein. So ermuntert nun einander mit diesen Worten (1. Thess 4,13-18). Wir bitten euch aber, Brüder, wegen der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus und unserer Vereinigung mit ihm … (2. Thess 2,1). Habt nun Geduld, Brüder, bis zur Ankunft des Herrn! Siehe, der Bauer wartet auf die köstliche Frucht der Erde und hat Geduld ihretwegen, bis sie den Früh- und Spätregen empfange. Habt auch ihr Geduld, befestigt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn ist nahe gekommen (Jak 5,7.8). Und nun, Kinder, bleibt in ihm, damit wir, wenn er geoffenbart werden wird, Freimütigkeit haben und nicht vor ihm beschämt werden bei seiner Ankunft (1. Joh 2,28). 2. Zum Verlauf der parousia gehört der Richterstuhl Christi, vor dem die Gläubigen für ihren treuen Dienst Lohn empfangen werden:
Denn wer ist unsere Hoffnung oder Freude oder Ruhmeskranz – nicht auch ihr? – vor unserem Herrn Jesus bei seiner Ankunft? (1. Thess 2,19). Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch völlig; und vollständig möge euer Geist und Seele und Leib untadelig bewahrt werden bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus (1. Thess 5,23). Ein anderes Ereignis, das wahrscheinlich zum Verlauf der parousia gehört, ist das Hochzeitsmahl des Lammes. Von seiner zeitlichen Einordnung in der Offenbarung her wissen wir, dass es vor der wunderbaren Herrschaft Christi stattfinden wird. Wir fügen es hier ein, auch wenn das Wort »Ankunft« in diesem Zusammenhang nicht verwendet wird.
Und ich hörte etwas wie eine Stimme einer großen Volksmenge und wie ein Rauschen vieler Wasser und wie ein Rollen starker Donner, die sprachen: Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat die Herrschaft angetreten. Lasst uns fröhlich sein und frohlocken und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und sein Weib hat sich bereit gemacht. Und ihr wurde gegeben, dass sie sich kleide in feine Leinwand, glänzend, rein; denn die feine Leinwand sind die gerechten Taten der Heiligen. Und er spricht zu mir: Schreibe: Glückselig, die geladen sind zum Hochzeitsmahl des Lammes! (Offb 19,6-9).
3. Die Wiederkunft Christi wird offenbar werden, wenn er in Macht und großer Herrlichkeit auf die Erde zurückkehrt, um als König der Könige und Herr der Herren zu regieren. Die Entrückung wird von der Welt nicht gesehen werden, denn sie findet im Bruchteil einer Sekunde statt. Doch jedes Auge wird Christus sehen, wenn er wiederkommt, um zu regieren. Deshalb wird hier von der Erscheinung seiner Ankunft (parousia) gesprochen. Das ist die dritte Phase seiner Ankunft.
Als er aber auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger für sich allein zu ihm und sprachen: Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters? (Matth 24,3). Denn wie der Blitz ausfährt von Osten und bis nach Westen leuchtet, so wird die Ankunft des Sohnes des Menschen sein (Matth 24,27).
Aber wie die Tage Noahs waren, so wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein (Matth 24,37). … und sie es nicht erkannten, bis die Flut kam und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein (Matth 24,39). … um eure Herzen zu festigen, untadelig in Heiligkeit zu sein vor unserem Gott und Vater bei der Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen seinen Heiligen (1. Thess 3,13). Dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr Jesus beseitigen wird durch den Hauch seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft (2. Thess 2,8). Denn wir haben euch die Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundgetan, nicht indem wir ausgeklügelten Fabeln folgten, sondern weil wir Augenzeugen seiner herrlichen Größe  gewesen  sind  (1. Petr  1,16). (Hier spricht Petrus über die Offenbarwerdung von Christi parousia, wie sie auf dem Berg der Verklärung vorgeschattet wurde.)
4. Schließlich haben wir noch den Höhepunkt der parousia. Er wird im folgenden Vers erwähnt:
… und sagen: Wo ist die Verheißung seiner Ankunft? Denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an (2. Petr 3,4). In diesem letztgenannten Abschnitt lesen wir von Lästerern, die sich in den letzten Tagen erheben werden und die Wahrscheinlichkeit der Wiederkunft Christi leugnen werden. Welchen Aspekt der parousia meinen sie? Beziehen sie sich auf die Entrückung? Nein, denn sie wissen wahrscheinlich nichts davon. Beziehen sie sich auf die Ankunft Christi zur Herrschaft? Nein, es ist offensichtlich, dass sie das nicht meinen. Der gesamte Kontext zeigt, dass sie über die Bestrafung aller Bösen durch den Herrn spotten. Sie meinen das letzte größte Gericht Gottes auf Erden bzw. das, was sie das »Ende der Welt« nennen. Ihr Argument lautet, dass sie sich keine Sorgen machen brauchen. Gott hat in der Geschichte nicht eingegriffen und wird es auch in Zukunft nicht tun. So fühlen sie sich frei, ihre bösen Worte und Taten fortzusetzen.
Petrus beantwortet ihre Lästerung, indem er auf die Zeit nach der tausendjährigen Herrschaft Christi hinweist, wenn der Himmel und die Erde in der uns bekannten Form zerstört werden. Dieser Höhepunkt der parousia findet nach dem Tausendjährigen Reich und zu Beginn der Ewigkeit statt. Außer dem Wort parousia werden in der Originalsprache des NT noch die Worte apokalypsis und epiphaneia benutzt, um die Wiederkunft des Herrn zu beschreiben.
Apokalypsis bedeutet Enthüllung oder Offenbarung. Die Ausleger sind sich nicht einig, ob es sich immer auf die dritte Phase des Kommens Christi bezieht (seine Ankunft auf der Erde in Macht und Herrlichkeit), oder ob es sich auch auf die Entrückung beziehen könnte, wenn Jesus Christus der Gemeinde geoffenbart werden wird.
In den folgenden Versen könnte es sich sowohl auf die Entrückung als auch auf die Wiederkunft zur Herrschaft über die Erde beziehen: Daher habt ihr an keiner Gnadengabe Mangel, während ihr das Offenbarwerden unseres Herrn Jesus Christus erwartet (1. Kor 1,7). … damit die Bewährung eures Glaubens viel kostbarer erfunden wird als die des vergänglichen Goldes, das aber durch Feuer erprobt wird, zu Lob und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi (1. Petr 1,7). Deshalb umgürtet die Lenden eurer Gesinnung, seid nüchtern und hofft völlig auf die Gnade, die euch gebracht wird bei der Offenbarung Jesu Christi (1. Petr 1,13). … sondern freut euch, insoweit ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, damit ihr euch auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit Frohlocken freut (1. Petr 4,13). In einem anderen Abschnitt bezieht sich dieses Wort ziemlich deutlich auf Christi Wiederkunft zur Herrschaft über die Erde:
… und euch, den Bedrängten, durch Ruhe, zusammen mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel her mit den Engeln seiner Macht (2. Thess 1,7). Epiphaneia heißt so viel wie Erscheinung oder Offenbarwerden. Und wieder sind einige der Ansicht, dass sich dieses Wort sowohl auf Christi Erscheinung für seine Heiligen als auch auf seine Erscheinung mit seinen Heiligen bezieht. Das Wort findet sich in den folgenden Abschnitten: … und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr Jesus beseitigen wird durch den Hauch seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft (2. Thess 2,8). … dass du das Gebot unbefleckt, untadelig bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus (1. Tim 6,14). Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus, der Lebende und Tote richten wird, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich (2. Tim 4,1). Fortan liegt mir bereit der Siegeskranz der Gerechtigkeit, den der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tag: nicht allein aber mir, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieben (2. Tim 4,8). … indem wir die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus erwarten (Tit 2,13).
Der erste und der dritte dieser Verse beschreiben eindeutig das Ers cheinen Christi vor der Welt. Die anderen könnt en sich auch auf die Entrückung bez iehen. Eines wird jedoch deutlich: Sowohl die Entrückung als auch die Wiederkunft Christi zur Herrschaft werden dem Gläubigen immer wieder als Ereignisse vorgestellt, die er sehns üchtig erwarten soll. Zur Zeit der Entrückung wird er den Heiland sehen und seinen verherrlichten Leib empfangen. Wenn Christus zur Erde zurückkehrt, wird der Gläubige mit ihm in Herrlichkeit erscheinen (Kol 3,4). Zu dieser Zeit wird auch der Lohn des Gläubigen offenbar werden. Dieser Lohn wird schon vorher am Richterstuhl Christi verteilt, aber er wird erst von allen gesehen, wenn Christus auf die Erde kommt, um zu herrschen. Wie sieht der Lohn aus? In Lukas 19,17-19 gibt es einen Hinweis darauf, dass er mit der örtlich begrenzt en Herrschaft im Tausendjährigen Reich zu tun haben wird. Der eine wird über zehn Städte herrschen, ein anderer über fünf. Durch das Studium der verschiedenen Verweise auf das Kommen des Herrn haben wir gesehen, dass es dabei eher um einen Zeitraum als um ein einmaliges Ereignis geht, und dass dieser Zeitr aum verschiedene Phasen oder Stadien hat. Es gibt einen Anfang, einen Verlauf, eine Erscheinung und einen Höhepunkt. Das Kommen des Herrn beginnt mit der Entrückung, umfasst dann auch den Richterstuhl Christi, wird bei der Rückkehr Christi auf die Erde allen sichtbar und endet damit, dass Himmel und Erde, wie wir sie jetzt kennen, durch Feuer zerstört werden.
E. Die Sendung des Timotheus nach Thessalonich (3,1-10)
Die Worte »euer Glaube« kommen in Kapitel 3 fünfmal vor (V. 2.5.6.7.10) und sind Schlüsselworte zum Verständnis des Abschnittes. Die Thessalonicher mussten schwere Verfolgung ertragen, und Paulus wollte gerne wissen, wie ihr Glaube diese Prüfung bestand. Deshalb ist das Kapitel eine Lektion über die Bedeutung der Nacharbeit. Es reicht nicht, Sünder zum Heiland zu führen. Man muss ihnen helfen, in der Gnade und der Erkenntnis des Herrn zu wachsen.
3,1 In Kapitel 3 hören wir den Herzschlag des Paulus, indem er seinem ungetrübten Interesse an den Heiligen in Thessalonich Ausdruck gibt. Während er »in Athen« war, hielt er die Ungewissheit bezüglich ihres Zustand nicht mehr aus. Er wollte unbedingt wissen, wie seine Bekehrten vorwärtskamen. Satan hatte verhindert, dass Paulus persönlich zurückkehren konnte. Schließlich konnte er nicht mehr länger tatenlos zusehen und entschloss sich, Timotheus zu den Thessal onichern zu schicken, während er »allein in Athen« blieb. (Hier wird in redaktioneller Hinsicht das Fürwort »wir« verwendet.) Es stimmt traurig, sich ihn dort so »allein« vorzustellen. Er konnte sich an den Sehenswürdigkeiten der großen Stadt nicht freuen, denn er war mit der Sorge um die Gemeinden beschwert.
3,2 Man beachte die »Titel« hinter dem Namen des Timotheus: »… unser Bruder und Mitarbeiter9 Gottes in dem Evangelium des Christus.« Welch ein Privileg war es für Timotheus, Mitarbeiter des geliebten Bruders Paulus zu sein! Nach seiner Bewährung wird er allein auf eine Mission nach Thessalonich gesandt. Der Zweck der Reise war es, die Heiligen ihres »Glaubens wegen … zu befestigen und zu trösten«. Sie waren aufgrund ihres Bekenntnisses zu Christus verfolgt worden. Das war für die Jungbekehrten eine kritische Zeit, denn Satan wollte ihnen sicherlich auf raffinierte Weise einreden, dass es doch falsch gewesen war, Christen zu werden! Es wäre interessant, Timotheus zu hören, wie er sie lehrt, mit Widerstand zu rechnen, ihn unerschrocken zu ertragen und sich darüber zu freuen. Sie brauchten Ermutigung, um unter dem Druck des Widerstandes nicht zu zerbrechen.
3,3 In der Hitze der Verfolgung war die Möglichkeit groß, dass die Thessalonicher es befremdend fanden, so Schweres erleiden zu müssen, und sie sich fragten, ob Gott mit ihnen unzufrieden war. Timotheus erinnerte sie daran, dass das Leiden um Christi willen ganz und gar nicht befremdend war: Es war für Christen völlig normal; deshalb sollten sie nicht »wankend« oder mutlos werden.
3,4 Paulus erinnert sie daran, dass er selbst, als er in Thessalonich war, ihnen schon gesagt hatte, dass sie als Christen zum Leiden bestimmt sind. Seine Voraussage wurde in ihrem Leben wahr. Das wussten die Thessalonicher nur zu genau! Anfechtungen und Prüfungen sind für unser Leben notwendig: 1. Sie erproben die Echtheit unseres Glaubens. Menschen, die nur mit dem Mund bekennen, werden aufgrund ihrer Leidensscheu ausgeschieden (1. Petr 1,7). 2. Sie ermöglichen es uns, andere zu trösten und zu ermutigen, die gerade Anfechtungen erleben (2. Kor 1,4). 3. Sie entfalten in uns bestimmte Tugenden, wie z. B. Geduld (Röm 5,3). 4. Sie spornen uns an, noch eifriger das Evangelium zu verbreiten (Apg 4,29; 5,27-29; 8,3.4).
5. Sie helfen uns, die Schlacken aus unserem Leben zu entfernen (Hiob 23,10).
3,5 Der Apostel wiederholt hier den Inhalt von Vers 1 und 2: Als eine weitere Verzögerung für ihn unerträglich wurde, »sandte« er Timotheus zu den Thessalonichern, um herauszufinden, wie die Christen in den Schwierigkeiten standhielten. Er hatte große Sorge, dass der Teufel sie vielleicht mit seinen Tricks dazu gebracht hatte, ihr offensives Zeugnis für Christus aufzugeben, um sich damit ein Nachlassen der Verfolgung zu erkaufen. Das ist die immer vorhandene Versuchung, die Treue zu Christus gegen persönliches Wohlergehen einzutauschen, um nämlich dem Kreuz auf dem Weg zur Erlangung der Krone auszuweichen. Wer von uns muss etwa nicht beten: »Herr vergib mir, dass ich so oft Wege finde, um den Schmerz und das Opfer der Jüngerschaft zu umgehen. Stärke mich heute, mit dir zu gehen, ganz gleich, was es kosten mag.«
Wenn es Satan gelungen wäre, die Heiligen zum Widerruf zu verführen, dann wäre Paulus’ Arbeit seiner Ansicht nach vergeblich gewesen.
3,6 »Timotheus« kam »von« den Thessalonichern mit »guter Botschaft« zurück. Als Erstes konnte er Paulus versichern, dass ihr »Glaube« und ihre »Liebe« nicht nachgelassen hatten. Sie standen nicht nur treu zu den Lehren des christlichen »Glaubens«, sondern bewiesen auch die besonders kennzeichnende Tugend der »Liebe«. Sie ist immer eine Prüfung für die Echtheit des Glaubens: Nicht nur die allgemein anerkannte Annahme des christlichen Glaubens, »sondern der durch Liebe wirksame Glaube« (Gal 5,6) ist wichtig. Nicht nur »Glaube an den Herrn Jesus« zählt, sondern auch »Liebe zu allen Heiligen« (Eph 1,15). Ist es von Bedeutung, dass Timot heus ihren »Glauben« und ihre »Liebe« erwähnte, aber nichts über ihre Hoffnung sagte? Hatte Satan ihr Vertrauen auf die Wiederkunft Christi erschüttert? Möglicherweise. William Lincoln sagte dazu: »Der Teufel hasst diese Lehre, weil er weiß, welche Kraft sie in unserem Leben entfaltet.« Wenn ihre Hoffnung unzulänglich war, dann will Paulus sie sicherlich in diesem Brief der Hoffnung wiederherstellen.
Timotheus berichtete auch, dass die Thessalonicher sich gerne an den Apostel und seine Freunde erinnerten und an einer Wiederbegegnung ebenso interessiert waren wie Paulus, Silas und Timotheus.
3,7 Diese Nachricht war wie kühles Wasser für die lechzende Seele des Paulus (Spr 25,25). In all seiner Anfechtung wurde er »durch« ihren »Glauben« ermutigt.
3,8 Er ruft aus: »Denn jetzt leben wir, wenn ihr feststeht im Herrn.« Die Anspannung, die die Ungewissheit mit sich brachte, hieß für ihn, lebendig tot zu sein. Nun kehrte das Leben schnell in ihn zurück, als er hörte, dass alles in Ordnung war. Welch eine Bemerkung ist das über die selbstlose Hingabe dieses großen Mannes Gottes!
3,9 Worte konnten kaum den »Dank« zum Ausdruck bringen, den sein Herz »Gott« gegenüber erfüllte. Sein Freudenbecher floss jedes Mal über, wenn er sich an sie »vor« seinem »Gott« erinnerte.
3,10 Paulus hatte es sich angewöhnt, häufig zu beten; er betete nicht nur sporadisch: Er betete »Tag und Nacht«. Sein Gebetsleben war intensiv und leidenschaftlich: »… aufs Inständigste bitten«. Es war eindeutig: »euer Angesicht zu sehen«. Es war selbstlos: »das zu vollenden, was an eurem Glauben mangelt«. F. Das spezielle Gebet des Paulus (3,11-13)
3,11 Das Kapitel schließt mit dem Gebet des Paulus um eine Rückkehr zu den Thessalonichern. Er bittet außerdem darum, dass die Liebe in ihnen noch größer werden möge. Die Bitte ist an den »Gott und Vater selbst« und den »Herrn Jesus Christus« gerichtet. Dem Subjekt im Plural folgt ein Verb im Singular. Dieser Gebrauch deutet auf die Gottheit Christi und die Einheit der Gottheit hin.
3,12 Die Thessalonicher waren echte Vorbilder durch die Liebe, die sie zeigen, doch gibt es immer die Möglichkeit, sie noch umfassender zu bekunden. Und so betet er, dass ihre Liebe noch vertieft werde: »Euch aber mache der Herr reicher und überströmend in der Liebe.« Ihre »Liebe« sollte ihre Mitgläubigen und alle Menschen einschließlich ihrer Feinde umfassen. Das Vorbild sollte die Liebe der Apostel sein: »Wie auch wir gegen euch sind.«
3,13 Wenn wir in diesem Leben Liebe erweisen, werden wir im ewigen Leben untadelig sein. Wenn wir die Geschwister und alle Menschen lieben, dann werden wir »untadelig in Heiligkeit vor unserem Gott und Vater« stehen, wenn der »Herr Jesus mit allen seinen Heiligen« kommt, denn Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,8; Jak 2,8).
Jemand hat dieses Gebet einmal so ausgedrückt: »Der Herr ermögliche es euch, euer Leben immer mehr für andere hinzugeben, damit er eure christliche Wesensart jetzt so festige, dass ihr von jeder Anklage gerechtfertigt werden könnt, die man vielleicht gegen euch erheben könnte …«
In Kapitel 2 sahen wir, dass die Wiederkunft Christi verschiedene Stadien oder Phasen hat: einen Anfang, einen Verlauf, eine Erscheinung und einen Höhepunkt. Auf die dritte Phase spielt Vers 13 an: die »Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen seinen Heiligen«. Der Richterstuhl Christi hat dann schon im Himmel stattgefunden. Der Lohn wird ausgeteilt sein. Doch dieser Lohn wird erst dann offenbart, wenn der Heiland auf die Erde als König der Könige und Herr der Herren wiederkommt.
»Heilige« sind hier wahrscheinlich die Gläubigen, die bei der Entrückung in den Himmel hinaufgenommen werden (1. Thess  4,14).  Einige  sind  der  Ansicht, dass damit Engel gemeint sind, doch Vincent sagt, dass sich das Wort auf das heilige und verherrlichte Volk Gottes bezieht. Er weist darauf hin, dass Engel mit diesem Brief nichts zu tun haben, doch dass verherrlichte Gläubige in einem engen Zusammenhang mit dem Thema stehen, das die Thessalonicher betrübte. Er fügt hinzu: »Das schließt die Teilnahme von Engeln an der Wiederkunft des Herrn nicht aus, doch wenn Paulus davon spricht, dann sagt er: ›… mit den Engeln seiner Macht‹ (2. Thess 1,7).10 III. Praktische Ermahnungen (4,1 – 5,22) A. Heiligung nach dem Willen Gottes (4,1-8)
4,1 Das Wort »übrigens« bedeutet nicht, dass Paulus nun schon den Brief schließen will. Es deutet häufig einen Wechsel des Themas an, wie etwa den Übergang zu praktischen Ermahnungen. Drei wichtige Worte am Ende des 3. Kapitels waren Heiligung, Liebe und »Kommen«. Diese sind drei der Hauptthemen im vierten Kapitel: 1. Heiligung (V. 1-8), 2. Liebe (V. 9.10) und 3. Wiederkunft  (V. 13-18).  Das  letzte  Hauptthema ist Fleiß (V. 11.12).
Kapitel 4 beginnt mit dem Appell, geheiligt zu leben und damit Gott zu gefallen, und schließt mit der Entrückung der Gläubigen. Paulus dachte wahrscheinlich an Henoch, als er dies schrieb. Man beachte die Parallelen: 1. Henoch wandelte mit  Gott  (1. Mose  5,24a),  2.  Henoch  gefiel Gott (Hebr 11,5b), 3. Henoch wurde entrückt (1. Mose 5,24b; Hebr 11,5a). Der Apostel lobt die Gläubigen wegen ihrer praktischen Heiligung, doch er ermahnt sie, auf diesem Gebiet Fortschritte zu machen. Heiligung ist ein Prozess und kein Sachverhalt, den man ein für alle Mal erlangen könnte.
4,2 Als er bei ihnen war, hatte Paulus die Thessalonicher wiederholt in der Autorität des »Herrn Jesus« ermahnt, dass sie Gott durch ein Leben praktischer Heiligung gefallen möchten.
4,3 »Gottes Wille« für sein Volk ist seine »Heiligung«. Wer etwas heiligt, sondert es zum göttlichen Gebrauch aus. In gewissem Sinne sind alle Gläubigen für den Dienst des Herrn von der Welt abgesondert worden. Das wird als »geheiligte Stellung« bezeichnet. Sie ist vollkommen und  vollendet  (1. Kor  1,2;  Hebr  10,10). Dennoch sollten sich die Gläubigen auch selbst  heiligen,  d. h.  sie  sollten  sich  von allen Formen der Sünde absondern. Das wird als »praktische« oder »fortschreitende Heiligung« bezeichnet. Diese Heiligung ist ein Prozess, der bis zur Wiederkunft des Herrn weitergeht. In diesem Sinne wird das Wort »Heiligung« in Vers 3 verwendet. (Vgl. die Abhandlung über Heiligung unter 5,23.) Die besondere Sünde, vor der Paulus warnt, ist unrechtmäßige sexuelle Betätigung, in diesem Abschnitt wahrscheinlich mit Ehebruch gleichzusetzen. Sie ist eine der Hauptsünden der heidnischen Welt. Die hier befindliche Ermahnung (»dass ihr euch von der Unzucht fernhaltet«) ist heute noch genauso nötig wie in der Gemeinde des 1. Jahrhunderts.
4,4 Der christliche Grundsatz lautet: »… dass jeder von euch sich sein eigenes Gefäß in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu gewinnen wisse.« Das Wort »Gefäß« kann entweder »Ehefrau« oder aber den eigenen Leib des Mannes bedeuten. Es wird für »Ehefrau« in 1. Petrus 3,7 und für den Leib in 2. Korinther 4,7 benutzt. Die meisten deutschen Übersetzungen (soweit sie nicht wörtlich übersetzen) geben »Gefäß« mit »Ehefrau« wieder, Hans Bruns bietet in seiner Bibelübersetzung jedoch beide Wiedergabemöglichkeiten als Alternative:
Ein jeder habe seine eigene Frau und lebe mit ihr in Heiligung und Ehren (andere Übersetzung: »jeder von euch halte seinen eigenen Leib rein in Heiligung und Zucht«)! Wenn wir den Kontext entscheiden lassen, dann bedeutet »Gefäß« Ehefrau des Mannes. Hier wird gelehrt, dass jeder Mann seine Frau ehrbar und ordentlich behandeln soll und niemals irgendeine Form ehelicher Untreue zulassen darf. Damit wird die Einehe als Gottes Wille für die Menschheit bestätigt (s. a. 1. Kor 7,2).
4,5 Die christliche Sicht der Ehe steht im scharfen Kontrast zur entsprechenden Anschauung der Gottlosen. Ein Exeget sagte dazu: »Als Jesus seine Hände auf die Frau in Lukas 13,13 legte, wurde sie gerade. Wenn ein heidnischer Mann eine Frau berührt, dann wird sie verkrümmt.« »Die Nationen« sehen die Sexualität als ein Mittel an, die Leidenschaft der Lust zu befriedigen. Für sie bedeutet Keuschheit Schwäche, und Ehe ist ein Mittel, Sünde zu legalisieren. Durch ihre schmutzigen Unterhaltungen und die obszönen Kritzeleien auf den Wänden öffentlicher Gebäude gefallen sie sich in ihrer Schande.
4,6 Sexuelle Verfehlung ist eine Sünde gegen den Heiligen Geist Gottes (1. Kor 6,19), sie ist eine Sünde gegen den eigenen Leib (1. Kor 6,18), aber sie ist auch eine Sünde gegen andere Menschen. Deshalb fügt Paulus hinzu: »… dass er sich keine Übergriffe erlaube noch seinen Bruder in der Sache übervorteile.« Mit anderen Worten, ein Christ darf die Grenzen der Ehe nicht überschreiten und einen »Bruder« nicht »übervorteilen«, indem er die Zuneigung der Ehefrau dieses Bruders stiehlt. Obwohl diese Sünden im Allgemeinen heutzutage nicht von Gerichten bestraft werden, ist »der Herr Rächer … über dies alles«. Sexuelle Sünde bringt eine schreckliche Ernte leiblicher und geistlicher Unordnung im diesseitigen Leben, doch diese Konsequenzen sind nichts verglichen mit den ewigen Folgen, wenn die Sünden nicht bekannt und vergeben werden. Paulus hatte den Thessalonichern dies »ernsthaft bezeugt«. Einer der begabtesten Schriftsteller Großbritanniens im 19. Jahrhundert fiel in sexuelle Sünde und endete in Gefängnis und Entehrung. Er schrieb: Die Götter haben mir fast alles geschenkt, doch ich ließ mich zu langen Perioden sinnloser und sinnlicher Genüsse verführen … Der Höhen müde, ging ich bewusst in die Tiefe, um nach neuen Sinnesreizen zu suchen … Ich nutzte gedankenlos andere Menschen aus. Ich vergnügte mich, wo es mir gefiel, und ging dann weiter. Ich vergaß, dass durch jede kleine Handlung des Alltags der Charakter positiv oder negativ beeinflusst wird, und dass deshalb das, was man einmal im Verborgenen getan hat, dereinst laut von den Dächern gerufen wird. Ich war nicht mehr Herr meiner selbst. Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wusste es nicht einmal. Ich erlaubte es dem Vergnügen, mich zu beherrschen. Schließlich endete ich in furchtbarer Schande.11
Er kümmerte sich nicht mehr um das Leben anderer, oder – wie Paulus sagen würde – er sündigte gegen seinen »Bruder in der Sache« und tat ihm Unrecht.
4,7 »Denn Gott hat uns nicht« auf der Grundlage moralischer »Unreinheit berufen«, sondern in Verbindung mit einem Leben der »Heiligung« und der Reinheit. Er hat uns aus dem Sündenpfuhl der Entehrung berufen und hat in uns den lebenslangen Prozess begonnen, der uns ihm immer ähnlicher macht.
4,8 Jeder, der diese Anweisungen »verwirft«, der verachtet nicht nur die Lehre eines Menschen, etwa die des Paulus. Vielmehr leugnet und missachtet er Gott selbst, er verwirft ihn und setzt sich über ihn hinweg – ihn, »der doch seinen Heiligen Geist in uns gegeben hat«12 (Schl 2000).
Das Wort »heilig« muss hier betont werden. Wie kann jemand, in dem der »Heilige Geist« wohnt, sich der sexuellen Sünde hingeben?
Man beachte, dass in diesem Abschnitt alle drei Personen der Dreieinheit  erwähnt  werden:  Der  Vater  (V. 3), der  Sohn  (V. 2)  und  der  »Heilige  Geist« (V. 8). Welch wunderbarer Gedanke! Alle drei Personen der Gottheit sind an der Heiligung des Gläubigen interessiert und daran beteiligt.
Thematisch geht Paulus nun von der Begierde (V. 1-8) zur Liebe (V. 9-12) über, während seine Ermahnung von Enthaltsamkeit zu Überfluss wechselt. B. Die Liebe, die an andere denkt (4,9.10)
4,9 Der Gläubige soll nicht nur seinen Leib unter Kontrolle halten, sondern sollte auch ein liebevolles Herz für seine Geschwister im Herrn haben. »Liebe« ist das Schlüsselwort des christlichen Glaubens, so wie das Schlüsselwort des Heidentums »Sünde« ist.
Es war »nicht nötig«, den Thessalonichern etwas über diese Tugend zu schreib en. Sie waren »selbst von Gott« in der Bruderliebe »gelehrt«, sowohl durch göttlichen  Trieb  (1. Joh  2,20.27)  als  auch durch die Unterweisung christlicher Lehrer. Die Gläubigen in Thessalonich waren insofern besonders, als sie alle Christen in ganz Mazedonien liebten. Indem er sie dafür lobte, hat Paulus die Thessal onicher für immer im Gedächtnis der Christenheit festgeschrieben.
4,10 Wie schon erwähnt, ist brüderliche Liebe nichts, was man einmal erlangt, sondern etwas, das ständig praktiziert werden muss. Deshalb ermahnt Paulus die Gläubigen, in dieser Tugend »reichlicher zuzunehmen«. Warum ist Liebe zu den »Brüdern« so wichtig? Weil dort, wo Liebe ist, auch Einigkeit herrscht, und wo Einigkeit ist, dort ist der Segen des Herrn (Ps 133,1.3).
C. Das Leben, das Außenstehende anspricht (4,11.12)
4,11 Paulus ermutigt die Heiligen, in drei Dingen ihre »Ehre dareinzusetzen«. In heutigem Umgangsdeutsch würden die drei Anweisungen dieses Verses lauten: 1. Versucht nicht, euch ins Rampenlicht zu stellen. Seid zufrieden, »klein und unscheinbar zu sein und von Christus allein geliebt und gelobt zu werden«. 2. Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten und mischt euch nicht in die Dinge anderer Leute ein. 3. Sorgt für euren eigenen Unterhalt. Seid keine »Schnorrer« oder solche, die andere ausnutzen und auf deren Kosten leben.
4,12 Die Tatsache, dass wir Christen sind und auf Christi Wiederkunft warten, befreit uns nicht von der praktischen Verantwortung für unser Leben. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Welt uns beobachtet. Menschen beurteilen unseren Heiland anhand dessen, was sie an uns sehen. Wir sollten gegenüber den Ungläubigen »anständig wandeln« und von ihnen finanziell unabhängig sein. D. Die Hoffnung, die die Gläubigen tröstet (4,13-18)
4,13 Die Gläubigen des AT hatten ein unzureichendes und unvollständiges Wissen über das, was einem Menschen nach dem Tod passiert. Für sie war Scheol ein Wort, das immer benutzt wurde, um den leblosen Zustand zu beschreiben, ob es sich nun um Gläubige oder Ungläubige handelte.
Sie glaubten, dass jeder einmal sterben würde und am Ende der Welt eine allgemeine Auferstehung sowie ein Endgericht stattfinden würden. Marta ließ diese lückenhaften Vorstellungen erkennen, als sie sagte: »Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tag« (Joh 11,24).
Der Herr Jesus brachte »Leben und Unvergänglichkeit ans Licht durch das Evangelium« (2. Tim 1,10). Heute wissen wir, dass der Gläubige zur Zeit seines Todes abscheidet, um bei Christus zu sein (2. Kor 5,8; Phil 1,21.23). Vom Ungläubigen heißt es, dass er sich im Hades befindet (Lk 16,22.23). Wir wissen, dass nicht alle Gläubigen sterben, aber alle einst verwandelt  werden  (1. Kor  15,51).  Wir  wissen, dass es mehr als eine Auferstehung geben wird. Bei der Entrückung werden die  Gläubigen  auferweckt  (1. Kor  15,23; 1. Thess 4,16); die in Sünden gestorbenen Menschen werden am Ende des Tausendjährigen Reiches Christi auferweckt werden (Offb 20,5).
Als Paulus zum ersten Mal nach Thessalonich kam, belehrte er die Christen hinsichtlich der Wiederkunft Christi zur Herrschaft und der darauffolgenden Ereignisse. Doch in der Zwischenzeit hatten sich Fragen bezüglich der Heiligen ergeben, die gestorben waren. Würden ihre Leiber bis zum letzten Tag in den Gräbern bleiben? Wären sie von der Teilhabe am Kommen Christi und seinem herrlichen Reich ausgeschlossen? Um ihre Fragen zu beantworten und ihre Befürchtungen zu zerstreuen, beschreibt Paulus nun die Reihenfolge der Vorgänge zur Zeit des Kommens Christi für die Seinen. Die hier befindliche Formel (»wir wollen euch aber, Brüder, nicht in Unkenntnis lassen«) wird benutzt, um die Leser auf eine wichtige Ankündigung aufmerksam zu machen. Hier geht es um eine Ankündigung »über die Entschlafenen«, d. h.  über  die  Gläubigen,  die  gestorben sind. Schlaf wird hier benutzt, um den Leib abgeschiedener Christen zu beschreiben, niemals aber ihren Geist oder ihre Seele. Der Schlaf ist ein angemessenes Bild des Todes, weil der Mensch im Tod scheinbar schläft. Selbst das englische Wort für »Friedhof« (cemetery) ist von einem griechischen Begriff mit der Bedeutung »Schlafstätte« abgeleitet. Und Schlaf ist ein uns sehr vertrauter Vergleich, da wir uns in jeder Nacht in diesem Zustand – dem Sinnbild des Todes – befinden und jeder Morgen einer Auferstehung gleicht.
Die Bibel lehrt nicht, dass die Seele nach dem Tode schläft. Der reiche Mann und Lazarus waren im Totenreich beide bei Bewusstsein (Lk 16,19-31). Wenn der Gläubige stirbt, dann ist er »einheimisch beim Herrn« (2. Kor 5,8). Sterben bedeutet, »bei Christus« zu sein, eine Stellung, die Paulus als »Gewinn« und »weit besser« bezeichnet (Phil 1,21.23). Das wäre kaum wahr, wenn die Seele schlafen würde!
Auch lehrt die Bibel keine Vernichtung. Die Existenz des Menschen endet nicht mit dem Tod. Der Gläubige genießt ewiges Leben (Mk 10,30). Der Ungläubige erleidet ewige Strafe (Mk 9,48; Offb 14,11). Bezüglich der Heiligen, die gestorben sind, sagt der Apostel, dass es keinen Grund für diese hoffnungslose Trauer gibt. Er will die Trauer nicht verdrängen, denn Jesus weinte am Grab des Lazarus, obwohl er wusste, dass er ihn schon in wenigen Minuten auferwecken würde (Joh 11,35-44). Aber er beendet den verzweifelten Kummer derer, die keine Hoffnung auf den Himmel, auf eine Wiedervereinigung oder sonst etwas haben, sondern nur noch das Gericht erwarten. Der Ausdruck »die Übrigen, die keine Hoffnung haben«, erinnert mich immer an eine Beerdigung, bei der ich zugegen war. Dort drängten sich die Verwandten der Verstorbenen um den Sarg und klagten immer wieder untröstlich: »O Marie, mein Gott, mein Gott, Marie!« Das war eine unvergessliche Szene völliger Hoffnungslosigkeit.
4,14 Die Grundlage der Hoffnung des Gläubigen ist die Auferstehung Christi. Genauso sicher, wie »wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist«, gilt Folgendes: So sicher können wir glauben, dass diejenigen, die in Jesus entschlafen sind, auferweckt werden und an seinem Kommen teilhaben. »Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden« (1. Kor 15,22). Seine Auferstehung ist das Unterpfand und der Beweis für unsere Auferstehung.
Man beachte den Ausdruck »die Entschlafenen durch Jesus« oder »Entschlafenen in Jesus«. Unser Wissen, dass es nur der Liebste unserer Seele ist, der die Leiber seiner Geliebten schlafen lässt, raubt dem Tod seinen Schrecken. Wir können ganz sicher sein, dass diejenigen, die in Christus gestorben sind, von »Gott ebenso … mit ihm gebracht« werden. Das kann man auf zweierlei Weise verstehen:
1. Es könnte bedeuten, dass Gott zum Zeitpunkt der Entrückung die Leiber der Gläubigen auferweckt und sie mit dem Herrn Jesus zurück in den Himmel bringt.
2. Oder es könnte heißen, dass bei Christi Rückkehr auf die Erde zur Herrschaft Gott diejenigen mit Christus zurückbringen wird, die im Glauben gestorben sind. Mit anderen Worten, der Apostel will sagen: »Macht euch keine Sorgen darum, dass die Gestorbenen die Herrlichkeit des kommenden Reiches verpassen werden. Gott wird sie mit Jesus zurückbringen, wenn er mit Macht und großer Herrlichkeit zurückkehrt«. (Das ist die Bedeutung, die allgemein bevorzugt wird.) Doch wie kann das sein? Ihre Leiber liegen nun im Grab. Wie können sie mit Jesus wiederkommen? Die Antwort darauf wird in den Versen 15-17 gegeben. Bevor Christus kommt, um sein Reich aufzurichten, wird er wiederkommen, um sein Volk zu sich in den Himmel heimzuholen. Später wird er dann mit ihnen auf die Erde zurückkehren.
4,15 Woher wusste Paulus dies nun? Seine Antwort lautet: »Denn dies sagen wir euch in einem Wort des Herrn.« Er empfing dies als direkte Offenbarung vom »Herrn«. Wir erfahren nicht, wie er diese Offenbarung empfangen hat – ob durch eine Vision, eine hörbare Stimme oder einen inneren Impuls, den ihm der Heilige Geist vermittelt hat. Doch es handelt sich um eine Wahrheit, die den Menschen vor dieser Zeit nicht bekannt war. Dann fährt Paulus fort zu erklären, dass die lebendigen Heiligen, wenn Christus wiederkehrt, keinen Vorteil oder Vorrang vor den schlafenden Heiligen haben.
In diesem Vers spricht Paulus von sich selbst als einem, der bei der »Ankunft« Christi ein »Lebender« sein würde (s. a. Himmel.« Er wird keinen Engel senden, sondern er wird »selbst« kommen! Er wird »beim Befehlsruf, bei der Stimme eines Erzengels und bei dem Schall der Posaune Gottes« kommen. Verschiedene Erklärungen sind zur Bedeutung dieser Befehlsstimmen gegeben worden, doch es ist ehrlich gesagt fast ausgeschlossen, darüber eine abschließende Aussage zu machen: 1. Einige sind der Ansicht, dass der »Befehlsruf« von dem Herrn Jesus selbst ausgeht, womit er die Toten auferweckt (Joh 5,25; 11,43.44) und die Lebenden verwandelt. Andere wie Hogg und Vine sagen, dass der »Befehlsruf« die Stimme des Erzengels sei. 2. Die »Stimme« des »Erzengels« Michael wird allgemein als Sammlungsruf für die Heiligen des AT verstanden, weil dieser Erzengel eng mit Israel verbunden ist (Dan 12,1; Judas 9; Offb 12,4-7). Andere sind der Ansicht, dass diese Stimme erschallt, um Israel als Nation wiedererstehen zu lassen. Und wieder andere sind der Meinung, dass die »Stimme eines Erzengels« die Engel als Militäre skorte zusammenruft, um den Herrn und seine Heiligen durch das Feindesland zurück in den Himmel zu beg leiten (vgl. Lk 16,22).
3. Die »Posaune Gottes« entspricht der »letzten Posaune« in 1. Korint her 15,52. Sie hat mit der Aufe rstehung der Gläubigen zum Zeitpunkt der Entrückung zu tun. Sie beruft die Heil igen zum ewigen Leben. Sie darf nicht mit der siebenten Posaune aus Offenb arung 11,15-18 verwechselt werden, die das Signal zur endg ültigen Ausgießung des Gerichts über die Welt während der Drangsal gibt. Die letzte »Posaune« hier ist die letzte für die Gemeinde. Die siebente Posaune der Offenbarung ist die letzte für die ungläubige Welt (obwohl sie niemals ausdrücklich »letzte Posaune« genannt wird).
Die Leiber der »Toten in Christus werden zuerst auferstehen«. Es ist fraglich, ob dies die Heiligen des AT mit umfasst. Diejenigen, die diese Ansicht vertreten, weisen darauf hin, dass man die Stimme des Erzengels zu diesem Zeitpunkt hören werde und er eng mit dem Schicksal Israels verbunden ist (Dan 12,1). Andere vertreten die Meinung, dass die Heiligen des AT nicht bei der Entrückung auferweckt werden. Sie erinnern uns daran, dass der Ausdruck »in Christus« (»die Toten in Christus«) niemals auf Gläubige angewendet wird, die vor dem Zeitalter der Gemeinde lebten; diese Gläubigen werden wahrscheinlich am Ende der Drangsalszeit auferweckt werden (Dan 12,2). Jedenfalls ist es eindeutig, dass es sich hier nicht um eine allgemeine Auferstehung handelt. Nicht alle Toten werden zu diesem Zeitpunkt auferweckt, sondern nur »die Toten in Christus«.
4,17 Dann werden »die Lebenden … zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft«. Das Wort Entrückung13 benutzen wir hier, um die erste Phase der Wiederkunft des Herrn zu beschreiben. Es ist von einem Verb abgeleitet, das hier verwendet wird und so viel wie »emporgehoben« heißt. Eine Entrückung ist ein »Hinwegreißen« bzw. ein »Hinaufnehmen«. Das Wort wird für Philippus in Apostelgeschichte 8,39, für Paulus in 2. Korinther 12,2.4 und für das männliche Kind in Offenbarung 12,5 benutzt. »Die Luft« ist der Herrschaftsbereich Satans (Eph 2,2). Deshalb ist dies eine siegreiche Zusammenkunft, die demonstrativ in jenem Bereich stattfindet, in dem bisher Satan regierte.
Man bedenke, was alles in diesen Versen enthalten ist! Die Erde und das Meer werden den Staub aller Toten in Christus hergeben. Dann stelle man sich das Wunder vor, dass anstelle des Staubes nun verherrlichte Leiber da sein werden, die in Ewigkeit frei von Krankheit, Schmerz und Tod sein werden. Dann werden diejenigen, die Herrlichkeitsleiber erhalten haben, in den Himmel auffahren. Und all das wird in einem Augenblick geschehen (1. Kor 15,52). Die Menschen dieser Welt haben Schwier igkeiten, den Bericht von der Schöpfung  des  Menschen  in  1. Mose  1 und 2 zu glauben. Wenn sie Schwierigkeiten mit der Schöpfung haben, was werden sie dann von der Entrückung denken? Dann wird Gott nämlich Millionen von Menschen aus dem Staub wiedererstehen lassen, deren Leiber begraben wurden, zerfetzt umherlagen oder an die Strände dieser Welt gespült wurden. Die Weltmenschen sind begeistert von der Raumfahrt. Doch können ihre größten Errungenschaften mit dem Wunder verglichen werden, in dem Bruchteil einer Sekunde in den Himmel zu reisen, ohne unsere eigene Atmosphäre mitnehmen zu müssen, wie die Raumfahrer es tun müssen, wenn sie nach dem Ausstieg aus der Raumkapsel nur einige wenige Schritte gehen wollen?
Im Zusammenhang mit dem Kommen Christi kann man einen Klang hören, einen Anblick erleben, ein Wunder sehen, eine Zusammenkunft genießen und einen Trost erfahren.
Es ist auch gut, die Verwendung des Wortes »Herr« in diesen Versen zu beachten: Das Wort  des  Herrn  (V. 15),  die Ankunft des Herrn (V. 15), der Herr selbst (V. 16), dem Herrn entgegen (V. 17), allezeit beim Herrn sein (V. 17). »Allezeit beim Herrn!« Wer kann alle Freude und Glückseligkeit beschreiben, die mit diesen Worten verbunden sind?
4,18 »So ermuntert nun einander mit diesen Worten.« Gedanken an die Wiederkunft des Herrn lassen den Gläubigen nicht erschrecken. Sie sind eine Hoffnung, die uns in freudige Erregung versetzt, aufmuntert und tröstet.
Exkurs zu den Anzeichen der letzten Tage
Es gibt viele Anzeichen, dass die Entrückung nahe ist. Wir betrachten das Folgende als Vorzeichen dessen, was prophetisch vorausgesagt ist: 1. Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 (Lk 21,29). Der Feigenbaum treibt,  d. h.  er  bringt  Blätter  hervor (Lk 21,29-31). Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrtausenden haben die Juden in ihrer Heimat einen eigenen Nationalstaat. Das bedeutet, dass das Reich Gottes nahe ist.
2. Das Aufkommen vieler anderer Nationen (Lk 21,29). Jesus sagte voraus, dass nicht nur der Feigenbaum austreiben würde, sondern auch die anderen Bäume ausschlagen würden. Wir haben erst kürzlich den Zusammenbruch kolonialer Mächte erlebt, in deren Besitzungen neue Staaten entstanden. Wir leben in einer Zeit des neuen Nationalismus.
3. Die Rückkehr der Angehörigen des Volkes Israel in ihr Heimatland, die noch im Unglauben erfolgt (Hes 36,24.25). Hesekiel prophezeite, dass sie nach ihrer Rückkehr von ihren Sünden gereinigt würden. Die Israelis sind heute Gott gegenüber größtenteils gleichgültig eingestellt. Nur ein kleiner (doch recht stimmgewaltiger) Teil des Volkes umfasst orthodoxe Juden.
4. Die ökumenische Bewegung (Offb 17,18). Wir verstehen unter Babylon, der großen Stadt, ein riesiges religiöses, politisches und kommerzielles System, zu dem auch abgefallene Religionsgemeinschaften gehören, die namenschristlicher Natur sind. Vielleicht werden darin der abgefallene Katholizismus und der abgefallene Protestantismus vereinigt. Das Christentum wird immer mehr Irrlehren anhängen (1. Tim 4,1; 2. Thess 2,3) und sich zu einer riesigen Weltkirche entwickeln.
5. Die weltweite Ausbreitung des Spiritismus (1. Tim 4,1-3). Er verbreitet sich gegenwärtig über große Gebiete der Erde.
6. Der drastische Verfall der Moral (2. Tim 3,1-5). Man braucht nur einen Blick in die Tagespresse zu werfen, um genug Beweise dafür zu finden. 7. Gewalt und allgemeiner Ungehorsam (2. Thess 2,7.8). Ein Geist der Gesetzlosigkeit beherrscht immer mehr das Familien-, das nationale sowie internationale und sogar das kirchliche Leben. 8. Menschen mit äußerer Frömmigkeit, die die göttliche Kraft aber verleugnen (2. Tim 3,5). 9. Das Aufkommen eines antichristlichen Geistes (1. Joh 2,18), der sich in der Vermehrung von Sekten zeigt, die vorg eben, Christen zu sein, aber jede grundlegende Lehre des Glaubens leugnen. Sie verführen durch Nachahmung (2. Tim 3,8). 10. Die Tendenz, dass sich Nationen zusammenschließen, die dem Zusammenschluss der letzten Tage gleichen. Der Gemeinsame Markt der Europäischen Union, der auf den Römischen Verträgen basiert, könnte zu einer Wiederbelebung des Römischen Reiches führen – den 10 Zehen aus Eisen und Ton (Dan 2,32-35).
11. Leugnung des bevorstehenden Eingreifens Gottes in die Angelegenheiten der Welt durch sein Gericht (2. Petr 3,3.4). Zu diesen Punkten könnte man noch Anzeichen wie die sich häufenden Erdbeben in vielen Ländern oder die Bedrohung durch eine weltweite Hungerkatastrophe und die wachsende Feindschaft unter den Nationen hinzuzählen (Matth 24,6.7). Das Versagen der Obrigkeiten bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und bei der Terrorbekämpfung schafft ein Klima, das für einen Weltdiktator geradezu ideal ist. Das Aufhäufen nuklearer Waffenarsenale verleiht endzeitlich relevanten Fragen (z. B.: »Und wer kann mit ihm [dem Tier] kämpfen?« [Offb 13,4]) zusätzliche Bedeutung. Die weltweite Verbreitung des Fernsehens könnte das Mittel sein, um die Schrift zu erfüllen. Dari n werden nämlich Ereignisse beschrieben, die auf der ganzen Welt gesehen werden können (Offb 1,7; 11,9). Die meisten dieser Ereignisse werden gemäß den Prophezeiungen eintreten, bevor Christus als Herrscher auf der Erde zurückkehrt. Die Bibel sagt nicht, dass sie vor der Entrückung stattfinden, wohl aber vor seinem Erscheinen in Herrlichkeit. Wenn dies so ist und wir diese Trends im Ansatz schon sehen, dann ist die offensichtliche Schlussfolgerung, dass die Entrückung nahe bevorstehen muss. E. Der Tag des Herrn (5,1-11)
5,1 Bibellehrer entschuldigen oft die Kapiteleinteilung und erklären, dass das Thema ohne Unterbrechung weitergeht. Doch hier ist das neue Kapitel angebracht. Paulus beginnt jetzt mit einem neuen Thema. Er verlässt seine Ausführungen über die Entrückung und wendet sich dem Tag des Herrn zu. Die Worte, die mit »was aber … betrifft« übersetzt werden (gr. peri de), deuten einen neuen Gedanken an, wie dies oft auch im 1. Korintherbrief der Fall ist. Für wahre Gläubige ist die Entrückung eine trostreiche Hoffnung, doch was wird sie für diejenigen bedeuten, die nicht in Christus sind? Sie wird den Beginn eines Zeitalters einleiten, das hier »Zeiten und Zeitpunkte« genannt wird. Dieser Abschnitt hat in erster Linie jüdischen Charakter. Während dieser Zeit wird Gott sein Handeln mit dem Volk Israel wiederaufnehmen. Dann werden die endzeitlichen Ereignisse, die die alttestamentlichen Propheten vorausgesagt haben, stattfinden. Als die Apostel Jesus fragten, wann er sein Reich errichten werde, antwortete er, dass es nicht ihre Sache sei, »Zeiten oder Zeitpunkte« zu kennen (Apg 1,7). Es scheint, dass »Zeiten und Zeitpunkte« sowohl die Zeit vor der Errichtung des Reiches als auch das Reich selbst bezeichnen. Paulus hielt es für »nicht nötig«, den Thessalonichern über »die Zeiten und Zeitpunkte« zu schreiben. Einmal würden die Gläubigen davon nicht betroffen sein, denn sie würden in den Himmel aufgenommen werden, ehe diese Epochen beginnen würden.
Außerdem sind »die Zeiten und Zeitpunkte« und der Tag des Herrn Themen, die im AT behandelt werden. Die Entrückung ist ein Geheimnis (1. Kor 15,51), das erst zur Zeit der Apostel enthüllt wurde.
5,2 Die Heiligen wussten schon etwas über den »Tag des Herrn«. Sie wussten, dass die genaue Zeit unbekannt ist und er kommen wird, wenn man es am wenigsten erwartet. Was meint Paulus mit »Tag des Herrn«? Es geht sicherlich nicht um einen 24-Stunden-Tag, sondern um einen Zeitraum mit bestimmten Merkmalen. Im AT wurde dieser Ausdruck benutzt, um die gesamte Zeit des Gerichts, der Finsternis und der Verwüstung zu beschreiben (Jes 2,12; 13,9-16; Joel 2,1.2). Es ging um eine Zeit, da Gott gegen die Feinde Israels auszog und sie bestrafte (Zef 3,8-12; Joel 4,14-16; Ob 15-17; Sach 12,8.9). Doch damit wurde auch jedes Gericht Gottes über sein eigenes Volk wegen Abgötterei und Abfall bezeichnet (Joel 1,15-20; Amos 5,18; Zef 1,7-18). Im Wesentlichen wurde der Ausdruck für das Gericht über die Sünde, für den Sieg der Sache des Herrn (Joel 3,4-5) und für unzählige Segnungen benutzt, die seinem treuen Volk zugeeignet werden sollten. In der Zukunft wird der »Tag des Herrn« etwa dieselbe Zeitspanne umfassen wie »die Zeiten und Zeitpunkte«. Er wird nach der Entrückung beginnen und Folgendes beinhalten:
1.  Die  Große  Trübsal,  d. h.  die  Zeit der Bedrängnis für Jakob (Dan 9,27; Jer  30,7;  Matth  24,4-28;  2. Thess  2,2; Offb 6,1-19,16).
2. Das Kommen Christi mit seinen Heiligen (Mal 3,19-21; 2. Thess 1,7-9). 3. Die tausendjährige Herrschaft Christi auf  der  Erde  (Joel  4,18  [vgl.  V. 14]; Sach 14,8.9 [vgl. V. 1]). 4. Die endgültige Vernichtung von Himmel und Erde durch Feuer (2. Petr 3,7.10). »Der Tag des Herrn« ist die Zeit, zu der Jahwe öffentlich in die menschlichen Angelegenheiten eingreifen wird. Sie wird im Zeichen des Gerichts über die Feinde Israels und über den abgefallenen Teil des Volkes Israel, der Befreiung seines Volkes, der Errichtung des Reiches Christi in Frieden und des Reichtums sowie der Herrlichkeit für ihn selbst stehen. Der Apostel erinnert seine Leser daran, dass der »Tag des Herrn … wie ein Dieb in der Nacht« kommen wird. Er wird völlig unerwartet kommen und die Menschen überraschen. Die Welt wird gänzlich unvorbereitet sein.
5,3 Angesichts dieses Tages wird die Welt in höchstem Maße erschrecken. Er wird plötzlich, zerstörerisch und unausweichlich kommen, sodass niemand entfliehen kann.
Zu dieser Zeit wird ein Klima des Selbstvertrauens und der Sicherheit auf der Welt herrschen. Dann wird Gottes Gericht plötzlich mit ungeheuer zerstörerischer Kraft herabkommen. »Verderben« bedeutet nicht, dass die Menschen ihre Existenz verlieren oder vernichtet werden würden. Vielmehr wird dann ihr Wohlergehen zu Ende und ihr Lebenssinn zunichtegemacht sein. Das Verderben wird so unausweichlich »wie die Geburtswehen« für eine »Schwangere« sein. Die Ungläubigen können diesem Gericht nicht entfliehen.
5,4 Es ist wichtig, den Wechsel des Pronomens von »sie« in den vorhergehenden Versen zu »ihr« in den folgenden Versen zu beachten.
Der Tag des Herrn wird eine Zeit des Zornes über die unerrettete Welt bedeuten. Doch was wird er für uns bedeuten? Die Antwort lautet, dass für uns keine Gefahr besteht, weil wir »nicht in Finsternis« sind.
»Der Tag« wird wie ein Dieb in der Nacht  kommen  (V. 2).  Wenn  er  jemanden »ergreifen« wird, dann nur »wie ein Dieb«. Dabei sind die einzigen Personen, die »ergriffen« werden, die in der Nacht Lebenden, d. h. die Unbekehrten. Dieser Tag wird keine Gläubigen »ergreifen«, weil sie »nicht in Finsternis« sind. Beim ersten Lesen mag es so scheinen, dass dieser Vers aussagt, dass die Gläubigen zwar ergriffen werden, jedoch nicht wie von einem Dieb. Doch das stimmt nicht. Sie werden überhaupt nicht ergriffen, weil dann, wenn der Dieb in die Nacht dieser Welt kommt, die Heiligen schon im ewigen Licht weilen werden.
5,5 Alle Christen sind »Söhne des Lichtes und Söhne des Tages«. Sie »gehören nicht der Nacht noch der Finsternis«. Diese Tatsache nimmt sie vom Gericht Gottes aus, das er über die Welt ausgießen wird, die seinen Sohn abgelehnt hat. Das Gericht des Tages des Herrn gilt nur denjenigen, die in moralischer Finsternis und geistlicher Nacht leben, bzw. den von Gott Entfremdeten.
Wenn es hier heißt, dass Christen »Söhne des Tages« sind, dann geht es nicht um den Tag des Herrn. »Söhne des Tages« zu sein, bedeutet, im Bereich moralischen Aufrichtigkeit leben. Der Tag des Herrn ist eine Zeit des Gerichts über diejenigen, die zum Bereich moralischer Finsternis gehören.
5,6 Die nächsten drei Verse rufen die Gläubigen zu einem Leben auf, das mit ihrer hohen Stellung übereinstimmt. Das bedeutet Wachsamkeit und Nüchternheit. Wir sollen gegenüber der Versuchung, der Faulheit, der Trägheit und der Ablenkung wachsam sein. Positiv ausgedrückt sollen wir wachsam die Wiederkunft des Heilands erwarten.
Nüchternheit bedeutet hier nicht nur, »nüchtern« zu reden und ganz allgemein nüchtern zu denken, sondern auch, beim Essen und Trinken mäßig zu sein.
5,7 Im natürlichen Bereich ist der Schlaf mit der »Nacht« verbunden. So ist es auch im geistlichen Bereich, wo sorglose Gleichgültigkeit die Söhne der Finsternis, d. h. die Unbekehrten, bestimmt. Die Menschen betrinken sich bevorzugt »bei Nacht«, sie lieben die Finsternis mehr als das Licht, weil ihre Werke böse sind (Joh 3,19). Schon die Bezeichnung »Nachtklub« verbindet die Vorstellung von Trinkgelagen und Ausschweifungen mit der Finsternis der Nacht.
5,8 Diejenigen, »die dem Tag gehören«, sollten im Licht wandeln, wie Christus  Licht  ist  (1. Joh  1,7).  Das  bedeutet, Sünde im eigenen Leben zu richten und sich davon abzukehren sowie Exzesse jeder Art zu meiden. Es bedeutet auch, die geistliche Waffenrüstung anzuziehen und anzubehalten. Die Waffenrüstung besteht aus »dem Brustpanzer des Glaubens und der Liebe« sowie dem »Helm« der »Hoffnung des Heils«. Mit anderen Worten, die Waffenrüstung besteht aus »Glaube«, »Liebe« und »Hoffnung« – den drei Kardinaltugenden des Christen. Es ist nicht notwendig, hier Details über den »Brustpanzer« und den »Helm« auszuführen. Der Apostel sagt ganz einfach, dass Söhne des Lichts die Schutzkleidung eines konsequenten und gottesfürchtigen Lebens tragen sollen. Was beschirmt uns vor der moralischen Verderbnis, die in der Welt durch die Lust entsteht? Es sind »Glaube« oder Abhängigkeit von Gott, »Liebe« zum Herrn und füreinander sowie die »Hoffnung« auf die Wiederkunft Christi.
Wichtige Gegensätze in Kapitel 5
Ungläubige Gläubige (»sie«) (»ihr«) schlafen wachen betrunken nüchtern in Finsternis im Licht von der Nacht und der Finsternis Söhne des Lichtes und Söhne des Tages werden unerwartet ergriffen von dem Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht werden nicht unerwartet ergriffen von dem Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht plötzliches und unausweichliches Verderben, wie die Geburtswehen einer Schwangeren nicht zum Zorn, sondern zur Erlösung bestimmt
5,9 Die Entrückung hat zwei Aspekte, nämlich das »Heil« und den »Zorn«. Für den Gläubigen bedeutet sie Vollendung seines »Heils« im Himmel. Für den Ungläubigen ist sie der Beginn einer Zeit des Zorns auf der Erde.
Da wir dem Tag gehören, »hat Gott uns nicht zum Zorn bestimmt«, den er während der Großen Trübsal ausgießen wird. Vielmehr sollen wir im umfassendsten Sinne des Wortes das »Heil« erlangen – die Freiheit von jeglicher Anwesenheit von Sünde.
Manche Ausleger verstehen »Zorn« hier als die Strafe, die die Ungläubigen in der Hölle erdulden müssen. Natürlich ist es wahr, dass Gott uns dazu nicht bestimmt hat, doch ist es überflüssig, diesen Gedanken hier einzuführen. Paulus spricht nicht von der Hölle, sondern von den zukünftigen Ereignissen auf der Erde. Der Kontext spricht vom Tag des Herrn – der schlimmsten Zeit des Zorns in der Geschichte des Menschen auf Erden (Matth 24,21). Wir erwarten nicht die Verurteilung vor dem Richter, sondern die Begegnung mit dem Heiland. Einige sagen, dass die Große Trübsal vom Zorn Satans (Offb 12,12) und nicht vom Zorn Gottes gekennzeichnet sein wird. Sie behaupten, dass der Zorn Satans über die Gemeinde hereinbricht, sie aber durch den Zorn Gottes bei der Wiederkunft Christi davon befreit wird. Doch die folgenden Verse sprechen vom Zorn Gottes und des Lammes, wobei diese Verse in die Zeit der Großen Trübsal einzuordnen sind: Offenbarung 6,16.17; 14,9.10.19; 15,1.7; 16,1.19.
5,10 Dieser Vers betont den großen Preis, den unser Herr Jesus Christus bezahlt hat, um uns von dem Zorn zu erlösen und unser Heil zu erwerben. Er ist »für uns gestorben, … damit wir, ob wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben«.
Es gibt zwei Arten, den Ausdruck »ob wir wachen oder schlafen« zu verstehen. Einige Ausleger verstehen darunter »leben oder tot sein«, was den Zeitpunkt der Entrückung betrifft. Sie weisen darauf hin, dass es zwei Gruppen von Gläubigen geben wird – diejenigen, die in Christus gestorben sind, und diejenigen, die noch leben. Deshalb ist ihrer Meinung nach hier daran gedacht, dass es gleichgültig ist, ob wir bei der Wiederkunft Christi tot sind oder noch leben: Wir werden nämlich »zusammen mit ihm leben«. Christen, die sterben, verlieren nichts. Der Herr erklärte das Marta: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird  leben  [d. h.  er  wird  aus  den  Toten auferweckt], auch wenn er gestorben ist [d. h. ein Christ, der vor der Entrückung stirbt]; und jeder, der da lebt und an mich glaubt  [d. h.  ein  Gläubiger,  der  zur  Zeit der Entrückung noch lebt], wird nicht sterben in Ewigkeit« (Joh 11,25.26). Die andere Auffassung, die von Auslegern vertreten wird, lautet folgendermaßen: Zu »wachen oder« zu »schlafen«, bedeutet, »wachsam oder weltlich gesinnt zu sein«. Mit anderen Worten: Paulus sagte, dass sich die Entrückung nicht daran entscheidet, ob wir geistlich aufmerksam oder fleischlich gleichgültig gegenüber dem Geistlichen sind: Wir alle werden hinaufgenommen, um dem Herrn zu begegnen. Unsere ewige Errettung hängt nicht davon ab, wie unsere geistliche Verfassung während der letzten Zeit unseres Erdenlebens ist. Wenn wir wirklich bekehrt sind, dann werden wir »zusammen mit ihm leben«, wenn er wiederkommt, ob wir ihm nun erwartungsvoll entgegensehen, oder ob wir schlummern. Unsere geistliche Verfassung wird unseren Lohn bestimmen, doch unsere Erlösung hängt nur vom Glauben an Christus ab.
Diejenigen, die die zweite Ansicht vertreten, weisen darauf hin, dass für das Wort »wachen« dasselbe Wort wie in Vers 6 verwendet wird. Und das Wort »Schlaf« wird in den Versen 6 und 7 benutzt, um »Interesselosigkeit an Geistlichem und Gleichförmigkeit mit der Welt« zu bezeichnen (Vine). Doch es ist nicht dasselbe Wort, das in 4,13-15 für den Tod verwendet wird.14
5,11 Angesichts eines so großen Heils, eines so liebevollen Erretters und im Licht seiner baldigen Wiederkehr sollten wir einander durch Lehre, Ermutigung und Vorbild ermahnen und einander mit dem Wort Gottes in liebevoller Fürsorge auferbauen. Weil wir einst mit ihm leben werden, sollten wir jetzt in Hilfsbereitschaft und gegenseitiger Rücksichtnahme zusammenleben.
F. Verschiedene Ermahnungen an die Heiligen (5,12-22)
5,12 Vielleicht hatten die Ältesten der Gemeinde in Thessalonich diejenigen ermahnt, die aufgehört hatten zu arbeiten und auf Kosten anderer lebten. Und zweifellos haben diese Nichtsnutze die Ermahnung leichtfertig ignoriert! Das könnte eine Erklärung für diese Ermahnung an die Führer und die Geführten sein. Hier ermahnt Paulus die Heiligen, diejenigen anzuerkennen, »die unter« ihnen »arbeiten«. Damit meint er, dass sie ihre geistlichen Führer respektieren und ihnen gehorchen sollen. Das wird anhand der Worte »die … euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen« deutlich. Die Ältesten sind die Unterhirten über Gottes Herde. Sie haben die Verantwortung, zu lehren, zu entscheiden und zu ermahnen.
Dieser Vers ist einer der vielen im NT, die beweisen, dass eine Ein-Mann-Führung in den apostolischen Gemeinden unbekannt war. Es gab in jeder Gemeinde einen Kreis von Ältesten, die die örtliche Herde hüteten. Denney erklärt dazu: In Thessalonich gab es keinen einzelnen Pastor in unserem Sinne, der in gewissem Maße eine ausschließliche Verantwortung trug. Die Vorsteherschaft in der Gemeinde lag vielmehr immer bei mehreren Männern.15 Doch die Tatsache, dass es keine EinMann-Führung gab, rechtfertigt noch nicht die Jedermann-Führung. Das Leben einer Gemeinde sollte nicht nach dem Demokratieprinzip, sondern nach dem Vollmachtsprinzip gestaltet werden, wo diejenigen, die am besten geeignet sind, Führungsaufgaben wahrnehmen.
5,13 Älteste leiten mit der ihnen vom Herrn anvertrauten Vollmacht. Ihr Werk ist das Werk Gottes. Aus diesem Grund sollten sie geehrt und geliebt werden.16 Die Ermahnung »haltet Frieden untereinander« ist keine zufällige Einfügung. Das größte Problem unter allen Christen besteht darin, miteinander auszukommen. Jeder Gläubige hat noch genügend fleischliche Züge in sich, um eine Ortsgemeinde zu spalten oder zugrunde zu richten. Nur wenn wir vom Heiligen Geist die Kraft erhalten, können wir Liebe, Zerbrochenheit, Vergebungsbereitschaft, Freundlichkeit, Takt und Nachsicht entfalten. Eine besondere Bedrohung des »Friedens«, vor der Paulus hier vielleicht warnt, ist die Bildung von Parteiungen um menschliche Führer.
5,14 Dieser Vers ist wohl an die geistlichen Leiter der Versammlung gerichtet. Er weist sie an, wie sie mit schwierigen Brüdern umgehen sollen:
1. »Weist die Unordentlichen zurecht« – diejenigen, die sich nicht in die Gemeinschaft einfügen und vieles tun, um den Frieden der Gemeinde mit ihrem unverantwortlichen Verhalten zu stören. Hier sind mit den »Unordentlichen« diejenigen gemeint, die nicht arbeiten wollen. Das sind dieselben, die in 2. Thessalonicher 3,6-12 beschrieben werden: Sie leben unordentlich und arbeiten nicht, treiben aber unnütze Dinge.
2. »Tröstet die Kleinmütigen« – diejenigen, die ständige Ermahnung brauchen, sich über ihre Schwierigkeiten zu erheben und standhaft im Herrn zu bleiben.
Ockenga bemerkt zur Übersetzung der KJV (die »kleinmütig« mit »dümmlich« wiedergibt): »Und wenn mit dem Wort wirklich derart veranlagte Menschen gemeint wären, so würden wir sie doch noch immer trösten. Sie scheinen sich zu versammeln, sobald das Evangelium gepredigt wird.« Und ist das nicht eine Anerkennung für das Evangelium und die Gemeinde? Zumindest gibt es hier einen Ort, an dem sie Mitgefühl, Liebe und Beachtung finden.
3. »Nehmt euch der Schwachen an« – d. h. helft denen, die geistlich, moralisch oder körperlich schwach sind. Geistliche und moralische Unterstützung der »Schwachen« im Glauben ist wahrscheinlich der Hauptgedanke, doch wir sollten finanzielle Hilfe hier nicht ausnehmen. 4. »Seid langmütig gegen alle« – Zeigt die Gnadengabe der Geduld, wenn andere euch immer wieder verärgern, reizen und provozieren.
5,15 Paulus spricht nun zu Christen allgemein und verbietet jeden Rachegedanken. Die natürliche Reaktion ist es, zurückzuschlagen und nach der Devise »wie du mir, so ich dir« zu handeln. Doch die Christen sollten in so enger Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus leben, dass sie auf übernatürliche Weise reagieren. Mit anderen Worten, der Christ wird Gläubigen in seinem Umfeld und auch den Unerlösten instinktiv Freundlichkeit und Liebe erweisen.
5,16 Freude kann eine ständige Erfahrung des Christen sein, auch in den widrigsten Umständen, weil Christus die Quelle sowie Ursache seiner Freude ist und alle seine Umstände in der Hand hat. Im griechischen NT ist übrigens »Freut euch allezeit« der kürzeste Vers, auch wenn Joh 11,35 (»Jesus weinte«) der kürzeste im deutschen NT ist.
5,17 Der Christ sollte die Gesinnung eines Beters haben und mit dem Gebet nicht aufhören. Es geht allerdings nicht darum, dass er seine normalen Pflichten vergisst und sich ganz dem Gebet hingibt. Vielmehr betet er zu bestimmten regelmäßigen Zeiten, doch er betet auch außerhalb dieser Zeiten, wie sich die Notwendigkeit ergibt. Dabei erfreut er sich der ständigen Gemeinschaft mit dem Herrn im Gebet.
5,18 Gott Dank zu sagen, sollte die natürlichste Regung eines Christen sein. Wenn Römer 8,28 wahr ist, dann sollte es uns jederzeit möglich sein, den Herrn zu preisen, und zwar unter allen Umständen und für »alles«. Natürlich gilt dies nur solange, wie wir mit diesem Handeln nicht versuchen, eine Sünde zu entschuldigen.
Diese drei guten Gewohnheiten sind einmal die Grundordnung der Gemeinde genannt worden. Sie sind »der Wille Gottes in Christus Jesus für« uns. Die Worte »in Christus Jesus« erinnern uns daran, dass er uns dies während seines irdischen Dienstes gelehrt hat und selbst die lebendige Verwirklichung seiner Lehre war. Durch Lehre und Vorbild offenbarte er uns Gottes Willen über die Freude, das Gebet und den Dank.
5,19 Die nächsten vier Verse behandeln das Verhalten in der Versammlung. Den »Geist« auszulöschen bedeutet, sein Werk in unserer Mitte zu verhindern, zu begrenzen oder zu unterdrücken. Die Sünde löscht den Geist aus. Traditionen löschen den Geist aus. Menschliche Regeln und Vorschriften im Gottesdienst löschen den Geist aus. Uneinigkeit löscht den Geist aus. Jemand hat einmal gesagt: »Kalte Blicke, verächtliche Worte, mit jemandem nicht reden und gewollte Missachtung tragen erheblich dazu bei, den Geist auszulöschen. Das gilt auch für lieblose Kritik.« Ryrie sagt, dass der Geist immer dann ausgelöscht wird, wenn sein Dienst im Leben des Einzelnen oder der Gemeinde unterdrückt wird.
5,20 Wenn wir diesen Vers mit dem vorhergehenden verbinden, dann lautet der Gedanke, dass wir den Geist auslöschen, wenn wir Prophezeiungen »verachten«. Zum Beispiel mag ein junger Bruder eine nicht so ganz elegante Aussage in einer Predigt machen. Indem wir ihn so kritisieren, dass er sich seines Zeugnisses für Christus schämt, löschen wir den Geist aus.
In seiner Grundbedeutung im NT bedeutet »Weissagung«, das Wort Gottes weiterzugeben. Die inspirierten Äußerungen der Propheten sind für uns in der Bibel festgehalten. In einem weiteren Sinne bedeutet weissagen, die Meinung Gottes kundzutun, wie sie uns in der Bibel offenbart ist.
5,21 Wir müssen beurteilen, was wir hören, und »das Gute«, das Wahre und das Unverfälschte festhalten. Der Maßstab, an dem wir jede Predigt und Lehre messen müssen, ist das Wort Gottes. Es wird gelegentlich vorkommen, dass einzelne Brüder zu weit gehen, wann immer der Geist Gelegenheit hat, durch sie zu reden. Doch den Geist auszulöschen, ist kein Mittel, diese Fälle zu verhindern. Dr. Denney schrieb dazu: Wo gibt es eine Zusammenkunft von Gläubigen, in der jeder seine Gaben einbringen kann, Weissagungen (im untergeordneten Sinne der Weitergabe des Wortes Gottes; Anm. d. Übers.) ihren Platz haben und jeder nach den jeweiligen Eingebungen des Geistes reden darf? Derartige Zusammenkünfte braucht die heutige Gemeinde nötiger denn je.17
5,22 »Von aller Art des Bösen haltet euch fern.« Das kann bedeuten, sich von falscher Zungenrede, irrigen Prophezeiungen und wahrheitsfeindlichen Lehren fernzuhalten, oder aber vom »Bösen« ganz allgemein.
A. T. Pierson weist darauf hin, dass es in den Versen 16-22 sieben verschiedene Merkmale gibt, die die innere Verfassung eines Christen bestimmen sollten: 1. Merkmal: freudiger Lobpreis (16). Man findet stets Anlässe, Gottes Handeln über die Maßen zu rühmen. 2. Merkmal: Gebet (17). Gebet sollte niemals unpassend oder ungehörig erscheinen.
3. Merkmal: Dankbarkeit (18). Das gilt auch in Umständen, die dem Fleisch nicht gefallen.
4. Merkmal: geistliche Bereitschaft (19). Gott sollte frei an und in uns handeln dürfen.
5. Merkmal: Belehrbarkeit (20). Gott kann jedes Werkzeug auswählen, um seine Lehre weiterzugeben. 6. Merkmal: Urteilsfähigkeit (21). Vgl. 1. Johannes  4,1.  Alles  wird  am  Wort Gottes gemessen.
7. Merkmal: Heiligkeit (22). Wenn sich Böses in deiner Seele ausprägen will, dann verhindere dies.18
IV. Schlussgrüße an die
Thessalonicher (5,23-28)
5,23 Nun betet Paulus um die Heiligung der Christen. Der Ursprung der Heiligung ist »der Gott des Friedens«. Das Ausmaß der Bitte umschreibt das Wort »völlig«, das so viel bedeutet wie »jeder Teil eures Wesens«.
Dieser Vers ist von einigen missbraucht worden, um die sogenannte »Heiligungslehre« zu beweisen. Sie behauptet, dass ein Gläubiger in diesem Leben sündlos und vollkommen werden könne. Doch das meint Paulus nicht, wenn er betet: »Der Gott des Friedens heilige euch völlig.« Er bittet nicht um die Ausrottung der Sündennatur, sondern darum, dass die Heiligung jeden Teil ihres Wesens erfassen möge, nämlich »Geist und Seele und Leib«.
Exkurs zum Thema Heiligung
Es gibt vier Phasen der Heiligung im NT – Heiligung vor der Bekehrung, stellungsmäßige Heiligung, praktische Heiligung und vollkommene Heiligung. 1. Schon vor der Errettung eines Menschen wird der Betreffende in eine äußerliche Vorrangstellung versetzt. So lesen wir in 1. Korinther 7,14, dass ein ungläubiger Ehemann durch seine gläubige Frau geheiligt wird. Das ist Heiligung vor der Bekehrung. 2. Wird ein Mensch wiedergeboren, wird er durch seine Vereinigung mit Christus stets von seiner Stellung her geheiligt. Das bedeutet, dass er für Gott von der Welt abgesondert wurde. Diese Heiligung ist in solchen Schriftstellen wie Apostelgeschichte 26,18; 1. Korinther 1,2; 6,11; 2. Thessalonicher 2,13 und Hebräer 10,10.14 gemeint.
3. Doch dann gibt es noch die fortschreitende Heiligung. Dies ist die gegenwärtige Absonderung des Gläub igen von der Welt, der Sünde und dem Ego. Er lebt fortan für Gott. Dies ist der Prozess, wodurch wir christusähnlicher werden. Das ist die Heiligung, worum Paulus an dieser Stelle für die Thessalonicher bittet. Sie findet sich auch in 1. Thessalonicher 4,3.4; 2. Timotheus 2,21. Sie wird durch den Heiligen Geist bewirkt, wenn wir dem Wort Gottes gehorchen (Joh 17,17; 2. Kor  3,18).  Diese  praktische  Heiligung ist ein Prozess, der solange fortbestehen sollte, wie der Gläubige auf Erden ist. Er wird niemals Vollkommenheit oder Sündlosigkeit auf Erden erlangen, doch er sollte immer auf dieses Ziel hinarbeiten.
4. Vollkommene Heiligung bezieht sich auf den Zustand des Gläubigen im Himmel. Wird er beim Herrn sein, wird er in moralischer Hinsicht wie der Herr sein, völlig und für immer von der Sünde getrennt (1. Joh 3,1-3). Dann bittet der Apostel um die Bewahrung der Thessalonicher. Diese Bewahrung sollte die ganze Person umfassen: »Geist und Seele und Leib«. Man beachte die Reihenfolge. Der Mensch sagt immer: »Leib, Seele und Geist«. Gott sagt stets: »Geist, Seele und Leib«. Zu Anfang der Schöpfung war der Geist am wichtigsten und der Leib am unwichtigsten. Die Sünde hat diese Ordnung umg ekehrt, der Mensch lebt von Natur aus für den Leib und vernachlässigt den Geist. Wenn wir füreinander beten, dann sollten wir der biblischen Ordnung folgen und die geistlichen Bedürfnisse vor die leiblichen stellen.
Aus diesem Vers und anderen geht hervor, dass wir Wesen mit drei Bereichen unseres Menschseins sind. Unser »Geist« ist derjenige Bereich, der es uns ermöglicht, Gemeinschaft mit Gott zu haben. Unsere »Seele« ist der Sitz der Gefühle, der Sehnsüchte, der Regungen und der Neigungen (Joh 12,27). Unser Leib ist das Haus, in dem wir wohnen (2. Kor 5,1). All unsere Bereiche müssen »bewahrt werden«, d. h. vollständig und gesund erhalten werden. Ein Exeget hat den Bedarf nach Bewahrung folgendermaßen beschrieben:
1. Der Geist muss bewahrt werden a) vor allem, das ihn verunreinigen könnte (2. Kor 7,1), b) vor allem, das das Zeugnis des Heiligen Geistes über die Beziehung der Heiligen zu Gott behindern könnte (Röm 8,16), und c) vor allem, das die Anbetung verhindert, die Gott sucht (Joh 4,23; Phil 3,3).
2. Die Seele muss bewahrt werden: a) vor bösen Gedanken
(Matth 15,18.19; Eph 2,3), b) vor fleischlichen Begierden, die gegen sie streiten (1. Petr 2,11), und
c) vor Bitterkeit und Streit (Hebr 12,15).
3. Der Leib muss bewahrt werden a) vor Verunreinigung
(1. Thess 4,3-8) und b) vor Missbrauch (Röm 6,19). Einige Ausleger sind der Ansicht, dass unerlöste Menschen keinen Geist haben. Vielleicht gründen sie diese Ansicht auf den Sachverhalt, dass sie geistlich tot sind (Eph 2,1). Doch die Tatsache, dass die Unerlösten geistlich tot sind, bedeutet nicht, dass sie keinen Geist hätten. Damit ist vielmehr gemeint, dass sie bezüglich ihrer Gemeinschaft mit Gott tot sind. Ihr Geist kann sehr wohl lebendig sein, z. B., soweit es um Kontakt mit der Welt des Okkulten geht, doch sie sind für Gott tot. Lenski warnt:
Viele Menschen geben sich mit einem halbherzigen Christenleben zufrieden, wobei einige Bereiche ihres Lebens noch immer weltlich geprägt sind. Die apostolischen Ermahnungen reichen fortwährend bis in alle Winkel unseres Wesens, sodass keiner der Reinigung entkommen kann.R. C. H. Lenski, The Interpretation of St. Paul’s Epistles to the Colossians, to the Thessalonians, to Timothy, to Titus, and Philemon. S. 364. Das Gebet geht mit dem Wunsch weiter, dass Gottes Heiligung und Bewahrung sich so auf jeden Teil ihrer Persönlichkeit auswirken möge, dass die Gläubigen »bei der Ankunft« des »Herrn Jesus Christus … untadelig« sein würden. Das scheint auf den Richterstuhl Christi hinzuweisen, der nach der Entrückung folgt. Zu dieser Zeit werden das Leben, der Dienst und das Zeugnis des Christen beurteilt. Dann wird er belohnt werden oder Verlust erleiden.
5,24 Wie wir in 4,3 gesehen haben, ist unsere Heiligung der Wille Gottes. Er hat uns berufen, eines Tages makellos vor ihm zu stehen. Nachdem er sein Werk an uns begonnen hat, wird er es auch vollenden (Phil 1,6). Derjenige, der uns »beruft«, ist seinem Versprechen »treu«.
5,25 Als Paulus abschließt, bittet er um die Gebete der Heiligen. Er kam nie in ein Stadium, worin er die Gebete nicht mehr nötig gehabt hätte. Dasselbe gilt auch für uns. Es ist eine Sünde, das Gebet für die Geschwister zu unterlassen.
5,26 Als Nächstes bittet er darum, dass »alle Brüder« mit »heiligem Kuss« gegrüßt werden mögen. Zu dieser Zeit war das eine anerkannte Begrüßungsform. In einigen Ländern ist es noch heute üblich, dass Männer Männer und Frauen Frauen küssen. In noch anderen Kulturen küssen Männer die Frauen und umgekehrt. Doch meist hat das zu Missbräuchen geführt, sodass der entsprechende Brauch aufgegeben werden musste.
Der Kuss ist nicht vom Herrn als vorgeschriebene Begrüßungsform eingesetzt worden. Auch die Apostel haben sie micht als notwendig gelehrt. Die Bibel erlaubt in ihrer Weisheit andere Formen der Be­grüßung in Kulturen, wo Küssen zu sexueller Unordnung führen könnte. Der Geist Gottes scheint einer solchen Un­ordnung vorbeugen zu wollen, indem er darauf besteht, dass der »Kuss« heilig sein muss.
5,27 Der Apostel verlangt ernstlich, »dass dieser Brief allen heiligen 20 Brüdern vorgelesen wird« (Schl 2000). Zwei Punkte sollten hier festgehalten werden:
1. Paulus verleiht diesem Brief die Autorität des Wortes Gottes. Das AT wurde öffentlich in den Synagogen vorgelesen. Nun wird dieser »Brief« in den Gemeinden laut »vorgelesen« werden.
2. Die Bibel ist für alle Christen geschrieben, nicht nur für einen begrenzten Kreis oder eine bevorrechtigte Gruppe. Ihre Wahrheiten sind für alle Heiligen bestimmt. Denney besteht auf Folgendem:
Es gibt keine Weisheit oder Güte, die durch das Evangelium irgendeinem Menschen vorenthalten wird. Ferner gibt es kein sichereres Kennzeichen für Glaubenslosigkeit und Verrat in einer Kirche als die Tatsache, dass sie ihre Mitglieder in ewiger Unmündigkeit oder Unterlegenheit hält, indem sie den freien Gebrauch der Heiligen Schrift verbietet und dafür sorgt, dass ihr gesamter Inhalt den Geschwistern nicht vorgelesen wird. (5,27) Denney, Thessalonians, S. 263- 264.
Man beachte, dass sich in den Versen 25-27 drei Schlüssel zu einem erfolgreichen christlichen Leben finden:
1. Gebet (V. 25),
2. Liebe zu den Mitgläubigen, die von Gemeinschaft kündet (V. 26), und
3. das Lesen und Studieren des Wortes (V. 27).
5,28 Schließlich haben wir noch die für Paulus charakteristischen Schlussworte. Er hat seinen ersten Brief an die Thessalonicher mit der Gnade begonnen, und nun schließt er ihn mit demselben Thema. Für den Apostel ist der christliche Glaube von Anfang bis Ende »Gnade«. »Amen« (Schl 2000).
1,1 »Silvanus und Timotheus« waren bei »Paulus«, als er diesen Brief von Korinth aus schrieb. Der Brief ist an die »Gemeinde der Thessalonicher« geschrieben, damit wird seine menschliche Verfasserschaft und geografische Bestimmung angegeben. Die Bezeichnung »in Gott, unserem Vater«, unterscheidet die Gemeinde von einer heidnischen Versammlung. Der Ausdruck in »dem Herrn Jesus Christus« kennzeichnet sie als christliche Gemeinde.1
1,2 Der Apostel wünscht den Heiligen weder Ruhm, Glück oder Vergnügen, sondern »Gnade … und Friede«. »Gnade« schenkt uns die Fähigkeit, alles zu tun, was dem Willen Gottes entspricht, und »Friede« gibt uns Gelassenheit in allen Umständen. Was kann man für sich selbst oder andere mehr wünschen? »Gnade … und Friede« kommen »von Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Die »Gnade« steht vor dem Frieden; wir müssen Gottes »Gnade« kennen, ehe wir seinen »Frieden« erfahren können. Dass Paulus »Gott, den Vater, und den Herrn Jesus Christus« als gemeinsamen Ursprung dieser Segnungen nennt, deutet die Stellungsgleichheit von Vater und Sohn an.
II. Paulus und die Thessalonicher (1,3-12) A. Die Dankesschuld des Paulus (1,3-5)
1,3 Der Brief beginnt mit Dank für die Heiligen. Wenn wir das lesen, so hören wir den Herzschlag eines wahren Dieners Christi, wie er sich über seine geliebten geistlichen Kinder freut. Für ihn war Danksagung eine beständige Pflicht vor »Gott«. Außerdem war es angemessen, dass er ihr angesichts des »Glaubens« und der »Liebe« der Christen nachkam. Ihr Glaube machte erstaunliche Fortschritte, und jeder ohne Ausnahme erwies den anderen immer mehr »Liebe«. Das war eine Antwort auf das Gebet des Apostels (1. Thess 3,10.12). Man beachte die Reihenfolge: erst »Glaube«, dann »Liebe«. »Der Glaube bringt uns in Verbindung mit der ewigen Quelle der Liebe in Gott selbst«, schreibt C. H. Mackintosh, »und die notwendige Konsequenz davon ist, dass unsere Herzen in Liebe zu allen hingezogen werden, die ihm gehören«.
1,4 Für den geistlichen Fortschritt der Thessalonicher konnten Paulus und seine Mitarbeiter sich vor den anderen »Gemeinden Gottes … rühmen«. Sie waren trotz der »Verfolgungen«, die sie erlitten, standhaft und voll Glaubens geblieben. »Ausharren« bedeutet hier so viel wie Standhaftigkeit oder Durchhaltevermögen.
1,5 Die Tatsache, dass sie den Verfolgungen und Anfechtungen so tapfer standhielten, war ein Zeichen des »gerechten« Handelns »Gottes«. Er unterstützte sie, stärkte und ermutigte sie. Wenn sie seine göttliche Kraft nicht empfangen hätten, wären sie niemals imstande gewesen, solche Geduld und solchen Glauben im Leiden für Christus erkennen zu lassen.
Ihr heroisches Aushalten bewies, dass sie »würdig … des Reiches Gottes« waren. Es geht hier nicht um irgendein persönliches Verdienst, das sie berechtigte, in das Reich Gottes zu gelangen, denn nur durch das Verdienst Christi kann man dort hinkommen. Doch diejenigen, die um des Reiches willen leiden, beweisen, dass sie zu denjenigen gehören, die eines Tages mit ihm herrschen werden (Röm 8,17; 2. Tim 2,12). E. W. Rogers sagt bei der Auslegung des Nebensatzes »dass ihr würdig geachtet werdet des Reiches Gottes«: Das hat mit der menschlichen Verantwortung zu tun. Durch Gottes Souveränität sind wir passend gemacht worden, Teilhaber des Erbes der Heiligen im Licht zu sein, und diese Eignung geht nur auf unsere Verbindung mit Christus in seinem Tod und seiner Auferstehung zurück. Wir sind in dem Geliebten begnadigt, und zwar unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften unseres Menschseins, egal ob vor oder nach unserer Bekehrung. Doch Gott lässt es zu, dass die Angehörigen seines Volkes durch Verfolgung und Anfechtungen gehen, um in ihnen moralische Qualitäten zu entfalten, die sie zu »würdigen Bürgern« dieses Reiches machen. Einige der Apostel freuten sich, dass sie wert geachtet wurden, für den Namen Jesu zu leiden. Das Gebet des Paulus für die Thessalonicher, dass Gott sie ihrer Berufung würdig erachte, hat ganz sicher nichts damit zu tun, dass wir dem Werk Christi etwas hinzufügen müssten. Das Kreuz macht den Gläubigen seiner Stellung im Reich würdig, doch Geduld und Glaube in Drangsal zeigen, dass der Betreffende des Reiches moralisch wert ist. Unter den Mitgliedern jeder irdischen Gesellschaft gibt es solche, die Unehre ber eiten, aber auch andere. Paulus betete darum, dass es unter diesen Heiligen nicht so sein möge.2 B. Das gerechte Gericht Gottes (1,6-10)
1,6 Das »gerechte« Handeln Gottes wird auf zweierlei Weise gesehen – Bestrafung für die Verfolgung und Ruhe für die Verfolgten.
Williams sagt:
Als Gott erlaubte, dass sein Volk verfolgt wurde und die Verfolger existierten, hatte er ein zweifaches Ziel – zunächst, die Eignung seines Volkes zur Herrschaft zu erproben (V. 5), und zweitens, die Eignung ihrer Verfolger zum Gericht zu verdeutlichen.3
1,7 So, wie Gott den Feinden seines Volkes Bestrafung zuteilwerden lässt, wird er denen, die um seinetwillen leiden, »Ruhe« als Belohnung zuteilwerden lassen.
Wir sollten aus Vers 7 nicht schließen, dass leidende Heilige keine Erlösung von der Versuchung erhalten werden, bis Christus vom Himmel mit flammendem Feuer zurückkehrt. Wenn ein Gläubiger stirbt, erlangt er die Ruhe. Lebende Gläubige werden Befreiung von allen Spannungen zum Zeitpunkt der Entrückung finden. Dieser Vers will eher Folgendes aussagen: Wenn der Herr das Gericht über seine Feinde ausgießen wird, wird die Welt sehen, dass die Heiligen zu dieser Zeit »Ruhe« genießen. Die gerechte Vergeltung Gottes findet »bei der Offenbarung des Herrn Exkurs zu Entrückung und Offenbarung Doch mag jemand fragen: »Woher wissen barung unterschiedliche Ereignisse sind?« auf folgende Weise unterschieden werden: Die Entrückung
1. Christus kommt in die Luft (1. Thess 4,17). 2. Er kommt für seine Heiligen (1. Thess 4,16.17). 3. Die Entrückung ist ein Geheimnis, d. h.  eine  Wahrheit,  die  zur  Zeit  des AT unbekannt war (1. Kor 15,51). 4. Es wird von Christi Kommen für seine Heiligen nie ausgesagt, dass es von himmlischen Erscheinungen begleitet wird.
5. Die Entrückung wird mit dem Tag  Christi  bezeichnet  (1. Kor  1,8; 2. Kor 1,14; Phil 1,6.10). 6. Die Entrückung wird als Zeit des Segens dargestellt (1. Thess 4,18). 7. Die Entrückung findet in einem Moment statt, in einem Augenblick (1. Kor  15,52).  Das  beinhaltet  sehr wahrscheinlich, dass die Welt dabei nicht Zeuge sein wird.
8. Die Entrückung wird ausschließlich die Gemeinde betreffen (Joh 14,1-4; 1. Kor 15,51-58; 1. Thess 4,13-18). 9. Christus kommt als der »glänzende Morgenstern« (Offb 22,16). 10. Die Entrückung wird in den synoptischen Evangelien nicht erwähnt, doch wird im Johannesevangelium mehrmals darauf angespielt.
11. Diejenigen, die entrückt werden, werden zum Segen entrückt Jesus vom Himmel her mit den Engeln seiner Macht« statt. Die Vergeltung für die Gottlosen und »Ruhe« für die Gläubigen gehören zu seiner Wiederkunft. Welche Phase des Kommens Christi ist hier angesprochen? Es geht eindeutig um die dritte Phase, nämlich die Erscheinung seines Kommens, wenn er mit seinen Heiligen auf die Erde zurückkehren wird.
n Sie, dass die Entrückung und die OffenDie Antwort lautet, dass sie in der Schrift Die Offenbarung
1. Er kommt auf die Erde (Sach 14,4). 2. Er kommt mit seinen Heiligen (1. Thess 3,13; Judas 14). 3. Die Offenbarung ist kein Geheimnis, sondern Thema vieler alttestamentlicher Prophezeiungen (Ps 72; Jes 11; Sach 14).
4. Sein Kommen mit den Heiligen wird durch Zeichen am Himmel angekündigt (Matth 24,29.30).
5. Die Offenbarung wird mit dem Tag des Herrn bezeichnet (2. Thess 2,1-12; NA-Text).
6. Der Schwerpunkt der Offenbarung liegt auf dem Gericht (2. Thess 2,8-12). 7. Die Offenbarung wird weltweit sichtbar sein (Matth 24,27; Offb 1,7). 8. Die Offenbarung betrifft in erster Linie Israel, jedoch auch die heidnischen Nationen (Matth 24,1 – 25,46). 9. Er kommt als die Sonne der Gerechtigkeit mit Heilung unter ihren Flügeln (Mal 3,20).
10. Die Offenbarung ist für die Synoptiker charakteristisch, wird jedoch im Johannesevangelium kaum erwähnt. 11. Diejenigen, die genommen werden, kommen ins Gericht. Diejenigen, die (1. Thess 4,13-18). Diejenigen, die zurückbleiben, bleiben zum Gericht zurück (1. Thess 5,1-3). 12. Es gibt kein System von Datierungen für die Ereignisse vor der Entrückung. 13. Der Titel »Sohn des Menschen« wird in keinem Abschnitt verwendet, der sich mit der Entrückung befasst. Vorausgesetzt, dass diese beiden Ereignisse unterschiedlich sind: Wie können wir wissen, dass sie nicht annähernd zur gleichen Zeit stattfinden? Woher wissen wir, dass sie durch eine längere Zeitspanne getrennt sind? Drei Beweise können genannt werden:
1. Der erste basiert auf Daniels Prophezeiung der siebzig Jahrwochen (Dan 9,25-27). Wir leben gegenwärtig im eingeschobenen Gemeindezeitalter, und zwar zwischen der 69. und der 70. Jahrwoche. Die siebzigste Woche ist die Große Trübsal, die sieben Jahre dauern wird. Die Gemeinde wird vor der Großen Trübsal in den Himmel entrückt (Röm 5,9; 1. Thess  1.10;  1. Thess  5,9;  Offb  3,10). Das Kommen Christi zur Herrschaft findet nach der siebzigsten Woche statt (Dan 9,24; Matth 24). 2. Die zweite Argumentation als Beweis für eine Zeit zwischen der Entrückung und der Offenbarung beruht darauf, wie das Buch der Offenbarung aufgebaut ist. In den ersten 3 Kapiteln sehen wir die Gemeinde auf Erden. Die Kapitel 4 bis 19,10 beschreiben die Große Trübsal, wenn Gottes Zorn auf die Welt, die seinen Sohn verworfen Wir kehren nun zu Vers 7 zurück und finden dort die Wiederkunft »des Herrn Jesus« in Macht und großer Herrlichkeit. Er wird von »Engeln« begleitet, durch die seine Macht ausgeübt wird. übrig bleiben, werden zum Segen zurückgelassen (Matth 24,37-41). 12. Ein genau ausgearbeitetes Datierungssystem wird für die Offenbarung genannt, wie etwa die 1260 Tage, 42 Monate und 31/ Jahre (s. Dan 7,25; 2
12,7.11.12; Offb 11,2; 12,14; 13,5). 13. Die Offenbarung wird als das Kommen des Menschensohnes bezeichnet (Matth 16,28; 24,27.30.39; 26,64; Mk 13,26; Lk 21,27).
hat, ausgegossen wird. Von der Gemeinde wird niemals erwähnt, dass sie während dieser Zeit auf der Erde ist. Die Gemeinde wird offensichtlich am Ende von Kapitel 3 in den Himmel aufgenommen. In Offenbarung 19,11 kehrt Christus auf die Erde zurück, um seine Feinde zu unterwerfen und sein Reich aufzurichten – am Ende der Großen Trübsal.
3. Es gibt einen dritten Gedankengang, der es notwendig macht, eine Zeitspanne zwischen dem Kommen Christi für seine Heiligen und seinem Kommen mit den Heiligen anzunehmen. Bei der Entrückung werden alle Gläubigen aus der Welt genommen, und sie erhalten ihre verherrlichten Leiber. Doch wenn Christus wiederkehrt, um zu regieren, wird es noch andere Gläubige auf Erden geben. Diese jedoch werden noch keine verherrlichten Leiber haben; sie werden während des Tausendjährigen Reiches heiraten und Kinder bekommen (Jes 11,6.8). Wo kommen diese Gläubigen her? Es muss eine Zeitspanne zwischen der Entrückung und der Offenbarung geben, in der sie sich bekehren.
1,8 Der Ausdruck »flammendes Feuer« könnte ein Hinweis auf die Schechina sein, die Herrlichkeitswolke, die die Anwesenheit Gottes symbolisiert (2. Mose  16,10).  Oder  der  Begriff  könnte ein Bild des feurigen Gerichts sein, das ausgegossen werden soll (Ps 50,3; Jes 66,15). Wahrscheinlich ist die letztere die richtige Bedeutung.
Wenn Gott »Vergeltung … übt«, dann handelt es sich nicht um Rachsucht, sondern um gerechten Lohn. Es geht nicht darum, »abzurechnen«, sondern das gerechte Urteil zu vollstrecken, das Gottes heiliges, gerechtes Wesen verlangt. Er hat kein Gefallen am Tod des Gottlosen (Hes 18,32).
Paulus beschreibt zwei Arten von Menschen, die zur Vergeltung bestimmt sind:
1. Diejenigen, »die Gott nicht kennen« – diejenigen, die das Wissen vom wahren Gott, wie es in der Schöpfung und im Gewissen offenbart wird, abgelehnt haben (Röm 1,21). Es kann sein, dass sie niemals vom Evangelium gehört haben.
2. Diejenigen, »die dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen« – diejenigen, die das Evangelium gehört haben und es ablehnen. Das Evangelium ist nicht einfach eine Sammlung von Tatsachen, die man glauben muss, sondern es geht darum, einer Person zu gehorchen. Zum Glauben im Sinne des NT gehört Gehorsam.
1,9 »Sie werden Strafe leiden.« Ein Gott, der nicht bestraft, ist überhaupt kein Gott. Es gibt die Vorstellung, dass ein Gott der Liebe nicht strafen dürfe. Sie übersieht die Tatsache, dass Gott auch heilig ist und tun muss, was ethisch richtig ist.
Das Wesen der Bestrafung wird hier »ewiges Verderben« genannt. Das Wort, das mit »ewig« übersetzt wird (aionios), wird im NT siebzigmal benutzt. An drei Stellen kann es »Zeitalter mit begrenzter Dauer« bedeuten (Röm 16, 25; 2. Tim 1,9; Tit 1,2). An allen anderen Stellen bedeutet es »ewig« oder »ohne Ende«. Es wird in Römer 16,26 benutzt, um die niemals aufhörende Existenz Gottes zu beschreiben. »Verderben« bedeutet niemals »Vernichtung« oder »Aufhören der Existenz«. Es bedeutet den Verlust des Wohlergehens oder den Bankrott, soweit es den Sinn des Lebens betrifft. Die Schläuche, die der Herr Jesus in Lukas 5,37 beschreibt, waren »zerrissen« (dieselbe Wortwurzel wie im vorliegenden Vers). Sie hörten nicht auf zu existieren, sondern sie waren verdorben, was ihre weitere Brauchbarkeit betraf. Auf diesen Abschnitt beziehen sich Ausleger, die die These vertreten, dass die Gemeinde erst nach der Großen Trübsal entrückt wird. Sie benutzen ihn, um ihre Auffassung zu stützen. Ihrer Meinung nach sagt er aus, dass die Gläubigen keine Ruhe erlangen und ihre Verfolger erst bestraft werden, wenn Christus zur Herrschaft wiederkommt. Dieses Ereignis findet ja ihrer Ansicht zufolge nach der Großen Trübsal statt. Deshalb, so schließen sie, bestünde die Hoffnung der Gläubigen darin, die Entrückung nach der Großen Trübsal zu erleben. Diese Ausleger übersehen jedoch die Tatsache, dass die Thessalonicher, an die dies geschrieben worden ist, alle schon gestorben sind und bereits die Ruhe mit dem Herrn im Himmel genießen. Ebenso sind ihre Verfolger schon alle gestorben und leiden im Hades.
Warum sagt Paulus dann scheinbar, dass diese Bedingungen erst erfüllt werden, wenn Christus auf die Erde in großer Macht und Herrlichkeit zurückkehrt? Der Grund liegt darin, dass dies die Zeit ist, zu der diese Bedingungen der Welt offenbart werden. Dann wird die Welt sehen, dass die Thessalonicher recht hatten und ihre Verfolger unrecht. Die Welt wird erkennen, dass die Heiligen die Ruhe genießen, wenn sie mit Christus in Herrlichkeit auf die Erde zurückkehren. Das »Verderben« der Feinde des Herrn am Ende der Großen Trübsal wird eine öffentliche Demonstration der Bestimmung aller sein, die Gottes Volk in den verschiedenen Zeitaltern verfolgt haben. Es wird uns helfen, uns daran zu erinnern, dass Christi Kommen zur Herrschaft eine Zeit der Offenbarung ist. Was bisher schon wahr gewesen ist, wird nun der ganzen Welt enthüllt. Das gilt nicht für die Entrückung.
Zur Bestrafung der Bösen gehört auch, dass sie »vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke« verbannt werden. Ohne Christus zu sterben, bedeutet, immer ohne ihn sein zu müssen.
1,10 Sein Kommen wird eine Zeit der Verherrlichung für den Herrn und der Verwunderung für diejenigen sein, die es miterleben.
Er wird »in seinen Heiligen verherrlicht« werden, d. h. er wird für das geehrt werden, was er für und durch seine Heiligen getan hat. Ihre Erlösung, ihre Heiligung und Verherrlichung werden seine unvergleichliche Gnade und Macht erkennen lassen.
Er wird »in allen denen bewundert … werden, die geglaubt haben«.4 Denjenigen, die dies erstaunt miterleben werden, wird es den Atem verschlagen, wenn sie sehen, was er mit solch schwachen menschlichen Wesen erreichen konnte! Und dazu werden auch die Gläubigen in Thessalonich gehören, weil sie das »Zeugnis« des Apostels angenommen und geglaubt haben. Sie werden an der Herrlichkeit »an jenem Tag« teilhaben, nämlich am Tag der Offenbarung Jesu Christi.
Zurückschauend könnte man die Verse 5-10 wie folgt umschreiben: »Eure Geduld mitten in der Verfolgung ist von großer Bedeutung. Mit all dem verfolgt Gott seinen gerechten Zweck. Euer standfestes Ausharren in der Verfolgung zeigt, dass ihr zu denen gehört, die an der Herrlichkeit der Wiederkunft Christi zur Herrschaft Anteil haben werden. Einerseits wird Gott dann das Gericht über diejenigen ausüben, die euch nun bedrängen. Auf der anderen Seite wird er euch, die ihr jetzt bedrängt werdet, zusammen mit uns Ruhe schenken – mit Paulus, Silvanus und Timotheus. Er wird eure Feinde richten, wenn er mit den Engeln wiederkehrt, die seinen Willen mit dem Flammenschwert ausführen. Dann wird er diejenigen richten, die Gott bewusst ablehnen, und diejenigen, die willentlich dem Evangelium ungehorsam sind. Diese werden ewige Verdammnis erleiden, ja, sogar die Verbannung vom Angesicht des Herrn und der Darstellung seiner Macht. Dann wird er wiederkehren, um in allen Gläubigen verherrlicht zu werden. Ihr gehört zu ihnen, weil ihr der Botschaft des Evangeliums, das wir euch predigten, geglaubt habt.«
C. Das Gebet des Paulus für die Heiligen (1,11.12)
1,11 In den vorhergehenden Versen hat der Apostel die herrliche Berufung der Heiligen beschrieben. Sie sind aufgerufen worden, Verfolgung zu ertragen. Diese befähigt sie wiederum, im Reich Christi mitzuregieren. Nun betet er, dass ihr Leben bis dahin einer solch hohen »Berufung … würdig« sei. Gottes große »Kraft« möge sie befähigen, jeder Anregung zu gehorchen, Gutes zu tun. Jede Aufgabe, die sie übernehmen, mögen sie im »Glauben« durchführen.
1,12 Daraus ergibt sich ein zweifaches Ergebnis. Erstens wird »der Name unseres Herrn Jesus Christus in« ihnen »verherrlicht« werden. Das bedeutet, dass sie ihn vor der Welt richtig darstellen und ihm so Ehre bringen werden. Dann werden auch sie »in ihm« verherrlicht werden. Ihre Verbindung mit ihm, ihrem Haupt, wird ihnen Ehre als Glieder seines Leibes bringen.
Kapitel 1 schließt mit der Erinnerung daran, dass dieses Gebet nur »nach der Gnade unseres Gottes und des Herrn Jesus Christus« erhört werden kann. So enden die Ausführungen des Paulus, in denen er auf wunderbare Weise die Bedeutung und die Folgen von Leid im Leben des Gläubigen erklärt. Man stelle sich vor, wie ermutigt die Thessalonicher waren, als sie diese Botschaft lasen! III. Vom Tag des Herrn (2,1-12) A. Ein Aufruf zur Standhaftigkeit (2,1.2)
2,1 Paulus korrigiert nun ein Missverständnis, das bei den Heiligen »wegen der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus« und dem Tag des Herrn aufgekommen ist. Die Heiligen litten unter einer ziemlich schlimmen Verfolgung. Deshalb konnten sie leicht auf den Gedanken verfallen, dass sie sich schon im ersten Teil des Tages des Herrn befinden, d. h. in der Großen Trübsal. Und es gab Gerüchte, dass der Apostel selbst glaube und lehre, der Tag des Herrn sei schon gekommen! Daher muss er den Bericht richtigstellen. Eine wichtige Frage ergibt sich in Vers 1 bezüglich des kleinen, von Paulus benutzten Wortes wegen (gr. huper). Das Problem ist, ob er die Heiligen wegen der oder durch die »Ankunft unseres Herrn Jesus Christus« bittet. Wenn die erste Bedeutung richtig ist, dann lehrt dieser Abschnitt, dass die Entrückung und der Tag des Herrn ein und dasselbe Ereignis darstellen, weil es in den folgenden Versen eindeutig um den Tag des Herrn geht. Wenn die zweite Bedeutung richtig ist, dann sollten sie aufgrund der vorhergehenden Entrückung der Bitte des Paulus nachkommen. Sie sollten nicht denken, dass sie schon den Tag des Herrn erleben würden. Die Frage ist strittig. Wir stimmen mit William Kelly überein, der den zweiten Standpunkt vertritt: Der Trost des Kommens des Herrn wird hier als Motivation genannt und als Mittel, um einem bestehenden Unbehagen entgegenzuwirken. Es war durch die falschen Vorstellungen, der Tag (des Herrn) sei schon da, hervorgerufen worden.5
Wir verstehen Paulus so: »Ich bitte euch aufgrund der Entrückung, dass ihr nicht fürchten sollt, der Tag des Herrn sei schon da. Die Entrückung muss zuerst stattfinden. Ihr werdet zu diesem Zeitpunkt in die himmlische Heimat aufgenommen werden und so dem Schrecken des Tages des Herrn entgehen.« Der Ausdruck »wegen der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus und unserer Vereinigung mit ihm« bezieht sich unmissverständlich auf die Entrückung. Das ist der Zeitpunkt, wenn wir alle versammelt werden, um ihm in der Luft zu begegnen.
2,2 Es sollte klar sein, dass die Entrückung nicht dasselbe ist wie der Tag des Herrn. Die Thessalonicher waren nicht beunruhigt darüber, dass der Herr schon gekommen sei. Sie wussten nämlich, dass das noch nicht geschehen war. Aber sie waren darüber beunruhigt, dass der Tag des Herrn schon begonnen habe. Sie mussten starke Verfolgung erdulden. Aufgrund dessen dachten sie, sie lebten schon in der Großen Trübsal, der ersten Phase des Tages des Herrn. Es hatte Gerüchte gegeben, dass Paulus selbst gesagt habe, der Tag des Herrn sei schon da. Wie die meisten Gerüchte waren diese sehr entstellt. Eine Version wollte wissen, dass Paulus diese Information »durch Geist« erhalten habe, d. h. durch eine besondere Offenbarung. Nach einem anderen Bericht ist die Nachricht »durch Wort« gekommen. Dies bedeutet, der Apostel habe öffentlich gelehrt, dass die Große Trübsal schon begonnen habe. »Durch Brief, als von uns« wird allgemein so verstanden, dass damit ein gefälschter Paulusbrief gemeint ist. Nach dieser Auffassung wird darin gesagt, dass der Tag des Herrn schon begonnen habe. Der Ausdruck »als von uns« bezieht sich wahrscheinlich auf »Geist«, »Wort« und »Brief«. Keiner dieser Quellen war zu trauen.
Nach Schl 2000 (und dem Mehrheitstext) fürchteten die Heiligen, dass »der Tag des Christus« schon gekommen sei. »Der Tag Christi« und ähnliche Ausdrücke beziehen sich normalerweise auf die Entrückung und den Richterstuhl Christi (1. Kor  1,8;  5,5;  2. Kor  1,14;  Phil  1,6.10; 2,15.16). Doch die Thessalonicher fürchteten nicht, dass der Tag Christi schon gekommen sei. Das hätte nämlich Befreiung von ihren Leiden bedeutet. Die meisten Ausleger, die der Ansicht sind, dass die Entrückung vor der Großen Trübsal stattfindet, ziehen die Lesart der ER vor (»als ob der Tag des Herrn da wäre«6). Die Leser des Paulus hatten demnach Angst, dass der Tag des Zornes Gottes schon begonnen habe.
B. Der Mensch der Sünde (2,3-12)
2,3 Nun erklärt der Apostel, warum die Thessalonicher noch nicht »diesen Tag« erlebten. Bestimmte Ereignisse müssen vorher noch geschehen. Diese Geschehnisse werden nach der Entrückung stattfinden.
Zuerst wird es einen »Abfall« geben.7 Was bedeutet das? Wir können nur annehmen, dass es sich um ein völliges Aufgeben des christlichen Glaubens handelt und man ganz bewusst biblische Inhalte ablehnt.
Dann erhebt sich ein großartiger Weltpolitiker. Vom Charakter her ist er der »Mensch  der  Sünde«  (Schl 2000)  oder »der Gesetzlosigkeit«8, d. h. die Verkörperung der Sünde und der Auflehnung. Von der Bestimmung her ist er »der Sohn des Verderbens«, er ist auf ewig verurteilt. In der Schrift finden wir viele Beschreibungen von wichtigen Persönlichkeiten, die sich während der Großen Trübsal erheben werden. Es ist schwer zu entscheiden, welche Namen sich auf dieselbe Person beziehen. Einige Exegeten glauben, dass der Mensch der Sünde ein jüdischer Antichrist sein wird. Andere lehren, dass er der heidnische Herrscher des wiedererstandenen Römischen Reiches sein wird. Hier folgen die Namen einiger der großen Herrscher der Endzeit: … der Mensch der Sünde und Sohn des Verderbens (2. Thess 2,3) …  der Antichrist (1. Joh 2,18) … das kleine Horn (Dan 7,8.24b-26) … der König mit dem harten Gesicht (Dan 8,23-25)
… der kommende Fürst (Dan 9,26) … der König, der nach seinem Belieben handelt (Dan 11,36)
… der nichtige Hirte (Sach 11,17) … das Tier aus dem Meer (Offb 13,1-10) … das Tier aus der Erde (Offb 13,11-17) … das scharlachrote Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern (Offb 17,4.8-14) … der König des Nordens (Dan 11,6) … der König des Südens (Dan 11,40) … der falsche Prophet (Offb 19,20; 20,10) … Gog aus Magog (Hes 38,2-39,11) [nicht zu verwechseln mit dem in Offenbarung 20,8 vorkommenden Gog, der sich nach dem Tausendjährigen Reich erhebt]
… der in seinem eigenen Namen kommt (Joh 5,43)
»Der Mensch der Sünde« ist durch die Jahrhunderte schon auf viele historische Institutionen oder Menschen gedeutet worden. Er ist mit der kathol ischen Kirche, dem Papst, dem Römischen Reich und der endzeitlichen Form des abg efallenen Christentums gleichgesetzt worden. Infrage kamen auch der wiederauferstandene Judas, der wiederauferstandene Nero, der jüdische Staat, Mohammed, Luther, Napoleon, Mussolini, Hitler und der fleischgewordene Satan.
2,4 Er wird jede Form göttlicher Verehrung bekämpfen und sich selbst »in den Tempel Gottes« in Jerusalem setzen. Diese Beschreibung zeigt eindeutig, dass er der Antichrist ist, der gegen Christus ist und sich an seine Stelle setzt.9 Daniel 9,27 und Matthäus 24,15 zeigen, dass diese gotteslästerliche Handlung des Antichrists in der Mitte der Großen Trübsal stattfinden wird. Diejenigen, die ihn nicht anbeten wollen, wird man verfolgen. Viele von ihnen werden als Märtyrer sterben.
2,5 Paulus hat die Thessalonicher dies schon gelehrt, als er »noch bei« ihnen »war«. Doch sie hatten vergessen, was der Apostel gesagt hatte. Sie wurden nämlich gegenteilig gelehrt, wobei diese Lehre scheinbar gut zu der schlimmen Verfolgung passte, die sie erleiden mussten. Wir alle vergessen zu schnell und müssen immer wieder an die großen Glaubenswahrheiten erinnert werden.
2,6 Die Thessalonicher wussten, warum der Mensch der Sünde noch nicht im umfassenden Sinne und öffentlich in Erscheinung treten konnte. Es gab etwas, was ihn bis zur bestimmten Zeit zurückhielt.
Das bringt uns zur dritten großen unbeantworteten Frage dieses Kapitels. Die erste dieser Fragen ist: »Was ist der Abfall?«, die zweite: »Wer ist der Mensch der Sünde?«, und die dritte lautet: »Wer oder was hält zurück?«
Im ersten Teil von Vers 6 wird derjenige, der »zurückhält«, unpersönlich beschrieben: »was zurückhält«. Doch in Vers 7 handelt es sich um eine Person: »welcher jetzt zurückhält.«10 E. W. Rogers drückt das deutlich aus: Es ist etwas und jemand, der dieses Ereignis absichtlich, bewusst und vorsätzlich aufhält mit dem Ziel, dass der Mensch der Gesetzlosigkeit zu seiner eigenen Zeit geoffenbart werden wird.11 Sieben der häufiger vertretenen Auffassungen bezüglich der Identität des Zurückhaltenden sind: 1. Das Römische Reich, 2. der jüdische Staat, 3. Satan, 4. das Prinzip von Gesetz und Ordnung, wie es sich in der menschlichen Obrigkeit findet, 5. Gott, 6. der Heilige Geist und 7. die wahre Gemeinde, in der der Heilige Geist wohnt.
Der Heilige Geist, der in der Gemeinde und im einzelnen Gläubigen wohnt, scheint besser und vollständiger der Beschreibung zu entsprechen, als jeder andere Genannte. So wie der, der zurückhält, einmal ein Sachverhalt und einmal eine Person ist, so wird vom Geist in Johannes 14,26; 15,26; 16,8.13.14 sowohl im Neutrum (Heiliger Geist mit sächlichem Artikel) als auch im Maskulinum (er) gesprochen.12 Schon in 1. Mose 6,3 wird erwähnt, dass der Heilige Geist etwas mit dem Zurückhalten des Bösen zu tun hat. Später wird er dann in Jesaja 59,19b; Johannes  16,7-11  und  1. Johannes  4,4  in dieser Rolle gesehen.
Dadurch, dass der Geist in den Gläubigen wohnt, werden sie zum Salz der Erde (Matth 5,13) und zum Licht der Welt (Matth 5,14). Salz ist ein Konservierungsstoff, verhindert aber auch die Ausbreitung von Verderbnis. Licht vertreibt die Finsternis, die Umgebung, worin die Menschen gerne ihre bösen Taten begehen (Joh 3,19). Der Heilige Geist wohnt ständig in der Gemeinde (1. Kor 3,16) und in den einzelnen Gläubigen (1. Kor 6,19). Wenn er die Welt verlässt, dann gibt es nichts mehr, was die Gesetzlosigkeit aufhalten kann.
2,7 Schon zu der Zeit, als Paulus schrieb, war »das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam«. Darunter verstehen wir einen starken Geist des Ungehorsams gegen Gott, der sich schon unter der Oberfläche regt. Er war in einer geheimnisvollen Form am Werk – er war nicht mysteriös, sondern noch nicht ganz geoffenbart. Dieser Geist war damals erst im Ansatz vorhanden.
Was hat nun die volle Entfaltung dieses Geistes behindert? Unserer Meinung zufolge hat die Anwesenheit des Heiligen Geistes, der in der Gemeinde und in jedem einzelnen Gläubigen wohnt, diese bewahrende Kraft. Er wird diese Funktion ausüben, bis er »aus dem Weg ist«, d. h. bis zur Entrückung. Doch hier gibt es einen Einwand: Wie kann der Heilige Geist aus der Welt entfernt werden? Ist er als eine der Personen der  Gottheit  nicht  allgegenwärtig,  d. h. überall und zu jeder Zeit anwesend? Wie kann er dann die Welt verlassen? Natürlich ist der Heilige Geist allgegenwärtig. Er ist immer zu ein und derselben Zeit an allen Orten anwesend. Und doch ist er in einem ganz anderen Sinne zu Pfingsten auf die Erde gekommen. Jesus hatte wiederholt verheißen, dass er und der Vater den Geist senden würden (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7). Wie kam nun der Geist? Er kam, um ständig in der Gemeinde und in jedem Gläubigen zu wohnen. Bis zum Pfingsttag war der Geist bei den Gläubigen, doch seit Pfingsten wohnt er in ihnen (Joh 14,17). Bis zum Pfingsttag konnte es vorkommen, dass der Geist von Gläubigen wieder wegging – daher das Gebet Davids: »Den Geist deiner Heiligkeit nimm nicht von mir!« (Ps 51,13b). Seit Pfingsten bleibt der Heilige Geist für immer in den Gläubigen des Gemeindezeitalters (Joh 14,16).
Wir glauben, dass der Heilige Geist die Welt in demselben Sinne verlassen wird, wie er zu Pfingsten gekommen ist – das heißt, in den Gläubigen und in der Gemeinde innewohnend. Er wird noch immer in der Welt sein, Menschen von ihrer Sünde überzeugen und sie zum rettenden Glauben an Christus führen. Wenn er bei der Entrückung weggenommen wird, so heißt das nicht, dass niemand während der Großen Trübsal gerettet werden wird. Natürlich kommen Menschen auch dann noch zum Glauben. Doch diese Menschen werden nicht zur Gemeinde gehören, sondern Untertanen des herrlichen Reiches Christi sein.
2,8 Nachdem die Gemeinde in den Himmel entrückt worden ist, »wird der Gesetzlose« der Welt »geoffenbart werden«. In diesem Vers übergeht der Apostel den Aufstieg des Antichrists und beschreibt seinen endgültigen Untergang. Es klingt fast so, als würde er vernichtet, sobald er geoffenbart wird. Das ist natürlich nicht so. Ihm wird erlaubt, eine Schreckensherrschaft auszuüben, ehe er durch die Wiederkunft Christi zur Herrschaft gestürzt wird.
Wenn wir mit unserer Annahme recht haben, dass der Mensch der Sünde nach der Entrückung geoffenbart wird und er bis zur Erscheinung Christi fortfährt, dann dauert sein unglaublicher Aufstieg fast sieben Jahre lang – die Zeit der Großen Trübsal.
Der »Herr« Jesus wird ihn »durch den Hauch seines Mundes« »beseitigen« (vgl. Jes 11,4; Offb 19,15) und durch »die Erscheinung seiner Ankunft« zunichtemachen. Nur ein Wort von Christus und der strahlende Glanz (gr. epiphaneia) seiner Erscheinung (parousia) sind nötig, um die Herrschaft dieses Weltdiktators zu beenden, der sich gegen ihn gestellt hat. Nach den bereits gegebenen Erklärungen findet die Erscheinung der Ankunft Christi statt, wenn er auf die Erde zurückkehrt, um den Thron einzunehmen und für tausend Jahre zu herrschen.
2,9 Die »Ankunft« des Gesetzlosen geschieht entsprechend »der Wirksamkeit Satans«. Sein Werdegang ähnelt demjenigen Satans, weil er seine Macht von ihm bekommt. Er wird alle Arten von »Machttaten … Zeichen und Wundern der Lüge« tun.
Hier ist es wichtig zu bemerken, dass nicht alle Wunder göttlichen Ursprungs sind. Der Teufel und seine Heerscharen können ebenfalls Wunder vollbringen. Der Mensch der Gesetzlosigkeit wird dies tun (Offb 13,13-15).
Ein Wunder ist ein Zeichen übernatürlicher, nicht jedoch notwendigerweise göttlicher Macht. Die Wunder unseres Herrn wiesen ihn als den verheißenen Messias aus, nicht einfach deshalb, weil sie übernatürlich waren. Vielmehr erfüllten sie die Prophezeiungen. Satan hätte sie nicht tun können, ohne seiner Sache zu schaden.
2,10 Der Antichrist wird skrupellos jede Art der Bosheit benutzen, um die verlorengehenden Menschen zu betrügen. Das sind diejenigen, die während des Zeitalters der Gnade das Evangelium gehört haben, jedoch keine »Liebe« zur »Wahrheit« hatten. Wenn sie geglaubt hätten, wären sie errettet worden. Doch nun werden sie von den Wundern des Antichrists betrogen.
2,11 Gott wird ihnen sogar noch Irrtümer senden, sodass »sie der Lüge glauben«. »Die Lüge« ist natürlich die Behauptung des Antichrists, Gott zu sein. Diese Menschen haben es abgelehnt, den Herrn Jesus als fleischgewordenen Gott anzunehmen. Als er auf Erden war, warnte er die Menschen: »Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen« (Joh 5,43). Deshalb nehmen sie den Menschen der Sünde an, der in seinem eigenen Namen kommt und als Gott verehrt werden will. »Wer das Licht ablehnt, dem wird es vorenthalten.« Wenn ein Mensch in seinem Herzen einen Götzen errichtet, dann wird ihm Gott gemäß diesem Götzen antworten (Hes 14,4).
Der Antichrist wird wahrscheinlich jüdischer Herkunft sein (Hes 28,9.10; Dan 11,37.38). Die Juden werden sich nicht von jedem betrügen lassen, der sich als Messias ausgibt. Es sei denn, er behauptet, vom Stamm Juda zu sein und zur Familie Davids zu gehören.
2,12 Aus diesem Abschnitt scheint Folgendes hervorzugehen: Diejenigen, die das Evangelium in diesem Gnadenzeitalter hören, aber Christus nicht vertrauen, werden keine weitere Gelegenheit erhalten, nach der Entrückung an Christus zu glauben. Wenn Menschen jetzt nicht dem Herrn Jesus glauben, werden sie einst dem Antichristen glauben. Es heißt hier, dass sie »alle« gerichtet werden, und zwar wegen ihres Unglaubens und ihrer Liebe zum Bösen. Das erinnert an Lukas 14,24: »Denn ich sage euch, dass nicht einer jener Männer, die eingeladen waren, mein Gastmahl schmecken wird.« Wir wissen, dass viele Menschen während der Großen Trübsal errettet werden. Die 144  000 Juden z. B. werden gerettet und Gottes Boten in der Predigt des Evangeliums vom Reich sein, indem sie in die Welt gesandt werden. Durch ihren Dienst werden viele andere gerettet werden. Doch scheinbar ist es so, dass die Geretteten Menschen sind, die noch nie deutlich das Evangelium im gegenwärtigen Zeitalter gehört und niemals bewusst den Heiland abgelehnt haben. IV. Danksagung und Gebet (2,13-17) A. Der Dank des Paulus dafür, dass die Heiligen dem Gericht entkommen (2,13.14)
2,13 In den ersten zwölf Versen hat Paulus das Gericht über den Antichristen und seine Anhänger beschrieben. Nun wendet er sich den Thessalonichern zu und denkt im Gegensatz zum eben Dargestellten an ihre Berufung und ihre Bestimmung. Während er das tut, dankt er Gott für diese »vom Herrn geliebten Brüder« und fährt fort, eine Zusammenfassung ihrer Erlösung zu geben – der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Aspekte ihres Heils.
»Gott … hat euch erwählt.« Die Bibel lehrt deutlich, dass »Gott« Menschen zur Erlösung erwählt, doch lehrt sie nirgends, dass er Menschen zur Verdammnis erwählt. Menschen gehen aufgrund ihres eigenen Entschlusses verloren. Ohne Gottes Eingreifen würden alle verlorengehen. Hat Gott das Recht, einige zur Errettung zu erwählen? Grundsätzlich ist es sein Wunsch, dass alle gerettet werden (1. Tim 2,4; 2. Petr 3,9). Doch die Bibel lehrt keine »Allversöhnung«, die Theor ie, dass alle eines Tages errettet werden. »Von Anfang an.« Damit kann zweierlei gemeint sein. Erstens kann es bedeuten, dass Gottes Wahl vor Grundlegung der Welt getroffen wurde (Eph 1,4). Zweitens kann man hier »als Erstlingsfrüchte« lesen. Das weist darauf hin, dass die Thessalonicher, die ganz am Anfang des Gemeindezeitalters gerettet wurden, von Gott auserwählt waren, unter den Ersten einer großen Ernte erlöster Seelen zu sein. »Zur Errettung.« Hier haben wir einen Kontrast zu den vorhergehenden Versen. Ungläubige sind durch ihren Unglauben zur ewigen Verdammnis bestimmt, während Gläubige »zur Errettung« erwählt sind.
»In Heiligung des Geistes.« Hier haben wir das Werk des Heiligen Geistes vor der Bekehrung. Er sondert Einzelne für Gott von der Welt ab, überführt sie von der Sünde und weist sie auf Christus hin. Jemand hat einmal treffend gesagt: »Wenn Christus nicht wäre, gäbe es kein Festmahl; wenn der Geist nicht wäre, gäbe es keine Gäste.«
»Im Glauben an die Wahrheit.« Zuerst haben wir Gottes Anteil an der Erlösung gesehen, jetzt sehen wir den des Menschen. Beide sind notwendig. Einige Menschen können nur Gottes Erwählung sehen und meinen, dass der Mensch nichts dazutun könne. Andere betonen zu sehr den Anteil des Menschen und vernachlässigen Gottes souveränes Handeln. Die Wahrheit liegt in beiden Aspekten, die uns extrem erscheinen mögen. Erwählung und menschliche Verantwortlichkeit sind beides biblische Lehren. Es ist am besten, an beide zu glauben und beide zu lehren, auch wenn wir nicht verstehen, wie beides gleichzeitig wahr sein kann.
2,14 »Wozu er euch auch berufen hat durch unser Evangelium.« Gott hat uns von Ewigkeit her zur Errettung erwählt. Er berief uns in der Zeit. Das Wort »Berufung« bezieht sich auf den Augenblick, wenn ein Mensch der Wahrheit glaubt. »Unser Evangelium« heißt nicht, dass es noch andere echte Evangelien gäbe. Es gibt nur eine Heilsbotschaft, doch es gibt zahlreiche verschiedene Prediger dieses Evangeliums und viele verschiedene Zuhörerschaften. Paulus bezieht sich mit diesem Ausdruck auf das »Evangelium« Gottes, das von ihm gepredigt wurde. »Zur Erlangung der Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus.« Hier schaut der Apostel in die Zukunft und sieht das endgültige Ergebnis der Erlösung – für immer bei Christus und ihm gleich zu sein.
Wann soll es doch geschehen? Wann kommt die liebe Zeit, dass wir ihn werden sehen in seiner Herrlichkeit,
wenn wir ihm werden gleich, wenn wir vor Christus stehen, ihn preisen und ihn sehen dereinst in seinem Reich? Verfasser unbekannt
So haben wir in den Versen 13 und 14 »ein theologisches System en miniature«, eine wunderbare Zusammenfassung der weitreichenden Pläne, die Gott für sein gläubiges Volk hat. Er hat uns gezeigt, dass die Erlösung »in einer göttlichen Wahl ihre Ursache hat, durch die göttliche Kraft ausgeführt, durch eine göttliche Botschaft in Kraft gesetzt und in göttlicher Herrlichkeit vervollkommnet wird«.
B. Das Gebet des Paulus um Trost und Bewahrung der Heiligen (2,15-17)
2,15 Angesichts dieser wunderbaren Berufung werden die Heiligen ermahnt, »fest« zu stehen »und die Überlieferungen« festzuhalten, die sie »gelehrt worden« sind. Dies geschah entweder durch die Worte des Apostels oder durch seine Briefe. Wichtig ist hier anzumerken, dass die einzigen »Überlieferungen«, die verlässlich und vollmächtig sind, die inspirierten Äußerungen der Apostel umfassen. Jesus verurteilte die Schriftgelehrten und Pharisäer dafür, dass sie die Gebote Gottes durch ihre Traditionen zunichtemachten (Matth 15,6). Und Paulus warnte die Kolosser vor den menschlichen Traditionen (Kol 2,8). Die »Überlieferungen«, an die wir uns halten sollten, sind die großen Wahrheiten, die uns in der Heiligen Schrift gegeben sind.
Dieser Vers wird manchmal benutzt, um die Traditionen von Kirchen oder religiösen Führern zu rechtfertigen. Doch jede Tradition, die dem Wort Gottes entgegensteht, ist wertlos und gefährlich. Wenn rein menschliche Überlieferungen als der Bibel gleichbedeutend angenommen werden, fragt man sich: Wer entscheidet dann, welche Traditionen richtig und welche falsch sind?
2,16 Nachdem der Apostel seine Botschaft ausformuliert hat, fasst er sie noch einmal in ein Gebet. Sehr häufig lässt Paulus auf seine Lehre das Gebet folgen (1. Thess 5,23.24; 2. Thess 3,16). Das Gebet ist an »unseren Herrn Jesus Christus und Gott, unseren Vater«, gerichtet. Wir sind es gewöhnt, dass Paulus diese beiden Personen der Gottheit im selben Atemzug nennt. Doch ist es für ihn ungewöhnlich, dass er den Sohn zuerst nennt. Hier will er natürlich ihre wesensmäßige Einheit und vollständige Stellungsgleichheit betonen. Im Griechischen wird das Subjekt in der Mehrzahl (Christus und Gott) von vier Verbformen in der Einzahl begleitet (»geliebt hat, gegeben hat, tröste und befestige«). Was ist dies anderes als ein weiterer Hinweis auf die wesensmäßige Einheit von Sohn und Vater in der Gottheit? Gottes Fürsorge in der Vergangenheit wird als Ermutigung angeführt, auch in Zukunft von ihm Mut und Kraft zu erwarten. Er »hat uns geliebt und uns in seiner Gnade ewigen Trost und gute Hoffnung gegeben«. Zweifellos verweist das zurück auf den größten Liebesbeweis Gottes – auf die Gabe des Sohnes. Weil wir wissen, dass er auf Golgatha die Sündenfrage gelöst hat, haben wir nun ewigen »Trost« und die »Hoffnung« auf eine herrliche Zukunft. All das haben wir durch seine wunderbare »Gnade« erlangt.
2,17 Das Gebet selbst lautet, dass Gott ihre »Herzen … trösten« und sie »in jedem guten Werk und Wort … bef estigen« möge. Es geht nicht nur um Ermutigung inmitten von Leid, sondern auch um Kraft, im Kampf vorwärtszugehen. Das Wort »Rückzug« gab es im Vokabular des Apostels nicht, deshalb sollte es auch in unserem Wortschatz fehlen. Wir sollten den Ausdruck »jedes gute Werk und Wort« nicht vergessen. Wahrheit auf unseren Lippen reicht nicht, sie muss sich auch in unserem Leben auswirken. So sollte es in unserem Leben die Ordnung von Lehre und Tat, Lehre und Pflicht sowie Predigt und Praxis geben. V. Praktische Ermahnungen (3,1-15) A. Zum gegenseitigen Gebet (3,1-5)
3,1 Paulus wusste, dass er die Gebete der Heiligen brauchte. Dieses Kapitel beginnt damit, dass er darum bittet, in drei Bereichen für ihn einzustehen: 1. Für die Ausbreitung der Botschaft, 2. für den Sieg der Botschaft und 3. für die Bewahrung der Boten.
Er möchte, »dass das Wort des Herrn laufe« – ein Bild des Evangeliums, wie es trotz Hindernissen schnell von Ort zu Ort läuft (s. Ps 147,15).
Er möchte auch, dass das Wort anderenorts dieselben wunderbaren geistlichen und moralischen Umbrüche hervorbringt wie in Thessalonich.
3,2 Die dritte Bitte lautet, dass der Apostel und seine Mitarbeiter »von den schlechten und bösen Menschen err ettet werden« mögen. Er scheint sich auf einen bestimmten Widerstand zu beziehen, vielleicht vonseiten den Juden in Korinth (Apg 18,1-18). Die Wahl des Wortes »unverständig« (LU 1912) an dieser Stelle war angemessen, denn es gibt nichts Unvernünftigeres als den Widerstand der Menschen gegen das Evangelium und seine Boten. Es lässt sich letztendlich nicht logisch erklären. Menschen mögen über Politik, Wissenschaft oder eine Menge anderer Themen vernünftig sprechen können, doch wenn es um das Evangelium geht, dann verlieren sie alle Vernunft.
3,3 Lassen Sie sich die Schönheit des Kontrastes zwischen Vers 2 (»Denn die Treue ist nicht aller Teil«) und Vers 3 (»Treu ist aber der Herr«) nicht entg ehen. Das lehrt uns, von treulosen Menschen wegzuschauen und auf unseren Gott zu blicken, der uns nie im Stich lässt. Er ist »treu«, uns bis zum Ende zu festigen (1. Kor 1,8.9). Er ist treu, uns aus der Versuchung  zu  befreien  (1. Kor  10,13). Er ist treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller  Ungerechtigkeit  (1. Joh  1,9).  Und hier ist er »treu«, uns zu »befestigen und vor dem Bösen« (d. h. vor Satan) zu »bewahren«.
3,4 »Die Treue ist nicht aller Teil« (V. 2), »treu ist aber der Herr … wir haben aber im Herrn das Vertrauen« (die Zuversicht) »euch« gegenüber. Denney hat dazu angemerkt: »In dem Herrn kannst du dich auf diejenigen verlassen, die von Natur aus schwach, töricht, un beständig und eigensinnig sind.« Nun erinnert Paulus die Heiligen an ihre Verantwortung, das, was er befohlen hat, »auch« zu »tun«. Hier finden wir wieder, wie das Göttliche und das Menschliche auf wunderbare und eigenartige Weise zusammenkommen: Gott hält euch, nun haltet auch die Gebote. Es ist derselbe Gedanke wie  in  1. Petrus  1,5:  »In  der  Kraft  Gottes (Gottes Anteil) durch Glauben (unser Anteil) bewahrt.« Wir sehen dasselbe in Phi lipper 2,12.13: »Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern (unser Anteil) … denn Gott ist es, der in euch wirkt (Gottes Anteil).«
3,5 In Zeiten der Verfolgung kann es leicht geschehen, dass man bittere Gedanken in Bezug auf andere entwickelt, weil die Intensität und Dauer des Leidens zu groß wird. Aus diesem Grund betet der Apostel darum, dass die Thessalonicher so lieben können, wie Gott es tut, und so standhaft bleiben, wie Christus es war.
Die Übersetzung der Zürcher Bibel »zum geduldigen Harren auf Christus« wird in ER mit »auf das Ausharren des Christus« wiedergegeben. In der Version der Zürcher Übersetzung würde es bedeuten, dass man standhaft bleibt, während man auf die Wiederkunft Christi wartet. In ER ist gemeint, dass man dasselbe »Ausharren« oder die gleiche Geduld hat, die Christus als Mensch auf Erden erkennen ließ und die er als verherrlichter Mensch im Himmel noch immer unter Beweis stellt.13 Die Worte »der Herr« können sich in diesem Vers auf den Heiligen Geist beziehen. Damit sind wie in 2,13.14 alle drei Personen der Dreieinheit erwähnt. B. Zum Umgang mit den
Widerspenstigen (3,6-15)
3,6 Es scheint offensichtlich zu sein, dass einige der Heiligen in Thessalonich nicht mehr für ihren Lebensunterhalt arbeiteten, weil sie die Wiederkunft des Herrn recht bald erwarteten. Paulus unterstützt diese Haltung nicht, als wäre sie besonders geistlich. Vielmehr gibt er hier eindeutige Anweisungen für den Umgang mit solchen Brüdern.
Seine Anweisungen stehen in der Form eines Befehls: Die Gläubigen sollen sich »von jedem Bruder« zurückziehen, »der unordentlich … wandelt«. Damit ist jeder gemeint, der nicht wie die anderen lebt, sondern ein geregeltes Arbeitsleben ablehnt und andere ausnützt (vgl. V. 10.11). Gläubige sollten ihr Missfallen über einen solchen Bruder dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie mit ihm keinen Umgang mehr pflegen. Doch das entsprechende Vergehen wiegt nicht derart schwer, dass ein Ausschluss aus der Gemeinde gerechtfertigt ist. Die Überlieferung, die die Thessalonicher von Paulus »empfangen« hatten, beinhaltete das Vorbild eines Menschen, der in jeder Beziehung fleißig war, hart arbeitete und für den eigenen Unterhalt sorgte.
3,7 Paulus hat seine Zeltmacherei nicht einfach deshalb aufgegeben, weil er wusste, dass der Herr Jesus wiederkommen würde. Natürlich erwartete er, dass Christus jeden Augenblick wiederkommen würde, doch er diente und arbeitete in der Erkenntnis, dass der Herr vielleicht nicht zu seinen Lebzeiten kommen würde.
3,8 Niemand konnte ihn anklagen, dass er sich bei einem anderen einquartiert und hinsichtlich seiner lebensnotwendigen Dinge auf Kosten irgendeines anderen Menschen gelebt habe. Vielmehr verdiente er seinen eigenen Lebensunterhalt, während er das Evangelium predigte. Das bedeutete lange Tage und Nächte, doch Paulus war entschlossen, niemandem »beschwerlich zu fallen«.
3,9 Als Prediger des Evangeliums hatte der Apostel das Recht, sich von denen unterhalten zu lassen, die durch seinen Dienst bekehrt wurden (1. Kor 9,6-14; 1. Tim  5,18).  Doch  er  zog  es  vor,  sein Recht nicht wahrzunehmen, damit er ein »Beispiel« großzügiger Unabhängigkeit und unermüdlichen Eifers wäre.
3,10 Die Thessalonicher waren schon angewiesen worden, nicht diejenigen zu unterstützen, die sich vor der tagtäglichen Arbeit drückten. Wenn jemand, der dazu in der Lage war, nicht arbeiten wollte, dann sollte »er auch nicht essen«. Steht das im Gegensatz zu der Tatsache, dass Gläubige immer freundlich sein sollten? Überhaupt nicht. Man erweist niemandem Freundschaft, wenn man Faulheit unterstützt. Spurgeon sagt: »Die echteste Liebe gegenüber denen, die irren, ist nicht, sich mit ihnen in ihrem Irrtum zusammenzutun, sondern in allem Jesus treu zu bleiben.«
3,11 Nun benutzt der Apostel ein schönes Wortspiel14, um die Inkonsequenz der Pseudo-Geistlichkeit dieser unordentlichen Brüder herauszustellen. Im Deutschen kann man dieses Wortspiel leider nicht wiedergeben, daher wird der Text folgendermaßen übersetzt: »Denn wir hören, dass einige unter euch unordentlich wandeln, indem sie nicht arbeiten, sondern unnütze Dinge treiben.«
3,12 Allen »solchen« gilt das Gebot und die »im Herrn Jesus Christus« ausgesprochene Ermahnung, zu arbeiten, ohne es groß herauszustellen, und »ihr eigenes Brot« zu verdienen. Das ist ein gutes Zeugnis und verherrlicht Gott.
3,13 Diejenigen, die treu arbeiten, werden ermutigt, damit fortzufahren. Das Ende eines Laufes zählt, nicht der Anfang. Deshalb sollten sie »nicht ermatten«, das Richtige zu tun.
3,14 Doch was sollte mit jemandem geschehen, der sich weigert, den Anweisungen des Apostels zu »gehorchen«? Die anderen Christen sollten ihn zurechtweisen, indem sie sich weigerten, mit ihm Umgang zu haben. Der Zweck dieser Strafe ist es, ihn wegen seines Verhaltens zu beschämen und ihn nachdrücklich zu veranlassen, sein Verhalten zu korrigieren.
3,15 Doch diese Strafe ist nicht so weitreichend wie ein Ausschluss. In diesem Fall wird der Sünder immer noch »als ein Bruder« angesehen. Wenn jemand ausgeschlossen wird, dann ist er wie ein »Heide und Zöllner« zu behandeln (Matth 18,17). Die Bestrafung eines Gläubigen erfolgt immer mit dem Ziel, ihn zum Herrn und zum Volk Gottes zurückzubringen. Sie sollte nie in Bitterkeit oder Feindschaft durchgeführt werden, sondern in rechter christlicher Gesinnung und Bestimmtheit. Derjenige, der einen Fehler gemacht hat, sollte »nicht als ein Feind, … sondern … als ein Bruder« behandelt werden. Es mag uns heute seltsam erscheinen, dass die Christen in Thessalonich den Herrn so sicher erwarteten, dass sie ihre täglichen Pflichten aufgaben. Das scheint für unsere heutige Gemeinde keine Gefahr zu sein. Wir sind in das andere Extrem verfallen. Wir sind so beschäftigt mit Arbeit und Geldverdienen, dass wir die Frische und freudige Erregung in Verbindung mit der Hoffnung auf sein baldiges Kommen verloren haben.
VI. Segen und Gruß (3,16-18)
3,16 Dieser Vers ist auch »friedevoller Schluss eines stürmischen Briefes« genannt worden. In ihm bittet Paulus darum, dass die leidenden Heiligen in Thessalonich den »Frieden« des Herrn »des Friedens« jederzeit und »auf alle Weise« erfahren mögen.
Bezüglich seiner Gelassenheit ist der Christ von nichts in dieser Welt abhängig. Sie beruht völlig auf der Person und dem Werk des Herrn Jesus. Die Welt kann diese Gelassenheit weder geben noch nehmen. Doch wir müssen sie in allen Lebensumständen in Anspruch nehmen. »Friede heißt nicht, dass die Verfolgung aufhört. Vielmehr umfasst er die Ruhe des Herzens, die aus dem Glauben an Gott entsteht und von den Umständen unabhängig ist.«
3,17.18 An diesem Punkt hat »Paulus« offensichtlich selbst die Feder in die Hand genommen und den »Gruß« eigenhändig geschrieben. Er spricht davon, dass sein Gruß »ein Zeichen in jedem Brief« sei, den er schreibe. Einige haben darunter verstanden, dass dies bedeutet, dass die eigene Handschrift des Paulus am Ende dieses Briefes bewies, dass er wirklich von ihm stammte. Andere glauben, dass das »Zeichen« die charakteristische paulinische Segensformel ist: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen« (Röm 16,24; 1. Kor 16,23; 2. Kor 13,14; Gal 6,18; Eph 6,24; Phil 4,23; Kol 4,18; 1. Thess  5,28;  1. Tim  6,21;  2. Tim  4,22; Tit 3,15; Philem 25; und Hebr 13,25 [falls Paulus den Hebräerbrief selbst geschrieben haben sollte]). Anhand dieser Verweisstellen erkennen wir, dass seine Briefe immer mit einem Hinweis auf die »Gnade« enden.
1,1 »Paulus« stellt sich zunächst selbst als »Apostel Christi Jesu« vor. Ein »Apostel« ist ein »Gesandter«; deshalb sagt hier Paulus einfach aus, dass er von Gott zur missionarischen Arbeit bestimmt wurde. Die Autorität des Paulus gründete sich auf den »Befehl Gottes, unseres Heilandes, und Christi Jesu, unserer Hoffnung«. Das betont, dass Paulus diesen Dienst nicht selbst erwählt hatte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; auch war er nicht von Menschen in seine Aufgabe eingesetzt worden. Er hatte einen Ruf von Gott, zu predigen, zu lehren und zu leiden. In diesem Vers wird »Gott« der Vater »unser Heiland« genannt. Normalerweise wird im NT der Herr Jesus unser Heiland genannt. Doch das ist kein Gegensatz. Gott ist der »Heiland« der Menschen in dem Sinne, dass sein Wille in ihrer Errettung besteht. Dazu hat er seinen Sohn gesandt, der das Werk der Erlösung vollbracht hat. Nun gibt Gott allen, die den Herrn Jesus im Glauben annehmen, ewiges Leben. Christus ist der Heiland in dem Sinne, dass er selbst ans Kreuz ging und das Werk vollendete, das notwendig war, damit Gott in seiner Gerechtigkeit gottlose Sünder retten kann.
Vom Herrn Jesus Christus wird hier als »unserer Hoffnung« gesprochen. Daserinnert uns an Kolosser 1,27: »Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.« Unsere einzige Hoffnung, in den Himmel zu gelangen, findet sich in der Person und dem Werk des Herrn Jesus. In der Tat, all die wunderbaren Aussichten, die uns in der Bibel verheißen werden, gehören nur deshalb uns, weil wir mit Christus Jesus verbunden sind.
Man beachte weiter Epheser 2,14 (wo Christus unser Friede genannt wird) und Kolosser 3,4 (wo er unser Leben ist). Christus ist unser Friede, denn er hat unser Sündenproblem in der Vergangenheit gelöst; Christus ist unser Leben, denn er hat das Problem der Kraft für die Gegenwart gelöst; und Christus ist unsere Hoffnung, denn er hat das Problem unserer Erlösung in der Zukunft gelöst.
1,2 Der Brief ist an »Timotheus« gerichtet, der als echtes »Kind im Glauben« beschrieben wird (»im« Bereich des »Glaubens«). Dies könnte heißen, dass Tim otheus durch den Apostel gerettet wurde, vielleicht während des ersten Besuches des Paulus in Lystra (Apg 14,6-20). Doch der allgemeine Eindruck in der Apostelgeschichte ist eher, dass Timotheus schon ein Jünger war, als Paulus ihm erstmalig begegnete (Apg 16,1.2). In diesem Fall bedeutet der Ausdruck »echtes Kind im Glauben«, dass Timotheus dieselben geistlichen und ethischen Eigenschaften wie Paulus hatte, er war ein echter Nachkomme des Apostels, weil er dieselbe Wesensart hatte. Stock sagt: »Glücklich ist der junge christliche Mitarbeiter, der einen solchen Leiter hat, und glücklich ist der christliche Leiter, der seinen ›Köcher voller‹ solcher ›echter‹ Kinder hat.«
Der übliche Gruß in den Briefen des NT lautet »Gnade und Friede«. In 1. und 2. Timotheus, Titus und 2. Johannes wird dieser Gruß ausgedehnt, indem von »Gnade, Barmherzigkeit und Friede« gesprochen wird. All diese Briefe wurden an Einzelpersonen geschrieben und nicht an Gemeinden, und das erklärt die Hinzufügung des Wortes »Barmherzigkeit«. »Gnade« bedeutet alle göttliche Kraft, die wir für unser christliches Leben und unseren Dienst brauchen. »Barmherzigkeit« spricht von Gottes liebevoller Fürsorge und seinem Schutz für diejenigen, die in Not sind und straucheln. »Friede« bedeutet die innere Ruhe, die daraus entspringt, sich auf den Herrn zu verlassen. Diese drei Segnungen kommen »von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Herrn«. Die Gottheit Christi ist in diesem Vers vorausgesetzt, weil Paulus ihn hier in der Stellungsgleichheit mit dem Vater sieht. Der Ausdruck »Jesus Christus, unser Herr«, betont die Herrscherstellung Christi. Während das Wort »Heiland« 24-mal im NT vorkommt, erscheint das Wort »Herr« 522-mal. Wir sollten in der Lage sein, diese wichtigen statistischen Daten auf unser Leben zu übertragen.
II. Der Auftrag des Paulus an Timotheus (1,3-20)
A. Auftrag, die Irrlehrer zum Schweigen zu bringen (1,3-11)
1,3 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Paulus nach seiner ersten Gefangenschaft in Rom zusammen mit Timotheus Ephesus besuchte. Als Paulus nach Mazedonien weiterreiste, befahl er Timotheus, eine Weile in Ephesus zu bleiben, um das Wort Gottes zu lehren und die Gläubigen vor Irrlehrern zu warnen. Von Mazedonien aus ist Paulus offensichtlich südwärts nach Korinth gereist, und er hat vielleicht aus dieser Stadt seinen ersten Brief an Timotheus geschrieben. In Vers 3 sagt der Apostel Paulus im Grunde: »So wie ich dich vorher bat, in Ephesus zu bleiben, als ich nach Mazedonien reiste, so wiederhole ich diese Anweisung jetzt.« Dieser Vers ist nicht so zu verstehen, dass Timotheus der ordinierte Pastor der Gemeinde in Ephesus gewesen wäre. Dieser Gedanke findet sich in dem Abschnitt nicht. Er war dort eher auf einer zeitweiligen Mission, bei der er bestimmte Männer in der Gemeinde ermahnen sollte, keine Dogmen zu »lehren«, die dem christlichen Glauben entweder entgegenstehen oder aber sogenannte Ergänzungen sind. Die wichtigsten Irrlehren, die hier infrage kommen, hatten mit Gesetzlichkeit und Gnostizismus zu tun. Vielleicht war Timotheus versucht, diesen Problemen auszuweichen, doch Paulus fordert ihn auf, seine Aufgabe durchzuführen.
1,4 Timotheus wurde auch ermahnt, diese Menschen aufzufordern, nicht auf »Fabeln und endlose Geschlechtsregister« zu achten. Wir können nicht genau wissen, worum es bei diesen »Fabeln und Geschlechtsregistern« ging. Einige Ausleger bringen sie mit Legenden in Zusammenhang, die sich durch einige jüdische Lehrer ergeben hatten. Andere denken an die Mythen und Geschlechtsregister der Gnostiker. Es ist interessant zu bemerken, dass heutige Sekten sich ebenfalls durch solche Dinge auszeichnen. Viele fantasiereiche Geschichten ranken sich um die Gründer von Irrlehren, und Geschlechtsregister spielen bei den Mormonen eine wichtige Rolle.
Solche wertlosen Themen dienen nur dazu, Fragen und Zweifel bei den Leuten hervorzurufen. Sie fördern nicht »die Verwaltung Gottes, die im Glauben ist«. Der ganze Heilsplan ist von Gott erdacht worden, und zwar nicht, um Zweifel und »Streitfragen« zu nähren, sondern um »Glauben« in den Herzen der Menschen hervorzubringen. Die Menschen in der Gemeinde von Ephesus sollten ihre Aufmerksamkeit nicht solch wertlosen Themen wie »Fabeln und Geschlechtsregistern«, sondern vielmehr den großen Wahrheiten des christlichen Glaubens widmen, die sich als Segen für die Menschen erweisen und in ihnen »Glauben« statt Zweifel wecken.
1,5 Es ist vielleicht am wichtigsten zu verstehen, dass »Weisung« in diesem Vers sich nicht auf das Gesetz des Mose oder die Zehn Gebote bezieht, sondern auf die Anweisung der Verse 3 und 4. Das wird von der unrevidierten Elberfelder Übersetzung gut wiedergegeben: »Das Endziel des Gebotes aber ist Liebe …« Paulus sagt hier, worin das Ziel der Anweisungen nicht besteht, die er Timotheus gerade gegeben hat. Es besteht nicht darin, eine starre Rechtgläubigkeit hervorzubringen, sondern in »Liebe aus reinem Herzen«, in einem »guten Gewissen« und einem »ungeheucheltem Glauben«. Das sind immer die Folgen, wenn das Evangelium der Gnade Gottes gepredigt wird. »Liebe« umfasst zweifellos die Liebe zu Gott, den Mitgläubigen und zu verlorenen Sündern im Allgemeinen. Sie muss einem »reinen Herzen« entspringen. Wenn das Innenleben eines Menschen unrein ist, dann kann sich daraus kaum wahre christliche Liebe ergeben. Diese Liebe muss mit einem »guten Gewissen« einhergehen, d. h. mit einem Gewissen, das vor Gott und Menschen ohne Anstoß ist. Schließlich muss diese Liebe zu »ungeheucheltem Glauben« führen, d. h.  zu  einem  Glauben,  der  sich  keine Maske aufsetzt.
Irrlehren konnten niemals die hier von Paulus aufgezählten Sachverhalte erreichen. Sicher wartet man auch bei der Beschäftigung mit Fabeln und endlosen Geschlechtsregistern vergeblich auf diese Ergebnisse! Es ist die Lehre von der Gnade Gottes, die ein reines Herz, ein gutes Gewissen sowie einen ungeheuchelten Glauben hervorbringt und schließlich zur »Liebe« führt.
Vers 5 gibt uns einen Maßstab an die Hand, um echte Lehre zu erkennen: Erreicht die Lehre die hier genannten Ziele?
1,6 Es gab einige, die von diesen Dingen »abgeirrt« sind, d. h. von einem reinen Herzen, einem guten Gewissen und einem ungeheuchelten Glauben. Der Ausdruck »zugewandt« kann einmal bedeuten, dass sie falsch gezielt haben, oder aber, dass sie ihr Ziel verfehlt haben. Der erstgenannte Sachverhalt umfasst hier zweifellos die richtige Bedeutung. Es ging nicht um die Frage, ob diese Männer vielleicht versucht hätten, diese Dinge zu erreichen; sie hatten sie noch nicht einmal anvisiert. Als Folge davon »haben« sie »sich leerem Geschwätz zugewandt«. Ihre Predigt hatte kein Ziel, sie führte nirgendwohin und konnte die Menschen nicht heiligen.
Paulus benutzt in diesem Brief oft das Wort »einige«. Zu der Zeit, als er den 1. Timotheusbrief schrieb, bildeten diese Irrlehrer eine Minderheit in der Gemeinde. Wenn wir zum 2. Timotheusbrief kommen, werden wir sehen, dass das Wort »einige« nicht länger hervorsticht. Die Machtverhältnisse hatten sich geändert. Die Abweichung hatte sich weiter ausg ebreitet. Die Minderheit war offensichtlich zur Mehrheit geworden.
1,7 Die Irrlehrer, die in den vorhergehenden Versen genannt wurden, waren jüdische Gesetzeslehrer, die versuchten, Judentum mit Christentum und Gesetz mit Gnade zu vermischen. Sie waren der Ansicht, dass Glaube an Christus für die Erlösung nicht ausreichte. Sie bestanden darauf, dass man beschnitten sein und das Gesetz des Mose halten müsse. Sie lehrten, dass das Gesetz die Lebensregel der Gläubigen sei.
Diese Irrlehre hat es in jedem Jahrhundert der Kirchengeschichte gegeben, und es ist immer noch die Pest, die am erfolgreichsten unser heutiges Christentum ins Verderben reißen will. In ihrer modernen Form behauptet sie, dass zwar der Glaube an Christus für die Erlösung notwendig sei, dass man jedoch zusätzlich noch getauft sein oder der Kirche angehören müsse. Man müsse das Gesetz halten, zur Beichte gehen, den Zehnten geben oder irgendeine andere Art »guter Werke« tun. Diejenigen, die diese heutige Gesetzlichkeit lehren, erkennen nicht, dass wir die Erlösung durch den Glauben an Christus ohne Gesetzeswerke erhalten. Sie erkennen nicht, dass gute Werke die Folge der Erlösung und nicht ihre Ursache sind. Man wird kein Christ, wenn man diese guten Taten tut, sondern man tut sie, weil man Christ ist. Sie sehen nicht ein, dass Christus und nicht das Gesetz die Lebensregel des Christen ist. Sie verstehen nicht, dass ein Mensch sich nicht unter das Gesetz stellen kann, ohne seinem Fluch zu verfallen. Das Gesetz verurteilt alle zum Tode, die seine heiligen Vorschriften verletzen. Weil kein Mensch das Gesetz vollständig halten kann, sind alle zum Tode verurteilt. Doch Christus hat die Gläubigen von dem Fluch des Gesetzes erlöst, weil er für uns zum Fluch gemacht wurde. Der Apostel sagt von diesen selbst ernannten »Gesetzeslehrern«, dass sie nicht verstanden, »was sie« sagten, noch worüber sie so selbstsicher Aussagen machten. Sie konnten nicht wirklich als Verständige über das Gesetz sprechen. Sie begriffen nämlich weder den Zweck, wozu das Gesetz gegeben wurde, noch verstanden sie das Verhältnis des Gläubigen zum Gesetz.
1,8 Paulus stellt klar heraus, dass am Gesetz als solchem nichts auszusetzen ist. »So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut« (Röm 7,12). Doch das Gesetz muss »gesetzmäßig gebraucht« werden. Es wurde nie als Mittel zur Erlösung gegeben (Apg 13,39; Röm 3,20; Gal 2,16. 21; 3,11). Der bestimmungsgemäße (vgl. Zürcher) Gebrauch des Gesetzes besteht darin, es in Lehre und Predigt so zu verwenden, dass es von der Sünde überführt. Es sollte nicht als Mittel zur Erlösung oder Lebensregel dargestellt werden. Guy King hat herausgestellt, dass uns das Gesetz drei Lektionen lehrt: »Wir sollten. Wir haben nicht. Wir können nicht.« Wenn das Gesetz seine Aufgabe im Leben eines Sünders getan hat, dann ist dieser Mensch bereit, zu Gott zu rufen: »Herr, erlöse mich durch deine Gnade!«2 Diejenigen, die lehren, dass das Gesetz zur Erlösung oder Heiligung notwendig sei, sind inkonsequent. Sie sagen, dass ein Christ, wenn er das Gesetz bricht, der Todesstrafe entgehen kann. Damit untermauern sie aber nicht die Autorität des Gesetzes. Gesetz ohne Strafe ist nicht mehr als ein guter Rat.
1,9 »… indem er dies weiß, dass für einen Gerechten das Gesetz nicht bestimmt ist.« Wenn ein Mensch gerecht ist, dann braucht er kein Gesetz. Das gilt für den Christen. Wenn er durch die Gnade Gottes erlöst ist, dann braucht er nicht mehr unter den Zehn Geboten zu stehen, um ein geheiligtes Leben zu führen. Es ist nicht die Furcht vor Strafe, die einen Christen gottesfürchtig leben lässt, sondern die Liebe zum Heiland, der auf Golgatha starb.
Der Apostel beschreibt nun weiter jene Art von Menschen, für die das Gesetz gegeben wurde. Viele Ausleger haben darauf hingewiesen, dass eine enge Beziehung zwischen dieser Beschreibung und den Zehn Geboten besteht. Die Zehn Gebote bestehen aus zwei Abschnitten: Die ersten vier beschreiben die Pflicht des Menschen vor Gott (Gottesfurcht), während die restlichen sechs mit seinen Pflichten gegenüber seinem Nächsten zu tun haben (Gerechtigkeit). Die folgenden Worte entsprechen dem ersten Teil der Zehn Gebote: »Für Gesetzlose und Widerspenstige, für Gottlose und Sünder, für Heillose und Unheilige …« Der Ausdruck »Mörder« gehört zum sechsten Gebot: »Du sollst nicht töten.« Hier bezieht sich »Mörder« auf Menschen, die absichtlich jemanden umbringen, nicht auf solche, die jemanden unabsichtlich töten.
1,10 Die Worte »Unzüchtige« und »Knabenschänder« beschreiben Heteround auch Homosexuelle, die ungesetzlichen sexuellen Kontakt haben. Sie stehen hier im Zusammenhang mit dem siebten Gebot: »Du sollst nicht eheb rechen.« Das Wort »Menschenräuber« bezieht sich zweifellos auf das achte Gebot: »Du sollst nicht stehlen.« »Lügner« und »Meineidige« verstoßen gegen das neunte Gebot: »Du sollst gegen deinen Nächsten nicht als falscher Zeuge auss agen.« Die abschließenden Worte »und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegensteht« sind nicht direkt mit dem zehnten Gebot verbunden, sondern wollen auf alle Gebote hinweisen und sie zusammenfassen.
1,11 Es ist schwer zu entscheiden, wie dieser Vers mit dem Vorhergehenden verbunden ist. Damit kann gemeint sein, dass die in Vers 10 erwähnte gesunde Lehre »nach dem Evangelium« ist. Mit diesem Übergang kann aber auch angedeutet sein, dass alles, was Paulus in den Versen 8-10 über das Gesetz gesagt hat, in vollkommener Übereinstimmung mit »dem Evangelium« steht, das er gepredigt hat. Oder damit kann gemeint sein, dass alles, was Paulus in den Versen 3-10 über die Irrlehrer gesagt hat, mit »dem Evangelium« übereinstimmt. Während es stimmt, dass das Evangelium herrlich ist, könnte hier der Schwerpunkt auf der Tatsache liegen, dass das »Evangelium« von »der Herrlichkeit« kündet (hier hat ER die wörtlichste Übersetzung). Es sagt uns, wie derselbe Gott, der heilig und gerecht ist, gleichzeitig ein Gott der Gnade, Barmherzigkeit und Liebe sein kann. Seine Liebe hat uns das geschenkt, was seine Heiligkeit verlangen musste. Nun erhalten alle, die den Herrn Jesus annehmen, das ewige Leben.
Das ist das »Evangelium …, das« dem Apostel »anvertraut worden ist«. Es dreht sich um den verherrlichten Herrn Jesus Christus und sagt dem Menschen, dass er nicht nur der Heiland, sondern auch der Herr ist.
B. Dank für die wahre Gnade Gottes (1,12-17)
1,12 Im vorhergehenden Abschnitt hat Paulus die Irrlehrer beschrieben, die versuchten, den Gläubigen in Ephesus das Gesetz wiederaufzuzwingen. Er erinnert sich nun an seine eigene Bekehrung. Sie geschah nicht durch das Halten des Gesetzes, sondern durch die Gnade Gottes. Der Apostel war kein Gerechter, sondern der größte aller Sünder gewesen. Die Verse 12-17 zeigen den gesetzmäßigen Gebrauch des Gesetzes im Leben des Paulus. Das Gesetz wurde ihm nicht als Heilsweg gegeben, sondern als ein Mittel, ihn von seiner Sünde zu überzeugen. Zuerst dankt er »Christus Jesus« für seine Gnade, die ihn zu seinem Dienst befähigt. Die Betonung liegt nicht auf dem, was Saulus von Tarsus für den Herrn getan hat, sondern darauf, was der Herr für ihn vollbracht hat. Der Apostel wunderte sich immer wieder darüber, dass der Herr Jesus ihn nicht nur gerettet hatte, sondern ihn als »treu erachtet« und in seinen Dienst berufen hatte. Das Gesetz hätte ihm niemals solche Gnade erweisen können. Seine starren Bedingungen hätten stattdessen den Sünder Saulus zum Tode verurteilen müssen.
1,13 Dass Paulus die Zehn Gebote vor seiner Bekehrung gebrochen hat, wird aus diesem Vers deutlich. Er spricht von sich als einem ehemaligen »Lästerer und Verfolger und Gewalttäter«. Als »Lästerer« redete er schlecht über die Christen und über Jesus, ihren Herrn und Meister. Als »Verfolger« versuchte er, Christen zu töten, weil er der Ansicht war, dass diese neue Sekte eine Gefahr für das Judentum sei. Als er seine unheilvollen Pläne ausführte, freute er sich an Gewalttaten gegen die Gläubigen. Obwohl es aus den deutschen Worten nicht so deutlich hervorgeht, steigern sich die beschriebenen Sünden in den drei Worten »Lästerer, Verfolger, Gewalttäter«. Die erste Sünde ist allein eine Wortsünde. Die zweite beschreibt, dass er anderen um ihres Glaubens willen Leiden zufügte. Die dritte umfasst dagegen die Vorstellung von Grausamkeit und Misshandlung. »Aber« Paulus empfing Barmherzigkeit. Er erhielt nicht die Strafe, die er verdient hatte, »weil« er »unwissend im Unglauben« gehandelt hatte. Als er die Christen verfolgte, dachte er, er tue Gott einen Gefallen. Weil die Religion seiner Väter ihn die Verehrung des wahren Gottes gelehrt hatte, konnte er nur daraus schließen, dass der christliche Glaube dem alttestamentlichen Glauben an Jahwe entgegengesetzt war. Mit allem Eifer und aller Kraft, derer er fähig war, versuchte er, die Ehre Gottes zu verteidigen, indem er die Christen umbrachte. Viele lehren, dass Eifer, Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit vor Gott das Wichtigste sind. Doch das Beispiel des Paulus zeigt, dass Eifer allein nicht ausreicht. Denn wenn ein Mensch falsch handelt, dann verstärkt sein Eifer den Irrtum nur. Je eifriger er ist, desto mehr Unheil richtet er an!
1,14 Paulus entging nicht nur der Strafe, die er eigentlich verdient hätte (ein Ausdruck der Barmherzigkeit), sondern er empfing auch noch »überströmende« Freundlichkeit, die er nicht verdient hatte (ein Ausdruck der »Gnade«). Wo seine Sünde überströmend wurde, wurde Gottes Gnade noch viel überschwänglicher (vgl. Röm 5,20; Elb).
Die Tatsache, dass die »Gnade« des Herrn an Paulus nicht verschwendet war, wird durch die Worte »mit Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind«, angezeigt. Die Gnade, die Paulus empfing, wurde von »Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind«, begleitet. Diese Aussage könnte natürlich bedeuten, dass der Glaube und die Liebe ebenso wie die Gnade vom Herrn kamen. Doch die Bedeutung scheint uns klarer, wenn wir diese Aussage so verstehen, dass Gottes Gnade von Paulus nicht zurückgewiesen wurde. Vielmehr reagierte er darauf, indem er dem Herrn Jesus vertraute und den Gesegneten, den er vorher gehasst hatte, nun liebte.
1,15 Dies ist das erste der »gewissen Worte« in den Pastoralbriefen. »Das Wort ist gewiss«, weil es das Wort Gottes ist, der weder lügen noch sich irren kann. Die Menschen können dieser Aussage völlig vertrauen. Es wäre sogar äußerst töricht und unvernünftig, ihr nicht zu glauben. Die Aussage ist »aller Annahme wert«, weil sie sich auf alle anwenden lässt. Sie beschreibt, was Gott für alle Menschen getan hat und wie er die Gabe der Erlösung auf alle ausdehnt.
Der Ausdruck »Christus Jesus« betont die Gottheit unseres Herrn. Der vom Himmel auf die Erde kam, war zunächst einmal Gott (»Christus«) und dann erst Mensch (»Jesus«). Die Präexistenz des Heilandes findet sich in den Worten »in die Welt gekommen«. Seine Existenz begann nicht erst in Bethlehem. Er hatte von aller Ewigkeit her beim Vater gewohnt, doch er kam als Mensch in die Welt, um eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Die bei uns gebräuchliche Zeitrechnung bezeugt, dass er kam, denn wir sprechen vom Jahr 20... n. Chr., oder dem Jahr des Herrn 20... Warum kam er? Um »Sünder zu erretten«. Er kam nicht, um gute Menschen zu erretten. (Es gab und gibt schließlich keine!) Auch wollte er nicht diejenigen retten, die das Gesetz vollkommen gehalten hatten (denn auch das hatte niemand geschafft).
Hier kommen wir zum Hauptunterschied zwischen dem wahren Christentum und den Religionen dieser Welt. Falsche Religionen sagen dem Menschen, dass er etwas tun kann, um das Wohlwollen Gottes zu erlangen. Das Evangelium sagt dem Menschen, dass er ein Sünder ist. Er ist verloren und kann sich selbst nicht retten. Er kann nur dann in den Himmel kommen, wenn er das stellvertretende Werk des Herrn Jesus am Kreuz für sich in Anspruch nimmt. Die Art der Lehre, die Paulus in den vorhergehenden Versen dieses Kapitels beschrieben hat, gibt dem Fleisch eine Aufgabe. Sie sagt dem Menschen, was er hören möchte, indem sie nämlich behauptet, dass er auf bestimmte Weise etwas zu seiner Erlösung beitragen kann. Doch das Evangelium sagt, dass alle Herrlichkeit für das Werk der Erlösung nur Christus zukommt und der Mensch ausschließlich durch Sünde geprägt ist, während der Herr Jesus allein die gesamte Rettung vollbringt. Der Geist Gottes brachte Paulus so weit, dass er erkannte, dass er der »erste« Sünder war. Manche übersetzen hier folgendermaßen: der »schlimmste« der Sünder (GN). Wenn er nicht der schlimmste Sünder war, dann gehörte er sicher zu den schlimmsten. Man beachte, dass der Titel »erster Sünder« nicht einem Menschen verliehen wird, der dem Götzendienst oder der Unzucht ergeben war, sondern einem tief religiösen Menschen. Es war ein Mensch, der in einer jüdisch-orthodoxen Familie aufgewachsen war! Seine Sünde bezog sich auf die Lehre, er nahm das Wort Gottes über die Person und das Werk des Herrn Jesus Christus nicht an. Die Verwerfung des Sohnes Gottes ist die schlimmste aller Sünden.
Auch sollte man beachten, dass er sagt »… von welchen ich der erste bin«. Er sagt nicht: »… von welchen ich der erste war«. Die gottesfürchtigsten Heiligen erw eisen sich oft als diejenigen, die sich ihrer eigenen Sündhaftigkeit am meisten bewusst sind.
In 1. Korinther 15,9 (geschrieben etwa im Jahr 57) bezeichnete sich Paulus selbst als »den geringsten unter den Aposteln«. In Epheser 3,8 (geschrieben etwa im Jahr 60), nennt er sich dann selbst »den allergeringsten von allen Heiligen«. Und nun folgt einige Jahre später 1. Timotheus 1,15: Hier gebraucht er die Selbstbezeichnung »erster Sünder«. Angesichts dessen haben wir ein Beispiel dafür, wie Paulus in der Demut voranschritt. Die Übersetzung »erster Sünder« drückt nicht so sehr den Gedanken aus, dass er der schlimmste aller Sünder gewesen wäre, die je gelebt haben. Vielmehr meint er, dass er der erste Sünder in Beziehung zum Volk Israel war. Mit anderen Worten, seine Bekehrung umfasste eine einzigartige Vorschattung der zukünftigen Hinwendung des Volkes Israel zu Christus. Er war eine »unzeitige Geburt« (1. Kor 15,8) in dem Sinne, dass er vor der geistlichen Erneuerung seines Volkes Israels wiedergeboren wurde. So wie er durch eine direkte Offenbarung vom Himmel und ohne menschliche Hilfe gerettet wurde, so wird der jüdische Überrest vielleicht auf dieselbe Weise während der zukünftigen »Großen Trübsal« errettet. Diese Auslegung wird scheinbar durch die Worte »erster« und »Vorbild« in Vers 16 nahegelegt.
1,16 Das Vorhergehende erklärt, war um Paulus Barmherzigkeit widerfuhr. Er sollte zu einem Beispiel für die »Langmut … Jesu Christi« werden. So wie er der »erste Sünder« gewesen ist, so sollte er nun der Erste sein, der die unermüdliche Gnade des Herrn beweist. Wie William Kelly sagte, sollte er ein lebendiges Beispiel »für die göttliche Liebe« werden, »die sich über die größte Feindseligkeit erhebt, und für die göttliche Langmut, die den schlimmsten und hartnäckigsten Widerstand erlahmen lässt«.3 Der Fall des Paulus sollte ein »Vorbild« werden. Die Bekehrung des Paulus sollte ein »Vorbild« für dasjenige sein, was Gott mit dem Volk Israel tun würde, wenn »aus Zion der Erretter« kommt (Röm 11,26).
In einem allgemeineren Sinne bedeutet dieser Vers, dass niemand verzweifeln muss, ganz gleich, wie verdorben er sein mag. Alle Menschen dürfen Zuspruch darin finden, dass auch ihnen Gnade und Barmherzigkeit zugeeignet werden kann, indem sie als bußfertige Sünder zu Gott kommen, weil er ja schon den ersten Sünder erlöst hat. Indem sie an ihn glauben, können auch sie »ewiges Leben« finden.
1,17 Als Paulus an Gottes herrliches Gnadenhandeln mit ihm denkt, bricht er in diesen wunderbaren Lobpreis aus. Es ist schwer zu erkennen, ob er sich an Gott den Vater oder an den Herrn Jesus richtet. Die Worte »König der Zeitalter« scheinen sich auf den Herrn Jesus zu beziehen, weil er »König der Könige und Herr der Herren« (Offb 19,16) genannt wird. Dennoch scheint das Wort »unsichtbar« sich eher auf den Vater zu beziehen, weil der Herr Jesus ganz offensichtlich für menschliche Augen sichtbar war. Die Tatsache, dass wir nicht entscheiden können, welche Person der Gottheit gemeint ist, könnte als Hinweis auf ihre absolute Stellungsgleichheit gewertet werden. Der »König der Zeitalter« wird in erster Linie »unverweslich« genannt. Das bedeutet, dass er nie vergeht. Gott ist von seinem Wesen her auch noch »unsichtbar«. Menschen haben im AT Erscheinungen Gottes gesehen, und der Herr Jesus offenbarte uns Gott völlig in sichtbarer Form, doch die Tatsache bleibt bestehen, dass Gott selbst für menschliche Augen unsichtbar ist. Als Nächstes wird Gott der  »allein  Weise«  genannt  (LU 1912). Letzten Endes kommt alle Weisheit von Gott (Jak 1,5).
C. Wiederholung des Auftrages an Timotheus (1,18-20)
1,18 Das »Gebot«, das hier erwähnt wird, ist zweifellos das Gebot, das Paulus dem Timotheus in den Versen 3 und 5 gegeben hatte. Ihm zufolge sollten die Irrlehrer zurechtgewiesen werden. Um sein »Kind Timotheus« zu ermutigen, diesen wichtigen Auftrag durchzuführen, erinnert ihn der Apostel an die Umstände, die zu seiner Berufung in den christlichen Dienst geführt haben.
»Nach den vorangegangenen Weissagungen über dich« hat wohl mit der Zeit zu tun, bevor Paulus Timotheus begegnet war. Damals war vermutlich ein Prophet in der Gemeinde aufgestanden und hatte angekündigt, dass Timotheus vom Herrn in seinem Dienst gebraucht werden würde. Ein Prophet war ein Mensch, der im Namen Gottes sprach, Offenb arungen des Willens Gottes bezüglich besonderer Handlungsweisen empfing und diese Offenbarungen an die Gemeinde weitergab. Der junge Timotheus wurde durch Prophetien ausgesondert, wobei seine künftige Aufgabe als Diener Jesu Christi auf diese Weise bekannt gemacht wurde. Wenn er je versucht sein sollte, im Werk des Herrn entmutigt zu sein, dann sollte er sich dieser »Weissagungen« erinnern und so angeregt werden, »den guten Kampf« zu kämpfen.
1,19 In seinem Kampf sollte er »den Glauben … und ein gutes Gewissen« bewahren. Es ist nicht genug, lehrmäßig richtige Auffassungen hinsichtlich des christlichen Glaubens zu vertreten. Man kann stets rechtgläubig bis zum Übermaß sein und trotzdem kein »gutes Gewissen« haben.
Hamilton Smith schreibt: Für die besonders Begabten und die häufig in der Öffentlichkeit Stehenden folgt hier eine ganz spezielle Ermahnung: Sie müssen achtgeben, dass sie angesichts des ständigen Beschäftigtseins, der Verkündigung und des öffentlichen Dienstes vor Menschen das verborgene Leben der Gottseligkeit vor Gott nicht vernachlässigen. Warnt uns die Schrift nicht davor, dass es möglich ist, mit Menschen- und mit Engelszungen zu predigen und doch nichts zu sein? Was Frucht für Gott trägt und eines Tages einen großen Lohn einbringt, ist ein gottgemäßes Leben, woraus jeder echter Dienst erwachsen muss.4 Einige derjenigen, die zur Zeit des Paulus lebten, hatten das gute Gewissen weggeworfen und damit »im Hinblick auf den Glauben Schiffbruch erlitten«. Sie werden mit einem törichten Seemann verglichen, der seinen Kompass über Bord geworfen hat.
Diejenigen, die »Schiffbruch« im Glauben erlitten hatten, waren echte Gläubige, doch sie konnten ihr Gewissen nicht rein erhalten. Der Beginn ihres Christenlebens hatte dem Anfang einer vielversprechenden Schiffsreise geglichen. Das Schiff ihres Lebens war auf das Meer hinausgefahren, aber statt voll geflaggt und mit voller Ladung in den Hafen zurückz ukehren, stießen sie an Klippen und brachten Schande über sich und ihr Zeugnis.
1,20 Wir wissen nicht, ob »Hymenäus und Alexander« diejenigen sind, die auch in 2. Timotheus 2,17 und 4,14 erwähnt werden. Auch kennen wir die Art ihrer Lästerung nicht. Uns wird hier lediglich gesagt, dass sie das gute Gewissen eingebüßt und gelästert hatten. Im griechischen Urtext des NT ist die Bedeutung von »lästern«5 stärker als im Deutschen nicht ausschließlich darauf beschränkt, dass man schlecht über Gott spricht. Das Wort kann auch benutzt werden, um Beschimpfungen oder böse Nachrede gegen seine Mitmenschen zu bezeichnen. Man kann es gebrauchen, um sowohl das Leben dieser Männer als auch ihre Worte zu bezeichnen. Indem sie im Glauben Schiffbruch erlitten, haben sie zweifellos andere dazu veranlasst, vom Weg der Wahrheit schlecht zu reden, sodass ihr Leben von Lästerungen gekennzeichnet war. Auf tragische Weise wurde in ihrem Leben wahr, was mit einst vielversprechenden, nützlichen Christen geschieht, wenn sie in Irrtümer hineingeführt werden, weil sie ihr Gewissen unterdrücken. Der Apostel sagt, dass er diese Männer »dem Satan übergeben habe«. Einige Ausleger sehen in diesen Worten einfach eine Bezeichnung für den Akt des Ausschlusses. Sie verstehen darunter, dass Paulus diese beiden Männer aus der Ortsgemeinde ausgeschlossen hatte und diese Handlung dazu gedacht war, sie zur Buße und zur Wiederherstellung der Gemeinschaft mit dem Herrn und seinem Volk zu bringen. Das Problem bei dieser Ansicht ist, dass der Ausschluss die Aufgabe der Ortsgemeinde und nicht Sache eines Apostels war. In 1. Korinther 5 schloss Paulus den Mann nicht aus, der Blutschande begangen hatte, sondern rät den Korinthern, dies zu tun.
Die andere Auslegung dieses Abschnitts besteht darin, dass die Übergabe an Satan eine Vollmacht war, die den Aposteln gegeben war, die aber heute nicht mehr vorhanden ist, weil es keine Apostel mehr gibt. Nach dieser Ansicht konnten die Apostel einen Sünder in die Hände Satans geben, damit er ihn körperlich züchtigt. Dies konnte im Extremfall bis zum leiblichen Tod gehen, wie dies bei Hananias und Saphira geschah (Apg 5,1-11). Die Strafe zielte hier offensichtlich auf Zurechtbringung ab – »damit sie gezüchtigt werden und nicht mehr lästern« (Schl 2000). Es ging hier nicht um Verdammnis, sondern um Bestrafung. III. Anweisungen zum Thema Gemeindeleben (2,1 – 3,16) A. Über das Gebet (2,1-7) Paulus hat seine ersten Anweisung an Timotheus bezüglich der Irrlehrer abgeschlossen und geht nun zum Thema Gebet über. Man ist sich allgemein darüber einig, dass dieser Abschnitt das öffentliche Gebet betrifft, obwohl hier nichts steht, was man nicht auch auf das persönliche Gebet in der Stille anwenden könnte.
2,1 Gebet »für alle Menschen« ist sowohl ein Vorrecht als auch eine Verpflichtung. Es ist nichts als ein Vorrecht für uns, dass Gott uns hört, wenn wir für unsere Mitmenschen bitten. Und es ist auch eine Verpflichtung, denn wir sind Schuldner aller in Bezug auf die Gute Nachricht vom Heil.
Der Apostel nennt vier Aspekte des Gebets – »Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen«. Es ist ziemlich schwierig, zwischen den ersten drei Aspekten zu unterscheiden. Im modernen Sprachgebrauch denkt man bei Flehen an ernstliches und anhaltendes Bitten, doch ist hier mehr an besondere Bitten für bestimmte Nöte gedacht. Das Wort, das hier mit »Gebete« wiedergegeben ist, ist ein sehr allgemeines Wort, das alle Arten der respektvollen Annäherung umfasst. »Fürbitten« beschreibt die Form von Bitten, worin wir uns vor Gott für andere verwenden. »Danksagungen« beschreibt Gebete, in denen wir uns an die Gnade und Freundlichkeit unseres Herrn erinnern und unser Herz in Dankbarkeit vor ihm ausschütten.
Wir könnten diesen Vers also zusammenfassen, indem wir sagen, dass wir in unserem Gebet für alle Menschen von Demut, Anbetung, Vertrauen und Dankbarkeit geprägt sein sollten.
2,2 Hier werden »Könige und alle, die in Hoheit sind«, besonders erwähnt. Sie sollten in unseren Gebeten einen besonderen Platz einnehmen. An anderer Stelle hat Paulus uns daran erinnert, dass die Obrigkeiten von Gott eingesetzt sind (Röm 13,1) und uns zum Besten dienen (Röm 13,4).
Dieser Vers bekommt eine besondere Note, wenn wir uns daran erinnern, dass er zur Zeit Neros geschrieben wurde. Die furchtbaren Verfolgungen, denen die Christen unter diesem Schreckensherrscher ausgesetzt waren, hatten keinen Einfluss auf die Tatsache, dass Christen für ihre Obrigkeit beten sollen. Das NT lehrt, dass ein Christ der für ihn zuständigen Obrigkeit gehorchen muss, es sei denn, diese Obrigkeit fordert von ihm, Gott ungehorsam zu sein. Dann muss der Christ in erster Linie Gott gehorchen. Ein Christ sollte sich nicht an Revolutionen oder Gewaltanwendung gegen die Obrigkeit beteiligen. Er darf sich jedoch einfach weigern, einer Anweisung zu gehorchen, die dem Wort Gottes entgegensteht. In diesem Fall soll er still und unterwürfig die entsprechenden Folgen tragen. Der Grund, den der Apostel dafür anführt, dass wir für unsere Regierenden beten sollen, lautet: »… damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.« Es ist zu unserem Besten, wenn eine Obrigkeit stabil ist und das Land vor Revolutionen, Bürgerkrieg, Unordnung und Anarchie bewahrt wird.
2,3 Dass wir für alle Menschen, einschließlich der Könige und anderer Herrschender, beten sollen, »ist gut und angenehm vor unserem … Gott«. Es ist an sich »gut und angenehm vor unserem Heiland-Gott«. Der Titel, den Paulus Gott hier gibt, ist bedeutungsvoll. Gott möchte, dass alle Menschen gerettet werden. Deshalb fördert derjenige, der für alle Menschen betet, den Willen Gottes in dieser Hinsicht.
2,4 Dieser Vers erklärt weiter, was wir schon in Vers 3 herausgestellt haben. Gott »will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (Hes 33,11; Joh 3,16; 2. Petr 3,9). Darum sollen wir für »alle Menschen« in der Welt beten.
Dieser Vers zeigt uns deutlich den göttlichen und den menschlichen Aspekt des Heils. Die erste Hälfte des Verses zeigt, dass der Mensch »errettet werden« muss. Das hier stehende Verb ist passiv, der Mensch kann sich nicht selbst retten, sondern muss von Gott »errettet« werden. Das ist die göttliche Seite der Erlösung.
Um errettet zu werden, muss der Mensch »zur Erkenntnis der Wahrheit kommen«. Gott rettet Menschen nicht gegen ihren Willen. Er lässt im Himmel keine widerspenstigen Untertanen wohnen. Die Menschen müssen zu demjenigen kommen, der gesagt hat: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Das ist die menschliche Seite. Daraus sollte deutlich hervorgehen, dass dieser Vers keine Allversöhnung lehrt. Obwohl Gott sich wünscht, »dass alle Menschen errettet werden«, werden doch nicht alle gerettet. Ursprünglich war es auch nicht Gottes Wille, dass die Kinder Israel 38 Jahre in der Wüste umherzogen, doch genau dies geschah. Gott ließ es zu, doch es war nicht der Segensweg, den er ursprünglich für sie beabsichtigt hatte.
2,5 Die Verbindung dieses Verses mit dem Vorhergehenden ist nicht völlig klar. Doch scheint uns der Gedankengang in Folgenden zu bestehen: Gott ist »einer«, deshalb ist er der Gott aller Menschen, und die Gebete für alle Menschen sollten an ihn gerichtet werden. Als der eine Gott möchte er die Errettung aller Menschen. Wenn er einer von vielen Göttern wäre, würde er sich vielleicht nur um seine eigenen Verehrer kümmern.
Zweitens ist nur »einer Mittler zwischen Gott und Menschen«. Wenn das so ist, dann kann kein Mensch auf andere Weise mit Gott in Verbindung treten. Ein »Mittler« ist jemand, der zwischen zwei Parteien steht und die Kommunikation zwischen beiden Seiten ermöglicht. Durch Christus, der selbst Mensch war, ist es Gott möglich, dem Menschen mit der Sündenvergebung entgegenzukommen. Daraus folgt, dass jeder arme Sünder sich ihm nahen kann und auf keinen Fall abgelehnt wird.
Paulus nennt den Mittler den »Mensch Christus Jesus«. Damit soll nicht die Gottheit Jesu geleugnet werden. Um ein »Mittler zwischen Gott und Menschen« zu sein, musste er sowohl Gott als auch Mensch sein. Der Herr Jesus ist Gott von aller Ewigkeit her, doch er wurde Mensch in der Krippe zu Bethlehem. Er vertritt die gesamte Menschheit. Die Tatsache, dass er sowohl Gott als auch Mensch ist, wird in dem Namen Christus Jesus verdeutlicht. »Christus« beschreibt ihn als Gottes Gesandten, den Messias. »Jesus« ist der Name, der ihm bei seiner Menschwerdung gegeben wurde.
Der Vers ist eine eindeutige Antwort auf die Lehren, die heute so verbreitet sind. Ihnen zufolge wird behauptet, dass die selige Jungfrau Maria oder Engel bzw. bestimmte Heilige Mittler zwischen Gott und Mensch sein könnten. Es gibt nur einen »Mittler«, und sein Name ist »Christus Jesus«.
Vers 5 fasst die Botschaft des AT und des NT zusammen. »Ein Gott« ist die Botschaft des AT, wie sie Israel anvertraut wurde. »Ein Mittler« ist die Botschaft des NT, wie sie der Gemeinde anvertraut wurde. So wie Israel aufgrund seines Götzendienstes hinsichtlich seiner Verantwortung versagte, ist die sogenannte Christenheit ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, indem sie andere Mittler einsetzte – Maria, Heilige, Geistliche etc.
2,6 Die Betonung liegt hier auf der Tatsache, dass Gott die Errettung aller Menschen will. Hier wird dies noch weiter durch die Tatsache bewiesen, dass Christus Jesus »sich selbst als Lösegeld für alle gab«. Ein »Lösegeld« ist ein Preis, der gezahlt wird, um einen Menschen freizukaufen. Man beachte, dass das Lösegeld »für alle« gezahlt wurde. Das bedeutet, dass das Werk des Herrn Jesus am Kreuz von Golgatha ausreichend war, um »alle« Sünder zu erretten. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass auch alle wirklich gerettet werden, denn der Wille des Menschen ist hier zusätzlich im Spiel. Dieser Vers ist einer von vielen, die lehren, dass der Tod Christi stellvertretend war. Er starb anstelle aller Menschen. Ob alle dies annehmen werden, ist eine andere Frage, doch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Erlösungswerk Christi an Wert »für alle« ausreicht. Der Ausdruck »als Zeugnis zur rechten Zeit« bedeutet, dass das Zeugnis über das stellvertretende Werk Christi zu seiner eigenen Zeit vollendet wurde. Derselbe Gott, der die Errettung aller Menschen möchte und den Heilsweg für alle Menschen bahnte, hat beschlossen, dass die Botschaft des Evangeliums in dem Zeitalter verkündigt werden soll, in dem wir leben. All dies soll zeigen, wie sehr sich Gott danach sehnt, die Menschheit zu segnen.
2,7 Als abschließende Bekundung des Verlangens Gottes, alle Menschen zu retten, stellt Paulus fest, dass er selbst »bestellt worden« ist »als Herold und Apostel« und als »Lehrer«. Ein Herold ist ein Prediger, der das Evangelium verkündigt. Die Pflichten eines »Apostels« können etwas weiter gefasst sein: Er predigt nicht nur das Evangelium, sondern gründet auch Gemeinden, gibt Ortsgemeinden Anleitung in Fragen gemeindlicher Ordnungen sowie Zuchtmaßnahmen und spricht mit Vollmacht als einer, der direkt vom Herrn Jesus Christus gesandt wurde. Ein »Lehrer« legt das Wort Gottes auf solche Weise aus, dass es von den Menschen verstanden wird.
Um seinen Aussagen noch mehr Gewicht zu verleihen, bekräftigt Paulus seinen Anspruch, »ein Lehrer der Nationen« zu sein, durch die Worte: »Ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht«. Die Worte »in Glauben und Wahrheit« können sich auf die Wahrhaftigkeit des Paulus beziehen, doch wahrscheinlicher ist es, dass sie den Inhalt seiner Lehre beschreiben. Mit anderen Worten, er lehrte die Heiden zu Themen des »Glaubens« und der »Wahrheit«.
B. Über Männer und Frauen (2,8-15)
2,8 Das Thema »öffentliches Gebet« wird nun wiederaufgenommen, und diesmal wird unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen gelenkt, die das Volk Gottes im Gebet leiten. Die zu Beginn des Abschnitts befindlichen Worte »ich will nun« drücken den aktiven und inspirierten Willen des Paulus in dieser Angelegenheit aus. Die Anweisung des Apostels lautet ausdrücklich, dass das öffentliche Gebet eher von Männern und nicht von Frauen geleitet werden soll. Damit ist außerdem gemeint, dass alle Männer, nicht etwa nur die Ältesten, beten sollen. Der Ausdruck »an jedem Ort« kann bedeuten, dass jeder einzelne Christ zu jeder Zeit beten kann, ganz gleich, wo er sich befindet. Doch weil es hier allem Anschein nach um das öffentliche Gebet geht, ist es besser, diesen Vers folgendermaßen zu verstehen: »Die Männer« und nicht die Frauen sollen die entsprechende Zusammenkunft leiten, wo auch immer eine gemischte Gemeinschaft von Christen versammelt ist.
Drei Eigenschaften werden aufgezählt, die auf diejenigen zutreffen müssen, die öffentlich beten. Zunächst einmal sollen sie »heilige Hände aufheben«. Die Betonung liegt hier nicht so sehr auf der äußerlichen Haltung des Beters als vielmehr auf seinem inneren Leben. Seine Hände sollen »heilige Hände« sein. Die »Hände« stehen hier bildlich für die Lebensweise des Betreffenden. Zweitens soll er »ohne Zorn« sein. Das weist auf die widersprüchliche Haltung eines Menschen hin, der zu Zornesausbrüchen neigt, während er sich andererseits in der Ortsgemeinde erhebt, um für alle Versammelten vor Gott einzutreten. Schließlich sollte er noch »ohne … zweifelnde Überlegung« sein. Das kann bedeuten, dass er den Glauben an die Bereitschaft und Möglichkeiten Gottes hat, Gebet zu hören und zu beantworten. Wir können diese Eigenschaften zusammenfassen, indem wir Folgendes sagen: Jemand, der in der Versammlung beten will, soll Heiligung und Reinheit in Bezug auf sich selbst, Liebe und Frieden gegenüber den Menschen und bedingungslosen Glauben gegenüber Gott erkennen lassen.
2,9 Nachdem er die persönlichen Anforderungen an die Männer und ihre Führungsrolle beim öffentlichen Gebet erörtert hat, wendet sich der Apostel nun den Eigenschaften der »Frauen« zu, die sich zu dieser Zeit in der Versammlung befinden. Zunächst einmal legt er dar, dass sie »sich in würdiger Haltung mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit schmücken« sollen. Johannes Chrysostomus gibt eine Definition für »bescheidenes Äußeres« (Elb), die nahezu unübertroffen ist: Und was ist nun ein bescheidenes Äußeres? Etwas, das sie vollständig und anständig verhüllt, ohne überflüssigen Schmuck, denn das eine ist anständig, das andere nicht. Was denn? Willst du dich Gott nahen, um zu beten, wenn du geschmücktes Haar und goldenen Schmuck trägst? Bist du zu einem Ball, zu einer Hochzeit oder zum Karneval gekommen? Dort mögen solche kostbaren Dinge angebracht sein, aber hier brauchen wir nichts davon. Du bist gekommen, um zu beten, um Vergebung deiner Sünden zu bitten, wegen deiner Übertretungen zu flehen und um den Herrn anzubeten … Hinweg mit solcher Heuchelei!6
»Schamhaftigkeit« bedeutet, alles zu vermeiden, das Schande mit sich bringen könnte. Es beinhaltet den Gedanken, bescheiden und besonnen zu sein. »Sittsamkeit« bedeutet Mäßigung in der Kleidung. Einerseits sollte die Frau nicht versuchen, durch teure, auffällige Kleidung entsprechend der neuesten Mode die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das könnte dazu führen, dass sie Bewunderung oder sogar Neid bei denen erweckt, die eigentlich Gott anbeten sollen. Andererseits soll sie vermeiden, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie altmodische oder triste und damit bedrückend wirkende Kleidung trägt. Die Schrift lehrt, dass wir uns in Kleidungsfragen durch Bescheidenheit auszeichnen und uns vor Ausgefallenem hüten sollen. Zu Sachverhalten, die diesbezüglich übertrieben sind und vermieden werden sollen, gehören »Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbare Kleidung«. »Haarflechten« schließt nicht zwangsläufig einfache Zöpfe aus, die sehr bescheiden geflochten sein können. Vielmehr geht es darum, sich mit aufwendigen Frisuren zu schmücken. Der Gebrauch von Schmuck oder teuren Kleidern als Mittel der Selbstdarstellung ist beim Gebet eindeutig unangebracht.
2,10 Die positive Seite des weiblichen Schmucks wird uns in diesem Vers gezeigt. Der Schmuck, der für »Frauen« angemessen ist, »die sich zur Gottesfurcht bekennen«, findet sich in »guten Werken«. Solche »Kleidung« lenkt andere nicht von ihrer Gemeinschaft mit Gott ab, sondern führt eher zu solcher Gemeinschaft hin. Auch verursacht sie weder Neid noch Eifersucht im falschen Sinne, sondern ermutigt andere, dem Beispiel zu folgen. »Gute Werke« sind eines der Hauptthemen der Pastoralbriefe. Sie bilden einen wichtigen Ausgleich zu nüchterner Lehre.
2,11 Bezüglich ihrer Rolle in öffentlichen Versammlungen der Gemeinde heißt es: »Eine Frau lerne in der Stille in aller Unterordnung.« Das stimmt mit den übrigen Bibelstellen zu diesem Thema überein (1. Kor 11,3-15; 14,34.35).
2,12 Wenn Paulus sagt: »Ich erlaube aber einer Frau nicht zu lehren«, dann gibt er hier inspirierte Worte Gottes weiter. Es spiegelt nicht seine persönlichen Vorurteile wider, wie einige behaupten. Es ist Gott, der bestimmt, dass Frauen keinen öffentlichen Lehrdienst in der Gemeinde übernehmen sollen. Die einzige Ausnahme bildet, dass ihnen erlaubt ist, Kinder  (2. Tim  3,15)  und  junge  Frauen zu lehren (Titus 2,4). Auch soll eine Frau nicht »über den Mann … herrschen«. Das bedeutet, dass sie keine Autorität über einen Mann hat, sondern »sich in der Stille halte«. Vielleicht sollten wir hinzufügen, dass der letzte Teil dieses Verses auf keinen Fall nur auf die Ortsgemeinde beschränkt ist. Es handelt sich um ein Grundprinzip in Gottes Handeln mit den Menschen, wonach der Mann das Haupt ist und die Frau eine untergeordnete Stellung einnimmt. Das bedeutet nicht, dass sie weniger wert ist. Das trifft auf keinen Fall zu. Doch es bedeutet, dass es dem Willen Gottes entgegensteht, wenn die Frau Autorität oder Herrschaft über den Mann hat.
2,13 Um sein Argument zu stützen, greift Paulus zunächst auf die Erschaffung von »Adam« und »Eva« zurück. »Adam wurde zuerst gebildet, danach Eva.« Schon die Reihenfolge der Schöpfung war bedeutungsvoll. Indem er den Mann »zuerst« schuf, hat Gott ihn zum Haupt bestimmt. Er ist derjenige, der die Führungsstellung innehat, und derjenige, der die Autorität besitzt. Die Tatsache, dass die Frau danach erschaffen wurde, bedeutet, dass sie in Unterordnung unter ihren Ehemann leben soll. Indem er seine Argumente auf die Schöpfung stützt, schließt Paulus jeden Gedanken daran aus, dass es sich hier um eine kulturell bedinge Angelegenheit handeln könnte.
2,14 Der zweite angeführte Beweis bezieht sich auf den Sündenfall. Statt »Adam« direkt anzusprechen, wandte sich die Schlange mit ihren Verführungskünsten und Lügen an Eva. Nach Gottes Absicht hätte Eva nicht unabhängig handeln sollen. Sie hätte zu Adam gehen und ihm die Angelegenheit vorlegen sollen. Stattdessen ließ sie es zu, sich von Satan »betrügen« zu lassen. Dadurch »fiel« sie »in Übertretung«.
In diesem Zusammenhang sollten wir darauf hinweisen, dass Irrlehrer heutzutage Hausbesuche normalerweise dann machen, wenn die Frau am wahrscheinlichsten allein ist. Sie nutzen also die Tatsache aus, dass sich der Ehemann dann in den allermeisten Fällen an seinem Arbeitsplatz befindet.
»Adam wurde nicht betrogen.« Es scheint so, dass er sehenden Auges gesündigt hat. Es gibt einige Ausleger, die folgende Meinung vertreten: Als er sah, dass seine Frau schon gesündigt hatte, wollte er seine Einheit mit ihr erhalten und stürzte sich deshalb in die Sünde. Doch die Schrift sagt dazu nichts. Sie sagt nur, dass »die Frau … betrogen« wurde, »Adam« jedoch »nicht«.
2,15 Dies ist einer der schwierigsten Verse der Pastoralbriefe, und viele Erklärungen sind hierfür angeboten worden. Einige denken, dass es sich um eine einfache Verheißung Gottes handelt. Ihr zufolge wird eine christliche Mutter beim »Kindergebären«, einem körperlichen Vorgang, vor dem Tod »gerettet«. Doch das gilt nicht immer, denn einige gottesfürchtige und hingegebene Christinnen sind schon gestorben, während sie Kinder zur Welt brachten. Andere denken, dass sich »Kindergebären« (wörtlich das Kindergebären) auf die Geburt des Messias bezieht und Frauen durch den Einen errettet werden, der von einer Frau geboren wurde. Doch dies scheint kaum in den Zusammenhang des Abschnittes zu passen, da Männer auf dieselbe Weise gerettet werden. Niemand könnte vernünftigerweise annehmen, dass eine Frau ewige Errettung einfach aufgrund der Tatsache erhält, dass sie Mutter von Kindern geworden ist. Das wäre pure Werkgerechtigkeit, und zwar auf eine äußerst ungewöhnliche Art!
Wir schlagen das Folgende als die angemessenste Auslegung des Abschnitts vor. Zunächst einmal bezieht sich »Errettung« in diesem Zusammenhang nicht auf die Seele der Frau, sondern auf die Errettung ihrer Stellung in der Gemeinde. Angesichts dessen, was Paulus gerade in diesem Kapitel gesagt hat, könnte sich in einigen Köpfen die Vorstellung festsetzen, dass eine Frau keine Stellung in Gottes Absichten und Ratschlüssen hätte und nahezu zur Bedeutungslosigkeit in der Gemeinde verurteilt wäre. Doch solch eine Behauptung würde Paulus entschieden bestreiten. Obwohl es stimmt, dass sie keinen öffentlichen Dienst in der Gemeinde wahrnehmen soll, ist ihr doch ein ganz wichtiger Dienst anvertraut worden. Gott hat beschlossen, dass die Aufgabe der Frau im Bereich der Familie und insbesondere in dem Dienst liegt, Kinder zur Ehre und Verherrlichung des Herrn Jesus Christus großzuziehen. Man denke an die Mütter von heutigen christlichen Gemeindeleitern! Diese Frauen haben nie eine öffentliche Kanzel betreten, um das Evangelium zu predigen, doch indem sie ihre Kinder für Gott erzogen haben, sind sie wirklich »gerettet« worden, was ihre Stellung vor Gott und die Frucht in ihrem Leben als Christinnen betrifft. Lilley schreibt:
Sie soll von den Folgen der Sünde errettet werden. Dabei soll es ihr ermöglicht werden, eine einflussreiche Position in der Gemeinde einzunehmen, indem sie ihre natürliche Bestimmung als Frau und Mutter annimmt. Voraussetzung dafür ist die Tatsache, dass diese Hingabe weiterhin dadurch unterstrichen wird, dass sie die Frucht eines geheiligten christlichen Wesens hervorbringt.7 Man mag an dieser Stelle fragen: »Was ist mit den Frauen, die ledig bleiben?« Die Antwort lautet, dass Gott in diesem Abschnitt die Frau allgemein behandelt. Die Mehrheit der christlichen Frauen heiratet und bekommt Kinder. Bezüglich der Ausnahmen gilt, dass es genügend nützliche Dienste gibt, die ihnen übertragen werden können und die kein öffentliches Lehren oder Herrschen über Männer beinhalten.
Man beachte den Zusatz am Ende von Vers 15: »Sie wird aber durch das Kindergebären gerettet werden, wenn sie bleiben in Glauben und Liebe und Heiligkeit mit Sittsamkeit.« Wir haben es hier nicht mit einer bedingungslosen Verheißung zu tun. Der Gedanke ist vielmehr folgender: Wenn Mann und Frau ein konsequentes christliches Zeugnis aufrechterhalten, Christus in ihrer Familie ehren und ihre Kinder in der Furcht und Anbetung Gottes erziehen, dann wird die Stellung der Frau »gerettet« werden. Doch wenn Eltern in ihrer Sorglosigkeit ein weltliches Leben führen und die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigen, dann können diese Kinder für Christus und die Gemeinde verloren gehen. In solch einem Fall erreicht die Frau nicht die wahre Würde, die Gott ihr zugedacht hat. Es soll niemand denken, dass der Dienst der Frau irgendwie weniger wichtig ist als der Dienst in der Öffentlichkeit, nur weil er im Verborgenen und in der Familie geschieht. Man hat ganz recht gesagt: »Die Hand an der Wiege regiert die Welt.« Vor dem Richterstuhl Christi wird dereinst die Treue zählen, und sie ist etwas, das man zu Hause ebenso unter Beweis stellen kann wie auf der Kanzel. C. Über Älteste und Diakone (3,1-13)
3,1 Das zweite »gewisse Wort« im 1. Timotheusbrief (vgl. 1,15) beschäftigt sich mit der Aufgabe der Bischöfe (Ältesten) in der Ortsgemeinde. Ein »Aufseher« ist ein Mann, der als Christ im Glauben erfahren und verständig ist. Er hilft mit, auf göttliche Weise auf das geistliche Leben einer örtlichen Gemeinde zu achten. Er regiert nicht über Gottes Erbe, sondern er leitet durch sein geistliches Beispiel. Heute bezeichnet der Ausdruck »Bischof« einen kirchlichen Amtsträger, der Autorität über viele Ortsgemeinden hat. Doch das NT sagt immer wieder, dass es mehrere Bischöfe (Älteste bzw. Aufseher) in einer Gemeinde gegeben hat (Apg 14,23; 20,17; Phil 1,1; Jak 5,14). Ein Bischof ist dasselbe wie ein »Aufseher«. Das Wort, das die ER mit »Aufseher« übersetzt, wird in anderen Bibelausgaben mit »Bischof« wiedergegeben. Ein Bischof im biblischen Sinne entspricht einem Ältesten. Dieselben Männer, die in Apostelgeschichte 20,17 Ältest e genannt werden, werden in Apostelg eschichte 20,28 »Aufseher« genannt (vgl. auch Titus 1,5.7). Älteste sind mit Presbytern identisch, denn obwohl sich das letztgenannte Wort nicht im NT findet, ist das deutsche Wort »Ältester« eine Übersetzung des griechischen Wortes presbyteros. Deshalb beziehen sich die Worte »Bischof«, »Aufseher«, »Ältester« und »Presbyter« alle auf dieselbe Person. Freilich wird das Wort, das mit »Ältester« übersetzt wird (presbyteros), manchmal benutzt, um einen älteren Mann zu beschreiben. Dabei geht es um einen Mann, der nicht notwendigerweise ein führender Bruder in der Gemeinde ist (1. Tim 5,1; gr.). An den meisten anderen Stellen beschreibt »Ältester« jedoch einen Mann, der in einer Ortsgemeinde als Gläubiger anerkannt ist und der den Hirtendienst im Volk Gottes übernimmt. Das NT kennt Aufseher oder Älteste in jeder Ortsgemeinde (Phil 1,1). Doch wäre es falsch zu sagen, dass eine Gemeinde ohne Aufseher nicht bestehen kann. Aus Titus 1,5 geht klar hervor, dass es auf Kreta junge Gemeinden gab, in denen noch keine Ältesten eingesetzt worden waren.
Nur der Heilige Geist Gottes kann einen Mann zum Ältesten ernennen. Das geht aus Apostelgeschichte 20,28 hervor. Der Heilige Geist legt einem Mann eine Last aufs Herz, diesen wichtigen Dienst zu tun, wobei er ihn auch dafür ausrüstet. Es ist unmöglich, einen Mann zum Bischof zu machen, indem man ihn in dieses Amt wählt oder ihn ernennt. Die Verantwortung der Ortsgemeinde besteht darin, die Männer in ihrer Mitte zu erkennen, die vom Geist Gottes zu Ältesten berufen  worden  sind  (1. Thess  5,12.13).  Es stimmt, dass wir die Ernennung von Ältesten im Titusbrief finden, doch hier ging es einfach um die Aufgabe, Männer auszusondern, die die Eigenschaften von Ältesten hatten. Zu dieser Zeit hatten die Christen das NT noch nicht in geschriebener Form vorliegen, wie wir es heute besitzen. Deshalb wussten sie nicht genau, welche Anforderungen an Älteste zu stellen waren. Daher hat Paulus seinen Mitarbeiter Titus mit diesen Informationen zu ihnen gesandt. Er wies Titus an, diejenigen Männer auszusondern, die vom Geist Gottes für dieses Werk ausersehen worden waren.
Das Erkennen von Ältesten durch eine Ortsgemeinde kann ganz formlos geschehen. Es passiert sehr oft, dass Christen unwillkürlich wissen, wer ihre Ältesten sind, weil sie sich mit den Anforderungen an Älteste in 1. Timotheus 3 und Titus 1 vertraut gemacht haben. Andererseits kann die Anerkennung von Ältesten auch formeller geschehen. Eine Ortsgemeinde mag sich ausdrücklich zu dem Zweck versammeln, öffentlich Älteste zu ernennen. In diesem Fall sollte man normalerweise die betreffenden Schriftstellen verlesen, sie auslegen und dann die Ortsgemeinde bitten, diejenigen zu benennen, die sie für Älteste in dieser Gemeinde halten. Die Namen werden dann vor der gesamten Gemeinde genannt. Wenn die Gläubigen einer Gemeinde keine qualifizierten Ältesten haben, dann besteht ihre einzige Möglichkeit darin, den Herrn zu bitten, dass er ihnen in Zukunft solche Menschen schenken möge. Die Schrift gibt keine Anzahl von Ältesten vor, die für eine Gemeinde nötig sind, obwohl es immer mehrere sind. Es ist einfach eine Frage, wie viele Männer auf die Führung des Heiligen Geistes in dieser Angelegenheit reagieren. »Wenn jemand nach einem Aufseherdienst trachtet, so begehrt er ein schönes Werk.« Es gibt die Tendenz, dieses Werk als ein würdiges kirchliches Amt zu betrachten, das wenig oder keine Verantwortung mit sich bringt, obwohl der »Aufseherdienst« in Wirklichkeit ein demütiger Dienst inmitten des Volkes Gottes ist. Dieses Werk ist mit vielen Anstrengungen verbunden.
3,2 Die Eigenschaften, die ein Aufseher braucht, werden in den Versen 2-7 beschrieben. Sie betonen 4 Haupteigenschaften: den persönlichen Charakter, das Zeugnis der Familie, die Fähigkeit zur Lehre und ein gewisses Maß an Erfahrung. Das sind Gottes Anforderungen an diejenigen, die gern geistliche Leitungsdienste in der Ortsgemeinde wahrnehmen wollen. Einige argumentieren, dass man heute niemanden mehr an diesen Maßstäben messen könne. Doch das ist nicht wahr. Eine solche Argumentation beraubt die Heilige Schrift ihrer Autorität und erlaubt es, dass Menschen die Stellung eines Aufsehers einnehmen, die niemals vom Heiligen Geist dazu befähigt worden sind.
»Der Aufseher nun muss untadelig sein.« Das bedeutet, dass man ihn keiner schweren Sünden anklagen kann. Es bedeutet nicht, dass er sündlos sein muss. Vielmehr muss er, wenn er einen Fehler begeht, diesen vor Gott und Menschen so schnell wie möglich wieder ins Reine bringen. Er muss unangreifbar sein, nicht nur, weil er einen guten Ruf hat, sondern auch, weil er ihn verdient. Zweitens muss er »Mann einer Frau« sein. Diese Anforderung ist verschieden verstanden worden. Einige sind der Ansicht, dass es bedeutet, dass ein Ältester verheiratet sein sollte. Die Argumentation lautet, dass ein Junggeselle nicht die Breite der Erfahrung hat, um mit Familienproblemen zurechtzukommen, wenn sie auftauchen. Wenn dieser Vers bedeutet, dass ein Aufseher verheiratet sein muss, dann heißt das, dass er nach Vers 4 und 5 auch Kinder haben muss, weil man dann hier ebenso argumentieren müsste. Andere Ausleger sind der Meinung, dass »Mann einer Frau« bedeutet, dass ein Aufseher nicht wieder heiraten darf, wenn seine erste Frau gestorben ist. Das ist eine sehr strenge Auslegung und könnte auch die Heiligkeit der ehelichen Beziehung widerspiegeln.8 Eine dritte Auslegung besagt, dass diese Worte bedeuten, dass ein Aufseher nicht geschieden sein darf. Diese Ansicht hat beträchtliche Vorzüge, obwohl sie wohl kaum eine vollständige Erk lärung liefert.
Eine andere Ansicht ist, dass ein Aufseher sich keiner Untreue oder Unregelmäßigkeit in seinem Eheleben schuldig machen darf. Sein moralisches Verhalten muss über jeden Tadel erhaben sein. Das stimmt sicherlich, was immer noch diese Aussage bedeuten mag.
Eine letzte Erklärung lautet, dass dies bedeutet, dass ein Aufseher nicht in Mehrehe leben darf. Das scheint für uns eine recht fremdartige Erklärung zu sein, doch ist diese Erklärung sicher recht wertvoll. Auf den heutigen Missionsfeldern geschieht es recht häufig, dass ein Mann, der in Mehrehe lebt, errettet wird. Vielleicht hatte er zur Zeit seiner Bekehrung vier Frauen. Daraufhin bittet er um Taufe und Aufnahme in die Ortsgemeinde. Was soll nun der Missionar tun? Mancher mag antworten, dass der Mann drei seiner Frauen wegschicken soll. Doch eine solche Handlungsweise bringt sehr viel Schwierigkeiten. Erstens ist es fraglich, welche er wegschicken soll. Er liebt sie alle und bietet allen ein Zuhause. Wenn er drei Frauen wegschicken würde, dann bedeutet das meist, dass sie keinen Lebensunterhalt mehr haben, und einige von ihnen könnten gezwungen sein, sich diesen Lebensunterhalt durch Prostitution zu erwerben. Gottes Lösung eines solchen Problems besteht aber nie darin, eine Sünde zu verhindern, indem er sie durch schlimmere Sünden ersetzt. Christliche Missionare an vielen Orten lösen das Problem, indem sie erlauben, dass dieser Mann getauft und von der Gemeinde angenommen wird, doch er kann niemals Ältester in der Gemeinde werden, solange er mehrere Frauen hat.
»Nüchtern« bezieht sich nicht nur auf Mäßigung beim Essen und Trinken, sondern auch auf die Meidung von Extrempositionen in geistlichen Angelegenheiten.
»Besonnen« bedeutet, dass dieser Mann nicht oberflächlich oder leichtfertig sein darf. Er ist ernst, umsichtig und diskret. Dabei erkennt er: »Tote Fliegen lassen das Öl des Salbenmischers stinken und gären. Ein wenig Torheit hat mehr Gewicht als Weisheit und Ehre« (Pred 10,1).
Ein Aufseher muss »sittsam« sein, d. h. sein Verhalten muss ordentlich und freundlich sein.
»Gastfrei« zeigt an, dass er Fremde liebt. Sein Haus ist für Gläubige wie für Ungläubige gleichermaßen offen, und er möchte allen ein Segen sein, die unter sein Dach kommen.
Ein Ältester muss »lehrfähig« sein. Wenn er Menschen mit geistlichen Problemen besucht, muss er imstande sein, sich der Schrift zuzuwenden und den Willen Gottes in diesen Angelegenh eiten zu erklären. Er muss in der Lage sein, die Herde Gottes zu weiden (1. Petr 5,2) und die Schrift zu gebrauchen, um Irrl ehrer abzuweisen (Apg 20,29-31). Es bedeutet nicht notwendigerweise, dass der Aufseher die Lehrgabe haben muss. Vielmehr muss er sowohl in seinem Besuchsdienst als auch in der Gemeinde die Lehren des Glaubens darstellen und das Wort der Wahrheit recht austeilen können. Außerdem muss er bereit sein und den Mut haben, dem Wort entsprechend zu handeln.
3,3 Der Ausdruck »Trinker« bezieht sich auf Alkoholabhängige. Der Aufseher darf sich nicht dem übermäßigen Alkoholgenuss hingeben und auf diese Weise Streit, d. h. laute Auseinandersetzungen, verursachen.
»Kein Schläger« bedeutet, dass dieser Mann keine körperliche Gewalt auf andere ausüben darf. Wenn er z. B. ein Herr über Sklaven ist, dann schlägt er diese niemals.
Die Worte »nicht nach schändlichem Gewinn strebend« (Schl 2000) finden sich in einigen alten Manuskripten nicht, jedoch in der Mehrheit der Manuskripte.9 Gewinnstreben wird in der Gemeinde und auch in der Welt schlechte Früchte hervorbringen.
Ein Ältester muss »gütig« sein. In seiner Gemeindearbeit braucht er Geduld, Nachsicht und einen Geist der Hingabe. Er darf »nicht streitsüchtig« sein, nachtragend oder über jede Kleinigkeit in Aufregung geraten. Er besteht nicht auf seinen eigenen Rechten, sondern ist ausgeglichen und freundlich. Ein Aufseher darf »nicht geldliebend«, d. h. nicht geizig, sein. Hier liegt die Betonung auf der Liebe zum Geld. Der Aufseher ist am geistlichen Leben des Volkes Gottes interessiert und lässt sich nicht von einem großen Verlangen nach Reichtum ablenken.
3,4 Um als Ältester anerkannt zu werden, muss der Mann »dem eigenen Haus gut« vorstehen »und die Kinder mit aller Ehrbarkeit in Unterordnung« halten. Diese Qualifikation trifft solange zu, wie die Kinder im Haus des Ältesten wohnen. Wenn sie ausgezogen sind und ihre eigenen Familien gegründet haben, dann besteht nicht mehr die Möglichkeit, diese Unterordnung zu demonstrieren. Wenn ein Mann »dem eigenen Haus gut vorsteht«, dann wird er die Extreme von unnötiger Härte und ungerechter Laxheit meiden.
3,5 Das hier befindliche Argument ist eindeutig. Wenn es einem Mann nicht gelingt, »dem eigenen Haus … vorzustehen«, wie will er jemals »für die Gemeinde Gottes sorgen«? In seiner Familie ist die Anzahl der Personen relativ gering. Sie sind alle mit ihm verwandt, und die meisten Familienmitglieder werden sehr viel jünger sein als er selbst. In der Gemeinde dagegen hat er es meist mit viel mehr Leuten zu tun, und mit diesen größeren Zahlen gehen auch entsprechende Unterschiede im Temperament einher. Es ist offensichtlich: Wenn jemand nicht imstande ist, einem kleinen Bereich vorzustehen, dann ist er sicher auch nicht in der Lage, einem größeren vorzustehen. Vers 5 ist wichtig, weil er die Arbeit eines Ältesten definiert. Seine Aufgabe besteht darin, »für die Gemeinde Gottes« zu »sorgen«. Man beachte, dass es nicht heißt, über die Gemeinde Gottes zu herrschen. Ein Ältester ist kein Despot – ja, noch nicht einmal ein gütiger Herrscher. Vielmehr ist er jemand, der das Volk Gottes wie ein Hirte seine Herde leitet. Der Ausdruck »sorgen« bzw. »Sorge tragen« kommt im NT sonst nur noch einmal vor, und zwar in der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,34). Dieselbe mitfühlende, liebevolle Fürsorge, die vom barmherzigen Samariter dem unter die Räuber gefallenen Opfer entgegengebracht wurde, sollte von dem Ältesten erzeigt werden, der für die Gemeinde sorgt.
3,6 »Nicht ein Neubekehrter.« Jemand, der sich gerade erst bekehrt hat, oder jemand, der noch jung im Glauben ist, bringt nicht die notwendigen Voraussetzungen mit, Ältester zu werden. Diese Arbeit erfordert erfahrene und im Glauben verständige Männer. Die Gefahr ist, dass ein Neubekehrter vor Stolz »aufgebläht« ist und dann »dem Gericht des Teufels« verfällt. Das »Gericht des Teufels« bedeutet nicht das Gericht, das Satan über einen Menschen bringt. Vielmehr ist damit das Gericht gemeint, das Satan selbst aufgrund seines Hochmuts traf. Er wollte eine hohe Stellung einnehmen, für die er nicht bestimmt war. Infolgedessen wurde er erniedrigt.
3,7 Ein Aufseher ist ein Mann, der in der Gemeinschaft einen »guten« Ruf hat. Diejenigen, »die draußen sind«, sind die unerlösten Nachbarn. Ohne dieses »gute Zeugnis« wird er von Menschen angeklagt werden und »in den Fallstrick des Teufels« geraten. Die Anklagen können sowohl von Gläubigen als auch von Ungläubigen kommen. Der »Fallstrick des Teufels« ist die Falle, die Satan für diejenigen auslegt, deren Leben nicht mit ihrem Bekenntnis übereinstimmt. Wenn er Menschen einmal in dieser Falle hat, dann setzt er sie dem Spott, dem Zorn und der Verachtung aus.
3,8 Der Apostel kommt nun von den Aufsehern zu den »Dienern« (Diakonen). Im NT ist ein Diakon einfach jemand, der dient. Man versteht generell darunter, dass ein Diakon jemand ist, der sich um die weltlichen Belange der Gemeinde kümmert, während der Aufseher für ihre geistlichen Anliegen da ist. Dieses Verständnis der Pflichten eines Diakons beruht größtenteils auf Apg 6,1-15. Dort wurden Männer berufen, die für die tägliche Verteilung der Gaben an die Witwen der Gemeinde bestimmt wurden. In diesem Abschnitt wird das Hauptwort Diakon überhaupt nicht benutzt, sondern nur das entsprechende Verb in Vers 2 gebraucht: »Es ist nicht gut, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und die Tische bedienen (wörtl. an den Tischen »als Diakone wirken«).«
Die erforderlichen Qualifikationen eines »Diakons« sind den Voraussetzungen für die Aufseher sehr ähnlich, obwohl sie nicht ganz so streng sind. Ein bemerkenswerter Unterschied ist, dass von einem Diakon nicht verlangt wird, lehrfähig zu sein.
Diakone müssen »ehrbar« sowie würdig sein und so leben, das ihnen zu Recht Respekt entgegengebracht wird. Sie dürfen  »nicht  doppelzüngig«  sein,  d. h.  sie dürfen keine unterschiedlichen Aussagen vor verschiedenen Personen bzw. zu verschiedenen Zeitpunkten machen. Sie müssen in ihren Aussagen zuverlässig sein.
Sie dürfen »nicht vielem Wein ergeben« sein. Das NT verbietet den Gebrauch von Alkohol zu medizinischen Zwecken nicht, oder als Getränk in den Ländern, wo das Wasser normalerweise verunreinigt ist. Doch obwohl auch der mäßige Gebrauch von Wein erlaubt ist, muss der Christ sein Zeugnis in dieser Angelegenheit bedenken. Während es in einigen Ländern vollkommen richtig ist, wenn ein Christ Wein trinkt und er damit sein Zeugnis nicht gefährdet, so kann in anderen Ländern gelten, dass er einen Ungläubigen damit zum Straucheln bringt, weil dieser einen Christen beim Weintrinken sieht. Deshalb mag der Genuss von Wein zwar erlaubt, aber nicht geraten sein. Diakone dürfen »nicht schändlichen Gewinn« erstreben. Wie schon erwähnt wurde, gehört zu den Aufgaben der Diakone auch die Verwaltung der Gelder in der Ortsgemeinde. Dies ist für den Diakon eine besondere Versuchung, wenn er geldgierig ist. Er könnte versucht sein, sich aus der Gemeindekasse zu bedienen. Judas war nicht der letzte Kassenverwalter, der seinen Herrn für Geld verraten hat!
3,9 Diakone müssen »das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren«. Das bedeutet, dass sie in Lehre und Praxis nüchtern sein müssen. Sie müssen die Wahrheit nicht nur kennen, sondern auch ausleben. »Das Geheimnis des Glaubens« ist eine Beschreibung für den christlichen Glauben. Viele der Lehren der Christenheit wurden in der Zeit des AT von Gott geheim gehalten, doch dann den Aposteln und Propheten des NT offenbart. Deshalb wird hier das Wort »Geheimnis« benutzt.
3,10 Diakone sollen »zuerst erprobt werden«, wie dies auch für die Ältesten gilt. Das bedeutet, dass man sie für einige Zeit beobachten und ihnen vielleicht für einige Zeit eine untergeordnete Verantwortung in der Gemeinde übertragen soll. Wenn sie sich als vertrauenswürdig erweisen, dann können ihnen größere Aufgaben zugewiesen werden. »Dann« sollen »sie dienen«. Wie bei den Aufsehern liegt die Betonung nicht auf einem kirchlichen Amt, sondern auf dem Dienst für den Herrn und für sein Volk. Wann immer jemand »untadelig« in seinem persönlichen und öffentlichen Leben erfunden worden ist, darf er als Diakon arbeiten. »Untadelig« bezieht sich besonders auf die Qualifikationen, die vorher genannt worden sind. An diesem Punkt wäre es gut, einige der Männer zu erwähnen, die in der Gemeinde als Diakone angesehen werden können. Dazu gehören sicher der Kassenführer bzw. der für Finanzen Verantwortliche, außerdem der Briefempfänger, der Leiter der Sonntagsschule und die Platzanweiser.
3,11 Dieser Vers bezieht sich offensichtlich auf die »Frauen« der Diakone, oder aber auf die Frauen von Aufsehern und Diakonen. Die »Frauen« von denen, die Verantwortung in der Gemeinde tragen, sollen zweifellos Frauen sein, die ein gutes christliches Zeugnis haben und unbescholten sind, sodass sie ihre Männer bei ihrer wichtigen Aufgabe unterstützen können.
Doch das Wort, das hier steht, kann man sowohl mit Ehefrau als auch einfach neutral mit »Frau« übersetzen. Diese Auslegung würde es erlauben, dass auch Frauen im diakonischen Dienst stehen können. Es gab solche Frauen in der Urgemeinde (z. B. in Römer 16,1). Dort wird Phöbe als »Dienerin«, wörtlich »Diakonin«, der Gemeinde in Kenchreä genannt.10 Ein Schlüssel für die Art des Dienstes, den diese Frauen taten, lässt sich in Römer 16,2 finden, wo Paulus von Phöbe sagt, dass sie »vielen ein Beistand gewesen« ist, »auch mir selbst«. Welcher Auslegung man auch immer den Vorzug geben mag, diese Frauen »sollen ebenso ehrbar«, würdig und nüchtern sein. Sie dürfen »nicht verleumderisch« sein, ihre Zeit nicht mit Klatsch und Tratsch verbringen oder falsche oder bösartige Reden verbreiten, die den Ruf anderer schädigen könnten. Sie müssen »nüchtern« sein, Selbstkontrolle üben können und zurückhaltend sein. Schließlich müssen sie noch »treu in allem« sein. Das kann sich nicht nur auf den christlichen Glauben allein beziehen, sondern auch darauf, dass sie verlässlich, treu und vertrauenswürdig sind. Sie sollten imstande sein, persönliche Bekenntnisse und vertrauliche Dinge innerhalb der Familie für sich zu behalten.
3,12 Der Apostel kehrt nun zum Thema »Diener« zurück. Als Erstes bestimmt er, dass sie »Mann einer Frau« sein müssen. Die verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks sind schon in Zusammenhang mit Vers 2 dieses Kapitels besprochen worden.
Auch sie sollen ihren »Kindern und den eigenen Häuser gut vorstehen«. Das NT sieht ein Versagen auf diesem Gebiet als ernsthaften Charakterfehler an. Das bedeutet nicht, dass die Männer selbstherrlich und herrisch sein müssten, sondern es bedeutet, dass ihre Kinder gehorsam und ein Zeugnis für die Wahrheit sein sollen.
3,13 »Denn die, welche gut gedient haben, erwerben sich eine schöne Stufe und viel Freimütigkeit im Glauben, der in Christus Jesus ist.« Die Wahrheit dieses Satzes zeigt sich sehr schön im Fall von Philippus und Stephanus. In Apostelgeschichte 6,5 werden diese beiden Männer unter den sieben Diakonen erwähnt, die gewählt wurden. Die Aufgabe, wozu sie berufen wurden, war die Verteilung des Geldes unter den Witwen der Gemeinde. Als sie diesen Dienst treu taten, hat der Geist sie in größere Bereiche des Dienstes geführt. Im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte finden wir Philippus im Dienst des Evangelisten und Stephanus als Lehrer. Sie hatten »gut gedient« und wurden nun gewissermaßen befördert. Sie hatten eine »schöne Stufe« in den Augen der betreffenden Gläubigen erreicht. Ein Mensch, der eine Aufgabe treu erledigt, auch wenn es sich um eine Kleinigkeit handelt, wird bald wegen seiner Hingabe und Verlässlichkeit respektiert und geschätzt werden.
Außerdem erhielten Philippus und Stephanus »viel Freimütigkeit im Glauben, der in Christus Jesus ist«. Das bedeutet zweifellos, dass sie freimütig für Christus Zeugnis ablegten, vollmächtig lehrten und beteten. Das galt auf jeden Fall für Stephanus bei seiner gewaltigen Predigt vor seinem Märtyrertod. D. Über das Verhalten in der Gemeinde (3,14-16)
3,14 Der Apostel hat das Vorangegangene in der Hoffnung geschrieben, Timotheus bald wiederzusehen. Das Wort »dies« kann sich allerdings nicht nur auf das Vorhergehende, sondern auch auf das Folgende beziehen.
3,15 Paulus erkannte die Möglichkeit, dass er zögern oder verhindert sein könnte. Vielleicht würde er überhaupt nicht nach Ephesus kommen. Wir wissen nicht, ob es ihm gelang, Timotheus in Ephesus wiederzusehen. Er wusste also nicht, wie lange er brauchen würde. Deswegen wollte er, dass Timotheus wusste, »wie« die Gläubigen »sich verhalten« sollen »im Hause Gottes«.
In den vorhergehenden Versen hat Paulus beschrieben, wie sich Aufseher, Diakone und ihre Frauen verhalten sollen. Nun erklärt er, wie Christen allgemein sich »im Hause Gottes« zu verhalten haben.
Das »Haus Gottes« wird hier definiert als »die Gemeinde des lebendigen Gottes …, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit«. Im AT wohnte Gott im Allerheiligsten und im Tempel, doch im NT wohnt er in der »Gemeinde«. Sie wird »Gemeinde des lebendigen Gottes« genannt, was sie von einem Tempel, wori n leblose Götzen stehen, unterscheidet. Die Gemeinde wird »Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit« genannt. Ein Pfeiler ist nicht nur eine Stütze eines Gebäudes, sondern wurde auch oft auf einem öffentlichen Marktplatz aufgestellt. Daran wurden dann Ankündigungen aufgehängt. Somit war sie auch ein Verkündiger. Die Gemeinde ist dasjenige Werkzeug auf Erden, das Gott erwählt hat, um seine »Wahrheit« zu zeigen und zu verkündigen. Sie ist auch die »Grundfeste der Wahrheit«. Grundfeste bedeutet so viel wie Fundament. Dieses Bild zeigt die Gemeinde als Schar von Gläubigen, die mit der Verteidigung und Untermauerung der Wahrheit Gottes beauftragt ist.
3,16 Dies ist ein schwieriger Vers. Eine Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, wie er in den vorhergehenden Zusammenhang passt. Ein Vorschlag ist, dass wir es hier mit einer Darstellung der Wahrheit zu tun haben, wofür die Gemeinde die Grundfeste ist (V. 15). Ein anderer Vorschlag lautet, dass dieser Vers das Vorbild der Gottseligkeit und ihre Macht zeigt, die für Paulus einen wichtigen Bestandteil des richtigen Verhaltens im Haus Gottes darstellt. J. N. Darby sagt:
Dieser Vers wird oft so zitiert, als stelle er das Geheimnis der Gottheit oder der Person Christi dar. Doch es geht hier um das Geheimnis der Gottseligkeit bzw. das Geheimnis, wodurch alle wahre Gottseligkeit hervorgebracht wird – um die göttliche Quelle all dessen, was man Frömmigkeit des Menschen nennen könnte. … Gottseligkeit entspringt der Erkenntnis in Bezug auf die Menschwerdung, den Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt des Herrn Jesus Christus. … So können wir Gott erkennen, und wenn wir darin bleiben, so entsteht dadurch Gottseligkeit.11
Wenn Paulus sagt, dass »das Geheimnis … groß« ist, dann meint er damit nicht, dass es besonders geheimnisvoll ist. Vielmehr meint er, dass die vorher unbekannte Wahrheit über das Werk und die Person des Herrn Jesus wirklich großartig und wunderbar ist. Der Ausdruck »Gott12 ist geoffenbart  worden  im  Fleisch«  (Schl 2000)  bezieht sich auf den Herrn Jesus und insbesondere auf seine Fleischwerdung. Wahre »Gottseligkeit« wurde zum ersten Mal Fleisch, als der Heiland als kleines Kind im Stall zu Bethlehem geboren wurde.
Bedeutet »gerechtfertigt im Geist«, dass er »in seinem eigenen menschlichen Geist gerechtfertigt« worden ist? Oder bedeutet es »gerechtfertigt durch den Heiligen Geist«? Wir verstehen unter diesem Ausdruck das Letztere. Christus wurde durch denselben Heiligen Geist bei seiner Taufe (Matth 3,15-17), seiner Verklärung (Matth 17,5), seiner Auferstehung (Röm 1,3.4) und seiner Himmelfahrt (Joh 16,10) gerechtfertigt. Der Herr Jesus wurde »von den Engeln gesehen« bei seiner Geburt, bei der Versuchung, bei seinem ringenden Kampf im Garten Gethsemane, bei seiner Auferstehung und bei seiner Himmelfahrt. Vom Pfingsttag an wurde er »unter den Nationen gepredigt«. Diese Botschaft hat nicht nur das jüdische Volk erreicht, sondern war bis zu den äußersten Enden der Erde (d. h. des damaligen Römischen Reiches) vorgedrungen.
Der Ausdruck »geglaubt in der Welt« beschreibt die Tatsache, dass einige von fast jedem Stamm und jedem Volk ihr Leben dem Herrn Jesus anvertraut haben. Es heißt nicht, dass ihm von der Welt geglaubt worden sei. Obwohl seine Verkündigung in die ganze Welt hinausgegangen ist, ist er doch nur teilweise angenommen worden.
Man nimmt allgemein an, dass sich der Ausdruck »aufgenommen in Herrlichkeit« auf Christi Himmelfahrt bezieht, nachdem das Werk der Erlösung vollendet war. Es bezieht sich weiter auf seinen jetzigen Aufenthalt im Himmel. Vincent weist darauf hin, dass es heißt »aufgenommen in (nicht in die) Herrlichkeit«. Das bedeutet, »dass er mit den ihm gebührenden Ehren wie ein siegreicher General in den Himmel aufgenommen wurde«.
Einige Ausleger meinen, dass diese Liste von Ereignissen chronologisch geordnet ist. Sie sagen etwa, dass »geoffenbart im Fleisch« sich auf die Fleischwerdung bezieht, »gerechtfertigt im Geist« auf den Tod Jesu, seine Grablegung und seine Auferstehung, »gesehen von den Engeln« auf seine Himmelfahrt, »gepredigt unter den Nationen« und »geglaubt in der Welt« auf die Ereignisse nach seiner Himmelfahrt. Schließlich bezieht sich dieser Ansicht zufolge »aufgenommen in Herrlichkeit« auf den Tag, an dem alle Erlösten versammelt werden, aus den Toten auferstehen und mit ihm in die Herrlichkeit aufgenommen werden. Dann, und erst dann, wird nach dieser Ansicht das »Geheimnis der Gottseligkeit« vervollständigt sein. Doch wir sehen keinen Grund dafür, warum dies eine chronologische Reihenfolge sein müsste. Einige Ausleger glauben, dass wir in diesem Vers einen Teil eines frühen christlichen Liedes haben. Wenn das so ist, dann ist es dem folgenden Lied sehr ähnlich, dessen Nachdichtung wir hier auszugsweise zitieren: Lebend bracht’ Rettung er, sterbend erlöste er,
stieg in das Grab
und begrub unsre Schuld. Auferweckt sitzt der Sohn jetzt auf des Vaters Thron, und wenn er kommt,
dann wird alles erfüllt. Charles H. Marsh,
deutscher Nachdichter unbekannt IV. Abfall in der Gemeinde (4,1-16) A. Warnung vor dem kommenden Abfall (4,1-5)
4,1 Es gibt zwei Arten, wie der »Geist« etwas »ausdrücklich« sagen kann. Zunächst einmal wurde das, was Paulus hier jetzt sagen muss, ihm sicher durch göttliche Offenbarung gegeben. Doch es könnte auch heißen, dass in der Schrift und insbesondere im NT »ausdrücklich« gelehrt wird, dass die »späteren Zeiten« durch eine Abkehr vom Glauben gekennzeichnet sein werden.
Der Ausdruck »spätere Zeiten« bedeutet eine Zeitspanne, die auf diejenige folgt, in deren Verlauf der Apostel schreibt.
»Manche werden vom Glauben abfallen.« Das Wort »manche« ist charakteristisch für den 1. Timotheusbrief. Was in diesem Brief noch eine Minderheit ist, scheint in 2. Timotheus schon eine Mehrheit geworden zu sein. Die Tatsache, dass diese Menschen »vom Glauben abfallen« oder sich abkehren werden, bedeutet nicht, dass sie irgendwann einmal gerettet gewesen sind. Vielmehr ist damit nur gemeint, dass sie sich einmal zu Christus bekannt haben. Sie wussten alles über den Herrn Jesus Christus. Ihnen war gesagt worden, dass er der einzige Heiland ist. Sie bekannten sich eine Zeit zu seiner Nachfolge, doch dann fielen sie vom Glauben ab.
Man kann diesen Abschnitt kaum lesen, ohne an das Aufkommen von Sekten in unseren Tagen zu denken. Die Art und Weise, wie sich deren Irrlehren verbreitet haben, wird hier ausführlich beschrieben. Ein Großteil ihrer Mitglieder gehörte früher einmal zu den sogenannten christlichen Kirchen. Vielleicht waren diese Gemeinden früher einmal gesund im Glauben gewesen, doch dann ließen sie sich durch ein sogenanntes soziales Evangelium von der Hauptsache ablenken. Die Sektenlehrer kamen dann und boten eine attraktivere Botschaft an, und diese Namenschristen ließen sich verführen. Sie »achten« bereitwillig »auf betrügerische Geister und Lehren von Dämonen« und stimmen ihnen zu. »Betrügerische Geister« wird hier in bildlichem Sinne gebraucht, um Irrlehrer zu beschreiben. Sie sind von bösen Geistern besessen, die die Unachtsamen betrügen. »Lehren von Dämonen« bedeutet nicht Lehren über Dämonen, sondern solche »Lehren«, die von Dämonen inspiriert sind oder ihren Ursprung in der Welt der Dämonen haben.
4,2 Das vom Begriff »Heuchelei« abgeleitete Verb bedeutet so viel wie »eine Maske tragen«. Wie typisch ist das doch für Sektenprediger! Sie versuchen, ihre wahre Identität zu verbergen. Sie möchten nicht, dass die Menschen das System kennenlernen, zu dem sie gehören. Sie verstellen sich, indem sie biblische Ausdrücke gebrauchen und christliche Lieder singen. Sie sind nicht nur Heuchler, sondern auch Lügner. Ihre Lehre entspricht nicht der Wahrheit des Wortes Gottes, und sie wissen es. Trotzdem betrügen sie die Menschen absichtlich. »Ihr Gewissen« ist »gebrandmarkt«. In früheren Jahren ihres Lebens hatten sie vielleicht einmal ein empfindliches Gewissen, doch sie haben es so oft unterdrückt und so oft gegen das Licht gesündigt, dass ihr Gewissen nun gefühllos und verhärtet ist. Sie haben keine Bedenken mehr, dem Wort Gottes zu widersprechen und Dinge zu lehren, von denen sie wissen, dass sie nicht stimmen.
4,3 Zwei der dämonischen Lehren werden nun genannt. Die erste Lehre lautet, dass es schlecht sei, »zu heiraten«. Das widerspricht direkt dem Wort Gottes. Gott selbst hat die Ehe eingesetzt, und zwar, noch ehe die Sünde in die Welt gekommen war. Es gibt an der Ehe nichts Unheiliges, und wenn Irrlehrer die Ehe verbieten, dann greifen sie an, was Gott eingesetzt hat.
Ein Beispiel für diese Lehre ist das Gesetz, das es bestimmten Priestern und Nonnen »verbietet, zu heiraten«. Doch noch direkter bezieht sich dieser Vers auf die Lehre der Spiritisten, die sich mit geistiger Verbindung (geistiger Affinität) befasst. Dadurch wird nach den Worten von A. J. Pollock »die eheliche Bindung lächerlich gemacht«. Praktische wirkt sich diese Lehre dahin gehend aus, dass Männer und Frauen überredet werden, sich von ihren richtigen Partnern zu trennen, um unheilige und gesetzlose Verbindungen mit ihren sogenannten »geistigen Affinitäten« einzugehen. Wir könnten auch die Haltung der sogenannten Christlichen Wissenschaft hier anführen. Mrs. Baker Eddy, die Gründerin, dreimal verheiratet, schrieb:
Wenn wir nicht lernen, dass Gott der Vater aller ist, wird die Ehe weiterbestehen. … Die Ehe, die einst eine feste Tatsache unter uns war, muss ihre gegenwärtige Anhängerschaft verlieren.13
Die zweite dämonische Lehre »gebietet, sich von« bestimmten »Speisen zu enthalten«. Solche Lehren finden sich unter Spiritisten, die behaupten, dass das Essen von Fleisch den Menschen hindere, mit Geistern in Kontakt zu kommen. Auch gibt es unter den Theosophen und den Hindus die Furcht davor, irgendeine Art von Leben zu opfern, weil sie fürchten, der Mensch könne als Tier oder als ein anderes Lebewesen wiedergeboren werden.
Das Pronomen »die« kann sich entweder auf die Ehe oder auf die »Speisen« beziehen. Beide wurden von »Gott geschaffen«, um von uns »mit Danksagung« empfangen  zu  werden  (vgl.  Schl 2000). Gott hat sie nicht nur den ihm Fernstehenden, sondern auch denen zugedacht, »welche glauben und die Wahrheit erkennen«.
4,4 »Jedes Geschöpf« (oder jede Schöpfung) »Gottes ist gut.« Sowohl Speisen als auch die Einrichtung der Ehe sind Schöpfungen Gottes und »nicht verwerflich«, wenn« sie »mit Danksagung genommen« werden. Gott hat die Ehe eingesetzt, damit sich die Menschen vermehren können  (s.  1. Mose  1,28),  und  auch  Speise zur Erhaltung dieses Lebens gegeben (1. Mose 9,3).
4,5 »Gottes Wort« bestimmt sowohl Speise als auch die Ehe für den menschlichen Gebrauch. Die Speise wird deshalb  in  1. Mose  9,3;  Markus  7,19; Apos telgeschichte 10,14.15 und 1. Korinther 10,25.26 »geheiligt«. Die Ehe wird in 1. Korinther 7 und Hebräer 13,4 geheiligt. Beide sind auch »durch Gebet … geheiligt«. Ehe wir an einer Mahlzeit teilnehmen, sollen wir unser Haupt beugen und für die Speisen danken (s. Matth 14,19; Apg 27,35). Durch diese Handlung bitten wir den Herrn, das Essen zu heiligen, damit es unseren Leib stärkt, sodass wir ihm noch besser dienen können. Ehe wir eine Ehe eingehen, sollen wir beten, dass Gott diese Ehe zu seiner Ehre segnen möge. Ferner sollen wir darum bitten, dass dadurch andere gesegnet werden und dass sie sowohl der Braut als auch dem Bräutigam zum Guten dient.
Es ist ein gutes Zeugnis, wenn Christen vor der Mahlzeit danken, wenn sie in der Gegenwart unerretteter Menschen sind. Der Dank sollte nicht zur Schau gestellt oder übermäßig ausgedehnt werden, doch sollen wir auch nicht versuchen, die Tatsache zu verbergen, dass wir Gott für unser Essen danken. B. Anweisungen im Hinblick auf den kommenden Abfall (4,6-16)
4,6 Indem Timotheus die »Brüder« über »dies«, was in den Versen 1-5 erwähnt wird, unterweist, wird er »ein guter Diener Christi Jesu sein«. Er wird ein »Diener« sein, »der sich nährt durch die Worte des Glaubens und der guten Lehre, der« er bis zu diesem Zeitpunkt »gefolgt« ist.
4,7 In diesem Abschnitt vergleicht Paulus den christlichen Dienst mit einer Art sportlichem Wettbewerb. In Vers 6 sprach er von der geeigneten Kost für denjenigen, der Christus dient: Er soll sich mit Glaubensworten und guter Lehre nähren. In Vers 7 spricht er von der Übung, die »Gottseligkeit« als Ziel hat. Der Apostel rät Timotheus, »die unheiligen und altweiberhaften Fabeln« abzuweisen. Er soll sie nicht bekämpfen oder viel Zeit für sie aufwenden. Er soll sie einfach ablehnen und mit Verachtung strafen. »Altweiberhafte Fabeln« lassen uns an die sogenannte »Christliche Wissenschaft« denken, die von einer Frau gegründet wurde, offensichtlich meist ältere Frauen anspricht und Fabeln statt der Wahrheit lehrt.
Statt die Zeit mit Mythen und »Fabeln« zu verbringen, sollte Timotheus sich in »Gottseligkeit« üben. Zu solchen Übungen gehört das Lesen und Studieren der Bibel, das Gebet, und das Zeugnis gegenüber anderen. Stock sagt: »Bei der Gottseligkeit geht es nicht darum, dass wir uns einfach ›hineintreiben‹ lassen. Wir müssen vielmehr gegen den Strom schwimmen, um sie zu erreichen.« Wir brauchen »Übung«, die wiederum Anstrengung bedeutet.
4,8 Hier werden zwei Arten der »Übung« einander gegenübergestellt. Die »leibliche Übung« hat einen gewissen Wert für den Körper, doch dieser Wert ist begrenzt und von kurzer Dauer. »Gottseligkeit« dagegen ist für den Geist, die Seele und den Leib des Menschen gut. Sie nützt nicht nur in der Zeit, sondern auch für die Ewigkeit. Soweit es dieses irdische »Leben« betrifft, bringt uns die »Gottseligkeit« die größte Freude, soweit es das »zukünftige« Leben angeht, ist sie überaus vielversprechend im Hinblick auf die große Belohnung und darauf, dass wir uns an den Herrlichkeiten des Himmels werden freuen können.
4,9 Man ist sich allgemein darüber einig, dass dieser Vers sich auf die Aussage über die Gottseligkeit zurückbezieht. Die Tatsache, dass Gottseligkeit von großem und ewigem Wert ist, ist »gewiss und aller Annahme wert«. Dies ist das dritte »gewisse Wort« dieses Briefes.
4,10 »Denn dafür arbeiten wir auch und werden geschmäht«14  (Schl 2000). Der Grund, der hier für die Arbeit genannt wird, ist das Leben der Gottseligkeit. Paulus sagt hier aus, dass dies das große Ziel ist, auf das all seine Bemühungen hinzielen. Das wäre für Ungläubige kein würdiges Ziel für dieses Leben. Doch der Christ sieht über die Vergänglichkeit dieser Welt hinaus und setzt seine Hoffnung auf den »lebendigen Gott«. Diese Hoffnung kann niemals enttäuscht werden, weil er eben der »lebendige Gott« ist, »der ein Retter aller Menschen ist, besonders der Gläubigen«. Gott ist der »Retter aller Menschen« in dem Sinne, dass er sie täglich erhält. Doch er ist auch »Retter aller Menschen« in dem Sinne, auf den vorher schon hingewiesen wurde, nämlich im Sinne der Tatsache, dass er für die Errettung aller Menschen hinreichende Vorkehrungen getroffen hat. Er ist auf besondere Weise der Retter der »Gläubigen«, weil sie diese Vorkehrungen in Anspruch genommen haben. Wir könnten sagen, dass er der potenzielle Retter aller Menschen und der wirkliche Retter der Gläubigen ist.
4,11 Das Wort »dies« bezieht sich wahrscheinlich auf die Worte des Paulus in Vers 6-10 zurück. Timotheus soll diese Anweisungen »gebieten und lehren«, d. h. sie ständig dem Volk Gottes vor Augen halten.
4,12 Zur Zeit der Abfassung dieses Briefes war Timotheus wahrscheinlich zwischen 30 und 35 Jahren alt. Im Gegensatz zu den Ältesten der Gemeinde in Ephesus war er ein verhältnismäßig junger Mann. Deshalb sagt Paulus hier: »Niemand verachte deine Jugend.« Das bedeutet nicht, dass Timotheus sich selbst aufs Postament schwingen und sich über jede Kritik erhaben fühlen sollte. Es bedeutet vielmehr, dass er niemandem Anlass geben soll, ihn zu verurteilen. Indem er »ein Vorbild der Gläubigen« war, sollte er mögliche gerechtfertigte Kritik ausschließen.
»Im Wort« bezieht sich auf das, was Timotheus sagt. Seine Rede sollte immer seiner Stellung als Kind Gottes entsprechen. Wenn er sprach, sollte er nicht nur dasjenige vermeiden, das ausdrücklich verboten ist, sondern auch dasjenige, das seine Zuhörer nicht erbaut. »Im Wandel« bezieht sich auf das gesamte Verhalten eines Menschen. Nichts in seiner Haltung sollte eine Schande für den Namen Christi sein.
»In Liebe« bedeutet, dass Liebe das Motiv für das Verhalten sein sollte. Dies betrifft sowohl die Gesinnung, in der man sich verhält, als auch das Ziel des Verhaltens.
»Im  Geist«  (vgl.  LU 1912  und Schl 2000)  fehlt  in  den  meisten  modernen Bibelausgaben und Kommentaren, die dem kritischen Text folgen. Doch die Worte kommen sowohl im Textus Receptus als auch im Mehrheitstext vor. Guy King betont die Tatsache, dass Begeisterung (so seine treffende Übersetzung des entsprechenden Ausdrucks) ein besonderes Gut ist. Er schreibt darüber: Begeisterung fehlt im Repertoire der meisten Christen. Es gibt viel Begeisterung für Fußballspiele, für den Wahlkampf, doch so wenig Begeisterung für den Dienst GOTTES. Wie sehr beschämt uns doch die Begeisterung der Angehörigen der Christlichen Wissenschaft, der Zeugen Jehovas und der Kommunisten! Ach, hätten wir doch diese flammende Begeisterung, die einst für die Kirche charakteristisch war! Diese vorbildliche Gesinnung wird Timotheus außerordentlich helfen, seine Stellung im Glaubenskampf zu sichern und weiter voranzuschreiten.15 »Im Glauben« bedeutet wahrscheinlich »in Treue«, und steht für Verlässlichkeit und Standhaftigkeit. »Keuschheit« sollte nicht nur die Taten des Timotheus, sondern auch seine Motive kennzeichnen.
4,13 Dieser Vers bezieht sich wahrscheinlich in erster Linie auf die Ortsgemeinde und nicht so sehr auf das persönliche Leben des Timotheus. Er sollte »anhalten« (Elb) mit dem öffentlichen »Vorlesen« der Schrift, »mit Ermahnen« und »mit dem Lehren«. Wir haben hier eine bedeutsame Reihenfolge. Als Erstes betont Paulus, dass das Wort Gottes öffentlich vorgelesen werden soll. Das war zu dieser Zeit besonders nötig, da die Verbreitung der Schrift recht begrenzt war. Nur wenige Menschen konnten sich eine Abschrift der Bibel leisten. Nachdem die Schriften gelesen waren, sollte Timotheus die Gläubigen aufgrund des Vorgelesenen ermahnen und dann die großen Wahrheiten des Wortes Gottes lehren. Dieser Vers erinnert uns an Nehemia 8,8: »Und sie lasen aus dem Buch, aus dem Gesetz Gottes, abschnittsweise vor, und gaben den Sinn an, sodass man das Vorgelesene verstehen konnte.« Doch wir sollten aus diesem Vers nicht den Gedanken an die eigene Stille Zeit heraushalten. Ehe Timotheus andere ermahnen und sie das Wort Gottes lehren konnte, musste er es erst in seinem eigenen Leben studieren und umsetzen.
4,14 Wir wissen nicht genau, welche »Gnadengabe« Timotheus gegeben war – ob die des Evangelisten, des Hirten oder des Lehrers. Die allgemeinen Aussagen dieser Briefe führen uns zu der Schlussfolgerung, dass er ein Hirte und zugleich ein Lehrer war. Doch wir wissen, dass »die Gnadengabe« ihm »durch Weissagung mit Handauflegung der Ältestenschaft gegeben worden ist«. Zunächst einmal wurde sie »durch Weissagung« oder zugleich mit ihr gegeben. Das bedeutet einfach, dass ein Prophet in einer Gemeinde aufstand und erklärte, dass der Geist Gottes Timotheus eine bestimmte »Gnadengabe« gegeben habe. Der Prophet hat die Gabe nicht geg eben, sondern sie angekündigt. Dies ging mit »Handauflegung der Ältestenschaft« einher. Und wieder wollen wir betonen, dass die Presbyter oder Ältesten nicht die Macht hatten, diese Gabe an Timotheus weiterzugeben. Durch ihre Handauflegung haben sie vielmehr ihre öffentliche Anerkennung dessen kundgetan, was der Heilige Geist schon getan hatte. Diesen Vorgang kann man auch in Apostelgeschichte 13 beobachten. In Vers 2 sonderte der Heilige Geist Barnabas und Saulus für eine bestimmte Aufgabe aus. Vielleicht wurde auch dieses Wort von einem Propheten weitergegeben. Dann fasteten und beteten die Brüder der Ortsgemeinde und legten Barnabas und Paulus ihre Hände auf und sandten sie aus (V. 3).
Dieselbe Vorgehensweisen wird heute in vielen christlichen Ortsgemeinden befolgt. Wenn die Ältesten erkennen, dass jemand eine bestimmte Gabe vom Heiligen Geist bekommen hat, dann befehlen sie den Betreffenden dem Herrn und seinem Werk an. Sie bringen ihm damit ihr Vertrauen entgegen und erkennen das Werk des Heiligen Geistes in seinem Leben an. Ihre Handauflegung gibt diesem Menschen keine Gabe, sondern erkennt nur die Gabe an, die er schon vom Heiligen Geist empfangen hat. Es gibt einen Unterschied zwischen der hier erwähnten Handauflegung durch die Ältesten im Falle des Timotheus und den Geschehnissen, als Paulus dem Timotheus die Hände auflegte, wie es in 2. Timotheus 1,6 beschrieben wird. Im erstgenannten Fall war die Handlung keinesfalls mit einem Amt verbunden, und außerdem war die Gabe des Timotheus nicht auf diese Handlung zurückzuführen. Die Handauflegung bedeutete nur Gemeinschaft mit ihm im Werk des Herrn. Im zweiten Fall war Paulus wirklich der apostolische Kanal, wodurch eine Gabe zugeeignet wurde.
4,15 Die Worte »bedenke dies sorgfältig« können auch übersetzt werden »entfalte dies« oder »gib dir damit besondere Mühe«. Das kann hier durchaus die Bedeutung sein, weil die nächsten Worte »lebe darin« lauten. Paulus ermutigt Timotheus hier, sich ungeteilt und ohne Ablenkung dem Werk des Herrn zu widmen. Er sollte bei seinen Bemühungen wirklich alles geben. Auf diese Weise sollten seine »Fortschritte allen offenbar« werden. Paulus will nicht, dass Timotheus eine bestimmte Ebene in seinem christlichen Dienst erreicht und sich dort dann zur Ruhe setzt. Er möchte stattdessen, dass er immer weiter im geistlichen Leben fortschreitet.
4,16 Man beachte hier die Reihenfolge. Timotheus soll zuerst auf sich »selbst« und dann »auf die Lehre« achthaben. Das betont, wie bedeutungsvoll das persönliche Leben des Dieners Christi ist. Wenn sein Leben unaufrichtig ist, dann kann er in seiner Lehre noch so rechtgläubig sein. Es nützt dann überhaupt nichts. A. W. Pink hat sehr schön gesagt: »Der Dienst wird zu einer Falle und zum Bösen, wenn wir ihm erlauben, unsere Anbetung und die Pflege des eigenen geistlichen Lebens zu verdrängen.« Timotheus soll also in all dem bleiben, worüber Paulus geschrieben hat, nämlich im Lesen, in der Ermahnung und in der Lehre. Wenn es dies tut, wird er sich »selbst« und »auch die, die« ihn »hören«, erretten. Das Wort »erretten« hat in diesem Fall nichts mit der Errettung der Seele zu tun. Das Kapitel begann mit einer Beschreibung von Irrlehrern, die Unheil unter dem Volk Gottes anrichteten. Paulus will Timotheus sagen, dass er durch Hingabe in einem gottesfürchtigen Leben und durch Treue gegenüber dem Wort Gottes sich selbst und seine Zuhörer vor diesen Irrlehren »erretten« kann. V. Besondere Anweisungen über verschiedene Gruppen von Gläubigen (5,1 – 6,2) A. Verschiedene Altersgruppen (5,1.2)
5,1 Dieser Vers führt einen Abschnitt über das Verhalten des Timotheus gegenüber Angehörigen der christlichen Familie ein, unter denen er wirken würde. Da er jünger und vielleicht offensiver war, hätte Timotheus versucht sein können, ung eduldig und voller Groll mit einem »älteren Mann« zu reden. Von daher haben wir die Ermahnung, dass er »einen ält eren Mann nicht hart« anfahren soll. Stattd essen soll er ihn »als einen Vater … ermahnen«. Es wäre für ihn als jüngeren Mann ungehörig gewesen, einen solchen Mann verbal anzugreifen. Es konnte auch die Gefahr bestehen, dass dieser junge Diener Christi eine zu strenge Haltung gegenüber »jüngeren« Männern einnahm. Deshalb befiehlt Paulus ihm, dass er die jüngeren Männer »als Brüder« behandeln soll. Er soll einfach einer der Ihren sein, und ihnen gegenüber keine dominante Haltung einnehmen.
5,2 »Ältere Frauen« sollen als »Mütter« betrachtet und mit der Ehrfurcht, der Liebe und dem Respekt behandelt werden, die ihnen gebührt. »Keuschheit« soll seinen gesamten Umgang mit »jüngeren Frauen« kennzeichnen. Er soll nicht nur alles meiden, was ausgesprochen sündig ist, sondern er soll auch unbesonnenes Handeln und jedes Verhalten, das den Anschein des Bösen haben könnte, meiden.
B. Witwen (5,3-16)
5,3 In den Versen 3-16 spricht Paulus über das Thema »Witwen« in der Ortsgemeinde und darüber, wie sie behandelt werden sollen.
Zunächst sollte die Gemeinde alle »ehren, … die wirklich Witwen sind«. »Ehren« bedeutet hier nicht nur Respekt haben, sondern beinhaltet auch den Gedanken an finanzielle Hilfe. Eine wirkliche Witwe hatte damals keine anderen Mittel zum Unterhalt, sondern war ganz auf den Herrn geworfen, was ihren tagtäglichen Bedürfnisse betraf. Eine wirkliche Witwe hat keine lebenden Verwandten, die für sie sorgen, wobei es für sie damals auch keine anderen Möglichkeiten der Unterstützung gab.
5,4.5 Eine zweite Gruppe von »Witwen« wird in diesem Vers beschrieben. Das sind diejenigen, die »Kinder oder Enkel« haben. In diesem Fall sollen die »Kinder« lernen, praktische Gottesfurcht im eigenen Heim zu üben, indem sie ihrer Mutter (oder Großmutter) all das zurückzahlen, was sie für sie getan hat. Der Vers lehrt eindeutig, dass Gottesfurcht im »eigenen Haus« beginnt. Es ist ein schlechtes Zeugnis für den christlichen Glauben, wenn man lauthals über seinen Glauben spricht und dabei diejenigen vernachlässigt, mit denen wir durch blutsverwandtschaftliche Bande verbunden sind. Es ist »angenehm«16 in den Augen Gottes, wenn Christen für ihre Verwandten sorgen, die sonst nicht unterstützt werden. In Epheser 6,2 lehrt der Apostel Paulus eindeutig: »Ehre deinen Vater und deine Mutter – das ist das erste Gebot mit Verheißung.« Wie schon vorher erwähnt, fehlte einer echten »Witwe« zumindest damals jede finanzielle Hilfe. Daher war sie hinsichtlich ihres täglichen Brotes ganz »auf Gott« angewiesen.
5,6.7 Im Gegensatz zur gottesfürchtigen Witwe von Vers 5 steht diejenige, die sich der »Üppigkeit« hingibt. Es bestehen unterschiedliche Meinungen im Blick darauf, ob eine solche Frau eine echte Gläubige oder nur eine Namensc hristin ist. Wir glauben, dass sie eine echte Christin ist, die allerdings im Glauben zurückgegangen ist. Sie ist »tot«, soweit es ihre Gemeinschaft mit Gott oder ihre Nützlichkeit und Verfügungsbereitschaft für ihn betrifft. Timotheus soll solche Witwen davor warnen, »in Üppigkeit« zu leben. Er soll auch die Christen lehren, für diejenigen zu sorgen, die mit ihnen verwandt und mittellos sind.
5,8 Betont wird hier das Ausmaß der Sünde, wenn jemand »für die Seinen« (d. h. seine Verwandten) »und besonders für« die zu seiner Hausgemeinschaft Gehörenden nicht sorgt. Ein solches Handeln stellt eine Verleugnung des Glaubens dar. Der christliche Glaube gebietet durchgehend, dass diejenigen, die wirklich gläubig sind, füreinander sorgen sollen. Wenn ein Christ das nicht tut, dann leugnet er durch sein Handeln genau die Wahrheiten, die der christliche Glaube lehrt. Ein solcher ist »schlechter als ein Ungläubiger«, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die meisten Ungläubigen für ihre Verwandten liebevoll sorgen. Auch kann ein Christ auf diese Weise Schande über den Namen des Herrn bringen, wie es ein Ungläubiger nie tun könnte.
5,9 Es geht aus diesem Vers hervor, dass eine Liste von Namen in jeder Ortsgemeinde geführt wurde, die namentlich diejenigen Witwen erwähnte, für deren Bedürfnisse die Gemeinde aufkam. Paulus bestimmt hier, dass keine »Witwe« in dieses »Verzeichnis eingetragen« werden soll, die nicht »wenigstens sechzig Jahre alt ist«.
Der Ausdruck »eines Mannes Frau« bringt die gleichen Probleme mit sich wie der entsprechende Ausdruck im Zusammenhang mit den Aufsehern und Diakonen. Die Erklärungen lauten in diesem Zusammenhang ähnlich. Es bedeutet zumindest, dass das Leben einer solchen Witwe tadellos sein muss, ohne dass man irgendwelches Unrecht vermuten kann.
5,10 Um in das Verzeichnis aufgenommen zu werden, muss eine Witwe auch dafür bekannt sein, dass sie solche »guten Werke« getan hat, die einen geistlich gesinnten Gläubigen auszeichnen. Die hier befindlichen Worte (»wenn sie Kinder auferzogen« hat) bedeuten zweifellos, dass sie diese in einer solchen Weise großgezogen haben muss, die ihr und ihrer christlichen Familie Ehre macht. Kinder aufzuziehen, ist an sich noch keine Tugend. Erst wenn man sie gut erzieht, handelt man ehrenvoll. Ein anderes Kennzeichen einer gottesfürchtigen Witwe besteht darin, dass sie »Fremden« gegenüber gastfreundlich ist. Immer wieder wird die Tugend der Gastfreundschaft im NT erwähnt und gelobt. Ein Sklave hatte damals die Aufgabe, die Füße der Besucher zu waschen. Hier ist wohl ohne Zweifel daran gedacht, dass die Witwe für ihre Mitchristen sehr niedrige Dienste geleistet hat. Doch es kann auch bedeuten, dass sie auf geistliche Weise »der Heiligen Füße gewaschen« hat, nämlich dadurch, dass sie diese mit dem Wasser des Wortes wusch. Damit ist kein öffentlicher Dienst gemeint, sondern der Besuch in Familien und die Anwendung des Wortes Gottes auf solche Weise, dass Gläubige von den Verunreinigungen gereinigt wurden, die sie sich in ihrem Alltag zugezogen haben. Hilfe für »Bedrängte« bezieht sich auf barmherzige Taten für die Kranken, Trauernden oder anderweitig Leidenden. Kurz gesagt: Eine solche Witwe wurde erst dann in die Liste der Ortsgemeinde eingetragen, wenn sie »jedem guten Werk nachgegangen« war.
5,11 Dies ist ein schwieriger Vers, doch wir sind der Auffassung, dass die Bedeutung folgende ist: Im Allgemeinen wäre es ein Fehler, »junge Witwen« zu Almosenempfängerinnen der Gemeinde zu machen. Da sie jung sind, »wollen« sie sicher wieder »heiraten«. Das ist an sich nichts Verkehrtes, doch dieses Verlangen kann zeitweilig so stark werden, dass diese jungen Witwen sogar einen Ungläubigen heiraten könnten. Der Apostel nennt das »Christus zuwider üppig geworden«. Wenn sie die Wahl haben, einen Heiden zu heiraten oder aus Liebe zu Christus und aus Gehorsam gegenüber seinem Willen ledig zu bleiben, wird eine junge Witwe wahrscheinlich »heiraten«. Das würde natürlich Schande über die Gemeinde, die sie unterstützt, bringen.
5,12 »Urteil« heißt hier nicht ewige Verdammnis. Vielmehr ist damit gemeint, dass sie dieses »Urteil« hat, weil sie »das erste Gelöbnis verworfen« hat. Früher einmal hat sie große Treue und Hingabe zu Jesus Christus bekannt. Wenn nun jedoch die Gelegenheit kommt, jemanden zu heiraten, der Christus nicht liebt, vergisst sie ihre anfänglichen Gelübde und Versprechen gegenüber Christus. Daraufhin verlässt sie Christus mit diesem Ungläubigen und wird damit dem himmlischen Bräutigam untreu.
Paulus kritisiert keine junge Witwe, wenn sie wieder heiratet. Er möchte sogar, dass sie heiratet (V. 14). Er kritisiert hier ihren geistlichen Rückfall, dass sie göttliche Prinzipien außer Acht lässt, um einen Mann zu bekommen.
5,13 Wenn die Ortsgemeinde volle finanzielle Verantwortung für die jungen Witwen übernähme, so könnte das diese ermutigen, »müßig« zu sein, und etliche Übel mit sich bringen. Statt selbstverantwortlich zu handeln, könnten sie »geschwätzig und vorwitzig« werden, und sich mit Angelegenheiten beschäftigen, die sie nichts angehen. Keine Maßnahme der Gemeinde sollte solches Verhalten ermutigen. Wie schon vorher erwähnt, ist es nämlich nachteilig für das Zeugnis der Gemeinde.
5,14 Paulus sagt deshalb, dass es in der Regel wünschenswert ist, wenn »jüngere Witwen heiraten, Kinder gebären« und einen christlichen Haushalt führen, der über jede Kritik erhaben ist. Natürlich wusste auch Paulus, dass es nicht immer für jede junge Witwe möglich sein würde, wieder zu heiraten. Die Initiative muss normalerweise vom Mann ausgehen. Doch er legt hier nur ein allgemeines Prinzip dar, dem man folgen sollte, wann immer es möglich ist. Der »Widersacher« (oder Satan) hält immer Ausschau nach Anklagepunkten gegen das Zeugnis der Christen. Daher will Paulus Vorkehrungen angesichts der Möglichkeit treffen, dass es wirkliche Gründe »zur Schmähung« gibt.
5,15 Was der Apostel hier über die jungen Witwen gesagt hat, ist keine bloße Annahme oder Spekulation. Es war schon geschehen. »Schon« hatten »sich einige abgewandt, dem Satan nach«. Dies ist in dem Sinne gemeint, dass sie der Stimme »Satans« gehorcht hatten und im Ungehorsam gegenüber dem Wort des Herrn einen ungläubigen Partner gewählt hatten.
5,16 Paulus wendet sich nun dem Thema der Verantwortung der Verwandten zu, für die Ihren zu sorgen. »So aber ein Gläubiger17 oder« eine »Gläubige« eine auf Unterstützung angewiesene Witwe in der Familie hat, sollte der oder die Betreffende diese Verantwortung übernehmen, sodass »die Gemeinde« frei ist, sich um die zu kümmern, die wirklich mittellos sind und keine engen Verwandten haben.
In diesem gesamten Abschnitt (in den Versen 3-16) ist davon die Rede, was die Gemeinde unter bestimmten Umständen tun muss, und nicht davon, was sie tun kann, wenn sie der Ansicht ist, dass es mildernde Umstände gibt und sie sich zu einem entsprechenden Handeln imstande sieht. Die Länge dieses Abschnitts zeigt, dass es ein wichtiges Thema für den Heiligen Geist ist. Dennoch gehört es zu jenen Themen, die in den meisten Gemeinden heute vernachlässigt werden. C. Älteste (5,17-25)
5,17 Der Rest des Kapitels befasst sich mit den Ältesten. Zunächst einmal legt Paulus die Regel fest, dass »Ältesten, die gut vorstehen, … doppelte Ehre« gebührt. »Vorstehen« kann auch mit »leiten« übersetzt werden (Darby). Es geht nicht um Herrschaft, sondern um Vorbild. Solche Ältesten sind »doppelter Ehre würdig«. »Ehre« kann hier »Respekt« bedeuten, aber dahinter steht auch der Gedanke an finanzielle Entschädigung (Matth 15,5). »Doppelte Ehre« umfasst beide Gedanken. Zunächst soll ein solcher Ältester vom Volk Gottes um seiner Arbeit willen geachtet werden, doch wenn seine Zeit diesem Werk ganz gewidmet ist, dann ist er auch der finanziellen Unterstützung »würdig«. »Die in Wort und Lehre arbeiten«, sind wahrscheinlich diejenigen, die so viel Zeit zum Predigen und Lehren aufwenden, dass sie nicht in der Lage sind, einem normalen Broterwerb nachzugehen.
5,18 Zwei Schriftstellen werden hier angeführt, um die Aussage zu untermauern, dass einem Ältesten Lohn zusteht. Das  erste  Zitat  stammt  aus  5. Mose  25,4 und das zweite aus Lukas 10,7. Dieser Vers ist besonders interessant im Zusammenhang der Inspiration der Schrift. Paulus nimmt einen Vers aus dem AT und einen anderen aus dem NT, stellt sie nebeneinander auf dieselbe Stufe und nennt sie beide »die Schrift«. Daraus folgt offensichtlich, dass für Paulus die Schriften des NT die gleiche Autorität wie diejenigen des AT besitzen.
Diese Schriftstellen lehren, dass einem »Ochsen«, der zur Ernte herangezogen wird, nicht sein ihm gebührender Anteil an der Ernte vorenthalten werden soll. Auch ein »Arbeiter« soll seinen Teil der Frucht seiner Arbeit erhalten. Genauso ist es mit den Ältesten. Auch wenn ihre Arbeit nicht körperlicher Natur sein mag, so soll doch das Volk Gottes für ihren Unterhalt aufkommen.
5,19 Weil Älteste eine Verantwortungsposition in der Gemeinde innehaben, werden sie zu einem beliebten Ziel der Angriffe Satans. Aus diesem Grund unternimmt der Geist Gottes hier Schritte, um sie vor falschen Anklagen zu schützen. Das Prinzip wird dargelegt, dass keine Zuchtmaßnahme »gegen einen Ältesten« veranlasst wird, es sei denn, dass die Anklage durch das Zeugnis von »zwei oder drei Zeugen« untermauert werden kann. Eigentlich gilt dasselbe Prinzip immer dann, wenn gegenüber einem Gemeindeglied eine Zuchtmaßnahme angewendet wird. Hier wird es jedoch noch einmal betont, weil Älteste besonders in der Gefahr stehen, ungerecht angeklagt zu werden.
5,20 Im Falle eines Ältesten, der sich einer Sünde schuldig gemacht hat, die das Zeugnis der Gemeinde beeinträchtigen kann, soll der Betreffende öffentlich ermahnt werden. Diese Handlung zeigt allen Gläubigen das Ausmaß der Sünde im Zusammenhang mit dem christlichen Dienst und umfasst ein wirksames Mittel, andere von ebensolchen Sünden abzuhalten.
Einige Exegeten glauben, dass Vers 20 sich nicht besonders auf Älteste, sondern auf alle Christen bezieht. Sicher ist dieser Vers auf alle Christen anzuwenden, doch der Zusammenhang dieses Verses verbindet ihn unseres Erachtens direkt mit den Ältesten.
5,21 Im Zusammenhang mit der Gemeindezucht sollten zwei Dinge vermieden werden. Das erste ist das »Vorurteil«, und das zweite ist die Parteilichkeit. Es ist einfach, gegen einen Menschen ein Vorurteil zu haben und so den Fall schon im Voraus zu beeinflussen. Auch ist es nur zu leicht möglich, einem Mann zu viel »Gunst« zu erweisen, weil er reich, angesehen oder beliebt ist. Deshalb ermahnt Paulus Timotheus »ernstlich vor Gott und Christus Jesus und« auch vor »den auserwählten Engeln«, dass er diesen Anweisungen folgen soll. Dabei soll er eine Angelegenheit nicht beurteilen, ehe alle Tatsachen bekannt sind. Er soll niemanden bevorzugen, nur weil er ein Freund oder allgemein bekannt ist. Jeder Fall muss so behandelt werden, als werde er »vor Gott und Christus Jesus« und auch vor »den auserwählten Engeln« verhandelt. Die Engel beobachten unsere Welt, in der wir leben, und sie sollten völlige Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Gemeindezucht erleben können. »Die auserwählten Engel« sind diejenigen, die sich nicht an Sünde oder Rebellion gegen Gott beteiligt haben, sondern in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben sind.
5,22 Wenn sich bedeutende Persönlichkeiten mit einer Ortsgemeinde verbinden, dann gibt es manchmal die Tendenz, ihnen schon bald verantwortliche Stellungen zu geben. Hier wird Timotheus davor gewarnt, neue Glieder zu schnell zu würdigen. Er soll sich auch nicht mit Männern eins machen, deren Charakter ihm nicht bekannt ist, damit er nicht dabei »teil an fremden Sünden« hat. Er soll sich nicht nur moralisch »rein« bewahren, sondern auch in dem Sinne rein bleiben, dass er mit den Sünden anderer nichts zu schaffen hat.
5,23 Es ist nicht klar, wie dieser Vers mit dem vorhergehenden zusammenhängt. Vielleicht hat der Apostel weise vorausgesehen, dass das Engagement des Timotheus bei den gemeindlichen Problemen und Schwierigkeiten schlechte Auswirkungen auf seinen Magen haben würde. Wenn das der Fall wäre, dann wäre Timotheus sicherlich nicht der Erste oder Letzte, der diese Probleme hat! Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Timotheus gesundheitliche Probleme bekam, weil er verunreinigtes Wasser trinken musste, wie es in vielen Teilen der Welt üblich ist. Der Rat des Apostels (»trinke nicht länger nur Wasser«) bedeutet, dass Timotheus nicht ausschließlich Wasser trinken soll. Paulus rät dazu, »ein wenig Wein« um seines »Magens und« seines »häufigen Unwohlseins willen« zu gebrauchen. Dieser Vers betrifft nur den medizinischen Gebrauch von Wein und sollte niemals dazu benutzt werden, übermäßigen Weingenuss gutzuheißen.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass es hier um wirklichen Wein geht und nicht etwa um Traubensaft. Es ist fraglich, ob es Traubensaft zu dieser Zeit überhaupt gab, weil er nur durch Pasteurisierung haltbar gemacht werden kann, ein Prozess, der damals noch nicht bekannt war. Die Tatsache, dass es um wirklichen Wein ging, wird durch den Ausdruck »ein wenig Wein« angedeutet. Wenn es sich nicht um echten Wein gehandelt hätte, ergäbe sich kein Sinn für die Festlegung, nur »ein wenig Wein« zu trinken.
Dieser Vers wirft auch Licht auf das Thema »göttliche Heilung«. Obwohl Paulus als Apostel sicherlich die Vollmacht hatte, alle möglichen Krankheiten zu heilen, hat er diese Gabe nicht immer benutzt. Hier rechtfertigt er die Benutzung einer Medizin, um ein Magenleiden zu heilen.
5,24 In diesem Vers scheint der Apostel zu der Erörterung in Vers 22 zurückzukehren, wo er Timotheus davor gewarnt hat, anderen Männern zu schnell die Hände aufzulegen. Die Verse 24 und 25 erläutern dies näher. »Von manchen Menschen sind die Sünden vorher offenbar« und so augenscheinlich, dass sie mit einem Herold vergleichbar sind, der vor dem Mann einherschreitet und ihn deutlich vernehmbar als Sünder verkündigt, und zwar den ganzen Weg bis zu seinem »Gericht«. Doch das ist nicht immer der Fall. Einige Sünden werden nicht entdeckt, diesen Menschen »folgen sie auch nach«.
Im ersten Fall könnten wir an einen Trinker denken, der für sein Verhalten in der gesamten Gemeinde bekannt ist. Andererseits gibt es da z. B. den Ehemann, der eine geheime Liebesaffäre mit einer anderen Frau hat. Die Gemeinde mag davon zur Zeit nichts wissen, doch oft wird die ganze Schande später offenbar.
5,25 Ähnlich ist es bei guten Menschen. Einige sind ganz offensichtlich gut. Andere dagegen sind zurückhaltender und bescheidener, und nur mit der Zeit wird ihre wirkliche Güte bekannt. Auch wenn wir das Gute noch nicht sehen können, wird es doch eines Tages ans Licht kommen. Die Lehre, die wir aus all dem ziehen sollten, lautet, dass wir einen Menschen nicht vom ersten Eindruck her beurteilen sollen. Vielmehr sollen wir einige Zeit vergehen lassen, sodass sich sein wahrer Charakter zeigen kann. D. Sklaven und Herren (6,1.2)
6,1 Das Verhalten von Sklaven ist jetzt das Thema. Sie werden »Sklaven« genannt,  die  »unter  dem  Joch  sind«,  d. h. unter dem »Joch« der Sklaverei. Der Apostel spricht zunächst zu Sklaven, die ungläubige Herren haben. Sollen Sklaven in solch einem Fall unverschämt zu ihren Herrn sein? Sollen sie rebellieren und weglaufen? Ganz im Gegenteil, sie sollen »ihre eigenen Herren aller Ehre würdig achten«. Das bedeutet, dass sie ihnen den nötigen Respekt erweisen, gehorsam und treu arbeiten und im Allgemeinen vers uchen sollen, eher eine Hilfe als ein Hindernis zu sein. Das große Motiv für einen solchen eifrigen Dienst ist, dass es um das Zeugnis für Christus geht. Wenn ein christlicher Sklave aufrührerisch wäre, dann würde sein Herr den Namen Gottes und den christlichen Glauben »verlästern«. Er würde schließen, dass sich in den Gemeinden der Gläubigen Nichtsnutze zusammenrotten.
Die Geschichte der frühen christlichen Kirche offenbart, dass christliche Sklaven normalerweise einen höheren Preis auf dem Sklavenmarkt erzielten als ungläubige. Wenn ein Meister wusste, dass auf dem Sklavenmarkt ein bestimmter Sklave Christ war, dann war er im Allgemeinen bereit, für den Betreffenden mehr zu bezahlen. Er wusste nämlich, dass dieser Sklave ihm treu und gut dienen würde. Das ist eine großartige Anerkennung des christlichen Glaubens.
Dieser Vers erinnert uns daran, dass man, wie niedrig man auch immer auf der sozialen Leiter stehen mag, trotzdem eine Vielzahl von Möglichkeiten hat, ein Zeugnis für Christus zu sein und seinem Namen Ehre zu machen.
Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass die Sklaverei an sich im NT nicht verurteilt wird. Doch wo sich die Lehren des christlichen Glaubens verbreitet haben, wurde dem Missbrauch der Sklaverei schließlich ein Ende gesetzt. Jeder echte Gläubige sollte erkennen, dass er ein Sklave Jesu Christi ist. Er ist für einen hohen Preis erkauft worden und gehört nicht länger sich selbst. Er gehört Jesus Christus und zwar mit Geist, Seele und Leib. Dabei gebührt Jesus Christus das Beste, was man zu bieten hat.
6,2 Dieser Vers handelt von Sklaven, »die gläubige Herren haben«. Zweifellos wäre die Versuchung groß, dass solche Sklaven ihre Herren »gering achten«. Es war durchaus wahrscheinlich, dass bei einer gemeindlichen Zusammenkunft am Abend des Herrentages (Apg 20,7) christliche Sklaven und christliche Herren am gleichen Tisch saßen, um gemeinsam das Brot zu brechen. Sie waren allesamt »Brüder« in Christus Jesus. Doch die Sklaven sollten nicht denken, dass die sozialen Unterschiede deshalb nicht mehr gelten würden. Nur weil sein Herr ein Christ war, hieß das noch lange nicht, dass er ihm nicht Respekt und Dienst schuldig war. Die Tatsache, dass sein Herr sowohl ein Gläubiger als auch ein »Geliebter« war, sollte den Sklaven dazu bringen, ihm noch treuer zu dienen. Christliche Herren werden hier nicht nur »Gläubige« und »Geliebte« genannt, sondern auch diejenigen, »welche die Wohltat empfangen« (Elb). Darunter versteht man allgemein, dass sie auch an den Segnungen der Erlösung teilhaben. Doch könnte man diese Worte auch in dem Sinne verstehen, dass sowohl Sklaven als auch Herren daran interessiert sind, Gutes zu tun. Zusammen sollten sie auch dienen, wobei jeder versucht, dem anderen zu helfen. Die Worte »dies lehre und ermahne« beziehen sich zweifellos auf die vorangegangenen Anweisungen an christliche Sklaven. Die heutige Anwendung bezieht sich natürlich auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
VI. Irrlehrer und Geldgier (6,3-10)
6,3 Paulus wendet seine Aufmerksamkeit nun denen zu, die vielleicht neue und fremde Lehren in die Gemeinde bringen könnten. Diese Männer halten sich nicht an »die gesunden Worte«. »Gesund« bedeutet heilsam. Dies prägte die Worte, die »unser Herr Jesus Christus« gesprochen hat, als er hier auf Erden war, und wie wir sie in den Evangelien finden. Dies kennzeichnet auch die gesamte Lehre des NT. Das ist »Lehre, die« in dem Sinne »gemäß der Gottseligkeit ist«, dass sie erm utigt und gottgemäßes Verhalten fördert.
6,4 Solche Männer sind »aufgeblasen«. Sie geben vor, besonderes Wissen zu haben, doch in Wirklichkeit wissen sie »nichts«. Wie Paulus schon vorher erwähnt hat, wissen sie nicht, wovon sie reden.
Sie sind versessen auf »Streitfragen und Wortgezänk« (Schl). Das Wort »krank« ist hier wörtlich gemeint. Sie sind geistlich nicht gesund, und statt heilsame Worte zu predigen, wie es im vorherigen Vers erwähnt wird, lehren sie Worte, die kranke Heilige hervorbringen. Sie werfen verschiedene, geistlich nicht erbauliche Fragen auf und streiten sich über Worte. Weil das, wovon sie reden, keine biblischen Lehren sind, gibt es keine Möglichkeit, diese Dinge abschließend zu beurteilen. Als Folge dieser Lehren entstehen deshalb »Neid, Streit, Lästerungen« und »böse Verdächtigungen«. Lenski sagt:
Bei ihren Fragen und Wortgefechten beneidet einer den anderen um die Fähigkeiten, die der andere entwickelt; man versucht, ein ander in widersprüchlichen Ansichten zu übertreffen. Daraus entstehen dann Läs terungen, nämlich Anklagen, die in heilige Worte gefasst werden.18
6,5 Diese »Zänkereien« entstehen durch »Menschen, die in ihrer Gesinnung  verdorben«,  d. h.  geistlich  krank sind. Lenski kommentiert dies mit scharfen Worten folgendermaßen: Der kranke Geisteszustand besteht in Verdorbenheit und Zerfall – die geistigen Fähigkeiten funktionieren im moralischen und geistlichen Bereich nicht mehr richtig. Diese Menschen reagieren auf die Wahrheit nicht mehr normal. Alle Realität und ihr Ausdruck in abstrakten Wahrheiten sollten dazu führen, dass Menschen sie annehmen, insbesondere die errettenden göttlichen Evangel iumswahrheiten sollten diese Wirkung hab en. Alle Lügen, Falschheiten und Verdrehungen sollten dagegen Ablehnung hervorrufen, insbesondere auf moralischem und geistlichem Gebiet … Wenn der verirrte Geist auf »die Wahrheit« trifft, dann sieht und sucht er nur Einwände; wenn er auf Abweichungen von der Wahrheit trifft, dann sieht und sucht er Gründe, diese Abweichungen anzunehmen.19 Auch sind diese Männer »der Wahrheit beraubt«. Sie haben einmal die Wahrheit gekannt, doch weil sie das Licht abgelehnt haben, sind sie auch noch der »Wahrheit beraubt« worden, die sie einst kannten.
Diese Männer »meinen, die Gottseligkeit sei ein Mittel zum Gewinn«. Offensichtlich wählen sie den Beruf des geistlichen Lehrers, weil sie in ihm für ein Minimum an Arbeit gut bezahlt werden. »Sie degradieren die heiligste aller Berufungen zu einem gewinnbringenden Handwerk.«
Das erinnert uns nicht nur an die Mietlinge, die vorgeben, christliche Hirten zu sein, aber auch keine wirkliche Liebe zur Wahrheit haben. Vielmehr ruft uns dies auch jenes Geschäftsdenken ins Gedächtnis, das in der Christenheit inzwischen so verbreitet ist. Dabei geht es u. a. um den Verkauf von Luxusgütern, um Lotteriespiele, Basare, Verkäufe etc. »Von solchen halte  dich  fern«  (Schl 2000).20 Uns wird befohlen, den Umgang mit solchen gottlosen Namenschristen zu meiden.
6,6 So wie der vorherige Vers eine falsche Definition von Gewinn gab, so gibt dieser Vers die wahre Bedeutung dieses Wortes an. Die Kombination von »Gottseligkeit mit Genügsamkeit aber ist ein großer Gewinn«. Gottseligkeit ohne Zufriedenheit ergäbe ein einseitiges Zeugnis. Zufriedenheit ohne Gottseligkeit hätte mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun. Doch echte Gottseligkeit zu haben und gleichzeitig mit den persönlichen Umständen zufrieden zu sein, ist mehr, als man mit Geld kaufen kann.
6,7 Dieses Kapitel ähnelt sehr den Lehren des Herrn Jesus in der Bergpredigt. Vers 7 erinnert uns an seine Anweisung, dass wir unserem himmlischen Vater bezüglich der Erfüllung unserer Bedürfnisse vertrauen sollen. Es gibt drei Gelegenheiten im Leben, bei denen wir mit leeren Händen dastehen – bei der Geburt, bei unserer Hinwendung zu Jesus und zum Zeitpunkt des Todes. Dieser Vers erinnert uns an die erstgenannte und die letztgenannte Gelegenheit. »Denn wir haben nichts in die Welt hereingebracht, sodass wir auch nichts hinausbringen können.« Ehe Alexander der Große starb, sagte er: »Wenn ich tot bin, so tragt mich auf meiner Bahre hinaus, hüllt aber die Hände nicht ein, sondern lasst sie draußen, sodass alle Menschen sehen können dass sie leer sind.« Bates kommentiert dies:
Ja, diese Hände, die einst das stolzeste Zepter der Welt hielten, die einst das siegreichste Schwert führten, die einst mit Silber und Gold gefüllt waren, die einst die Macht hatten, Leben zu retten oder zu nehmen, waren nun Leer.21
6,8 Genügsamkeit bedeutet, damit zufrieden zu sein, das zum Leben unbedingt Notwendige zu haben. Unser himmlischer Vater weiß, dass wir »Nahrung« und Kleidung brauchen, und hat versprochen, dafür zu sorgen. Der größte Teil des Lebens eines Ungläubigen dreht sich um »Nahrung und Kleidung«. Der Christ sollte zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachten, und Gott wird darauf sehen, dass ihm das Lebensnotwendige nicht fehlt. Das Wort, das hier mit »Kleidung« übersetzt wird, bedeutet »Bedeckung« und kann sowohl eine Wohnung bezeichnen als auch die Kleider, die wir tragen. Wir sollten zufrieden sein, wenn wir »Nahrung … Kleidung« und eine Wohnung haben.
6,9 Die Verse 9-16 sprechen direkt von Menschen, die das unstillbare Verlangen haben, »reich« zu »werden«. Ihre Sünde liegt nicht darin begründet, dass sie reich sind, sondern in dem Verlangen, es sein zu wollen. »Die … reich werden wollen«, sind Menschen, die mit Nahrung, Kleidung und Wohnung nicht zufrieden sind, sondern mehr haben wollen. Das Verlangen »reich« zu sein, führt den Menschen »in Versuchung«. Um sein Ziel zu erreichen, ist er geneigt, unehrliche und oftmals sogar gewalttätige Methoden zu benutzen. Zu diesen Methoden gehören Glücksspiel, Spekulation, Betrug, Meineid, Diebstahl und sogar Mord. Solch ein Mensch gerät in einen »Fallstrick« oder eine Falle. Das Verlangen wird so stark, dass er sich von ihm nicht mehr befreien kann. Vielleicht verspricht er sich selbst, dass er aufhören wird, wenn er einen bestimmten Betrag auf seinem Bankkonto verbuchen kann. Doch er kann nicht aufhören. Wenn er dieses Ziel erreicht hat, dann verlangt ihn nach mehr. Das Verlangen nach Geld bringt auch Sorgen und Ängste mit sich, die die Seele umgarnen. Menschen, die entschlossen sind, reich zu werden, »fallen … in viele unvernünftige … Begierden«. Da haben wir  z. B.  das  Verlangen,  »mit  den  Leuten von nebenan materiell mithalten zu wollen«. Um eine bestimmte soziale Stellung im Wohnort einzunehmen, werden sie oftmals dazu getrieben, die wirklichen Werte des Lebens zu opfern. Sie »fallen« auch in »schädliche Begierden«. Habsucht führt Menschen dazu, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen und ihre Seelen zu gefährden. Das ist oft das Ziel, worauf sie hinsteuern. Sie sind so sehr mit dem Materiellen beschäftigt, dass sie in die Tiefe gerissen werden und »in Verderben und Untergang« enden. In ihrer unaufhörlichen Sucht nach Gold vernachlässigen sie ihre unsterbliche Seele. Barnes warnt: Alles wird zugrunde gerichtet. Das Lebensglück, die Tugend, der Ruf und die Seele werden ruiniert. Das beherrschende Verlangen nach Reichtum führt auf einen Weg der Torheit, der alles hier auf Erden und in der kommenden Welt zerstört. Wie viele Menschen sind auf diese Weise bereits zugrunde gerichtet worden!22
6,10 »Denn eine Wurzel alles Bösen ist die Geldliebe.« Nicht alles Böse im Universum entspringt der »Geldliebe«. Doch ist sie sicherlich eine der größten Ursachen für viele verschiedene Übel. Sie führt z. B. zu Neid, Eifersucht, Diebstahl, Unehrlichkeit, Trunkenheit, Achtlosigkeit gegenüber Gott, Selbstsucht, Unterschlagung usw.
Es geht hier nicht um das Geld an sich, sondern um die »Geldliebe«. Geld darf man für den Dienst des Herrn auf verschiedene Weise einsetzen, wenn nur Gutes daraus folgt. Doch hier ist es das ungeheuer große Verlangen nach »Geld«, das zu Sünde und Schande führt. Ein besonderes Übel der Geldliebe wird nun erwähnt, nämlich ein Abweichen vom christlichen »Glauben«. In ihrem verrückten Streben nach Geld vernachlässigen die Menschen den geistlichen Bereich. Dabei wird es schwierig zu sagen, ob sie überhaupt jemals errettet worden sind.
Sie verlieren nicht nur ihre geistlichen Werte, sondern sie haben »sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt«. Man denke an die Sorgen, die mit der Sucht nach Reichtum verbunden sind! Da haben wir die Tragödie eines verschwendeten Lebens. Da ist der Schmerz, seine Kinder an die Welt zu verlieren. Da ist die Trauer, den Reichtum über Nacht dahinschwinden zu sehen. Das ist die Angst, Gott zu begegnen, ob man nun unerrettet oder aber mit leeren Händen kommt. Bischof J. C. Ryle fasst zusammen: Geld ist in Wirklichkeit eines der am wenigsten befriedigenden Besitztümer. Es nimmt zweifellos einige Sorgen, doch es bringt mindestens ebenso viele Sorgen mit sich, wie es wegnimmt. Einmal ist da die Sorge, es zu erlangen. Dann gibt es die Anstrengungen, es auch zu behalten. Es folgen die Versuchungen beim Ausgeben. Man häuft Schuld auf, wenn man es missbraucht. Dann gibt es Leid, wenn man Geld verliert. Außerdem geht es um die Ratlosigkeit, wie man es anlegen und darüber verfügen soll. Zwei Drittel aller Streitereien, juristischen Auseinandersetzungen und sonstigen Gerichtsverfahren auf der Welt entspringen einer einzigen Ursache: dem Geld!23 Der seinerzeit reichste Mann der Welt besaß Ölquellen, Raffinerien, Tanker und Pipelines, dazu Hotels, eine Lebensversicherungsgesellschaft, eine Finanzierungsgesellschaft und ein Luftfahrtunternehmen. Doch er umgab seinen großen Landbesitz mit Bodyguards, scharfen Hunden, stählernen Zäunen, Flutlichtern, Alarmglocken und Sirenen. Zusätzlich zu seiner Furcht vor Flugzeugen, Schiffen und Einbrechern fürchtete er sich vor Krankheit, Alter, Hilflosigkeit und Tod. Er war einsam und traurig und gab zu, dass man Glück nicht mit Geld kaufen kann.24
VII. Abschließende Anweisungen an Timotheus (6,11-21)
6,11 Timotheus wird hier als »Mensch Gottes« angesprochen. Dieser Titel wurde oft den Propheten des AT gegeben und beschreibt einen Mann, der sich gottesfürchtig verhielt. Dieser Titel könnte auch darauf hinweisen, dass Timotheus die Gabe der Prophetie hatte. Das Gegenteil von »Mensch Gottes« ist der »Mensch der Sünde«, wie wir ihn in 2. Thessalonicher 2 finden. Der Mensch der Sünde wird die personifizierte Sünde sein. Alles an ihm wird einen an Sünde denken lassen. Timotheus soll ein »Mensch Gottes« sein – eine Persönlichkeit, die andere an Gott und seine Herrlichkeit denken lässt. In seinem Dienst für Christus sollte Timotheus »fliehen« vor Hochmut (V. 4), vor  Unreinheit  (V. 5),  vor  Unzufriedenheit  (V. 6-8),  vor  unvernünftigen  und schädlichen Begierden (V. 9) und vor der Geldliebe  (V. 10).  Er  sollte  seine  christliche Wesensart entfalten – das Einzige, was man mit in den Himmel nehmen kann. Hier werden als Teile des christlichen Charakters genannt: »Gerechtigkeit, Gottseligkeit, Glauben, Liebe, Ausharren, Sanftmut«.
»Gerechtigkeit« spricht von Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit in der Behandlung unserer Mitmenschen. »Gottseligkeit« ist Gottesähnlichkeit. »Glaube« kann hier auch Treue oder Zuverlässigkeit bedeuten. »Liebe« kündet von unserer Zuneigung sowohl zu Gott als auch zu unseren Mitmenschen. »Ausharren« ist mit Geduld oder Ausdauer in Anfechtungen und Prüfungen definiert worden, während »Sanftmut« eine freundliche und demütige Gesinnung bezeichnet.
6,12 Timotheus soll nicht nur fliehen und nachfolgen, er soll auch »kämpfen«. Hier geht es bei dem Wort »kämpfen« nicht um Kriegsführung, sondern um den Versuch, etwas mit allen Mitteln zu erreichen. Das Wort ist nicht der militärischen Sprache entlehnt, sondern kommt aus dem Bereich des sportlichen Wettbewerbs. Der »gute Kampf« und der damit verbundene Wettbewerb werden hier »Glaubenskampf« genannt. Timotheus soll in diesem Wettlauf gut abschneiden. Er soll »das ewige Leben« ergreifen. Das bedeutet nicht, dass er um die Erlösung kämpfen muss. Sie gehört ihm schon. Hier geht es darum, in der alltäglichen Praxis das »ewige Leben«, das man schon hat, auch auszuleben.
Timotheus war schon bei seiner Bekehrung zum »ewigen Leben« berufen worden. Auch hatte er »das gute Bekenntnis vor vielen Zeugen … bekannt«. Vielleicht weist dies auf die Taufe hin, obwohl es auch das ganze darauffolgende Zeugnis für den Herrn Jesus Christus umfassen könnte.
6,13 Der Apostel gibt Timotheus nun einen ernsten Rat, und er tut dies in der Anwesenheit der zwei größten Zeugen. Zunächst ermahnt er ihn »vor Gott, der allem Leben gibt«. Als Paulus an Timotheus schreibt, ist Paulus sich vielleicht bewusst, dass er eines Tages sein Leben lassen muss, weil er den Herrn Jesus bezeugt hat. Wenn das der Fall ist, dann ist es gut für diesen jungen Kämpfer, sich daran zu erinnern, dass Gott derjenige ist, »der allem Leben gibt«. Auch wenn es den Menschen gelingen sollte, Timotheus zu töten, so ruht doch sein Glauben auf dem Einen, der aus den Toten auferweckt. Zweitens gibt er den Rat »vor Christus Jesus«. Er ist das große Vorbild des »guten Bekenntnisses«. »Vor Pontius Pilatus« hat er »das gute Bekenntnis bezeugt«. Obwohl sich dies auf alle Worte und Taten des Heilands vor dem römischen Statthalter beziehen kann, bezieht es sich vielleicht besonders auf seine Aussage in Johann es 18,37: »Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.« Dieses furchtlose Bekenntnis wird Timotheus als ein Beispiel vor Augen gestellt, dem er beim Bezeugen der Wahrheit nacheifern soll.
6,14 Timotheus wird ermahnt, »das Gebot« zu »bewahren«. Einige denken, dass dies sich auf das oben erwähnte Gebot bezieht, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen. Andere sind der Meinung, dass es sich auf die gesamten Ratschläge bezieht, die Paulus dem Timotheus in diesem Brief gegeben hat. Andere wiederum sind der Ansicht, dass das Gebot die Evangeliumsbotschaft oder die Offenbarung Gottes beinhaltet, wie wir sie in seinem Wort finden. Wir glauben, dass es sich hier um den Auftrag handelt, die Wahrheit des christlichen Glaubens zu »bewahren«.
Die Ausdrücke »unbefleckt« und »untadelig« beziehen sich eher auf Timotheus als auf das Gebot. Wenn er das Gebot hält, dann soll Timotheus damit ein Zeugnis aufrechterhalten, das »unbefleckt« ist: Man soll ihm nichts Böses nachsagen können.
Im NT wird dem Gläubigen ständig die »Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus« vor Augen gehalten. Treue zu Christus in dieser Welt wird vor dem Richterstuhl Christi belohnt werden. Dieser Lohn wiederum wird offenbar werden, wenn der Herr Jesus auf die Erde zurückkehrt, um sein Reich aufzurichten. Dann werden die Folgen von Treue und Untreue deutlich offenbar.
6,15 Die Ausleger sind sich nicht einig darüber, ob sich die Pronomen dieses Verses auf Gott den Vater oder auf den Herrn Jesus Christus beziehen. Wenn man Vers 15 allein nimmt, so scheint er sich auf den Herrn Jesus zu beziehen, weil er in Offenbarung 17,14 eindeutig als »König der Könige und Herr der Herren« bezeichnet wird. Andererseits bezieht sich Vers 16 offenbar auf Gott den Vater. Jedenfalls besteht die Bedeutung von Vers 15 in Folgendem: Wenn der Herr Jesus Christus wiederkommt, um über die Erde zu herrschen, dann werden die Menschen erkennen, wer »der selige und alleinige Machthaber« ist. Die Erscheinung wird zeigen, wer der wahre »König« ist. Zu der Zeit, als Paulus an Timotheus schrieb, war der Herr Jesus der Verworfene, und er ist es noch immer. Doch es kommt der Tag, da es eindeutig sichtbar sein wird, dass er der »König« über alle Machthaber und der »Herr« über alle ist, die als »Herren« regieren. »Selig« bedeutet nicht nur würdig, gepriesen zu werden. Vielmehr ist das Wort auch eine Bezeichnung für denjenigen, der in sich alle Seligkeit der Welt vereint.
6,16 Beim Erscheinen des Herrn Jesus werden die Menschen auch erkennen, dass nur Gott »allein Unsterblichkeit hat«. Das bedeutet, dass er der Einzige ist, dem diese Eigenschaft an sich zukommt. Den Engeln ist diese Eigenschaft übertragen worden, und bei der Auferstehung werden die Gläubigen unsterbliche Leiber  erhalten  (1. Kor  15,53.54),  doch  Gott ist die »Unsterblichkeit« selbst. Von Gott wird als Nächstes ausgesagt, dass er »ein unzugängliches Licht bewohnt«. Das spricht von dem strahlenden Lichtglanz und der Herrlichkeit, die den Thron Gottes umgibt. Der Mensch in seinem natürlichen Zustand würde aufgrund dieser Herrlichkeit vergehen. Nur diejenigen, die in den Geliebten angenommen und vollständig in Christus sind, können sich Gott nahen, ohne vernichtet zu werden.
Das wahre Wesen Gottes hat noch »keiner der Menschen gesehen«, noch »kann« ihn ein Mensch »sehen«. Im AT sahen die Menschen Erscheinungen Gottes, die man auch »Theophanien« nennt. Im NT hat Gott sich selbst vollkommen in der Person seines geliebten Sohnes, des Herrn Jesus Christus, offenbart. Doch noch immer gilt, dass Gott selbst für sterbliche Augen unsichtbar bleibt. Diesem Einen nun gebührt »Ehre und ewige Macht«, und Paulus schließt seine Ermahnung an Timotheus mit diesem Lobpreis Gottes.
6,17 Paulus hat schon vorher ausführlicher über die Menschen gesprochen, die gern reich werden möchten. Hier spricht er nun von denen, die schon zu »den Reichen« gehören. Timotheus soll ihnen »gebieten, nicht hochmütig zu sein«. Das ist eine Versuchung der Reichen. Sie sehen schnell auf diejenigen herab, die nicht viel Geld haben, und meinen, dass diese Ärmeren vornehme Umgangsformen, Kultur sowie Bildung und auch die nötige Raffinesse vermissen lassen, um reich zu werden. Das stimmt natürlich nicht unbedingt. Großer Reichtum ist im NT kein Zeichen von Gottes besonderem Segen, wie es im AT der Fall war. Während unter dem Gesetz Reichtum ein Zeichen göttlichen Wohlgefallens war, liegt die große Segnung des neuen Zeitalters im Leiden. Die »Reichen« sollten ihre »Hoffnung« nicht »auf die Ungewissheit des Reichtums … setzen«. Geld hat die Tendenz, Flügel zu bekommen und davonzufliegen. Während große Vorräte den Anschein geben, Sicherheit zu bringen, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass das einzig Verlässliche in dieser Welt das Wort Gottes ist.
Deshalb werden die Reichen ermahnt, »auf Gott« zu vertrauen, »der uns alles reichlich darreicht zum Genuss«. Einer der schlimmen Fallstricke des Reichtums besteht in der Schwierigkeit, ihn zu besitzen, ohne darauf zu vertrauen. Doch Reichtum ist sogar eine Form des Götzendienstes. Man leugnet damit die Tatsache, dass Gott derjenige ist, »der uns alles reichlich darreicht zum Genuss«. Diese letztere Feststellung billigt nicht stillschweigend ein Luxusleben, sondern bringt einfach zum Ausdruck, dass Gott der Ursprung wahrer Freude ist, während materielle Dinge sie nicht hervorbringen können.
6,18 Der Christ wird daran erinnert, dass das Geld, das er besitzt, nicht sein Eigentum ist. Es wird ihm zur Verwaltung gegeben. Er ist dafür verantwortlich, es zur Verherrlichung Gottes und zum Segen seiner Mitmenschen einzusetzen. Er soll es zu »guten Werken« benutzen und bereit sein, es mit Bedürftigen zu teilen. Die Lebensregel von John Wesley lautete: »Tue so viel Gutes, wie du kannst, und mit allen Mitteln, womit du es kannst. Tue es auf alle Arten, auf die du es kannst, und an allen Orten, wo du es kannst. Tue es zu allen Zeiten, zu denen du es kannst, gegenüber allen Leuten, denen du Gutes erweisen kannst, und solange du es kannst.«
»Mitteilsam« sein heißt, dass man bereit sein soll, sein Geld dorthin zu geben, wo immer der Herr es uns zeigen mag.
6,19 Dieser Vers betont die Wahrheit, dass es für uns möglich ist, in diesem Leben unsere materiellen Güter auf solche Weise zu benutzen, dass sie Ewigkeitswerte erarbeiten. Indem wir unser Geld jetzt für das Werk des Herrn geben, legen wir uns selbst »ein gutes Grundvermögen für die Zukunft« an (vgl. Menge). Auf diese Weise »ergreifen« wir »das wirkliche Leben«.
6,20 Nun kommen wir zur letzten Ermahnung des Paulus an Timotheus. Er wird ermutigt, das ihm »anvertraute Gut« zu bewahren. Das bezieht sich sicherlich auf die wahren Lehren des christlichen Glaubens. Es geht hier nicht um die Seele des Timotheus oder um die Frage seiner Errettung, sondern um die Wahrheit des Evangeliums von der Gnade Gottes. Wie Geld auf einer Bank sollte die Wahrheit, die Timotheus anvertraut war, »völlig und ganz und unverdorben« bewahrt werden.
Er sollte alle »unheiligen leeren Reden und Einwände der fälschlich sogenannten Erkenntnis« meiden. »Leere Reden« be inhalten törichtes Geschwätz über nutzlose Themen.
Paulus erkannte, dass Timotheus vielen Lehren begegnen würde, die als wahre Erkenntnis dargelegt wurden, in Wirklichkeit jedoch der christlichen Offenbarung entgegenstanden. Bischof Moule schreibt:
Die Gnostiker in der Zeit des Paulus behaupteten, ihre Jünger »über die normale Herde der einfachen Gläubigen hinauszuführen. Das Ziel war ein erhabener und begabter Kreis von Eingeweihten, der die Geheimnisse des Seins erkennen könne. Dort könnten sie durch diese Erkenntnis von der Sklaverei der Materie befreit werden und in der Welt des Geistes frei leben«.25
Von all dem sollte Timotheus sich fernhalten.
Das bezieht sich in unserer Zeit in erster Linie auf Sekten, wie etwa auf die »Christliche Wissenschaft«. Dieses System behauptet, christlich zu sein, und beansprucht, echte »Erkenntnis« zu besitzen, doch wird sie »fälschlich so genannt«. Sie ist weder christlich noch wissenschaftlich.
Dieser Vers kann auch auf viele Formen der Naturwissenschaften ang ewandt werden, wie sie heute in uns eren Schulen gelehrt werden. Keine wahre Entd eckung der Naturwissenschaft wird je der Bibel widersprechen, weil die Geh eimnisse
1,1 Paulus stellt sich selbst am Anfang des Briefes als »Apostel Christi Jesu« vor. Ihm war dieser besondere Auftrag vom verherrlichten Herrn gegeben worden. Diese Ernennung geschah weder von noch durch Menschen, sondern direkt »durch Gottes Willen«. Auch nennt Paulus seine Apostelschaft »nach Verh eißung des Lebens, das in Christus Jesus ist«. Gott hat allen, die an »Christus Jesus« glauben, die »Verheißung« geg eben, dass sie das ewige »Leben« erhalten. Der Ruf in den Aposteldienst gehörte für Paulus zu dieser »Verheißung«. Ja, hätte es diese Verheißung nicht gegeben, wäre ein Apostel wie Paulus überhaupt nicht nötig gewesen.
Vine drückt es so aus: »Es entsprach dem göttlichen Plan, dass das Leben, das in der Ewigkeit vor aller Zeit in Christus Jesus war, uns zugeeignet werden sollte. Zu diesem Plan gehörte auch, dass Paulus ein Apostel werden sollte.«1
V. Paul Flint legt die fünf Erwähnungen des Lebens in diesem Brief folgendermaßen aus: 1,1 – die Verheißung des Lebens; 1,10 – die Offenbarung des Lebens; 2,11 – die Teilhabe am Leben; 3,12 – die Ordnung des Lebens und 4,1 – der Zweck des Lebens
1,2 »Timotheus« wird als »geliebtes Kind« angesprochen. Es kann nicht endgültig bewiesen werden, dass Timotheus sich wirklich durch den Dienst des Paulus bekehrte. Ihre erste aufgezeichnete Begegnung findet sich in Apostelgeschichte 16,1. Dort wird Timotheus schon als Jünger beschrieben, bevor Paulus nach Lystra gekommen ist. Jedenfalls sah der Apostel ihn als »geliebtes Kind« im christlichen Glauben an. Wie im 1. Timotheusbrief besteht der Gruß des Apostels aus »Gnade, Barmherzigkeit, Friede«. Es ist im Kommentar zu 1. Timotheus schon darauf hingewiesen worden, dass Paulus den Gläubigen einer Gemeinde normalerweise Gnade und Friede wünscht, wenn er ihnen schreibt. Als er Timotheus schreibt, fügt er das Wort »Barmherzigkeit« hinzu. Guy King hat vorgeschlagen, dass man »Gnade« für jeden Dienst braucht, »Barmherzigkeit« dagegen für jedes Versagen und »Friede« für alle Umstände. Jemand hat einmal gesagt: »Gnade für die Wertlosen, Barmherzigkeit für die Hilflosen und Friede für die Ruhelosen.« Hiebert definiert »Barmherzigkeit« als »die aus Gott selbst stammende, aus freien Stücken kommende, liebevolle Freundlichkeit Gottes, die ihn dazu veranlasst, in seinem Handeln gegenüber Verzweifelten und Traurigen Mitleid und liebevolle Zuneigung erkennen zu lassen«.2
Diese Segnungen kommen »von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Herrn«. Hier haben wir wieder einmal den Fall vorliegen, wo Paulus den Sohn so ehrt, wie er den Vater ehrt.
1,3 In seinem charakteristischen Stil bricht Paulus nun in Danksagung aus. Wenn wir dies lesen, sollten wir uns daran erinnern, dass er von einem römischen Verlies aus schrieb. Er war wegen der Predigt des Evangeliums eingekerkert worden und wurde wie ein gewöhnlicher Krimineller behandelt. Der christliche Glaube wurde zu dieser Zeit von den römischen Herrschern aktiv unterdrückt, und schon viele Gläubige hatten ihr Leben lassen müssen. Trotz all dieser widrigen Umstände kann Paulus seinen Brief an Timotheus mit den Worten beginnen: »Ich danke Gott!« Der Apostel diente Gott nun »mit reinem Gewissen«, so wie es seine jüdischen »Voreltern« getan hatten. Obwohl seine Vorfahren keine Christen waren, glaubten sie doch an den lebendigen Gott. Sie verehrten ihn und wollten ihm dienen. Sie hielten die »Hoffnung und die Auferstehung der Toten« fest, wie Paulus in Apostelgeschichte 23,6 betont. Deshalb konnte er in Apostelgeschichte 26,6 und 7a sagen: »Und nun stehe ich vor Gericht wegen der Hoffnung auf die von Gott an unsere Väter geschehene Verheißung, zu der unser zwölfstämmiges Volk, unablässig Nacht und Tag Gott dienend, hinzugelangen hofft.«
So konnte Paulus davon sprechen, dass sein Dienst für den Herrn nach dem Beispiel seiner Vorfahren geschah. Das Wort, das er hier für »dienen«3 verwendet, steht in Verbindung mit Loyalität und Treue. Er erkannte den wahren Gott damit an.
Als Nächstes spricht Paulus davon, dass er »unablässig« in seinen »Gebeten« an Timotheus denkt, und zwar »Nacht und Tag«. Wann immer der große Apostel im Gebet mit dem Herrn sprach, erinnerte er sich an seinen geliebten jungen Mitarbeiter und brachte seinen Namen vor den Thron der Gnade. Paulus wusste, dass seine eigene Dienstzeit schon bald beendet sein würde. Er wusste, dass Timotheus dann, menschlich gesprochen, allein bleiben würde, um seinen Zeugendienst für Christus zu tun. Er wusste, welche Schwierigkeiten auf ihn warten würden, und deshalb betete er fortwährend für diesen jungen Glaubensstreiter.
1,4 Wie muss es Timotheus berührt haben, als er diese Worte las! Der Apostel Paulus hatte, wie es Moule einmal genannt hat, ein »heimwehkrankes Sehnen«, Timotheus »zu sehen«. Das war sicherlich ein Kennzeichen besonderer Liebe sowie Wertschätzung und spricht deutlich von der Liebe, Freundlichkeit und Demut des Paulus.
Vielleicht brach Timotheus zusammen, als sie sich das letzte Mal voneinander verabschiedet hatten. Seine »Tränen« hatten bei seinem älteren Glaubensbruder an seiner Seite einen tiefen Eindruck hinterlassen. Hiebert ist der Ansicht, dass es geschah, als Paulus von der Polizei oder von römischen Soldaten weggeholt worden war.4 Paulus kann das nicht vergessen, und nun sehnt er sich danach, wieder bei Timotheus zu sein, damit er »mit Freude erfüllt« würde. Er tadelt Timotheus wegen dieser »Tränen« nicht, als ob sie für einen Mann unangemessen seien, oder als ob für Gefühle kein Platz im Leben des Christen sei. J. H. Jowett sagte immer: »Tränenlose Herzen können niemals Herolde der Passion sein. Wenn unser Mitgefühl keinen Schmerz mehr empfindet, können wir nicht mehr Diener der Passion sein.«
1,5 Auf irgendeine Weise war Paulus an den »ungeheuchelten Glauben« des Timotheus erinnert worden. Sein »Glaube« war echt, treu und hatte nichts Fassadenhaftes an sich.5 Doch Timotheus war nicht der Erste in seiner Familie, der errettet wurde. Offensichtlich hatte seine jüdische »Großmutter Lois« die Gute Nachricht vom Heil gehört und den Herrn Jesus als Messias angenommen. Und ihre Tochter »Eunike«, auch eine Jüdin (Apg 16,1), war Christin geworden. Auf diese Weise hatte Timotheus die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens kennengelernt, und er glaubte in der dritten Generation in dieser Familie an den Heiland. In der Schrift steht nichts darüber, ob sich der Vater von Timotheus je bekehrt hat. Obwohl die Erlösung nicht von gläubigen Eltern geerbt werden kann, so ist es doch sicher wahr, dass es in der Schrift das Prinzip der Hausgemeinschaft gibt. Es scheint so, dass Gott gern ganze Familien errettet. Es widerspricht seinem Willen, dass ein Glied nicht dazugehört. Man beachte, was hier steht: Es heißt, dass der »Glaube« in »Lois« und »Eunike« gewohnt hat. Er war keine gelegentliche Verzierung ihres Lebens, sondern ein Gut, das sie fortwährend in Anspruch nahmen. Paulus war »überzeugt«, dass das »auch« für Timotheus galt. Es war ein echter Glaube, den Timotheus trotz aller Anfechtungen aufrechterhalten würde, die er in Verbindung damit erdulden müsste.
II. Ermahnungen an Timotheus (1,6-2,13) A. Ermahnung zur Treue (1,6-18)
1,6 Wegen seiner frommen Familie und seines eigenen Glaubens wird Timotheus ermahnt, »die Gnadengabe anzufachen, die in« ihm ist. Einige sind der Ansicht, dass damit der Heilige Geist gemeint ist. Andere verstehen darunter eine besondere Fähigkeit, die vom Herrn für eine bestimmte Form des christlichen Dienstes  geschenkt  wird,  z. B.  die  Gabe  des Evangelisten, Hirten oder Lehrers. Es scheint klar zu sein, dass Timotheus in den christlichen Dienst berufen worden war und dazu einige besondere Gaben erhalten hat. Hier wird er nun ermutigt, die »Gabe« zu einer lebendigen Flamme »anzufachen«. Er soll sich nicht durch das allgemeine Versagen um ihn herum entmutigen lassen. Er soll seine Aufgabe auch nicht einfach als normale Arbeit ansehen und in bequeme Routine verfallen. Stattdessen soll er achtgeben, seine Gabe immer mehr zu gebrauchen, da die Zeiten immer dunkler werden würden. Diese »Gabe« hatte Timotheus »durch das Auflegen« der »Hände« des Apostels empfangen. Dies darf man nicht mit einem Ordinationsgottesdienst verwechseln, wie er in kirchlichen Kreisen heute üblich ist. Damit ist genau das gemeint, was hier steht – nämlich die Tatsache, dass die Gabe Timotheus wirklich in dem Augenblick gegeben wurde, als Paulus ihm die Hände auflegte. Der Apostel war der Kanal, durch den die Gabe übertragen wurde.
Es erhebt sich sofort die Frage: »Findet so etwas auch heute noch statt?« Die Antwort lautet: »Nein.« Die Vollmacht, eine Gabe durch Auflegung der Hände zu vermitteln, wurde Paulus als Apostel Jesu Christi gegeben. Weil wir heute keine Apostel im eigentlichen Sinne mehr haben, besitzen wir auch nicht mehr die Vollmacht, apostolische Wunder zu vollbringen.
Dieser Vers sollte im Zusammenhang mit 1. Timotheus 1,18 und 4,14 gelesen werden. Wenn wir diese drei Verse in der Zusammenschau sehen, stellen wir fest, dass die Reihenfolge der Vorgänge nach Vine folgendermaßen war: Durch eine prophetische Äußerung wurde Paulus zu Timotheus geführt, der auf besondere Weise zum Dienst berufen worden war. Durch die förmliche Handlung des Apostels hat der Herr Timotheus eine Gabe gegeben. Indem die Ältesten ihm die Hände auflegten, erkannten sie an, was der Herr getan hatte. Die letztg enannte Handlung entsprach weder einer Ordination noch der Übertragung einer Gabe oder der Einführung in eine kirchliche Stellung.6
Oder zitieren wir, was Stock diesbezüglich zusammenfasst: »Die Gabe kam ›durch‹ die Hände des Paulus, nicht ›mit‹ den Händen der Ältesten.«
1,7 Da Paulus selbst dem Märtyrertod entgegensah, nahm er sich die Zeit, Timotheus daran zu erinnern, dass »Gott … uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit« oder Feigheit gegeben hat. Diese Tatsache lässt keinen Raum für Furchtsamkeit oder Zaghaftigkeit.
Doch Gott hat uns den Geist »der Kraft« gegeben. Uns steht eine unbegrenzte Kraft zur Verfügung. Durch die Befähigung des Heiligen Geistes kann der Gläubige tapfer dienen, geduldig ertragen, siegreich leiden, und, wenn nötig, als der Herrlichkeit Entgegengehender sterben.
Gott hat uns auch einen Geist »der Liebe« gegeben. Es ist unsere Liebe zu Gott, die die Furcht austreibt und uns bereit macht, uns ganz Christus hinzugeben, was immer die Kosten sein mögen. Es ist unsere Liebe zu unseren Mitmenschen, die uns bereit macht, Verfolgungen aller Art auf uns zu nehmen und sie mit Freundlichkeit zu vergelten. Schließlich hat uns Gott auch noch einen Geist der »Zucht« oder Besonnenheit gegeben. Die Übersetzung »des gesunden Sinnes« (Anm. Elb) gibt den Gedanken nicht genau wieder. Man könnte aufgrund dessen von der Bedeutung ausgehen, dass ein Christ immer seelisch gesund sein müsse und keine Nervenzusammenbrüche oder keine psychischen Krankheiten haben dürfe. Dieser Vers ist häufig für die Lehre missbraucht worden, dass ein Christ, der eng mit dem Herrn zusammenlebt, niemals seelisch krank werden könne. Das ist jedoch keine schriftgemäße Lehre. Psychische Krankheiten können oftmals vererbt sein. Viele andere haben ihre Ursache in körperlichen Leiden, die in keiner Weise mit dem geistlichen Leben der betroffenen Person zu tun haben. Dieser Vers lehrt jedoch, dass Gott uns einen Geist der Selbstkontrolle oder Selbstzucht gegeben hat. Wir sollen überlegt handeln, und nicht übereilt, vorschnell oder töricht. Ganz gleich, wie widerwärtig unsere Umstände sein mögen, wir sollen ein ausgeglichenes Urteilsvermögen bewahren und nüchtern handeln.
1,8 Timotheus wird aufgefordert, sich nicht zu schämen. In Vers 13 sagt Paulus aus, dass er selbst sich nicht schämt. Und schließlich lesen wir noch in Vers 16, dass Onesiphorus sich ebenfalls nicht schämte. Zu dieser Zeit war die Predigt des Evangeliums ein Verbrechen. Diejenigen, die öffentlich ihren Herrn und Heiland bezeugen wollten, wurden verfolgt. Doch das sollte Timotheus nicht entmutigen. Er sollte sich »des Zeugnisses unseres Herrn« nicht schämen, selbst wenn das Leiden mit sich bringen würde. Auch sollte er sich nicht schämen, dass der Apostel Paulus im Gefängnis war. Einige Christen hatten ihm schon den Rücken gekehrt. Zweifellos fürchteten sie, dass sie mit Verfolgung und sogar dem Tod rechnen müssten, wenn sie sich mit ihm identifizierten.
Timotheus wurde ermahnt, »nach der Kraft Gottes« seinen Anteil an den Leiden zu tragen, die mit dem »Evangelium« zusammenhängen. Er sollte nicht versuchen, der Schande auszuweichen, die damit vielleicht verbunden sein könnte, sondern mit Paulus zusammen diese Schande ertragen.
1,9 Der Apostel hatte Timotheus ermutigt, eifrig (V. 6.7) und mutig (V. 8) zu sein. Nun erklärt Paulus, warum das die einzig vernünftige Haltung ist. Die Erklärung findet sich in Gottes wundervollem Gnadenhandeln an uns. Zunächst einmal hat er »uns errettet«. Das bedeutet, dass er uns von der Strafe für die Sünde befreit hat. Er befreit uns ständig von der Macht der Sünde, und eines Tages wird er uns sogar von der Gegenwart der Sünde befreien. Auch hat er uns von der Welt und von Satan befreit.
Und außerdem hat Gott uns »mit heiligem Ruf« berufen. Er hat uns nicht nur vom Bösen befreit, sondern uns auch all die geistlichen Segnungen in der Himmelswelt in Christus Jesus geschenkt. Die heilige Berufung des Christen wird ausführlich in Epheser 1-3 beschrieben, besonders aber in Kapitel 1. Dort lernen wir, dass wir auserwählt, vorherbestimmt und als Söhne angenommen worden sind. Wir sind in dem Geliebten angenehm gemacht und durch sein Blut erlöst worden. Wir haben Vergebung erfahren, sind mit dem Heiligen Geist versiegelt worden und haben das Unterpfand unseres Erbes empfangen. (Zusätzlich zu dieser heiligen Berufung haben wir noch eine hohe Berufung [Philipper 3,14] und eine himmlische Berufung [Hebräer 3,1].) Diese Erlösung und Berufung geschieht »nicht nach unseren Werken«. Mit anderen Worten, sie sind uns durch die Gnade Gottes gegeben worden. Das bedeutet, dass wir sie nicht verdient haben. Vielmehr hätte uns das genaue Gegenteil zugestanden. Wir hätten sie uns nicht verdienen können, und wir wollten sie auch gar nicht haben. Doch Gott hat sie uns ohne Vorbedingung geschenkt. Das wird weiter durch die Worte »nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade« erklärt. Warum sollte Gott die gottlosen Sünder so lieben, dass er bereit war, seinen einzigen Sohn zu senden, damit dieser für sie starb? Weshalb sollte er sich in solche Kosten stürzen, um sie vor der Hölle zu erretten, sodass sie die Ewigkeit mit ihm verbringen können? Die einzige mögliche Antwort lautet: »Nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade.« Die Gründe für sein Verhalten lagen nicht in uns. Sie sind vielmehr in seinem großen liebenden Herzen zu suchen. Er liebte uns, weil er uns seine Liebe zue ignen wollte!
Seine Liebe wurde »uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben«. Das bedeutet, dass Gott in der Ewigkeit vor aller Zeit seinen wunderbaren Heilsplan festgelegt hat. Er entschloss sich, schuldige Sünder durch das stellvertretende Werk seines geliebten Sohnes zu erlösen. Er entschied sich, das ewige Leben allen anzubieten, die Jesus Christus als ihren Herrn und Heiland annehmen würden. Die Art und Weise, wie wir gerettet werden können, wurde nicht nur vor unserer Geburt, sondern bereits »vor den Zeiten der Zeitalter« (Elb) festgelegt.
1,10 Dasselbe Evangelium, das schon in der Ewigkeit geplant wurde, wurde in der Zeit »geoffenbart«. Es wurde »geoffenbart … durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus«. Während seines Erdenlebens verkündigte er öffentlich die Gute Nachricht vom Heil. Er lehrte die Menschen, dass er sterben, begraben und aus den Toten auferstehen müsse, um gottlose Sünder zu erretten. Er hat »den Tod zunichtegemacht«. Doch wie kann das sein, wo wir doch wissen, dass der Tod in der Welt immer noch an der Tagesordnung ist? Hier ist daran gedacht, dass er dem Tod die Macht genommen hat. Er darf nicht mehr herrschen. Vor der Auferstehung Christi herrschte der Tod als grausamer Tyrann über die Menschheit. Er war ein gefürchteter Feind. Die Todesfurcht hielt die Menschen gefangen. Doch die Auferstehung des Herrn Jesus ist ein Unterpfand für alle, die auf ihn vertrauen. Sie garantiert ihnen, dass sie aus den Toten auferstehen werden, um nie wieder zu sterben. In diesem Sinne ist der Tod »zunichtegemacht«. Er ist seines Stachels beraubt. Der Tod ist nun ein Bote Gottes, der die Seele des Gläubigen in den Himmel führt. Er ist unser Diener statt unser Herr. Der Herr Jesus hat nicht nur den »Tod zunichtegemacht«, sondern auch »Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht … durch das Evangelium«. Zur Zeit des AT hatten die Menschen eine sehr ungenaue und verschwommene Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Sie sprachen davon, dass ihre Verstorbenen im Scheol waren, womit einfach ein unsichtbarer Zustand abgeschiedener Seelen gemeint ist. Obwohl sie eine himmlische Hoffnung hatten, verstanden sie diese jedoch zum Großteil nicht.
Seit dem Kommen Christi haben wir sehr viel größere Einsicht in dieses Thema.  Z. B.  wissen  wir,  dass  der  Geist eines Gläubigen, wenn er verstirbt, bei Christus ist, was viel besser ist. Er wohnt nicht mehr im Leib und ist beim Herrn zu Hause. Er geht in das ewige Leben in all seiner Fülle.
Christus hat nicht nur »Leben«, sondern auch »Unvergänglichkeit« »ans Licht gebracht«. Unvergänglichkeit steht für die Auferstehung des Leibes. Wenn wir in 1. Korinther 15,53 lesen, dass »dieses Verwesliche Unverweslichkeit anziehen« muss, dann wissen wir: Auch wenn der Leib ins Grab gelegt und zu Staub wird, so wird doch derselbe Leib beim Kommen Christi aus dem Grab auferweckt und in einen Herrlichkeitsleib verwandelt werden, ähnlich dem Leib des Herrn Jesus selbst. Die Heiligen des AT hatten dieses Wissen nicht. Es wurde uns »durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus … gebracht«.
1,11 Paulus wurde zur Verkündigung dieses herrlichen Evangeliums »bestellt … als Herold und Apostel und Lehrer«. Ein »Herold« ist ein Prediger, dessen Aufgabe darin besteht, eine Botschaft öffentlich zu verkündigen. Ein »Apostel« ist jemand, der von Gott gesandt, ausgerüstet und mit Kraft ausgestattet wurde. Ein »Lehrer« ist jemand, der damit beauftragt ist, anderen Lehre zu vermitteln. Er erklärt die Wahrheit auf verständliche Weise, sodass seine Zuhörer durch Glauben und Gehorsam darauf reagieren können. Die Worte »der Heiden« (Schl 2000)7 betonen den besonderen Dienst des Paulus an den nichtjüdischen Nationen.
1,12 Weil Paulus seiner Verpflichtung treu nachgekommen war, litt er nun Gefangenschaft und Einsamkeit. Er hatte nie gezögert, die Wahrheit Gottes zu verkündigen. Keine Furcht um seine persönliche Sicherheit hatte je seine Lippen verschlossen. Auch als er nun festgenommen und im Gefängnis war, bedauerte er nichts. Er »schämte« sich nicht, und auch Timotheus sollte sich nicht schämen. Obwohl er bezüglich seiner eigenen Sicherheit nicht gerade zuversichtlich sein konnte, war er doch völlig zuversichtlich in Bezug auf den, an den er »geglaubt« hat. Obwohl es Rom gelingen mochte, den Apostel zu töten, konnten die Menschen doch seinen Herrn nicht angreifen. Paulus wusste, dass der eine, dem er vertraute, »mächtig ist«. »Mächtig« wozu? »… mächtig, mein anvertrautes Gut bis auf jenen Tag zu bewahren.« Die Exegeten sind unterschiedlicher Meinung, was Paulus hier meint. Einige denken an die Erlösung seiner Seele. Andere sind der Ansicht, dass hier das Evangelium ang esprochen ist. Mit anderen Worten, mochte der Apostel Paulus selbst vielleicht auch hingerichtet werden, so würde man doch das Evang elium nicht behindern können. Je mehr die Menschen versuchten, dem Evang elium zu widerstehen, desto mehr würde es verbreitet werden.
Vielleicht ist es am besten, diesen Ausdruck im weitesten Sinne zu verstehen. Paulus war der Überzeugung, dass sein ganzer Fall in den besten Händen ruhte. Auch als er dem Tod gegenüberstand, hatte er keine Bedenken. Jesus Christus war sein allmächtiger Herr, und mit ihm zusammen gab es weder Niederlage noch Versagen. Er brauchte sich um nichts Sorgen zu machen. Die Erlösung war Paulus sicher. Das galt ebenso für die Tatsache, dass sein Dienst für Christus hier auf Erden sein letztendliches Ziel erreicht hatte. »Jener Tag« ist einer der Lieblingsausdrücke des Paulus. Er bezieht sich auf das Kommen des Herrn Jesus Christus und besonders auf den Richterstuhl Christi. Dann wird der Dienst für ihn beurteilt werden, wobei die Güte Gottes die Treue der Menschen belohnen wird.
1,13 Diesen Vers kann man auf zweierlei Weise verstehen. Zunächst einmal wird Timotheus ermutigt, »das Vorbild der gesunden Worte« festzuhalten. Es geht nicht nur darum, dass er der Wahrheit des Wortes Gottes treu sein soll. Vielmehr soll er auch an genau denjenigen Formulierungen festhalten, wodurch diese Wahrheit weitergegeben wurde. Vielleicht kann ein Beispiel uns helfen, dies zu verstehen. In unseren Tagen wird manchmal gesagt, wir sollten solche altmodischen Ausdrücke wie »wiedergeboren werden« oder »das Blut Jesu« fallen lassen. Die Menschen würden lieber eine niveauvollere Sprache benutzen. Doch liegt hierin eine unterschwellige Gefahr. Wenn wir die schriftgemäße Ausdrucksweise fallen lassen, dann geben wir damit oft gleichzeitig die Wahrheiten auf, die durch diese Formulierungen ausgedrückt werden. Deshalb sollte Timotheus »das Vorbild der gesunden Worte« festhalten.
Doch der Vers könnte auch nahelegen, dass die Worte des Paulus als Vorbild für Timotheus dienen sollten. Alles, was Timotheus von nun an lehren würde, sollte mit den Grundlagen übereinstimmen, die ihm mitgegeben worden waren. Timotheus sollte seinen Dienst »in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind«, ausüben. »Glauben« heißt hier nicht nur Vertrauen, sondern auch Abhängigkeit. Zur »Liebe« gehört nicht nur die Liebe zu Gott, sondern auch »Liebe« gegenüber den Mitchristen und der verlorenen Welt.
1,14 »Das schöne anvertraute Gut« ist das Evangelium. Die Botschaft der erlösenden Liebe ist Timotheus »anvertraut« worden. Er wurde damit betraut, sie zu verkündigen. Dabei soll er nichts hinzufügen oder versuchen, sie zu verbessern. Seine Verantwortung besteht darin, sie »durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt«, zu bewahren. Als Paulus diesen Brief schrieb, war er sich der weitverbreiteten Abkehr vom Glauben bewusst, die die Gemeinde bedrohte. Angriffe auf den christlichen Glauben würden aus vielen verschiedenen Richtungen kommen. Timotheus wird ermahnt, treu zum Wort Gottes zu stehen. Er würde dies nicht in eigener Kraft tun müssen. Der in ihm wohnende »Heilige Geist« würde alle Mittel bereitstellen, die er zur Bewältigung dieser Aufgabe benötigte.
1,15 Als der Apostel an die dunklen Wolken denkt, die über der Gemeinde aufziehen, wird er daran erinnert, wie die Christen »in Asien … sich« von ihm »abgewandt« haben. Weil zum Abfassungszeitpunkt dieses Briefes Timotheus wahrscheinlich in Ephesus weilte, wusste er genau, worüber der Apostel schrieb. Es ist wahrscheinlich, dass die Christen in Asien ihre Verbindung zu Paulus lösten, als sie erfuhren, dass er gefangen genommen worden war. Sie verließen ihn zu der Zeit, als er sie am meisten gebraucht hätte. Vielleicht fürchteten sie um ihre eigene Sicherheit. Die römische Obrigkeit wachte mit Argusaugen über allen, die versuchten, den christlichen Glauben zu verbreiten. Der Apostel Paulus war einer der bekanntesten Vertreter des Christentums. Jeder, der es wagte, öffentlich Kontakt zu ihm zu halten, würde sich sogleich als Christ zu erkennen geben, der sich mit seiner Sache eins machte.
Es wird weder gesagt noch angedeutet, dass diese Christen den Herrn oder die Gemeinde verließen. Trotzdem handelten sie feige und untreu, als sie Paulus in dieser Krisensituation allein ließen. Vielleicht waren »Phygelus und Hermogenes« Leiter der Bewegung, die sich von Paulus absetzen wollte. Jedenfalls brachten sie unglaubliche Schande und Verachtung über sich selbst, weil sie sich weigerten, zusammen mit dem Diener Christi die Schmach Christi zu ertragen. Guy Kings Kommentar lautet, dass sie »für ihre hässlichen Namen nichts konnten, aber sehr wohl für ihren hässlichen Charakter verantwortlich waren«.
1,16 Es gibt zwei Ansichten über »Onesiphorus«. Einige denken, dass auch er Paulus verlassen hatte, und dass deshalb der Apostel bete, Gott möge »Barmherzigkeit« mit ihm haben. Andere sind der Ansicht, dass er als schöne Ausnahme derer erwähnt wird, die eben beschrieben worden sind. Wir glauben, dass die letztere Ansicht die richtige ist. Paulus bittet den Herrn, dass er »dem Hause des Onesiphorus Barmherzigkeit« geben möge. »Barmherzigkeit« ist nach Matthäus 5,7 die Belohnung derjenigen, die barmherzig sind. Uns wird nicht genau gesagt, wie Onesiphorus Paulus »erquickt« hat. Vielleicht brachte er ihm Nahrung und Kleidung in das feuchte, finstere Verlies in Rom. Jedenfalls schämte er sich nicht, zu Paulus ins Gefängnis zu gehen. Keine Sorgen um seine persönliche Sicherheit konnten ihn abhalten, seinem Freund in Zeiten der Not zu helfen.
Jowett hat das in ausgezeichneter Weise folgendermaßen ausgedrückt: In diesem Satz des Apostels wird auf wunderbare Weise das Wesen des One siphorus charakterisiert: »Er hat sich meiner Ketten nicht geschämt.« … Die Ketten eines Menschen verkleinern oft den Kreis seiner Freunde. Die Kette der Armut hält viele Menschen ab, ebenso die Kette der Un beliebtheit. Wenn ein Mensch überall geehrt wird, hat er viele Freunde. Doch wenn er Ketten trägt, dann werden die meisten ihm den Rücken kehren. Doch die Diener der Morgenkühle lieben es, im Schatten der Nacht zu kommen. Es freut sie, im Bereich der Niedergeschlagenheit zu dienen, wenn die Ketten am schwersten auf der Seele liegen. »Er hat sich meiner Ketten nicht geschämt.« Die Ketten waren für Onesiphorus in Wirklichkeit ein Anreiz zum Handeln. Sie be schleunigten seinen Schritt und verliehen seinem Dienst Dringlichkeit.8
Dieser Vers ist manchmal missbraucht worden, um das Gebet für die Toten zu begründen. Das Argument lautet, dass Onesiphorus schon tot gewesen sei, als Paulus dies schrieb. Deshalb habe Paulus Gott darum gebeten, ihm Barmherzigkeit zu erweisen. Es gibt jedoch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Onesiphorus bereits tot war. Die Verteidiger dieser Ansicht sind törichte Schwätzer, die sich an einen Strohhalm klammern, um eine unbiblische Praxis zu begründen.
1,17 Als Onesiphorus »in Rom war«, hatte er mindestens drei Möglichk eiten. Erstens konnte er jeden Kontakt mit den dortigen Christen meiden. Zweitens konnte er sich mit den Gläubigen im Geheimen treffen. Und schließlich konnte er sich selbst unerschrocken der Gefahr aussetzen, indem er Paulus im Gefängnis besuchte. Dies würde ihn in direkten Kontakt mit Vertretern der römischen Obrigkeit bringen. Es muss ihm für alle Zeiten zugutegehalten werden, dass er die letztere Möglichkeit wählte. Er »suchte« Paulus »eifrig und fand« ihn.
1,18 Der Apostel betet, dass dieser treue Freund »Barmherzigkeit finde an jenem Tag«. »Barmherzigkeit« ist hier im Sinne von Belohnung gemeint. Wie schon vorher erwähnt, umfasst »jener Tag« die Zeit, da den Gläubigen ihre Belohnung zugeeignet werden wird, nämlich am Richterstuhl Christi.
Am Schluss dieses Abschnitts erinnert der Apostel den Timotheus daran, wie Onesiphorus ihm in Ephesus auf vielerlei Weise gedient hat. B. Ermahnung zum Ausharren (2,1-13)
2,1 »Stark in der Gnade« zu sein, »die in Christus Jesus ist«, bedeutet Folgendes: Die Betreffenden gehen mutig voran, weil sie mit der Kraft ausgerüstet sind, die Christi »Gnade« schenkt. Sie arbeiten treu für den Herrn mit der unverdienten Befähigung, die ihnen durch die Vereinigung mit ihm geschenkt ist.
2,2 Timotheus soll nicht nur sich selbst stärken, sondern er soll auch geistliche Stärkung für »andere« bieten. Er ist verantwortlich, anderen die inspirierten Lehren zu übermitteln, die er vom Apostel empfangen hat. Paulus würde schon bald vom Schauplatz der Evangeliumsverkündigung abtreten. Er hatte Timotheus treu »in Gegenwart vieler Zeugen« gelehrt. Die Zeit des Dienstes würde für Timotheus im besten Fall kurz sein, und auch er sollte seinem Dienst Ordnungen dahin gehend geben, dass andere vorbereitet wären, den Lehrdienst weiterzuführen. Dieser Vers unterstützt nicht die Vorstellung der apostolischen Sukzession. Auch bezieht er sich nicht auf die heutige Praxis der Ordination von Pastoren. Vielmehr handelt es sich einfach um die Anweisung des Herrn an die Gemeinde, in jeder Generation aufs Neue ents prechende Brüder zu unterweisen, damit sie bef ähigte Lehrer werden. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass in diesem Vers vier Generationen von Gläubigen genannt werden, und zwar:
1. Der Apostel Paulus
2. Timotheus und viele Zeugen 3. treue Menschen
4. andere.
Die Schrift betont die Bedeutung der Evangelisation durch jedes Gemeindeglied. Wenn jeder Gläubige wirklich seine Aufgabe erfüllen würde, könnte die Welt in einer Generation evangelisiert werden. Doch dies ist angesichts der Uneinsichtigkeit vieler eigenwilliger Christen rein hypothetisch. Die rivalisierenden »Missionsbestrebungen« der Weltreligionen und Sekten sowie viele andere Hindernisse erschweren das Erreichen dieses Ziels zusätzlich. Eines ist jedoch ganz sicher: Die Christen könnten viel mehr tun, als bis jetzt geschehen ist! Man beachte, dass Timotheus die Wahrheit »treuen Menschen« anvertrauen  soll,  d. h.  Menschen,  die  gläubig und zuverlässig sind. Diese Männer sollen fähig sein, »auch andere zu lehren«. Das setzt einige Fähigkeiten im Lehrdienst voraus.
2,3 Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass Paulus in diesem Kapitel eine Fülle an Bildern benutzt, um Timotheus zu  beschreiben:  1.  Sohn  (V. 1),  2.  Soldat (V. 3.4), 3. Athlet (V. 5), 4. Bauer (V. 6), 5. Arbeiter  (V. 15),  6.  Gefäß  (V. 21)  und  7. Knecht (V. 24).
»Als ein guter Streiter Christi Jesu« sollte Timotheus an »Leiden« und Bedrängnissen teilnehmen.9 (Eine Liste der vielen Leiden, die Paulus selbst erduldet hat, findet sich in 2. Korinther 11,23-29.)
2,4 Der Soldat wird in diesem Vers als derjenige beschrieben, der aktiv im Kampf steht. Und es geht nicht nur darum: Vielmehr steht er auch mitten im Getümmel der Schlacht. Unter solchen schwierigen Umständen wird sich kein Soldat »in die Beschäftigungen des Lebens« verwickeln. Bedeutet das, dass wir uns im Dienst unseres Herrn niemals mit säkularen Dingen beschäftigen sollen? Ganz sicher nicht! Paulus selbst arbeitete als Zeltmacher, während er das Evangelium predigte und Gemeinden gründete. Er bezeugte, dass er mit seinen eigenen Händen seinen Lebensunterhalt verdient hat. Die Betonung liegt hier auf dem Wort »verwickelt«. Der Soldat darf nicht zulassen, dass die Alltagsgeschäfte zur Hauptsache in seinem Leben werden. Z. B. darf er nicht den Broterwerb und das Beschaffen von Kleidung zu seinem Lebensziel machen. Vielmehr muss der Dienst für Christus immer den ersten Platz haben, während die Alltagsangelegenheiten im Hintergrund bleiben. Kelly sagt: »Wer sich in die Beschäftigungen des Lebens verstrickt, gibt in Wirklichkeit die Trennung von der Welt auf, indem er in seiner Gutgläubigkeit an den äußerlichen Angelegenheit dieser Welt beteiligt ist.«10 Ein »Streiter« oder Soldat im Dienst hält sich immer für Befehle vom Hauptquartier bereit. Er möchte »dem gefallen, der ihn angeworben hat«. Der Gläubige ist natürlich vom Herrn angeworben worden, und unsere Liebe zu ihm sollte uns dazu bringen, mit den Dingen dieser Welt gelassen umzugehen.
2,5 Nun haben wir das nächste Bild vor uns. Es geht um einen Athleten, der an einem »Wettkampf teilnimmt«. Um den Siegespreis zu bekommen, muss er »gesetzmäßig«, d. h. nach den geltenden Regeln, kämpfen. Genauso ist es auch im christlichen Dienst. Wie viele fallen schon vor der Ziellinie aus, weil sie dem Wort Gottes nicht bedingungslos gehorchen! Welche Regeln gibt es nun im Zusammenhang mit dem christlichen Dienst? 1. Ein Christ muss selbstdiszipliniert leben (1. Kor 9,27). 2. Er darf nicht mit fleischlichen Waffen kämpfen, sondern muss geistliche benutzen (2. Kor 10,4). 3. Er muss sich rein erhalten. 4. Er darf nicht eifern, sondern muss geduldig sein.
Jemand hat einmal gesagt: »Ein Freizeitchrist ist ein Widerspruch in sich. Das ganze Leben eines Menschen sollte von dem eifrigen Bemühen geprägt sein, den christlichen Glauben in jedem Augenblick und in jedem Lebensbereich auszuleben.«
2,6 »Der Ackerbauer, der sich müht, muss als Erster an den Früchten Anteil haben.« Nach allen Prinzipien der Gerechtigkeit hat derjenige, der sich um die Einbringung der Ernte müht, das Recht, als Erster daran teilzuhaben. Auch Darby ist der Ansicht, dass dies eine mögliche Bedeutung des Verses ist. Er schlägt jedoch noch eine Bedeutung im Sinne des ganzen Abschnitts vor. Ihr zufolge muss der Bauer arbeiten, um einen Anteil an der Ernte zu erhalten. Deshalb übersetzt er: »Der Ackerbauer muss, um die Früchte zu genießen, zuerst arbeiten« (Elb). Das bewahrt den Gedanken der Notwendigkeit: Der Streiter muss erdulden, der Athlet die Regeln beachten und der Bauer hart arbeiten.
2,7 Doch steckt hinter diesen drei Bildern des christlichen Dienstes noch mehr als es oberflächlich scheinen mag. Timotheus wird ermahnt, darüber genauer nachzudenken. Und während er das tut, betet11 Paulus darum, dass der »Herr« ihm »in allen Dingen … Verständnis geben« möge. Er wird erkennen, dass der christliche Dienst einem Kampf, einem Wettlauf und dem Ackerbau gleicht. Jede dieser drei Tätigkeiten ist mit besonderen Verpflichtungen verbunden und bringt ihren eigenen Lohn.
2,8 An diesem Punkt erreicht der Apostel den Höhepunkt in seinem Anliegen, den jungen Timotheus zu ermutigen. Er kommt zum Vorbild des Herrn Jesus – einem Beispiel, das unübertroffen ist. Der Herr ist das Vorbild im Leiden, dem die Herrlichkeit folgt. »Halte im Gedächtnis Jesus Christus, auferweckt aus den Toten, aus dem Samen Davids, nach meinem Evangelium.« Hier ist nicht daran gedacht, dass sich Timotheus an bestimmte Dinge über den Herrn Jesus erinnern soll. Vielmehr soll er ihn in seinem ganzen Wesen, »auferweckt aus den Toten«, im Gedächtnis halten.
In gewissem Sinne ist dieser Vers eine kurze Zusammenfassung des Evangeliums, das Paulus predigte. Der springende Punkt des Evangeliums ist die Auferstehung des Heilandes. Hiebert schreibt: »Nicht die Vorstellung eines gekreuzigten Jesus, sondern eines auferstandenen Herrn wird Timotheus vor Augen gestellt.«12
Der Ausdruck »Same Davids« ist die einfache Aussage, dass Jesus der Christus und der Nachkomme Davids ist, in dem die messianischen Verheißungen Gottes erfüllt sind.
Wer dem Heiland dienen will, muss sich fortwährend seine Person und sein Werk vergegenwärtigen. Insbesondere diejenigen, denen eventuell Leiden und Tod drohen, werden durch die Erinnerung sehr ermutigt, dass sogar der Herr Jesus selbst die himmlische Herrlichkeit nur über das Kreuz und das Grab erreichte.
2,9 Paulus saß gefesselt in einem römischen Gefängnis, weil er das Evangelium verkündet hatte, das in Vers 8 beschrieben wird. Er wurde als »Übeltäter«, als gewöhnlicher Krimineller, angesehen. Er hätte angesichts vieler Dinge entmutigt sein können. Die Vertreter der römischen Obrigkeit wollten ihn unbedingt umbringen, zudem hatten sich einige seiner christlichen Freunde von ihm abgewendet.
Und trotz dieser bitteren Umstände erhebt sich der fröhliche Geist des Paulus hoch über die Wände seines Gefängnisses. Er vergisst seine eigenen schlimmen Aussichten, als er sich daran erinnert, dass »das Wort Gottes … nicht gebunden« ist. Lenski hat das treffend so formuliert: »Die Stimme des lebenden Apostels mag zum Schweigen gebracht werden, als der Blutzoll von ihm gefordert wird, doch was der Herr durch ihn sagt, hallt noch immer durch die ganze Welt.« Nicht einmal alle Armeen der Welt können verhindern, dass sich das Wort Gottes ausbreitet. Sie könnten genauso gut versuchen, den Regen oder den Schnee aufzuhalten (Jes 55,10.11). Harvey sagt: Mit unwiderstehlicher göttlicher Energie wird es bei seinem Triumphzug weiterkommen, auch wenn seine Verteidiger eingekerkert sind und den Märtyrertod erleiden. Menschen mögen sterben, doch Christus und sein Evangelium leben und siegen durch die Jahrtausende.13
2,10 Weil sich das Evangelium unwiderstehlich ausbreitet, war Paulus gewillt, »alles um der Auserwählten willen« zu erdulden. Das Wort »Auserwählte« steht hier für alle, die von Gott zur ewigen Errettung erwählt sind. Die Bibel lehrt zwar, dass Gott Menschen erwählt, damit sie gerettet werden, doch sie sagt nirgends, dass er einige zur Verdammnis erwählt. Denjenigen, die errettet werden, wird das Heil durch die souveräne Gnade Gottes geschenkt. Diejenigen, die verlorengehen, gehen diesem Zustand entgegen, weil sie es selbst so gewollt haben. Niemand sollte mit Gott über die Lehre der Erwählung streiten. Dieser Lehre zufolge ist Gott einfach Gott, der unumschränkte Herrscher des Universums, der in Gnade, Gerechtigkeit und Liebe mit den Menschen handelt. Er tut niemals etwas Ungerechtes oder Unfreundliches, sondern er erweist uns oft seine Gnade, die völlig unverdient ist. Der Apostel erkannte, dass durch sein Leiden um des Evangeliums willen Seelen errettet würden und dass genau diese Seelen eines Tages an der »ewigen Herrlichkeit« mit »Christus Jesus« teilhaben werden. Der Gedanke daran, dass schuldige Sünder durch die Gnade Gottes errettet wurden und zusammen mit Christus Jesus verherrlicht werden, veranlassten Paulus hinreichend, alles zu ertragen.14 Strebend dem himmlischen Ziele entgegen,
wo uns die Krone zum Lohne bereit, wo Menschen, die wir zu Christus gewiesen,
jubeln und jauchzen in ewiger Freud’. Verfasser unbekannt
2,11 Einige Ausleger sind der Ansicht, dass die Verse 11-13 aus einem frühchristlichen Lied stammen. Ob das so ist oder nicht, sei dahingestellt. Sie stellen sicher einige feststehende Prinzipien dar, die das Verhältnis des Menschen zum Herrn Jesus Christus betreffen. Hiebert schreibt: »Die zentrale Wahrheit dieser Kernaussagen ist, dass Glauben an Christus den Gläubigen mit Christus in allem eins macht. Genauso sicher ist, dass Unglaube die Menschen von ihm trennt.«15 Dies ist das vierte »gewisse Wort« in den Paulusbriefen an Timotheus.
Hier wird das erste Prinzip angeführt: Wenn wir mit Christus »mitgestorben sind, werden wir auch mitleben«. Das gilt für jeden Gläubigen. Im geistlichen Sinne sind wir in dem Augenblick mit ihm »mitgestorben«, als wir auf ihn als unseren Heiland vertrauten. Wir wurden mit ihm begraben, und wir sind mit ihm aus den Toten auferstanden. Christus starb als unser Stellvertreter und nahm unseren Platz ein. Wir hätten für unsere Sünden sterben sollen, doch Christus starb an unserer Stelle. Gott hält uns für »mitgestorben«, und das bedeutet, dass wir auch mit ihm im Himmel »mitleben« werden. Vielleicht kann man diesen Vers auch auf die Menschen anwenden, die als christliche Märtyrer sterben. Diejenigen, die ihm auf diese Weise in den Tod folgen, werden ihm auch gleichermaßen bei der Auferstehung folgen.
2,12 In gewissem Sinne gilt auch für alle Christen, dass sie »ausharren« und mit Christus »mitherrschen« werden. Wahrer Glaube zeichnet sich immer durch Beständigkeit aus, und in diesem Sinne harren alle Gläubigen aus. Doch sollte man auch darauf hinweisen, dass nicht alle mit Christus im gleichen Ausmaß regieren werden. Wenn er wiederkommt, um über die Erde zu herrschen, dann werden seine Heiligen mit ihm wiederkehren und an dieser Herrschaft teilhaben. Doch das Ausmaß des Herrschens wird für jeden einzelnen durch seine Treue während des gegenwärtigen Lebens bestimmt. Diejenigen, die Christus »verleugnen«, werden auch von ihm verleugnet werden. Hier geht es nicht um eine zeitweilige Leugnung des Heilandes, weil man vielleicht dazu gezwungen wird. Petrus verleugnete den Herrn z. B. in einer Drucksituation. Vielmehr geht es hier um eine anhaltende, gewohnheitsmäßige Leugnung. Diese Worte beschreiben einen Ungläubigen – einen, der nie zum Glauben an den Herrn Jesus gekommen ist. All diese Menschen werden eines Tages vom Herrn verleugnet werden, ganz gleich, wie fromm ihr Bekenntnis auch gewesen sein mag.
2,13 Dieser Vers beschreibt ebenfalls Ungläubige. Dinsdale Young erklärt: »Gott kann sich nicht selbst widersprechen. Es würde seiner Wesensart widersprechen, wenn er Gläubige und Ungläubige gleich behandeln würde. Das ist nicht der Fall. Wenn Menschen ›untreu‹ sind, so muss er seinem Charakter doch ›treu‹ bleiben und sie entsprechend behandeln.«16
Diese Worte sollten nicht so ausgelegt werden, als würden sie lehren, Gottes Treue zeige sich darin, dass er diejenigen erhält, die nicht glauben. Das ist nicht der Fall. Wenn Menschen nicht glauben, so muss er seinem eigenen Charakter »treu« bleiben und sie entsprechend behandeln. Van Oosterzee sagt dazu: »Er steht zu seinen Drohungen ebenso wie zu seinen Verheißungen.«17
III. Treue kontra Abfall (2,14 – 4,8) A. Treue zum wahren christlichen Glauben (2,14-26)
2,1 »Stark in der Gnade« zu sein, »die in Christus Jesus ist«, bedeutet Folgendes: Die Betreffenden gehen mutig voran, weil sie mit der Kraft ausgerüstet sind, die Christi »Gnade« schenkt. Sie arbeiten treu für den Herrn mit der unverdienten Befähigung, die ihnen durch die Vereinigung mit ihm geschenkt ist.
2,14  Timotheus  soll  »dies«,  d. h.  den  Inhalt der Verse 11-13, »in Erinnerung bringen«. Doch wem soll Timotheus das »in Erinnerung bringen«? Paulus bezieht sich sicher ganz allgemein auf die Zuhörer des Timotheus und im Besonderen auf diejenigen, die versucht haben, Irrlehren einzuführen. Dies geht aus dem Rest des Verses hervor, wo diejenigen, die offensichtlich die Stellung von Lehrern oder Predigern einnahmen, ernstlich ermahnt werden, keinen »Wortstreit« zu »führen«. Offensichtlich gab es solche in Ephesus, die die Bedeutung bestimmter Wörter im christlichen Bereich aufbauschten. Statt die Heiligen in der Wahrheit des Wortes Gottes aufzuerbauen, unterminierten sie nur den Glauben einiger, die ihnen zuhörten.
Dinsdale Young warnt:
Es ist so einfach, ein theologischer Sonderling zu werden – wir werden so schnell von Fragen vereinnahmt, die fast bedeutungslos sind. Das Leben ist zu kurz, und wir haben zu viel zu tun, um unseren Verstand und unser Herz an Dinge zu verschwenden, die nicht zur Entfaltung unserer christlichen Wesensart beitragen.
Wenn eine Welt auf Evangelisation wartet, dann bekommt es uns schlecht, ständig irgendwelche lehrmäßigen Schleichwege abseits der gebahnten Straßen zu betreten. Bleiben wir lieber auf den vorgezeichneten Bahnen. Wir sollten an den großen Wahrheiten festhalten. Wir sollten das Wesentliche betonen, nicht Nebensächlichkeiten. Wir sollten nicht jenen nacheifern, die sich in den Tagen Schamgars und Jaels von der Furcht überwältigen ließen, als die großen Straßen verlassen waren und man auf Nebenwegen ging (vgl. Ri 5,6; Anm. d. Übers.).18
2,15 Timotheus sollte »danach streben«, sich »Gott bewährt zur Verfügung zu stellen«. Er sollte seine Bemühungen darauf konzentrieren, ein »Arbeiter zu werden, der sich nicht zu schämen hat«. Dies konnte er tun, indem er »das Wort der Wahrheit in gerader Richtung« schnitt. Dieser letzte Ausdruck bedeutet, die Schrift recht zu behandeln, oder, wie Alford es ausgedrückt hat, »die Wahrheit recht zu verwalten und sie nicht zu verfälschen«.19
2,16 »Die unheiligen, leeren Geschwätze« sind Lehren, die respektlos, unheilvoll und nutzlos sind. Sie nützen dem Volk Gottes nicht und sollten geächtet werden. Timotheus wird nicht beauftragt, diese Lehren zu bekämpfen. Vielmehr soll er sie missachten, statt sie dadurch aufzuwerten, dass er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkt.
Ein schlimmes Merkmal dieser Schwätzer ist es, dass sie niemals stehen bleiben. Sie »schreiten« in ihrer »Gottlosigkeit« immer weiter »fort«. Das gilt für alle Formen des Irrtums. Diejenigen, die Irrtümer lehren, müssen immer noch etwas hinzufügen. Das erklärt die neuen Dogmen und Verlautbarungen, die ständig von falschen religiösen Systemen verkündigt werden. Man braucht kaum zu sagen, dass die Ergebnisse, je mehr diese Irrlehren ausgeführt werden, »zu weiterer Gottlosigkeit fortschreiten«.
2,17 Die Art, wie sich Irrlehre ausbreitet, wird mit »Krebs« verglichen. Die meisten von uns wissen nur zu gut, wie diese gefürchtete Krankheit sich schnell im menschlichen Körper ausbreitet und überall, wo sie hinkommt, Gewebe zerstört.
Das Wort Krebs kann auch mit »Brand«20 übersetzt werden. Mit »Brand« wird die Verwesung bezeichnet, die auftritt, wenn ein Teil des Körpers von der normalen Blutzirkulation und Versorgung mit Nährstoffen abgeschnitten ist. An anderen Stellen des NT wird Irrlehre mit Sauerteig verglichen: Wenn es ihm gestattet wird, sich auszubreiten, durchdringt er schließlich das gesamte Mehl.
Zwei Männer werden namentlich genannt, deren Lehren die Gemeinde zerstörten. Es waren »Hymenäus und Philetus«. Weil sie das Wort der Wahrheit nicht recht behandelten, kamen sie zusammen mit anderen auf Gottes Schandliste.
2,18 Ihre Irrlehre wird hier entlarvt. Sie behaupteten vor ihren Zuhörern, »die Auferstehung« sei »schon geschehen«. Vielleicht meinten sie, dass die einzige Auferstehung, die jemand erwarten konnte, erfolgte, wenn der Betreffende gerettet und zu einem neuen Leben mit Christus auferweckt wurde. Mit anderen Worten, sie vergeistlichten die Auferstehung und verspotteten diejenigen, die daran festhielten, dass der Leib im wörtlichen Sinne aus dem Grab auferweckt werden wird. Paulus erkannte dies als ernsthafte Bedrohung für die Wahrheit des Christentums.
Hamilton Smith schreibt: Wenn die Auferstehung schon der Vergangenheit angehört, dann haben die Heiligen ihren Endzustand schon auf Erden erreicht. Damit hört die Gemeinde auf, die Wiederkunft des Herrn zu erwarten, sie verliert die Wahrheit ihrer himmlischen Bestimmung und gibt ihren Charakter als Gemeinschaft von Fremdlingen und Pilgern auf. Nachdem die Gemeinde ihren himmlischen Charakter verloren hat, lässt sie sich auf Erden nieder und nimmt ihren Platz im System zur Verbesserung und Beherrschung der Welt ein.21
Indem sie »den Glauben mancher« zerstörten, verdienten sich diese Männer einen sehr unangenehmen Eintrag in Gottes ewigem Buch.
2,19 Wenn Paulus an Hymenäus und Philetus und an ihre Irrlehre denkt, so erkennt er von Neuem, welch dunkle Tage auf die Gemeinde zukommen. Ungläubige sind in die Ortsgemeinde aufgenommen worden. Das geistliche Leben ist auf solch einem Tiefstand angelangt, dass es oft schwer ist, wahre Christen von Namenschristen zu unterscheiden. Die Christenheit ist zu einem Mischvolk (vgl. 4. Mose 11,4; Elb) geworden, und die daraus folgende Verwirrung ist verheerend. Inmitten solcher Bedingungen findet Paulus Trost in der Zusicherung, dass »der feste Grund Gottes steht«. Dies bedeutet, dass alles, was von Gott selbst eingesetzt worden ist, trotz allen Niedergangs der Namenschristenheit bestehen bleiben wird.
Es sind verschiedene Erklärungen dafür angeboten worden, was mit dem »festen Grund Gottes« gemeint ist. Einige sind der Ansicht, dass es sich um die wahre Gemeinde handelt. Andere sagen, der Ausdruck beziehe sich auf die Verheißung Gottes, den christlichen Glauben oder auf die Lehre der Erwählung. Doch ist es nicht eindeutig, dass der »Grund Gottes« alles ist, was unser Herr tut? Wenn er sein Wort aussendet, so kann nichts es hindern. Hamilton Smith sagt: »Kein Versagen des Menschen kann den Grund verrücken, den Gott gelegt hat, oder Gott davon abhalten, das zu vollenden, was er begonnen hat … Diejenigen, die dem Herrn gehören, mögen zwar in der Masse untergehen, doch sie können nicht endgültig verlorengehen.«22 Der »Grund Gottes« hat ein zweifaches »Siegel«. Es gibt sowohl eine göttliche als auch eine menschliche Seite. Von der göttlichen Seite aus lautet das Siegel: »Der Herr kennt, die sein sind.« Er »kennt« sie – nicht nur in dem Sinne, dass er sie wiedererkennt, sondern er liebt sie und erkennt sie an. Lenski sagt, er kenne sie als derjenige, der »umfassend und nachhaltig liebt«.23 Die menschliche Seite des »Siegels« lautet: »Jeder, der den Namen des Herrn24 nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!« Mit anderen Worten, diejenigen, die sich zu Christus bekennen, können die Echtheit ihres Bekenntnisses durch ihr geheiligtes und gottesfürchtiges Leben beweisen. Der wahre Christ sollte mit »Ungerechtigkeit« nichts zu tun haben.
Ein Siegel ist ein Zeichen des Eigentümers und auch ein Sinnbild für Garantie und Sicherheit. So zeigt das Siegel auf Gottes »Grund«, dass er diejenigen besitzt, die wahre Gläubige sind. Das Siegel ist auch eine Garantie dafür, dass alle, die sich bekehrt haben, die Echtheit ihres neuen Lebens beweisen werden, indem sie sich von Ungerechtigkeit fernhalten.
2,20 Unsere Auslegung des hier verwendeten Bildes lautet, dass das »große Haus« die allgemeine Christenheit ist. Im weiteren Sinne gehören zur Christenheit Gläubige und Namenschristen – diejenigen, die wirklich wiedergeboren sind, und diejenigen, die sich nur äußerlich zum christlichen Glauben bekennen. »Goldene und silberne Gefäße« wären demnach die echten Gläubigen. »Hölzerne und irdene« Gefäße bezieht sich nicht im Allgemeinen auf Ungläubige, sondern insbesondere auf diejenigen, die schlechte Arbeiter sind und Irrlehren verbreiteten, wie etwa Hymenäus und Philetus (V. 17). Man sollte zu diesen Gefäßen bestimmte Dinge anmerken. Zunächst einmal gibt es eine wichtige Unterscheidung hinsichtlich der Materialien, aus denen die Gefäße gemacht sind. Zweitens gibt es unterschiedliche Arten, diese Gefäße zu gebrauchen. Und schließlich unterscheiden sie sich bezüglich ihrer endgültigen Bestimmung. Die hölzernen und irdenen Gefäße werden irgendwann weggeworfen, doch die goldenen und silbernen werden ihres Wertes wegen behalten. Der Ausdruck »einige zur Ehre, die anderen zur Unehre« ist verschieden ausgelegt werden. Einige sind der Ansicht, dass »Unehre« einfach weniger Ehre bedeutet. In diesem Fall würden alle Gefäße für wahre Gläubige stehen, wobei einige für ehrenvollere und andere für bescheidenere Aufgaben benutzt werden. Andere sind der Ansicht, dass die Gefäße »zur Ehre« sich auf Männer wie Paulus und Timotheus beziehen, während die Gefäße »zur Unehre« auf solche Männer wie Hymenäus und Philetus Bezug nehmen.
2,21 Die Auslegung dieses Verses beruht größtenteils darauf, was man unter »diesen« versteht: »Wenn nun jemand sich von diesen reinigt …« Bezieht sich »diesen« auf die Gefäße aus Holz und Ton? Oder bezieht es sich auf die Irrlehren, die weiter oben in dem Kapitel erwähnt wurden? Oder bezieht es sich in allgemeiner Weise auf böse Menschen? Die natürlichste Bedeutung ist wohl, wenn wir »diesen« mit den Gefäßen zur Unehre gleichsetzen. Timotheus wird aufgefordert, sich von bösen Menschen zu trennen und insbesondere von solchen Irrlehrern, wie Paulus sie eben genannt hat – Hymenäus und Philetus. Timotheus wird nicht aufgefordert, die Gemeinde zu verlassen. Auch wird er nicht aufgefordert, die Christenheit als solche zu verlassen. Dies wäre für ihn unmöglich, ohne sein christliches Zeugnis aufzugeben, weil die Christenheit alle einschließt, die sich in irgendeiner Weise zu Christus bekennen. Doch es geht hier um die Trennung von Übeltätern und darum, die Verbreitung von Irrlehren zu verhindern.
Wenn jemand sich von unheilvollen Verbindungen fernhält, so wird er »ein Gefäß zur Ehre sein«. Gott kann in seinem heiligen Dienst nur reine Gefäße verwenden. »Haltet euch rein, die ihr die Geräte des Herrn tragt!« (Jes 52,11; Anm. ER). Solch ein Mensch wird auch »geheiligt« sein in dem Sinne, dass er vom Bösen abgesondert ist, um Gott zu dienen. Er wird »nützlich dem Hausherrn« sein – eine Eigenschaft, die von allen angestrebt werden sollte, die den Herrn lieben. Schließlich wird er noch »zu jedem guten Werk bereitet« sein. Er wird jederzeit bereit sein, sich gebrauchen zu lassen, und zwar auf die Weise, wie sein Herr es wünscht.
2,22 Doch Timotheus soll sich nicht nur von bösen Menschen absondern, sondern sich auch von den »jugendlichen Lüsten« trennen. »Jugendliche Lüste« kann sich nicht nur auf körperliche Begierden, sondern auch auf das Streben nach Geld, Ruhm und Vergnügen beziehen. Auch kann Eigenwille, Ungeduld, Stolz und Leichtfertigkeit dazu gehören. Wie wir schon erwähnt haben, war Timotheus wahrscheinlich zu dieser Zeit 35 Jahre alt. Deshalb sind mit »jugendlichen Lüsten« nicht unbedingt die Lüste gemeint, die für Teenager charakteristisch sind. Vielmehr umfasst der Begriff auch alle unheiligen Begierden, die sich einem jungen Diener des Herrn bieten mögen und ihn von seinem Pfad der Reinheit und Gerechtigkeit abbringen wollen. Timotheus soll nicht nur »fliehen«, sondern auch nachfolgen. Es gibt immer eine negative und eine positive Seite. Er soll »nach Gerechtigkeit« streben. Das bedeutet einfach, dass sein Umgang mit Menschen, ob sie nun errettet oder unerlöst sind, immer von Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Fairness geprägt sein soll. »Glaube« kann auch Treue oder absolute Integrität bedeuten. Andererseits kann es hier auch um ständige Abhängigkeit vom Herrn gehen. Hiebert definiert den Ausdruck als »echtes und grundlegendes Vertrauen auf Gott«.25 »Liebe« kann hier nicht auf Liebe zu Gott beschränkt werden, sondern muss auch die Liebe zu den Geschwistern und zu einer Welt verlorener Sünder einschließen. Liebe denkt immer an den anderen; sie ist ihrem Wesen nach selbstlos. »Friede« beinhaltet die Vorstellung von Harmonie und Verträglichkeit. Diese Tugenden sollen »mit denen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen«, befolgt werden. So wie Timotheus in Vers 21 aufgefordert wurde, sich von bösen Menschen zu trennen, so wird er hier gelehrt, sich mit Christen zusammenzutun, die in Reinheit vor dem Herrn wandeln. Er soll die Tugenden eines christlichen Lebens nicht als Einzelkämpfer verwirklichen, sondern soll seinen Platz als Glied am Leib einnehmen und versuchen, mit den anderen Gliedern zum Guten des Leibes zusammenzuarbeiten.
2,23 Im Laufe seines christlichen Dienstes würde Timotheus oft mit unwichtigen und törichten Fragen konfrontiert werden. Solche Fragen entspringen einem unwissenden und ungelehrten Geist und sind völlig nutzlos. Solche »Streitfragen« sollten zurückgewiesen werden, weil sie nur »Streitigkeiten erzeugen«.
Man braucht eigentlich kaum zu erwähnen, dass es hier nicht um Fragen großer grundsätzlicher Wahrheiten des christlichen Glaubens geht, sondern eher um törichte Problemstellungen, mit denen man nur Zeit verschwendet und Verwirrung stiftet.
2,24 Der »Knecht des Herrn« ist hier im wörtlichen Sinne der Sklave des Herrn. Es ist sehr angemessen, dass dieser Titel in einem Vers verwendet wird, worin zu Milde und Geduld ermutigt wird. Obwohl ein Knecht des Herrn für die Wahrheit einstehen muss, darf er doch nicht zänkisch oder streitsüchtig sein. Er muss stattdessen »milde … gegen alle« sein und Menschen mit dem Vorsatz gegenübertreten, sie zu belehren. Lieber sollte er darauf verzichten, eine Diskussion zu gewinnen. Er muss »lehrfähig« gegenüber denjenigen sein, die nur langsam verstehen, und auch gegenüber denen, die anscheinend nicht gewillt sind, die Wahrheit des Wortes Gottes anzunehmen.
2,25 Der Knecht des Herrn muss »duldsam« und demütig sein, wenn er mit Widerstand zu tun hat. Wer sich vor dem Wort Gottes nicht beugt, tut seiner eigenen Seele unrecht. Solche Menschen müssen korrigiert werden, damit sie nicht unwissend in der falschen Vorstellung weitermachen, dass ihre Ansicht biblisch sei.
»… ob ihnen Gott nicht etwa Buße gebe zur Erkenntnis der Wahrheit.« Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass hier Gottes Bereitschaft infrage gestellt wird, diesen Menschen Vergebung zu gewähren. Das ist jedoch nicht der Fall. Tatsache ist, dass Gott darauf wartet, ihnen zu vergeben, wenn sie nur in Bekenntnis und Buße zu ihm kommen. Gott würde nie Menschen an der Buße hindern; doch Menschen sind oft kaum bereit zuzugeben, dass sie sich im Irrtum befinden.
2,26 Der Diener des Herrn sollte so mit irrenden Menschen umgehen, dass »sie wieder aus dem Fallstrick des Teufels heraus nüchtern werden«. Sie sind »von ihm für seinen Willen gefangen worden«, und zwar dahin gehend, dass sie von ihm betört oder ihre Sinne vernebelt worden sind.
B. Der kommende Abfall (3,1-13)
3,1 Der Apostel gibt Timotheus nun eine Beschreibung von Verhältnissen und Umständen, die kurz vor der Wiederkehr des Herrn auf der Welt herrschen werden. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass die Sündenliste, die hier folgt, sehr ähnlich der Beschreibung des gottlosen Heiden in Römer 1 ist. Bemerkenswert ist, dass genau die Verhältnisse, die unter den Heiden in ihrem Zustand der Barbarei und Sittenlosigkeit herrschen, die Namenschristen »in den letzten Tagen« kennzeichnen werden. Das ist wirklich sehr bedauerlich!
Der Ausdruck »die letzten Tage« bezieht sich auf die Tage zwischen der apostolischen Zeit und der Erscheinung Christi zur Aufrichtung seines Reiches.
3,2 Man kann diese Verse nicht studieren, ohne auf die Wiederholung des Wortes »liebend« zu stoßen. In Vers 2 finden wir z. B. die Selbstliebe und die Geldliebe. In Vers 3 werden Menschen erwähnt, die »das Gute nicht lieben«. In Vers 4 lesen wir von Menschen, die »mehr das Vergnügen lieben als Gott«. In den Versen 2-5 finden wir 19 Eigenschaften der Menschheit während der letzten Tage (einschließlich des äußeren Scheins der Gottesfurcht in V. 5; vgl. Schl 2000). Wir listen sie einfach auf und geben Synonyme an, die ihre Bedeutung erklären:
»Selbstsüchtig« – Egoistisch, eingebildet, eigennützig, ichbezogen. »Geldliebend« – Geldgierig, habsüchtig.
»Prahlerisch« – Angeber, die großspurig daherreden.
»Hochmütig« – Arrogant, überheblich, anmaßend, herrschsüchtig. »Lästerer« – Menschen, die andere in üble Nachrede bringen, sie verfluchen, beschimpfen oder diffamieren bzw. beleidigen und ihnen gegenüber unflätige Worte gebrauchen.
»Den Eltern ungehorsam« – Rebellisch, unzuverlässig, ungezogen. »Undankbar« – Die Leistung anderer nicht anerkennend.
»Unheilig« – Gottlos, gotteslästerlich, respektlos, nichts für heilig haltend.
3,3 »Lieblos« – Hartherzig, gefühllos, auf unnatürliche Weise herzlos. »Unversöhnlich« – Sich weigernd, Frieden zu schließen, Versöhnungsversuche ablehnend, unnachgiebig, verbittert. »Verleumder« – Falschaussagen verbreitend und Berichte in boshafter Absicht weitergebend.
»Unenthaltsam« – Menschen ohne Selbstzucht, zügellos, ausschweifend. »Grausam« – Brutal, gewissenlos, skrupellos.
»Das Gute nicht liebend« – Hasser des Guten, dem Guten in jeder Form widerstrebend.
3,4 »Verräter« – Menschen, denen kein Versprechen heilig ist, treulos, hinterhältig.
»Unbesonnen« – Rücksichtslos, eigenwillig, voreilig.
»Aufgeblasen« – eingebildet, etwas vorspiegelnd, hinter dem nichts steht. »Mehr das Vergnügen liebend als Gott« – Diejenigen, die dem sinnlichen Vergnügen verhaftet sind, aber Gott nicht lieben.
3,5 Äußerlich scheinen diese Menschen religiös zu sein. Sie bekennen sich zwar äußerlich zum Christentum, doch ihre Taten sprechen lauter als ihre Worte. Durch ihr gottloses Verhalten zeigen sie, dass sie in der Lüge leben. Es gibt keine Anzeichen der Macht Gottes in ihrem Leben. Sie mögen sich zwar in gewisser Weise verändert haben, doch sind sie nicht wiedergeboren. Weymouth übersetzt: »Sie halten eine vorgetäuschte Frömmigkeit aufrecht und schließen doch ihre Kraft aus.« Ähnlich Moffatt: »Obwohl sie äußerliche Formen der Religion einhalten, haben sie mit ihrer Kraft nichts zu tun.« Phillips drückt es so aus: »Sie halten eine fromme Fassade aufrecht, doch ihr Verhalten leugnet deren Echtheit.« Sie wollen religiös sein und gleichzeitig an ihren Sünden festhalten (vgl. Offb 3,14-22). Hiebert warnt: »Wir haben es hier mit der schrecklichen Darstellung einer abgefallenen Christenheit zu tun, mit Neuheidentum, das sich als Christentum verkleidet.«26
»Von« solchen Leuten soll Timotheus sich »wegwenden«. Sie sind die Gefäße, die im vorhergehenden Kapitel beschrieben werden, von denen er sich reinigen soll.
3,6 Unter den verdorbenen Menschen der letzten Tage macht Paulus nun eine besondere Gruppe aus, nämlich die Führer und Lehrer von Sekten. Diese ausführliche Beschreibung ihres Charakters und ihrer Methoden geht in den Sekten unserer Tage in Erfüllung.
Zunächst einmal lesen wir, dass sie sich »in die Häuser schleichen«. Es ist kein Zufall, dass diese Beschreibung uns an die Bewegung einer Schlange erinnert. Wenn sie ihre wahre Herkunft preisgeben würden, dann könnten sie nicht in so viele Familien eindringen. Sie gehen dabei jedoch in verschiedener Hinsicht raffiniert vor, indem sie etwa von Gott, der Bibel und von Jesus sprechen (auch wenn sie nicht glauben, was die Schrift über diese lehrt).
Als Nächstes wird gesagt, dass sie »lose Frauen verführen«. Das ist charakteristisch. Sie planen ihre Besuche, wenn der Ehemann auf Arbeit oder sonst irgendwie abwesend ist. Die Geschichte wiederholt sich. Satan näherte sich Eva im Garten Eden und betrog sie. Sie maßte sich Autorität über ihren Mann an, indem sie eine Entscheidung traf, die ihm hätte überlassen werden sollen. Die Methoden Satans haben sich nicht geändert. Er nähert sich den Frauen noch immer mit seinen Irrlehren und verführt sie. Diese Frauen sind in dem Sinne lose, dass sie schwach und unsicher sind. Ihnen fehlt es nicht an Verstand, sondern an Widerstandskraft.
Sie werden beschrieben als »mit Sünden beladen«. Das bedeutet zunächst einmal, dass sie ein Gespür für ihre Sünde haben, darunter leiden und einen Mangel in ihrem Leben empfinden. Genau zu solch schwierigen Zeiten erscheinen die Sektenprediger. Wie schlimm ist es doch, dass diejenigen, die die Wahrheit des Wortes Gottes kennen, nicht eifriger versuchen, diese suchenden Seelen zu err eichen! Zweitens lesen wir, dass sie »von mancherlei Begierden getrieben werden«. Weymouth versteht darunter, dass sie »von immer anderen Launen geleitet« sind. Moffatt bezeichnet sie »als von ihren Launen getriebene Geschöpfe, die inneren Regungen gehorchen«. Es geht hier wohl darum, dass sie sich ihrer Sünden bewusst sind und Befreiung davon suchen. Deshalb sind sie bereit, sich jedem vorbeiziehenden Wind der Lehre ausz usetzen und jeder religiösen Modetorheit zu verfallen.
3,7 Der Ausdruck »immer lernen« bedeutet nicht, dass sie ständig mehr über den Herrn Jesus und das Wort Gottes lernen. Es bedeutet stattdessen, dass sie von einer Sekte zur anderen rennen, doch »niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können«. Der Herr Jesus selbst ist die Wahrheit. Diese Frauen kommen ihm zeitweilig scheinbar nahe, doch sie werden vom Feind ihrer Seelen gefangen genommen und erlangen nie die Ruhe, die wir nur im Heiland finden können.
Man sollte an dieser Stelle anmerken, dass die Mitglieder der verschiedenen Sekten immer wieder sagen »Ich lerne …« wobei sie dann den Namen des entsprechenden Lehrsystems nennen. Sie können niemals davon sprechen, dass sie die Erlösung durch den Glauben an Jesus Christus erlangt haben.
Dieser Vers lässt uns auch an die heutige Wissensexplosion in allen Bereichen menschlicher Forschung und den großen Wert denken, den man heutzutage auf Bildung legt. Dennoch versagt man so sehr dabei, die Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit zu führen.
3,8 Drei Menschenpaare werden in diesem Brief genannt:
Phygelus und Hermogenes (1,15), die sich der Wahrheit schämten. Hymenäus und Philetus (2,17.18), die sich hinsichtlich der Wahrheit irrten. »Jannes und Jambres« (3,8), die der Wahrheit widerstanden.
In diesem achten Vers kehrt Paulus zu den Führern und Lehrern von Irrlehren zurück. Er vergleicht sie mit »Jannes und Jambres, die Mose widerstanden«. Eigentlich werden ihre Namen im AT nicht erwähnt, doch allgemein versteht man darunter die beiden ägyptischen Zauberer, die vom Pharao herbeigerufen wurden, um die Wunder nachzuahmen, die von Mose vollführt wurden. Es erhebt sich die Frage, woher Paulus ihre Namen kannte. Das sollte eigentlich keine Schwierigkeit sein, denn wenn sie nicht durch die jüdische Tradition überliefert wurden, so könnte Gott ihm ihre Namen offenbart haben.
Wichtig daran ist, dass sie »Mose widerstanden«, indem sie seine Wunder nachahmten. Genau dasselbe gilt für die Sektenführer. Sie widerstehen dem Werk Gottes, indem sie es nachäffen. Sie haben ihre eigene Bibel, ihren eigenen Heilsweg – kurz, sie haben einen Ersatz für jede Einzelheit des christlichen Glaubens. Sie widerstehen der Wahrheit Gottes, indem sie eine billige Verdrehung davon anbieten und manchmal auch okkulte Fähigkeiten mit heranziehen. Wenn ihr christlicher »Glaube« erprobt wird, so findet man heraus, dass er »unbewährt« und unecht ist. Am einfachsten kann man diesen Glauben prüfen, indem man ihnen eine einfache Frage stellt: »Ist Jesus Christus Gott?« Viele von ihnen versuchen, ihre Irrlehre zu verbergen, indem sie zugeben, dass Jesus der Sohn Gottes ist, doch sie meinen damit, dass er nur in dem Sinne Sohn Gottes ist, in dem es auch andere Menschen sind. Doch wenn sie mit der Frage konfrontiert werden: »Ist Jesus Christus Gott?«, dann zeigen sie, wer sie wirklich sind. Sie leugnen nicht nur die Gottheit Jesu Christi, sondern werden oft auch ärgerlich, wenn man sie so herausfordert. Das gilt für die Christliche Wissenschaft, die Christadelphianer (auch als Urchristen bekannte Sondergemeinschaft, deren Namen sich aus den griechischen Wörtern »Christos adelphoi« [»Brüder in Christus«] ableitet und  die  u. a.  die  Dreieinheit  Gottes  ablehnt; Anm. d. Übers.), die Zeugen Jehovas und andere christliche Sekten.
3,9 Paulus versichert Timotheus, dass diese Irrlehrer »nicht weiter vorwärtskommen« werden. Die Schwierigkeit hier ist, dass sie in jedem Zeitalter überall so erfolgreich zu sein scheinen und offenbar nichts ihren Erfolg behindert! Die mögliche Bedeutung ist, dass jede Irrlehre eines Tages entlarvt wird. Irrlehren kommen und gehen, eine nach der anderen. Obwohl sie so sehr zu florieren scheinen, kommt doch eine Zeit, zu der ihr Irrtum allen bekannt wird. Sie können Menschen bis zu einem bestimmten Punkt führen und sogar ein gewisses Maß an Verbesserung bringen. Doch sie können keine Wiedergeburt zueignen. Sie können dem Menschen keine Freiheit von der Strafe und der Macht der Sünde anbieten. Sie können kein Leben geben. Jannes und Jambres konnten Mose bis zu einem bestimmten Punkt mit ihrer Magie nachäffen. Doch als es darum ging, Leben aus toter Materie hervorzubringen, waren sie ausgesprochen machtlos. Genau an dieser Stelle versagen alle Irrlehren.
3,10 In deutlichem Gegensatz zu diesen Irrlehrern stand das Leben und der Dienst des Paulus. Timotheus war sich sehr wohl der neun hervorstechenden, hier genannten Merkmale bewusst, die diesen Diener des Herrn charakterisierten. Er hatte eng mit Paulus zusammengearbeitet und konnte von der Tatsache Zeugnis ablegen, dass es sich hier um einen Mann handelte, der Christus und seinem Wort treu war.
Die »Lehre« des Apostels entsprach dem Wort Gottes, wobei er der Person des Herrn Jesus Christus treu war. Sein »Lebenswandel« oder Verhalten stimmte mit der Lehre überein, die er predigte. Sein »Vorsatz« oder Ziel im Leben bestand darin, sich von moralischen und lehrmäßigen Übeln fernzuhalten. »Glaube« bedeutet hier das Vertrauen des Paulus auf den Herrn, seinen eigenen persönlichen Glauben. Timotheus wusste, dass Paulus ganz vom Herrn abhängig und gleichzeitig ehrlich und vertrauenswürdig war. Die »Langmut« des Apostels sah man an seiner Haltung gegenüber seinen Verfolgern und Kritikern, und gegenüber körperlichen Leiden. Seine »Liebe« drückte sich in selbstloser Hingabe an den Herrn und an seine Mitmenschen aus. Je weniger andere ihn liebten, desto entschlossener war er, selbst zu lieben. »Ausharren« heißt wörtlich »unter einer Last bleiben«. Dies bedeutet, dass dazu Stärke und Geduld nötig ist.
3,11 Einige der »Verfolgungen« und »Leiden« (oder Anfechtungen) des Paulus werden in 2. Korinther 11,23-28 beschrieben. Doch er denkt besonders an die Verfolgungen und Leiden, womit Timotheus persönlich vertraut war. Weil die Heimatstadt des Timotheus »Lystra« war, wusste er über die »Verfolgungen« Bescheid, die Paulus dort und in den Nachbarstädten »Antiochia« und »Ikonion« erlitt. Den inspirierten Bericht dieser Leiden finden wir in der Apostelgeschichte – Antiochia in Apostelgeschichte 13,45.50; Ikonion in Apostelgeschichte 14,3-6; und Lystra in Apostelgeschichte 14,19.20. Paulus freut sich der Tatsache, dass »der Herr« ihn aus allen diesen Verfolgungen »gerettet« hat. Der Herr hatte ihn nicht vor diesen Anfechtungen errettet, sondern »aus« ihnen. Das ist eine Erinnerung für uns, dass uns kein Leben ohne Schwierigkeiten verheißen ist. Vielmehr wird uns zugesagt, dass der Herr bei uns ist und uns durch die Probleme hindurch begleitet.
3,12 Verfolgung gehört zu einem hingegebenen christlichen Leben. Es ist gut, jeden jungen Timotheus daran zu erinnern. Anderenfalls mag Folgendes eintreten: Wenn er berufen ist, durch tiefe Wasser zu gehen, ist er versucht zu glauben, dass der Herr ihn verlassen hat oder dass er aus irgendeinem Grund an ihm kein Gefallen mehr hat. Tatsache ist jedoch, dass Verfolgung für alle, die »in Christus Jesus« »gottesfürchtig leben wollen«, unausweichlich ist. Der Grund für diese Verfolgung ist einfach. Ein »gottesfürchtiges« Leben stellt heraus, wie böse die anderen leben. Menschen mögen es nicht, wenn sie auf diese Art bloßgestellt werden. Statt angesichts ihrer Gottlosigkeit Buße zu tun und sich Christus zuzuwenden, versuchen sie, denjenigen auszuschalten oder aus dem Weg zu räumen, der ihnen gezeigt hat, wie sie wirklich sind. Es handelt sich natürlich um ein völlig irrationales Verhalten, doch dies ist für den gefallenen Menschen ganz typisch.
3,13 Paulus hatte keine Illusionen hinsichtlich der weltweiten moralischen Entwicklung. Die Welt würde nicht allmählich immer besser werden, bis sich eines Tages alle Menschen bekehrt hätten. Er kannte stattdessen die göttliche Offenbarung, dass genau das Gegenteil der Fall sein würde. »Böse Menschen und Betrüger aber werden zu Schlimmerem fortschreiten.« Sie würden immer geschickter in ihren Methoden und frecher in ihren Angriffen. Sie werden nicht nur andere betrügen, sondern auch sie selbst werden sich in die Irrlehren verstricken, mit denen sie ihre Zuhörer zu ködern suchen. Nachdem sie diese ihr Leben lang verbreitet haben, werden sie schließlich selbst daran glauben.
C. Der Mensch, der sich angesichts des Abfalls auf Gott verlässt (3,14-4,8)
3,14 Immer wieder wird Timotheus daran erinnert, dass er beständig in der Lehre des Wortes Gottes »bleiben« soll. Das würde sein großer Rückhalt in der Zeit sein, wenn Irrlehren überhandnehmen würden. Wenn er die Schrift kennt und ihr gehorcht, würde er nicht diesen raffinierten Irrtümern anheimfallen. Timotheus hatte nicht nur die großen Wahrheiten des Glaubens »gelernt«, sondern er war von ihnen auch persönlich »überzeugt«. Zweifellos würde ihm gesagt werden, dass solche Lehren altmodisch seien und nicht dem kulturellen oder intellektuellen Niveau seiner Zeit entsprächen. Doch er sollte die Wahrheit nicht gegen Theorien oder menschliche Spekulationen eintauschen. Der Apostel rät ihm weiter, sich daran zu erinnern, »von wem« er diese Wahrheiten »gelernt« hatte. Es gibt Meinungsverschiedenheiten darüber, ob Paulus mit »wem« sich selbst, die Mutter und Großmutter des Timotheus oder die Apostel generell meint. Jedenfalls geht es hier darum, dass ihm die Heilige Schrift von solchen Menschen nahegebracht worden war, deren Leben von der Echtheit ihres Glaubens Zeugnis ablegte. Es waren gottesfürchtige Menschen, die nur zur Verherrlichung des Herrn lebten.
3,15 Dies ist ein äußerst eindrücklicher Vers. Es geht hier darum, dass Timotheus »von Kind auf« die Heiligen Schriften oder Briefe gekannt hat. Man könnte sogar daran denken, dass seine Mutter ihm das Lesen anhand von Abschnitten aus dem AT beibrachte. Von Kindheit an stand er unter dem Einfluss inspirierter Schriften, und unter keinen Umständen sollte er dieses wunderbare Buch vergessen, das sein Leben zu Gott und zum Guten hin verändert hat.
Von den »heiligen Schriften« wird ausgesagt, dass sie die Menschen »weise machen … zur Errettung«. Dies bedeutet zunächst einmal, dass Menschen den Weg zur »Errettung« aus der Bibel erfahren können. Es mag auch daran gedacht sein, dass die Heilsgewissheit aus dem Wort Gottes kommt.
Die »Errettung« geschieht »durch den Glauben, der in Christus Jesus ist«. Wir sollten uns das sehr gut merken. Nicht durch gute Werke, Taufe, Gemeindemitgliedschaft, Konfirmation, Halten der Zehn Gebote oder auf irgendeine andere Weise werden wir aufgrund menschlicher Bemühungen oder eigener Verdienste errettet. Die »Errettung« kommt »durch den Glauben« an den Sohn Gottes.
3,16 Wenn Paulus von der ganzen »Schrift« spricht, dann bezieht er sich auf das vollständige AT und auch auf die Teile des NT, die damals schon existierten. In 1. Timotheus 5,18 zitiert er das Lukasevangelium (10,7) als Schriftstelle. Und Petrus spricht von den Paulusbriefen als »Schrift« (2. Petr 3,16). Heute können wir gerechtfertigterweise den Vers auf die gesamte Bibel beziehen.
Dies ist einer der wichtigsten Verse der Bibel zum Thema Inspiration. Er lehrt, dass die Schrift von Gott »eingehaucht«27 wurde. Auf wunderbare Weise hat Gott sein Wort den Menschen vermittelt und sie geleitet, es festzuhalten, indem sie es niederschrieben. Was sie schrieben, war ganz Wort Gottes, inspiriert und unfehlbar. Es stimmt zwar, dass der individuelle Schreibstil der Verfasser nicht unberücksichtigt blieb, doch ist es ebenso wahr, dass genau jene Worte, die sie verwendeten, vom Heiligen Geist »eingegeben« wurden. So lesen wir in 1. Korinther 2,13: »Davon reden wir auch, nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist, indem wir Geistliches durch Geistliches deuten.« Wenn diese Verse überhaupt eine Bedeutung haben, dann diese, dass die inspirierten Autoren Worte gebrauchten, die der Heilige Geist sie lehrte. Das ist mit Verbalinspiration gemeint. Die Autoren der Bibel legten nicht ihre eigene Lehrinterpretation dar, sondern schrieben die Botschaft nieder, die ihnen von Gott gegeben war. »Indem ihr dies zuerst wisst, dass keine Weissagung der Schrift aus eigener Deutung geschieht. Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben vom Heiligen Geist« (2. Petr 1,20.21). Es ist falsch, wenn man sagt, dass Gott einfach den einzelnen Schreibern seine Gedanken eingegeben und ihnen erlaubt habe, diese Gedanken mit ihren eigenen Worten auszudrücken. Die Wahrheit, worauf die Schrift nachdrücklich besteht, lautet: Jedes einzelne Wort, das »Gott« den Menschen gegeben hat, wurde von ihm eingehaucht.
Weil die Bibel das Wort Gottes ist, erweist sie sich als »nützlich«. Jeder Teil davon ist »nützlich«. Obwohl man sich fragen mag, inwieweit das auf die Ahnentafeln und unverständliche Abschnitte zutrifft, wird doch der vom Geist gelehrte Verstand erkennen, dass in jedem Wort, das vom Mund Gottes ausgegangen ist, geistliche Nahrung steckt. Die Bibel ist »nützlich zur Lehre«. Sie zeigt, wie Gott über solche Themen wie Dreieinheit, Engel, Menschen, Sünde, Errettung, Heiligung, Gemeinde und Zukunft denkt.
Außerdem ist sie »nützlich zur Überführung«. Wenn wir die Bibel lesen, so spricht sie eindeutig zu uns über die Dinge in unserem Leben, die Gott nicht gefallen. Auch ist sie nützlich, um Irrlehren zurückzuweisen und dem Versucher zu antworten.
Ferner ist das Wort »nützlich zur Zurechtweisung«. Es zeigt uns nicht nur, was wir falsch machen, sondern weist uns auch den Weg, wie wir unser Handeln verbessern können. Z. B. sagt die Schrift nicht nur: »Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr«, sondern sie fügt hinzu: »Er mühe sich vielmehr und wirke mit seinen Händen das Gute, damit er dem Bedürftigen etwas mitzugeben habe.« Der erste Teil des Verses stellt eine »Überführung« dar, während der zweite die »Zurechtweisung« enthält.
Schließlich ist die Bibel »zur Unterweisung in der Gerechtigkeit« nützlich. Die Gnade Gottes lehrt uns, gottesfürchtig zu leben, doch das Wort Gottes zeigt uns die Details, die ein gottesfürchtiges Leben ausmachen.
3,17 Durch das Wort kann der »Mensch Gottes vollkommen« oder reif werden. Er ist »völlig zugerüstet« mit allem, was er benötigt, um »jedes gute Werk« zu vollbringen, was dem Ziel seiner Errettung entspricht (Eph 2,8-10). Dies steht im scharfen Kontrast zur modernen Vorstellung, dass man sich durch akademische Abschlüsse »zurüsten« könne. Lenski schreibt:
Die Schrift ist deshalb völlig unvergleichlich. Kein anderes Buch, keine Bibliothek oder sonst etwas anderes in der Welt ist in der Lage, den Sünder zum Heil zu führen. Keine andere Schrift, welchen Nutzen sie auch immer haben mag, ist dazu nützlich, weil ihr die Inspiration Gottes fehlt: Die Schrift allein lehrt uns die wahren Fakten der Erlösung. Sie weist die Lügen und Illusionen zurück, die diese Tatsachen leugnen wollen. Sie bringt den Sünder oder gefallenen Christen erstmals oder wieder in die Stellung von Aufrichtigen. Und sie lehrt, unterweist und macht uns zu Jüngern in wahrer Gerechtigkeit.28
4,1 Paulus beginnt nun mit seinen abschließenden ernsthaften Ermahnungen an Timotheus. Er tut es »vor Gott und Christus Jesus«. Aller Dienst sollte in der Erkenntnis getan werden, dass er von Gottes allwissendem Auge beobachtet wird.
In diesem Vers wird der Herr Jesus der Eine genannt, »der Lebende und Tote richten wird, … bei seiner Erscheinung und seinem Reich«. Das deutsche Wort »bei« könnte nahelegen, dass es eine allgemeine Auferstehung und ein allgemeines Gericht gibt, wenn der Heiland auf die Erde wiederkehrt, um sein Reich zu errichten. Doch im Original bedeutet das Wort kata29 wörtlich »nach« oder »in Übereinstimmung mit«.
Der Herr Jesus ist der Eine, »der Lebende und Tote richten wird«, doch wird hier nichts über den Zeitpunkt ausgesagt. Die »Erscheinung« Christi und »sein Reich« werden von Paulus hier als Motivation für treuen Dienst vorgestellt. Wir wissen anhand anderer Schriftstellen, dass die Wiederkunft Christi nicht der Zeitpunkt ist, an dem er die Lebenden und die Toten richten wird. Die gottlos Abgeschiedenen werden nach Offenb arung 20,5 erst am Ende des Tausendjährigen Reiches Christi gerichtet. Der Dienst der Gläubigen wird am Richterstuhl Christi belohnt werden, doch dieser Lohn wird erst »bei seiner Erscheinung und seinem Reich« offenbart werden. Es ist wohl so, dass der Lohn im Zusammenhang mit der Herrschaft oder Verwaltung während des Tausendjährigen  Reiches  steht.  Z. B.  werden  diejenigen, die treu waren, über zehn Städte herrschen (Lk 19,17).
4,2 Timotheus sollte »das Wort« predigen, indem er sich vor Augen hielt, dass Gott jederzeit seine Diener beobachtet und sie eines Tages belohnen wird. Er sollte dem Wort Dringlichkeit verleihen und selbst jede Gelegenheit zur Predigt wahrnehmen. Die Botschaft kommt immer »gelegen«, auch wenn einige meinen, sie käme »ungelegen«. Als Diener Christi ist Timotheus aufgerufen zu »überführen«,  d. h.  er  soll  überzeugen  oder  widerlegen. Er soll »strafen«, was falsch ist. Und er soll die Sünder zum Glauben und die Heiligen zum Weitergehen mit dem Herrn »ermahnen«. In all dem soll er unermüdlich geduldig »mit aller Langmut und« in treuer »Lehre« bleiben, indem er gesunde Lehre weitergibt.
4,3 In den Versen 3-6 führt der Apostel zwei wichtige Gründe für seine Ermahnung an, die er Timotheus soeben gegeben hat. Der erste ist, dass es ein allgemeines Abwenden von der »gesunden Lehre« geben wird. Der zweite lautet, dass er selbst bald sterben würde. Der Apostel sieht eine Zeit voraus, in der den Menschen die heilsame »Lehre« sehr missfallen wird. Sie werden sich willentlich von denen abwenden, die die Wahrheit des Wortes Gottes lehren. Ihre »Ohren« werden nach Lehren begierig sein, die gefallen und bequem sind. Um ihre Neugier und ihr Sehnen nach gefälliger Lehre zu befriedigen, werden sie »sich selbst Lehrer« sammeln, die ihnen sagen, was sie hören wollen.
4,4 Die Begierde nach bequemer Predigt wird die Menschen veranlassen, »die Ohren von der Wahrheit« abzukehren und sich Mythen zuzuwenden. Das ist ein schlechter Handel – die Wahrheit für »Fabeln« einzutauschen. Dies ist jedoch der schreckliche Lohn derer, die die gesunde Lehre ablehnen.
4,5 »Nüchtern in allem« sein kann auch so viel wie »wachsam sein« bedeuten. Timotheus sollte in seiner Arbeit ernsthaft, gemäßigt und ausgeglichen sein. Er sollte »Leid« nicht ausweichen, sondern bereitwillig alle Härten auf sich nehmen, die ihm im Dienst für Christus begegnen würden.
Es gibt einige verschiedene Meinungen über den Ausdruck »tue das Werk eines Evangelisten«. Einige Ausleger denken, dass Timotheus ein Evangelist war und Paulus ihm hier nur sagt, er solle diesen Dienst tun. Andere denken, dass Timotheus nicht die Gabe des Evangelisten hatte, sondern eher ein Hirte oder Lehrer war. Dies sollte ihn jedoch nicht davon abhalten, Ungläubigen das Evangelium zu predigen, wenn er Gelegenheit dazu hätte. Es ist wohl wahrscheinlich, dass Timotheus schon ein »Evangelist« war und Paulus ihn hier einfach ermutigen will, alle Aufgaben zu erfüllen, die ein Evangelist hat.
In jeder Weise sollte er seinen »Dienst vollbringen«, indem er seine besten Talente auf alle Anforderungen seines Dienstes anwandte.
4,6 Der zweite Grund für die ernste Ermahnung an Timotheus war Paulus’ eigener bevorstehender Tod. Er würde schon bald »als Trankopfer gesprengt« werden. Er vergleicht den Tod eines Märtyrers mit dem Ausgießen eines »Trankopfers« über ein Opfer (vgl. 2. Mose 29,40; 4. Mose 15,1-10). Paulus hatte schon früher einmal in Philipper 2,17 seinen Tod mit einem Trankopfer verglichen. Hiebert sagt: »Sein ganzes Leben war Gott als lebendiges Opfer hingegeben, sein Tod wird das Opfer nun noch vollenden, so wie das Ausgießen des Weines der letzte Teil der Opferzeremonie war.«30 »Die Zeit meines Abscheidens steht bevor.« Das griechische Wort analysis (wörtl. »Auflösung«, daher unser Fremdwort Analyse), das Paulus hier benutzt, um sein »Abscheiden« zu bezeichnen, ist sehr ausdrucksstark und enthält mindestens vier verschiedene Bilder: 1. handelte es sich um ein Wort der Seemannssprache, das benutzt wurde, um das Lösen eines Schiffes von seinem Anker zu beschreiben. 2. benutzten Bauern das Wort, um damit das Losschirren der Tiere von ihrem Joch nach einem harten Arbeitstag zu bezeichnen.
3. handelte es sich um einen Ausdruck der Reisenden, wenn man das Zelt abbrach, um sich auf die kommende Wanderung vorzubereiten. 4. benutzten die Philosophen das Wort, um damit die »Lösung« eines Problems zu bezeichnen. Hier sehen wir wieder, wie bildreich der Apostel zu formulieren verstand.
4,7 Auf den ersten Blick scheint es so, als wolle der Apostel in diesem Vers mit seiner Leistung angeben. Doch das ist nicht der Fall. Es geht nicht so sehr darum, dass er einen guten Kampf gekämpft hat, sondern dass er »den guten Kampf gekämpft« hat und noch weiter kämpft, nämlich den Kampf des Glaubens. Er hat alle seine Energien in diesem guten Kampf verbraucht. Kampf muss nicht unbedingt eine Kriegshandlung sein, sondern kann auch einen sportlichen Wettkampf bedeuten. Als er schrieb, erkannte er, dass der anstrengende »Lauf« fast vollendet war. Er war seine Strecke gelaufen und sah schon das Ziel.
Paulus hatte auch »den Glauben bewahrt«. Das bedeutet nicht nur, dass Paulus selbst im Glauben stand und den großen Lehren des christlichen Glaubens gehorchte. Vielmehr ist damit auch gemeint, dass er als Verwalter die Lehre bewahrt hatte, die ihm anvertraut war, und sie unverfälscht an andere weitergegeben hatte.
4,8 Der Apostel drückt hier sein Vertrauen darauf aus, dass die »Gerechtigkeit«, die er in seinem Dienst zeigte, von dem gerechten Herrn am Richterstuhl Christi belohnt werden würde. Der Herr wird hier »der gerechte Richter« genannt, doch es geht hier nicht so sehr um einen Strafrichter, sondern um einen Schiedsrichter bei einem Wettkampf. Anders als irdische Richter wird er ein vollständiges Wissen haben, er wird die Person nicht ansehen, er wird sowohl Motive als auch Handlungen richten, und seine Richtersprüche werden korrekt und unparteiisch sein. »Der Siegeskranz der Gerechtigkeit« ist der Kranz (hier ist kein Diadem und keine Krone gemeint), der denjenigen Gläubigen gegeben werden wird, die in ihrem Dienst »Gerechtigkeit« haben walten lassen. Er wird sogar »allen« gegeben werden, »die seine Erscheinung lieben«. Wenn ein Mensch sich wirklich nach der Wiederkunft Christi sehnt und im Lichte dieses Ereignisses lebt, dann wird sein Leben gerecht sein, und er wird entsprechend belohnt werden. Hier haben wir eine erneute Erinnerung daran, dass die Wiederkunft Christi, wenn man wirklich daran glaubt und sie liebt, einen heiligenden Einfluss auf das Leben ausübt. IV. Persönliche Bitten und Bemerkungen (4,9-22)
4,9 Der gealterte Paulus sehnt sich nach Gemeinschaft mit seinem jüngeren Bruder im Herrn. Deshalb drängt er ihn, sein Bestes zu tun, um bald nach Rom »zu kommen«. Der Apostel empfand die Einsamkeit seiner Kerkerhaft in Rom als sehr bedrückend.
4,10 Eine der bittersten Erfahrungen im christlichen Dienst ist es, von denen verlassen zu werden, die einst Mitarbeiter waren. »Demas« war ein Freund des Paulus gewesen, ein Mitgläubiger und ein Mitarbeiter. Doch nun war Paulus im Gefängnis, und die Christen wurden verfolgt. Das politische Klima war für Christen ausgesprochen ungünstig. Statt die Erscheinung des Herrn zu lieben, fand Demas Gefallen am »jetzigen Zeitlauf«, verließ Paulus und reiste »nach Thessalonich«. Das heißt nicht notwendigerweise, dass Demas sein christliches Zeugnis aufgab und ein Abtrünniger wurde. Auch bedeutet das nicht, dass er kein echter Gläubiger gewesen sei. Vielleicht hatte die Sorge um seine persönliche Sicherheit ihn zu dieser Entscheidung gebracht. Der Apostel fügt dann hinzu, dass »Kreszenz nach Galatien« und »Titus nach Dalmatien« gegangen seien. In diesen Worten liegt keinerlei Anspielung auf einen Tadel, vielleicht waren sie im christlichen Dienst an diese Orte gegangen. Dies ist die einzige Erwähnung von »Kreszenz« in der Bibel (der Name bedeutet »wachsend«). Wir wissen nicht mehr über ihn. Das sollte eine Ermutigung für alle Gläubigen sein. Ganz gleich, wie niedrig ihre Stellung im Leben sein mag, auch ein kleiner Dienst für den Herrn wird nicht unbemerkt oder unbelohnt bleiben.
4,11 Der geliebte Arzt »Lukas« war der Einzige, der den Kontakt mit Paulus in Rom aufrechterhielt. Wie viel muss es dem Apostel bedeutet haben, von diesem großen Mann Gottes in geistlicher Hinsicht ermutigt zu werden und seine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können!
Und wie dankbar können wir für den zweiten Teil von Vers 11 sein! Er enthält für alle von uns, die im Dienst an unserem Herrn versagt haben, die Ermutigung, dass er uns immer noch eine Chance lässt, für ihn zu wirken. »Markus« ging mit Paulus und Barnabas auf die erste Missionsreise, doch er verließ sie in Perge, um nach Hause zurückzukehren. Als die Zeit der zweiten Missionsreise gekommen war, wollte Paulus Markus nicht mitnehmen, weil dieser junge Bruder vorzeitig umgekehrt war. Als Barnabas darauf bestand, dass Markus sie begleiten sollte, löste man die Angelegenheit so, dass Paulus mit Silas durch Syrien und Zilizien reiste, während Barnabas mit Markus nach Zypern zog. Später versöhnten sich Paulus und Markus wieder, und hier bittet der Apostel ausdrücklich um »Markus« als einen, der ihm »nützlich zum Dienst« ist.
4,12 Etliche Ausleger glauben, dass Timotheus in Ephesus war, als Paulus diesen Brief an ihn schrieb. Sie sind der Ansicht, dass der Apostel »Tychikus« nach Ephesus sandte, um Timotheus während dessen Abwesenheit zu vertreten. Sie bringen vor, dass Paulus hier meint: »Aber ich habe Tychikus beauftragt, nach Ephesus zu kommen.«
4,13 Bei dem »Mantel«, der hier erwähnt wird, hat es sich möglicherweise entweder um ein Übergewand oder aber um eine Tasche gehandelt, worin man Bücher transportieren kann. Doch allgemein versteht man hier das Erstere darunter. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, was denn der Unterschied zwischen den »Büchern« und den »Pergamenten«31 ist. Gehörten sie zur Heiligen Schrift? Handelte es sich um einige der Paulusbriefe? Waren es Papiere, die er bei seiner Gerichtsverhandlung benötigte? Ging es um leere Stücke aus Papyrus oder Pergament, die er zum Schreiben benutzen wollte? Es ist unmöglich, dies endgültig zu entscheiden. Doch es ist wohl richtig anzunehmen, dass Paulus seine Gefangenschaft sinnvoll nutzen wollte, indem er sich dem Schreiben und Lesen widmete und somit beschäftigt war. Eine interessante wahre Geschichte wird im Zusammenhang mit diesem scheinbar so unwichtigen Bibelvers erzählt. F. W. Newman, der jüngere Bruder von Kardinal Newman, fragte einmal J. N. Darby, ob wir wohl auf irgendeine Weise ärmer würden, wenn dieser Vers nicht in der Bibel stünde. War er nicht nur von zeitlich begrenzter Bedeutung? Würde irgendetwas fehlen, wenn Paulus ihn nie geschrieben hätte? Darby antwortete prompt darauf: »Ich hätte ganz gewiss etwas verloren, denn dieser Vers hielt mich davon ab, meine Bibliothek zu verkaufen. Jedes Wort, darauf kann man sich verlassen, ist vom Geist eingegeben und von ewigem Wert.«32
4,14 »Alexander, der Schmied«, könnte derjenige sein, hinsichtlich dessen Paulus in 1. Timotheus 1,20 erwähnt, dass er Schiffbruch im Glauben erlitten habe. Jedenfalls hatte er dem Apostel großen Schaden zugefügt. Wir können nur über die genauen Einzelheiten spekulieren. Wenn wir diesen Vers mit dem Folgenden verbinden, ist es möglich, dass »Alexander« gegen den Apostel ausg esagt und falsche Anklage gegen ihn erhoben hatte. Conybeare und Howson übersetzen: »Alexander der Schmied hat mich böse verklagt.« Der Apostel vertraut jedoch darauf, dass »der Herr ihm« eines Tages »nach seinen Werken … vergelten« wird.
4,15 Dieser Vers rechnet mit der Ankunft des Timotheus in Rom. Er soll sich »auch … vor« Alexander »hüten«, damit er nicht ebenfalls durch diesen Mann Böses erleidet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Alexander den »Worten« des Paulus »sehr widerstanden« hat, indem er dessen Zeugnis bei einer Anhörung infrage stellte.
4,16 Paulus denkt wahrscheinlich noch an die Ereignisse der vergangenen Tage. Seine »erste Verteidigung« ist wohl die erste Gelegenheit, die ihm zur Verteidigung bei diesem seinem letzten Gerichtsverfahren gegeben wurde.33 Es scheint in der Tat so gewesen zu sein, dass »niemand« aufstand, um ein Wort für diesen unerschrockenen Apostel einzulegen, dessen Schriften die darauffolgenden Jahrhunderte so sehr bereichert haben. Niemand wollte ihn verteidigen, doch ist in Paulus’ Herzen deshalb keine Bitterkeit zurückgeblieben. Wie der Heiland vor ihm betet er darum, dass »es ihnen nicht zugerechnet« werde.
4,17 Er mag von Menschen verlassen gewesen sein, »der Herr aber stand« ihm »bei«. Ja, noch mehr: Er bekam von Gott auch die Kraft, bei seiner Verhandlung das Evangelium zu predigen. Die Botschaft durfte ohne Behinderung weitergegeben werden, und so konnte ein heidnischer Gerichtshof die Botschaft vom Heil hören. Stock kommt ins Staunen: Alle Heiden – welch eine Menge hochstehender Römer kann mit diesem einfachen Satz gemeint gewesen sein! – hörten an diesem Tag die Botschaft Gottes an die Menschheit. Alle hörten von dem gekreuzigten und erhöhten Jesus, der der einzige Heiland ist. Das ist ein überwältigender Gedanke, die Fantasie kann sich kaum eine solche außergewöhnliche Szene vorstellen. Es muss sich um einen der großartigsten Augenblicke der Geschichte gehandelt haben, und was mag uns noch die Ewigkeit von den Folgen dieser Stunde zu berichten haben?34 Das Wort »stärkte« in diesem Vers ist kein gewöhnliches, es findet sich im NT nur achtmal. Es wird in Apostelgeschichte 9,22 für den Anfang des öffentlichen Dienstes des Paulus verwendet: Er »erstarkte … im Wort«. Hier wird es wieder verwendet, doch nun gegen Ende seines öffentliches Dienstes – eine bewegende Erinnerung an die erhaltende Kraft des Herrn, wie sie sich im Leben dieses Dieners zeigte.
Der hier befindliche Ausdruck (»ich bin gerettet worden aus dem Rachen des Löwen«) ist die Art, wie Paulus ausdrückt, dass ihm Aufschub gewährt wurde. Doch der Prozess ging weiter. Die Gefahr war nur zeitweilig abgewendet worden. Man hat versucht, in dem Löwen Nero oder Satan oder aber wirkliche wilde Tiere wiederzuerkennen. Vielleicht ist es einfacher, unter diesem Wort eher eine allgemeine Gefahr zu verstehen.
4,18 Als der Apostel sagte, dass »der Herr« ihn »von jedem bösen Werk retten« würde, meint er damit nicht, dass ihm schließlich die Hinrichtung erspart werden würde. Er wusste, dass die Zeit seines Todes nahe gekommen war (V. 6). Was meinte er dann? Zweifellos wollte er sagen, dass der Herr ihn vor allem bewahren würde, das seine letzten Tage des Zeugnisses für ihn beschmutzen könnte. Der Herr würde ihn davor bewahren, zu widerrufen, seinen Namen zu leugnen und sich feige zu verhalten. Er würde ihn vor jeder anderen Form eines moralischen Zusammenbruchs bewahren. Nicht nur das, sondern Paulus war sich auch sicher, dass der Herr ihn »in sein himmlisches Reich hineinretten« würde. »Sein himmlisches Reich« bezieht sich nicht auf das Tausendjährige Reich Christi auf Erden, sondern auf den Himmel, wo die Herrschaft des Herrn vollkommen anerkannt ist.
Hier bricht der Apostel in einen Lobpreis aus: »Ihm sei die Herrlichkeit in alle Ewigkeit!« »In alle Ewigkeit« heißt wörtlich »in die Zeitalter der Zeitalter«. Die Worte stehen für den stärksten Ausdruck, der für die Ewigkeit gebraucht wird und den die griechische Sprache kennt. Theoretisch gesehen gibt es in der Ewigkeit keine »Zeitalter«, doch weil der menschliche Geist keine Vorstellung von der Zeitlosigkeit hat, ist er gezwungen, Ausdrücke zu gebrauchen, die zeitliche Vorstellungen enthalten.
4,19 Nun sendet Paulus Grüße an ein verheiratetes Paar, das oft mit ihm am Evangelium gedient hatte. »Priska« oder Priszilla »und Aquila« trafen ihn zuerst in Korinth. Später reisten sie mit ihm nach Ephesus. Sie lebten eine Zeit lang in Rom (Röm 16,3) und waren wie Paulus Zeltmacher.
»Onesiphorus« ist schon in 1,16 erwähnt worden als der Bruder, der den Apostel oft erquickt und sich seiner Ge- fangenschaft nicht geschämt hatte.
4,20 Vielleicht ist »Erastus« derselbe, der in Korinth Schatzmeister der Stadt war (Röm 16,23).
»Trophimus« wird schon in Apo­stel­ geschichte 20,4 und 21,29 erwähnt. Er bekehrte sich in Ephesus und begleitete Paulus nach Jerusalem. Die dortigen Juden dachten, dass Paulus ihn mit in den Tempel genommen habe. Hier erfahren wir, dass Paulus ihn »in Milet krank zurückgelassen« hat. Diese Aussage ist wichtig, weil sie zeigt, dass der Apostel zwar die Vollmacht zur Wunderheilung hatte, diese aber nicht immer benutzte. Der Wunderheilung hat man sich nie bedient, um persönlich bequemer leben zu können. Vielmehr ist sie ein Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums gegenüber ungläubigen Juden gewesen.
4,21 Timotheus sollte sein Bestes tun, noch »vor dem Winter zu kommen«, weil das Wetter sonst größere Reisen schwierig oder unmöglich machte. Die wieder- holten Aufforderungen an Timotheus, doch zu kommen, sind sehr ergreifend (s. 1,3.4; 4,9).
Als Nächstes finden wir Grüße an Timotheus von »Eubulus und Pudens und Linus und Klaudia und« allen Brüdern. Diese Namen mögen relativ unwichtig sein, doch sie erinnern nach Rogers’ Worten in bewegender Weise daran, dass »eine der besonderen Freuden und Vorrechte des christlichen Dienstes in der Art besteht, wie Freundschaften entstehen und vertieft werden«.
4,22 Und nun beendet Paulus seinen letzten Brief. Er spricht insbesondere zu Timotheus und sagt: »Der Herr Jesus Christus 35 sei mit deinem Geist!« Dann spricht er alle an, die bei Timotheus waren, als er den Brief erhielt: »Die Gnade sei mit euch! Amen« (Schl 2000).
Hier legt Paulus seine Feder nieder. Der Brief ist fertig, sein Dienst beendet. Doch der Duft seines Lebens und Zeugnisses bleibt, und wir werden ihm einst in der Herrlichkeit begegnen und mit ihm über die großen Themen des Evangeliums und der Gemeinde reden können
1,1 »Paulus« war sowohl »Knecht Gottes« als auch ein »Apostel Jesu Christi«. Der erste Sachverhalt zeigt ihn als Sklave des höchsten Herrn und der zweite als Botschafter und Gesandten des souveränen Herrn. Der erste kündet von Unterordnung, der zweite von Vollmacht. Er wurde »Knecht« durch persönliche Hingabe und »Apostel« durch göttliche Ernennung.
Die Ziele seines Dienstes entsprachen »dem Glauben der Auserwählten Gottes« und »der Erkenntnis der Wahrheit«. »Nach dem Glauben« kann einmal heißen, dass er die Auserwählten zum Glauben bzw. zur Bekehrung gebracht oder aber sie im Glauben nach der Bekehrung geleitet hat. Weil der Ausdruck »nach der Erkenntnis der Wahrheit« uns die zweite Bedeutung schon nahelegt, sind wir der Ansicht, dass er hier seine beiden grundlegenden Ziele meint: 1. Evangelisation – die Förderung des Glaubens »der Auserwählten Gottes« und 2. Lehre – die Förderung ihrer »Erkenntnis der Wahrheit«. Es handelt sich hier um eine Umsetzung von Matthäus 28,20 – das Predigen des Evangeliums unter allen Völkern und das Lehren der Gläubigen, alle Gebote zu beachten, die Christus gelehrt hat. Indem Paulus in aller Deutlichkeit aussagt, dass er berufen ist, den »Glauben der Auserwählten Gottes« zu fördern, konfrontiert uns der Apostel mit der Lehre von der Erwählung. Nur wenige Lehren der Schrift sind mehr missverstanden worden, haben mehr Diskussionen hervorgerufen und mehr Intellektuellen Probleme bereitet. Kurz gesagt, es geht in dieser Lehre darum, dass Gott bestimmte Menschen vor Grundlegung der Welt in Christus erwählt mit dem Ziel, dass sie heilig und tadellos vor ihm sein sollen (Eph 1,4).1 Nachdem er gesagt hat, dass seine Apostelschaft mit »dem Glauben der Auserwählten Gottes« und ihrer »Erkenntnis der Wahrheit« zu tun hat, fügt Paulus nun hinzu, dass diese »Wahrheit … der Gottseligkeit gemäß ist«. Das bedeutet, dass der christliche Glaube mit echter Heiligung zusammengehört und dazu geeignet ist, Menschen zu praktischer »Gottseligkeit« anzuleiten. Gesunder Glaube hat ein reines Leben zur Voraussetzung. Nichts könnte widersprüchlicher als ein Prediger sein, von dem man sagt: »Wenn er auf der Kanzel steht, wünscht man sich, er würde sie nie verlassen. Wenn er sie verlassen hat, wünscht man sich, er würde sie nie wieder betreten.«
1,2 Der Auftrag an Paulus bezüglich des Evangeliums hatte noch einen dritten Schwerpunkt. Er war nicht nur 1. zum Evangelisieren (Förderung des Glaubens der Erwählten Gottes, Vergangenheit) und 2. zur Lehre (Förderung ihrer Erkenntnis der Wahrheit, Gegenwart), sondern auch 3. zur Erwartung (»in der Hoffnung des ewigen Lebens«, Zukunft) gesandt.
Das NT nennt das »ewige Leben« sowohl ein gegenwärtiges Eigentum als auch eine zukünftige Hoffnung. Das Wort »Hoffnung« lässt dabei keinerlei Unsicherheit erkennen. In dem Augenblick, da wir Christus als Retter vertrauen, haben wir ewiges Leben als gegenwärtiges Eigentum (Joh 5,24) und werden Erben aller Segnungen des Erlösungswerkes Christi, doch wir werden diese segensreichen Auswirkungen erst dann im vollen Umfang genießen, wenn wir unsere ewige Heimat im Himmel erreicht haben. Wir hoffen in dem Sinne, dass wir das »ewige Leben« in seiner Endform erwarten, wenn wir unsere verherrlichten Leiber erhalten werden und für immer frei von Sünde, Krankheit, Leid, Schmerz und Tod sein werden (Phil 3,20.21; Titus 3,7). Die »Hoffnung« ist uns sicher, weil sie von »Gott … verheißen« ist. Nichts kann so sicher sein wie das Wort desjenigen Gottes, »der nicht lügen kann«, der sich nicht betrügen lässt und der niemals betrügen würde. Wir gehen keinerlei Risiko ein, wenn wir glauben, was er sagt. In der Tat ist nichts vernünftiger, als wenn ein Geschöpf seinem Schöpfer glaubt. Gott hat das ewige Leben »vor ewigen Zeiten verheißen«. Das kann man auf zweierlei Weise verstehen. Erstens hat Gott sich in der Ewigkeit vor aller Zeit entschlossen, allen das ewige Leben zu geben, die an den Herrn Jesus glauben würden, wobei sein Entschluss der diesbezüglichen Verheißung entsprach. Es kann aber auch heißen, dass alle Segnungen der Erlösung schon ansatzweise in der Verheißung des Messias in 1. Mose 3,15 enthalten waren. Das geschah, ehe sich die Zeitalter oder Haushaltungen entfalteten.
1,3 »Zu seiner Zeit« hat Gott diesen herrlichen Plan des ewigen Lebens bekannt gemacht, den er schon vor Zeitaltern beschlossen hat. Er hat ihn in der Zeit des AT nicht vollständig enthüllt. Die Gläubigen dieser Zeit hatten eine sehr verschwommene Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Doch die Verschwommenheit hatte ein Ende, als der Heiland kam. Er hat »Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium« (2. Tim 1,10). Und die Gute Nachricht wurde von Paulus und den anderen Aposteln in Erfüllung des »Befehls unseres  Heiland-Gottes«,  d. h.  in  Gehorsam gegenüber dem Missionsbefehl, verbreitet.
1,4 Der Brief ist an »Titus« adressiert, Paulus’ echtem »Kind nach dem gemeinsamen Glauben«. Doch wer ist dieser Titus?
Wir müssen uns seine Biografie aus den spärlichen, ihn betreffenden Hinweisen in drei Paulusbriefen zusammenstellen. Er war Grieche von Geburt (Gal 2,3) und erlebte, eventuell durch den Dienst des Paulus, seine Wiedergeburt durch den Glauben an den Herrn Jesus (Titus 1,4). Zu dieser Zeit gab es einen Kampf um das echte Evangelium. Auf der einen Seite standen Paulus und all jene, die das Heil aus Gnade durch den Glauben ohne Zusätze predigten. Auf der anderen Seite standen die judaistischen Irrlehrer, die darauf bestanden, dass Beschneidung (und damit das Halten des Gesetzes) nötig waren, um in Gottes Reich einen bevorzugten Platz zu erhalten. Titus wurde zu einem Präzedenzfall in diesem Streit. Paulus und Barnabas nahmen ihn mit nach Jerusalem (Gal 2,1), wo eine Zusammenkunft mit den Aposteln und Ältesten stattfand. Der Beschluss der dort Versammelten lautete, dass ein Heide wie Titus sich nicht den jüdischen Gesetzen und Zeremonien unterwerfen brauchte, um gerettet zu werden (Apg 15,11). Die Heiden brauchten keine Juden werden. Andererseits mussten die Juden nicht Heiden werden. Juden und Heiden wurden dagegen zu einer neuen Schöpfung, wenn sie an Jesus glaubten. Danach wurde Titus zu einem der wichtigsten Mitarbeiter des Paulus, der als »Schlichter« nach Korinth und Kreta geschickt wurde. Der Apostel sandte ihn zuerst von Ephesus nach Korinth. Dort sollte Titus wahrscheinlich die lehrmäßige und moralische Unordnung in der Gemeinde beseitigen. Als Titus später Paulus in Mazedonien wiedertraf, freute sich Paulus sehr darüber, dass die Korinther positiv auf seine apostolischen Ermahnungen  reagiert  hatten  (2. Kor  2,12.13; 7,5-7.13-16). Von Mazedonien aus sandte Paulus den Titus wieder nach Korinth, und zwar diesmal, um eine Sammlung für die verarmten Heiligen in Jerusalem zu erheben (2. Kor 8,6.16.17; 12,18). Paulus beschreibt ihn als »meinen Gefährten und in Bezug auf euch (als) meinen Mitarbeiter« (2. Kor 8,23). Wir wissen nicht genau, wann Paulus bei Titus auf Kreta war, doch nimmt man allgemein an, das dies nach der ersten Gefangenschaft des Apostels in Rom geschah.
Die letzte Erwähnung des Titus findet sich in 2. Timotheus 4,10. Er war bei Paulus während eines Teils seiner zweiten Gefangenschaft, doch dann berichtet Paulus davon, dass er nach Dalmatien abgereist sei, das zum ehemaligen Jugoslawien gehörte (heute Teil von Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro). Es kann sein, dass Paulus ihn dorthin gesandt hat, obwohl aus den Worten dieses Verses eher ein Grundton spricht, der einen einsamen und verlassenen Mann erkennen lässt.
Der Apostel nennt Titus sein echtes »Kind nach dem gemeinsamen Glauben«. Das kann bedeuten, dass Paulus von Gott zur Bekehrung des Titus gebraucht wurde. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise der Fall gewesen. Paulus hat auch Timotheus sein echtes Kind im Glauben genannt (1. Tim 1,2), doch ist es möglich, dass Timotheus schon ein Jünger war, als Paulus ihm das erste Mal begegnete (Apg 16,1). Deshalb kann der Ausdruck bedeuten, dass diese jungen Männer ähnliche geistliche Qualitäten wie Paulus besaßen und daher im christlichen Dienst für Paulus wie Söhne gewesen waren. Seinem jungen Mitarbeiter wünscht Paulus »Gnade, Barmherzigkeit, Friede« (Schl 2000).  In  diesem  Zusammenhang bedeutet »Gnade« göttliche Kraft, die zum Leben und Dienst benötigt wird. »Barmherzigkeit« ist Mitleid mit der großen Bedürftigkeit des Menschen. »Friede« bedeutet Freiheit von Angst, Furcht und Ablenkung trotz widriger Umstände. Diese kommen zusammen »von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Heiland«. Indem er so den Vater und den Sohn als Ursprung von Gnade, Barmherzigkeit und Friede nennt, zeigt der Geist Gottes, dass beide völlig stellungsgleich sind.
II. Älteste in der Gemeinde (1,5-9)
1,5 Als Paulus Kreta verließ, gab es gewisse Dinge, die »noch … in Ordnung« gebracht werden mussten. Es gab Irrlehrer, die man zum Schweigen bringen musste, wobei außerdem in den Gemeinden anerkannte geistliche Leiter dringend gebraucht wurden. Paulus ließ daher Titus zurück, um diese Angelegenheiten zu regeln.
Wir wissen nicht, wie der christliche Glaube nach Kreta kam. Die vielleicht beste Annahme lautet, dass zu Pfingsten in Jerusalem auch Kreter anwesend waren (Apg 2,11), die mit der Guten Nachricht zurückkehrten, und dass daraufhin Ortsgemeinden entstanden. Auch können wir nicht sicher sein, wann Paulus mit Titus auf Kreta war. Wir wissen, dass er an Kreta auf seiner Reise nach Rom als Gefangener vorbeikam und wohl auch kurzzeitig an Land ging (Apg 27,12), doch die Umstände haben sicher keinen aktiven Dienst in den Gemeinden erlaubt. Weil die Apostelgeschichte sonst keinen Aufenthalt des Paulus auf Kreta erwähnt, nimmt man allgemein an, dass sein Besuch dort nach seiner ersten römischen Gefangenschaft stattfand. Wenn wir ein wenig biblische Detektivarbeit leisten, können wir das Folgende aus den verschiedenen Anmerkungen in den Paulusbriefen entnehmen:
Zunächst segelte Paulus auf seinem Weg nach Asien (heutige Westtürkei) von Italien nach Kreta. Nachdem er Titus auf Kreta gelassen hatte (Titus 1,5), reiste er nach Ephesus, der Hauptstadt der Provinz Asien. In Ephesus half er Timotheus, die Irrlehren zu bekämpfen, die dort eingedrungen  waren  (1. Tim  1,3.4).  Dann segelte er über das Ägäische Meer nach Mazedonien, um sein Hauptvorhaben zu erfüllen, das er im Gefängnis ins Auge gefasst hatte: Er wollte nämlich Philippi besuchen, sobald er frei war (Phil 1,26). Schließlich reiste er südwestwärts über Griechenland nach Nikopolis, wo er überwintern wollte und wo er erwartete, dass Titus ihn treffen würde (Titus 3,12). Nach Homer gab es auf Kreta schon zu seiner Zeit zwischen neunzig und hundert Städte, und Gemeinden hatten sich offensichtlich in etlichen davon gebildet. In jeder mussten verantwortliche Älteste ernannt werden.
Exkurs zum Thema Älteste
Älteste im Sinne des NT sind reife, charakterlich einwandfreie Männer, die als Gläubige geistliche Führungsaufgaben in der Ortsgemeinde wahrnehmen. Die Bezeichnung »Ältester«, die sich auf die geistliche Reife des Mannes bezieht, ist eine Übersetzung des griechischen Wortes presbyteros (von dem das eingedeutschte Wort »Presbyter« stammt). Das griechische Wort episkopos, das man auch mit »Bischof« oder »Aufseher« übersetzt, wird ebenso benutzt, um Älteste zu bezeichnen. Damit wird ihre Funktion als Unterhirten der Herde Gottes beschrieben.
Die Bezeichnungen »Älteste« und »Bischöfe« werden normalerweise so verstanden, dass sie sich auf dieselben Personen beziehen, und zwar aus folgenden Gründen: In Apostelgeschichte 20,17 bat Paulus die »Ältesten« (presbyteroi) zu sich, in Vers 28 redet er sie als »Aufseher« (episkopoi) an. In 1. Petrus 5,1.2 benutzt Petrus diese Begriffe ebenfalls gleichbedeutend. Die Voraussetzungen für »Bischöfe« (episkopoi) bzw. »Aufseher« in 1. Timotheus 3 und die für »Älteste« (presbyteroi) in Titus 1 sind im Wesentlichen die gleichen. Im modernen Sprachgebrauch ist ein »Bischof« ein Geistlicher, der eine Diözese oder eine größere Anzahl von Gemeinden in einem Gebiet beaufsichtigt. Doch diese Bedeutung des Wortes kommt im NT niemals vor. Nach der Schrift gibt es immer mehrere Bischöfe bzw. Aufseher in einer Gemeinde, und nicht einen Bischof über mehrere Gemeinden.
Auch sollte man den Ältestendienst nicht mit den heutigen Pastoren gleichsetzen, die in erster Linie für die Predigt, die Lehre und die Verwaltung der Sakram ente einer kirchlich geprägten Gemeinde zuständig sind. Es ist allg emein anerkannt, dass es solch ein Amt in der Urgemeinde und in der Gemeinde der Frühzeit nicht gegeben hat. Die einfachen Gemeinden bestanden aus Heiligen, Aufs ehern und Diakonen bzw. Dienern (Phil 1,1) – das ist alles. Das klerikale System entstand erst im 2. Jahrhundert. Ein Pastor im Sinne des NT ist jemand, der besondere Dienstgaben hat, die der auferstandene und aufgefahrene Christus gegeben hat, um die Heiligen zum Dienst aufzuerbauen (Eph 4,11.12). In vieler Hinsicht sind die Aufgaben der Pastoren und der Ältesten einander ähnlich, denn beide sind berufen, die Herde Gottes zu hüten und zu ernähren. Doch die beiden sind niemals gleich. Möglicherweise reist ein Pastor mehr durch die Gemeinden, während ein Ältester normalerweise mit einer Ortsgemeinde verbunden ist. Die Aufgaben der Ältesten werden sehr ausführlich beschrieben: 1. Sie hüten die Gemeinde des Herrn und sorgen für sie (Apg 20,28; 1. Tim 3,5; 1. Petr 5,2). 2. Sie müssen achtgeben und die Gemeinde vor Angriffen bewahren, und zwar vor äußeren wie vor inneren Angriffen (Apg 20,29-31).
3. Sie leiten und legen entsprechende Richtlinien fest. Dies tun sie jedoch, indem sie Weisungen geben, nicht mit Zwangsmaßnahmen  (1. Thess  5,12; 1. Tim 5,17; Hebr 13,7.17; 1. Petr 5,3). 4. Sie predigen das Wort, geben gesunde Lehre weiter und weisen diejenigen zurück, die ihr widersprechen (1. Tim 5,17; Titus 1,9-11). 5. Sie vermitteln und schlichten in lehrmäßigen und ethischen Auseinandersetzungen (Apg 15,5.6; 16,4). 6. Durch ihr Leben sind sie ein Vorbild für die Herde (Hebr 13,7; 1. Petr 5,3). 7. Sie versuchen, Gläubige wiederherzustellen, die von einem Fehltritt übereilt worden sind (Gal 6,1). 8. Sie wachen über die Seelen der Christen der Ortsgemeinde als solche, die einmal Rechenschaft ablegen müssen (Hebr 13,17).
9. Sie nehmen einen Gebetsdienst wahr, insbesondere für die Kranken (Jak 5,14.15).
10. Sie sind verantwortlich für die armen Heiligen (Apg 11,30).
11. Sie sind beteiligt, wenn begabte Männer zu dem Werk empfohlen werden, zu dem Gott sie berufen hat (1. Tim 4,14). Es ist eindeutig, dass in der Urgemeinde die Ältesten von den Aposteln oder ihren Stellvertretern eingesetzt wurden (Apg 14,23; Titus 1,5). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Apostel und ihre Mitarbeiter die Macht hatten, einen Mann zu einem Ältesten zu machen. Um Aufseher zu werden, war sowohl göttliche Befähigung als auch menschliche Bereitschaft nötig. Nur der Heilige Geist kann einen Mann zu einem Aufseher oder Leiter machen (Apg 20,28), doch der Mann muss  das  Werk  tun  wollen  (1. Tim  3,1). Erneut sind beide Aspekte – das Göttliche und das Menschliche – nötig. Wenn Ortsgemeinden in apostolischer Zeit gegründet wurden, gab es dort keine Ältesten, denn alle Gläubigen waren Neubekehrte. Doch wenn einige Zeit verging, bereitete der Herr bestimmte Menschen für diesen wichtigen Dienst vor. Weil das NT noch nicht in seiner geschriebenen Form vorlag, wussten die Christen im Allgemeinen nicht, welche Qualifikationen und Pflichten ein Ältester haben musste. Nur den Aposteln und ihren Mitarbeitern waren diese Kriterien bekannt. Aufgrund dieses Wissens wählten die Apostel Männer aus, die dem göttlichen Maßstab entsprachen und benannten sie öffentlich als solche. Heute haben wir das vollständige NT. Wir wissen, was ein Ältester ist und was er tun soll. Wenn wir qualifizierte Männer sehen, die aktiv als Leiter fungieren, dann erkennen wir sie an (1. Thess 5,12) und gehorchen ihnen (Hebr 13,17). Es geht nicht darum, dass wir sie wählen, sondern wir sollen diejenigen erkennen, die Gott für diesen Dienst ausgewählt hat. Die Qualifikationen für Älteste finden sich in 1. Timotheus 3,1-7 und hier im Titusbrief. Manchmal hören wir die Bemerkung, dass es heute keine Aufseher bzw. Älteste mehr gibt, wenn das wirklich die Anforderungen sind. Diese Vorstellung verwässert die Autorität der Schrift, indem sie annimmt, dass die Bibel nicht meint, was sie sagt. In den angegebenen Maßstäben findet sich nichts, was unvernünftig oder unerreichbar wäre. Wir verraten nur unseren eigenen niedrigen geistlichen Zustand, wenn wir die Bibel als übertrieben idealistisch bezeichnen.
1,6 Älteste sind Männer, die »untadelig«, d. h.  von  zweifelsfreier  Integrität  sind. Keine Anklage wegen Irrlehren oder falschem Verhalten kann gegen sie aufrechterhalten werden. Es bedeutet nicht, dass sie sündlos wären, doch wenn sie kleinere Sünden begehen, dann sehen sie zu, dass sie diese schnell aus der Welt schaffen: Sie bekennen sie vor Gott, entschuldigen sich bei den Menschen, denen sie Unrecht getan haben, und leisten, wenn möglich, Wiedergutmachung.
Die zweite Qualifikation, dass sie »Mann einer Frau« sein sollen, ist mindestens auf sieben verschiedenen Arten verstanden worden: 1. Der Betreffende muss verheiratet sein; 2. er darf nicht geschieden sein; 3. er darf nicht nach einer Scheidung wieder verheiratet sein; 4. er darf nicht nach dem Tod seiner Frau wieder geheiratet haben; 5. er darf nicht in Vielehe leben; 6. er darf weder Geliebte noch Nebenfrauen haben; und 7. er muss ein treuer Ehemann und Vorbild strenger Moralvorstellungen sein. Wenn der Ausdruck »Mann einer Frau« bedeutet, dass ein Mann verheiratet sein müsste, um Ältester zu sein, dann würde dieselbe Argumentation verlangen, dass er Kinder hat. Im gleichen Vers wird nämlich ausgesagt, dass seine »Kinder« gläubig sein müssen. Sicher ist es günstiger, dass ein Ältester Familie hat, denn er kann besser auf die Familienprobleme in der Gemeinde eingehen. Doch es ist recht zweifelhaft, ob dieser Vers es verbietet, dass ein Unverheirateter Ältester wird.
Es bedeutet wahrscheinlich nicht, dass er unter keinen Umständen geschieden sein darf, weil der Heiland lehrte, dass Scheidung in mindestens einem Fall erlaubt ist (Matth 5,32; 19,9).2 Auch kann der Vers nicht als generelles Verbot der Wiederheirat nach einer Scheidung in allen Fällen gelten. So kann es z. B. geschehen, dass ein Gläubiger, der völlig unschuldig ist, von einer ungläubigen Frau verlassen wird, die dann wieder heiratet. In solch einem Fall ist der Christ nicht verantwortlich. Weil die erste Ehe durch Scheidung und Wiederheirat des ungläubigen Partners gebrochen wurde, ist er frei, wieder zu heiraten. Die Auslegung, dass ein Ältester nicht mehr geeignet für das Amt ist, wenn er nach dem Tod seiner ersten Frau wieder heiratet, wird durch das Prinzip ausgeschlossen, das in 1. Korinther 7,39 dargestellt wird: »Eine Frau ist gebunden, solange ihr Mann lebt; wenn aber der Mann entschlafen ist, so ist sie frei, sich zu verheiraten, an wen sie will, nur im Herrn muss es geschehen.«
Sicherlich bedeutet der Ausdruck »Mann einer Frau«, dass ein Ältester nicht mehr als eine Frau haben und auch keine »außereheliche Geliebte« haben darf. Zusammengefasst bedeutet es, dass sein Eheleben für die Gemeinde ein Beispiel an Reinheit sein muss. Zusätzlich dazu muss er »gläubige Kinder« haben, »die nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt oder aufsässig sind«. Mehr als die meisten von uns zugeben würden, hält die Bibel die Eltern dafür verantwortlich, wie sich ihre Kinder entwickeln (Spr 22,6). Wenn ein Vater seine Familie in rechter Weise führt und seine Kinder gründlich im Wort Gottes unterweist, dann folgen die »Kinder« im Allgemeinen dem gottesfürchtigen Beispiel ihrer Eltern. Obwohl ein Vater nicht über das Heil seiner Kinder verfügen kann, ist er doch imstande, den Weg des Herrn vorzubereiten: Er unterweist sie im Wort, züchtigt sie liebevoll und meidet Heuchelei sowie moralische Widersprüche in seinem eigenen Leben. Wenn Kinder verschwendungssüchtig sind oder gegen die Autorität ihrer Eltern aufbegehren, dann zieht die Schrift den Vater dafür zur Verantwortung. Weil er diesbezüglich nachgiebig ist und dies in unangemessener Weise toleriert, ist er dafür verantwortlich. Wenn er der eigenen Familie nicht ordentlich vorstehen kann, dann ist es unwahrscheinlich, dass er ein geeigneter Ältester wäre, weil in beiden Fällen die gleichen Prinzipien gelten (1. Tim 3,5). Es stellt sich die Frage, wie lange die Anforderung, gläubige Kinder zu haben, gilt? Ist sie nur solange von Bedeutung, wie die Kinder unter der elterlichen Autorität zu Hause stehen, oder schließt sie auch diejenigen ein, die nicht mehr zu Hause leben? Wir geben der ersten Ansicht den Vorzug, doch erinnern wir uns daran, dass die häusliche Lehre einer der ausschlaggebenden Faktoren für den letztendlichen Charakter des Betreffenden ist.
1,7 Ein »Aufseher« ist »Gottes Verwalter«. Er verwaltet nicht seine eigene Gemeinde. Er ist dazu ausersehen, Gottes Angelegenheiten in Gottes Gemeinde zu regeln. Hier wird zum zweiten Mal gesagt, dass er »untadelig« sein muss – ganz sicher liegt hier die Betonung auf seinem Ruf. Zweifellos gilt, dass er ein Mann sein muss, der sowohl in lehrmäßiger als auch in moralischer Hinsicht über jede Kritik erhaben ist. Er darf »nicht eigenmächtig« sein. Angenommen, ein Mann beharrt verbissen auf seinem Recht, auch wenn es sein könnte, dass die Vertreter einer anderen Meinung recht haben. Auch kann es sein, dass er unnachgiebig und ungeduldig auf Widerspruch reagiert. In solchen Fällen ist er nicht geeignet, ein geistlicher Leiter zu sein. Ein Ältester ist ein Vermittler, kein dogmatischer Alleinherrscher. Er darf nicht »jähzornig« sein. Wenn er unberechenbar ist, dann muss er gelernt haben, sein Temperament zu zügeln. Wenn er hitzköpfig, aufbrausend oder leicht erregbar ist, darf er dies niemals zeigen.
Er darf »nicht dem Wein ergeben« sein. In unserer Kultur gehört dies im Blick auf Gläubige zu derart grundlegenden Dingen, dass man es kaum zu erwähnen braucht. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass die Bibel für alle Kulturen geschrieben worden ist. In Ländern, wo Wein von Christen als gewöhnliches Getränk angesehen wird, besteht die Gefahr, sich zu viel zu genehmigen und dann unkontrolliert zu handeln. Diese mangelnde Selbstkontrolle ist hier gemeint. Die Bibel unterscheidet zwischen Gebrauch und Missbrauch von Wein. Sein mäßiger Gebrauch als Getränk wurde von Jesus erlaubt, als er bei der Hochzeit zu Kana Wasser in Wein verwandelt hat (Joh 2,1-11). Die medizinische Verwendung wurde Timotheus von Paulus geraten  (1. Tim  5,23;  s.  a.  Spr  31,6).  Der Missbrauch von Wein und stärkeren Getränken wird in Sprüche 20,1; 23,29-35 verurteilt. Während in der Heiligen Schrift keine totale Abstinenz gefordert wird, gibt es doch Situationen, in denen Abstinenz notwendig ist. Dies gilt nämlich dann, wenn das Trinken von Wein einen schwächeren Bruder entweder stören oder ihn zu Fall bringen würde (Röm 14,21). Das ist ein bedeutsames Argument, das viele Christen dazu veranlasst hat, vollständig alkoholabstinent zu leben.
Für den Ältesten gilt, dass es nicht um ein vollständiges Verbot des Weins, sondern um seinen übermäßigen Gebrauch geht, der zu unkontrolliertem Verhalten führt.
Auch soll ein Ältester kein »Schläger« sein. Er darf keine körperliche Gewalt anwenden, indem er andere schlägt. Wir haben von übereifrigen Geistlichen gehört, die widerspenstige Glieder ihrer Gemeinde schon mal schlugen. Diese Art der gewalttätigen Einschüchterung ist dem Ältesten verboten.
Er darf auch nicht »schändlichem Gewinn« nachjagen. Auf keinen Fall darf er darauf bedacht sein, unbedingt reich zu werden – koste es, was es wolle. Es stimmt, was Samuel Johnson gesagt hat: »Wer in aller Gefühllosigkeit und Unbarmherzigkeit nach Geld giert, befindet sich auf der untersten Stufe des gefallenen Menschen.« Ein wahrer Ältester kann mit Paulus sagen: »Ich habe von niemandem Silber oder Gold oder Kleidung begehrt« (Apg 20,33).
1,8 Zu den positiven Eigenschaften eines Ältesten gehört, dass er »gastfrei« sein soll. Sein Haus soll Fremden immer offen stehen. Dabei geht es um jene, die persönliche Probleme haben, um Entmutigte und Unterdrückte. Sein Haus soll stets ein Ort froher christlicher Gemeinschaft sein, wo jeder Gast aufgenommen wird, als wäre er der Herr selbst. Als Nächstes muss er »das Gute lieben« – gute Menschen und gute Dinge. Seine Rede, sein Handeln und seine Verbindungen sollen zeigen, dass er sich von allem Zweideutigen, Fragwürdigen und Falschen absondert.
Er muss »besonnen« sein. Das bedeutet, dass er selbstbeherrscht, diskret und umsichtig handelt. Dasselbe Wort wird in Titus 2,2.5.6.12 verwendet, wo es darum geht, verständig, einsichtig, diszipliniert und nüchtern zu sein.
Er muss in seinem Handeln an anderen »gerecht« sein. In Bezug auf Gott muss er »heilig« sein, im Blick auf sich selbst »enthaltsam«. Das erwähnt Paulus auch in Galater 5,22.23: »Die Frucht des Geistes ist … Enthaltsamkeit.« Es bedeutet, dass der Betreffende jede Leidenschaft und jedes Begehren so unter Kontrolle hat, dass er Christus gehorchen kann. Während die Kraft dazu nur vom Heiligen Geist kommen kann, ist dazu Disziplin seitens des Gläubigen und sein Mitwirken nötig.
1,9 Der Älteste muss einen nüchternen Glauben haben. Er muss an geistlich gesunder Lehre festhalten, die vom Herrn Jesus und den Aposteln gelehrt und für uns im NT festgehalten wurde. Nur dann wird er imstande sein, dafür zu sorgen, dass sich die Heiligen mit »gesunder Lehre« ausgewogen nähren können. Er wird diejenigen zum Schweigen zu bringen können, die gegen die Wahrheit reden.
Dies sind die Qualifikationen für geistliche Leiter in der Ortsgemeinde. Man sollte festhalten, dass nichts über die körperlichen Fähigkeiten, die Ausbildung, den sozialen Status oder den Geschäftserfolg eines Ältesten gesagt wird. Obwohl es manchmal behauptet wird, stimmt es nicht, dass dieselben Qualitäten, die einen Mann im Beruf erfolgreich sein lassen, ihn auch zur Leiterschaft in der Gemeinde befähigen.
Ein anderer Punkt sollte noch erwähnt werden. Wenn es hier um einen gottesfürchtigen Ältesten geht, wird nicht das Bild eines Menschen gezeichnet, der Vorträge organisiert, Finanzen verwaltet, Verträge für Gebäudesanierungen aufsetzt, und damit hat es sein Bewenden! Der wahre Älteste ist in erster Linie am geistlichen Leben der Gemeinde beteiligt, indem er lehrt, ermahnt, ermutigt, zurechtweist und korrigiert. III. Irrlehre in der Gemeinde (1,10-16)
1,10 In der Urgemeinde gab es die »Freiheit  des  Heiligen  Geistes«,  d. h.  Freiheit für die Brüder, sich durch Beiträge am Ablauf der Versammlungen zu beteiligen, wie sie vom Heiligen Geist dazu geleitet wurden. Paulus beschreibt solch eine »offene« Versammlung in 1. Korinther 14,26: »Was ist nun, Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, so hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprachenrede, hat eine Offenbarung, hat eine Auslegung; alles geschehe zur Erbauung.« Das ist die Idealsituation, wenn der Geist Gottes auf diese Weise frei ist, durch verschiedene Glieder der Gemeinde zu sprechen. Doch wie die menschliche Natur nun einmal ist – wo immer solche Freiheit besteht, findet man fast immer schon bald Männer, die diese Freiheit durch Irrlehren, unerbauliches Herumreiten auf Kleinigkeiten oder scheinbar endloses, unsinniges und geistloses Gerede missbrauchen. Das war in den kretischen Gemeinden geschehen. Paulus erkannte, dass hier eine starke geistliche Führerschaft notwendig war, um den Missbrauch zu kontrollieren und die Freiheit des Geistes trotzdem zu erhalten. Er erkannte auch, dass große Sorgfalt bei der Ernennung von Ältesten nötig war, die wirklich die entsprechenden Voraussetzungen mitbrachten. Deshalb führt er hier die Zustände auf, die ein sofortiges Handeln dahin gehend erforderten, dass Älteste in den Gemeinden berufen wurden.
»Viele aufsässige« Menschen hatten sich erhoben, um die Autorität der Apostel zu untergraben und ihre Lehren zu leugnen. Sie waren sowohl »hohle Schwätzer« als auch »Betrüger«. Ihr Reden war geistlich völlig unnütz. Stattdessen beraubten sie Menschen der Wahrheit und führten sie zu Irrtümern. Die wichtigsten Unruhestifter waren »die  aus  der  Beschneidung«,  d. h.  jüdische Irrlehrer. Sie gaben vor, Christen zu sein, bestanden jedoch darauf, dass Christen beschnitten sein und das Zeremonialgesetz halten müssten. Dies war eine praktische Leugnung der Tatsache, dass das Werk Christi völlig ausreicht.
1,11 Menschen wie diese mussten zum Schweigen gebracht werden. Sie mussten lernen, dass die Gemeinde keine Demokratie ist und Redefreiheit auch ihre Grenzen hat. Sie hatten ganze »Häuser« umgekehrt. Bedeutet das, dass sie ihre schlimmen Lehren außerhalb der Öffentlichkeit in den Familien verbreitet hatten? Diese ist eine Lieblingsmethode von Sekten (2. Tim 3,6). Auch ihre Motive waren suspekt. Sie gierten nach Geld und wollten den Dienst als Grundlage eines lukrativen Geschäfts missbrauchen. Ihre Botschaft sprach die gesetzliche Ader in den Menschen an und bestärkte sie in dem Glauben, dass sie Gottes Wohlwollen gewinnen können, indem sie bestimmte religiöse Praktiken beachten, auch wenn ihr Leben ansonsten von moralischer Verderbnis gekennzeichnet und unrein war. Sie lehrten »um schändlichen Gewinnes willen«, wozu sie kein Recht hatten.
1,12 Hier erinnert Paulus Titus daran, mit welchen Menschen er es zu tun hat. Die außergewöhnlich unverblümte und scharfe Beschreibung galt sowohl für die Irrlehrer im Besonderen als auch für die »Kreter« allgemein. Er zitiert Epimenides, einen ihrer eigenen Dichter, der etwa 600 v. Chr. lebte und sie als unverbesserliche »Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäuche« bezeichnete. Es hat den Anschein, dass jedes Volk spezifische Eigenschaften aufweist, doch es gibt nur wenige Nationen, die diesbezüglich die Kreter überbieten konnten. Sie waren gewohnheitsmäßige und zwanghafte »Lügner«. Sie waren wie wilde Tiere, die nur lebten, um widerliche und unkontrollierte Leidenschaften zu befriedigen. Sie waren der Arbeit völlig abgeneigt und der Völlerei verfallen, sodass sie ein Leben führten, in dem es offenbar nur Anlässe zum Schlemmen, aber keine Anlässe zum Zusammenkommen von Gläubigen gab!
1,13 Der Apostel bestätigt die Wahrheit der Charakterskizze. Berücksichtigt man, auf welch niedrigem moralischen Niveau Titus unter den Kretern ansetzen musste, war seine Arbeit ziemlich aussichtslos – sie hätte jeden Missionar zur Verzweiflung getrieben! Doch Paulus hat diese Menschen weder abgeschrieben noch riet er Titus, sie zu verlassen. Durch das Evangelium gibt es auch für die schlimmsten Menschen Hoffnung. Deshalb rät Paulus seinem Mitarbeiter, sie »streng« zurechtzuweisen, »damit sie im Glauben gesund seien«. Eines Tages könnten sie nicht nur vorbildliche Gläubige, sondern auch gottesfürchtige Älteste der Ortsgemeinde sein. Dieser Abschnitt bietet eine ungemein große Ermutigung für Christen, die auf schwierigen Arbeitsfeldern dieser Welt arbeiten (und welches Feld hat keine Schwierigkeiten?). Über die Derbheit, Beschränktheit und Gleichgültigkeit der betreffenden Menschen hinaus gibt es immer die Vorstellung dass sie freundliche, reine und fruchtbare Heilige werden können.
1,14 Wenn Titus die Irrlehrer ernsthaft ermahnen würde, sollte er sie auch vor den »jüdischen Fabeln und Geboten von Menschen« warnen, »die sich von der Wahrheit abwenden«. Die jüdischen Irrlehrer lebten in einer Welt religiöser Fantasien und Regeln, die sich um reine und unreine Speisen, die Beachtung von Feiertagen und die Vermeidung zeremonieller Unreinheit drehten. Darüber schrieb Paulus in Kolosser 2,23: »Das alles hat zwar einen Anschein von Weisheit, in eigenwilligem Gottesdienst und in Demut und im Nichtverschonen des Leibes – also nicht in einer gewissen Wertschätzung – dient aber zur Befriedigung des Fleisches.«
1,15 Was der Apostel als Nächstes sagt, hat Anlass zu so großen Missverständnissen gegeben, dass wir hier eine sorgfältige Erklärung anfügen müssen. Er schreibt: »Den Reinen ist alles rein; den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihre Gesinnung als auch ihr Gewissen.« Wenn wir die Worte »den Reinen ist alles rein« aus ihrem Zusammenhang reißen und als eine absolute Wahrheit für alle Lebensgebiete nehmen, dann geraten wir in ernsthafte Schwierigkeiten! Nicht alles ist rein, auch nicht für diejenigen, die reinen Herzens sind. Dennoch haben Menschen diesen Vers tatsächlich benutzt, um pornografische Schriften, anstößige Filme und sogar eheliche Untreue zu begründen. Das ist es, was Petrus meint, wenn er sagt, dass Menschen die Schrift »zu ihrem eigenen Verderben« verdrehen (2. Petr 3,16). Wir sollten uns absolut klar darüber sein, dass dieser Vers nichts mit Dingen zu tun hat, die an sich sündig sind und in der Bibel verurteilt werden. Dieser sprichwortartige Ausspruch des Paulus muss in seinem Zusammenhang verstanden werden. Paulus hat nicht von eindeutig falschen Dingen gesprochen, es geht hier nicht um eindeutige moralische Regeln. Er spricht hier vielmehr von Angelegenheiten, die moralisch gesehen neutral sind. Es geht um Dinge, die unter dem Gesetz stehende Juden zeremoniell verunreinigen, doch für Christen, die unter der Gnade leben, völlig erlaubt sind. Das offensichtliche Beispiel ist das Essen von Schweinefleisch. Das war dem Volk Gottes des AT verboten, doch der Herr Jesus hat dies alles für ungültig erklärt. Er sagte nämlich, dass nichts, was in den Menschen hineinginge, ihn beschmutzen könne (Mk 7,15). Damit erklärte er alle Speisen für rein (Mk 7,19). Paulus wiederholte diese Wahrheit, als er sagte: »Speise aber macht uns nicht angenehm vor Gott; weder sind wir, wenn wir nicht essen, geringer, noch sind wir, wenn wir essen, besser« (1. Kor 8,8). Wenn er sagt: »Dem Reinen ist alles rein«, dann meint er, dass dem wiedergeborenen Gläubigen alle Speisen rein sind, jedoch »den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein«. Nicht, was ein Mensch isst, verunreinigt ihn, sondern das, was aus seinem Herzen kommt (Mk 7,20-23). Wenn das innere Leben eines Menschen unrein ist, wenn er nicht an den Herrn Jesus glaubt, dann ist ihm nichts rein. Die Beachtung von Speisevorschriften bringt ihm keinen Vorteil. Mehr als alles andere muss er sich bekehren, damit er das Heil als Geschenk empfängt, statt zu versuchen, sich durch Rituale und Gesetzlichkeit die Erlösung zu verdienen. Gerade Geist und Gewissen unreiner Menschen befinden sich in moralischer Verderbnis. Ihre Gedankengänge und Verstandeskräfte sind verunreinigt. Es geht hier nicht um eine Frage äußerlicher zeremonieller Verunreinigung, sondern um innere Verdorbenheit und Verworfenheit.
1,16 Offensichtlich spricht Paulus hier von den Irrlehrern. Er sagt, dass sie vorgeben, »Gott zu kennen, aber« in ihren »Werken verleugnen sie ihn«. Sie tun so, als seien sie Gläubige im christlichen Sinne, doch ihr Leben entspricht nicht ihrem Bekenntnis. Um seine scharfe Kritik ausführlicher zu erläutern, brandmarkt der Apostel sie als »abscheulich und ungehorsam und zu jedem guten Werk unbewährt«. Ihr persönliches Verhalten war abscheulich. In Gottes Augen hatten sie nur schlimmsten Ungehorsam bewiesen. Was gute Werke für Gott oder Menschen anbetraf, so waren sie wertlos. Lag es noch innerhalb der Grenzen christlicher Nächstenliebe, dass Paulus mit solch ausdrucksstarken Worten über andere Menschen sprach? Die Antwort ist ein ausgesprochenes Ja! Die Liebe verniedlicht Sünde nie. Diese Männer verdrehten das Evangelium, entehrten die Person und das Werk des Herrn Jesus und führten Menschen in die Irre. Solche Betrüger noch zu schonen, wäre Sünde. IV. Einübung in den Glauben in der Gemeinde (2,1-15)
2,1 Durch das Leben dieser Irrlehrer wurde der Glauben eher verleumdet als verteidigt. Durch ihr Verhalten leugneten sie die großen Glaubenswahrheiten. Wer kann den Schaden ermessen, der dem christlichen Zeugnis von solchen zugefügt wurde, die große Heiligkeit vorgaben, deren Leben aber durch Lügen gekennzeichnet war? Die Aufgabe, die Titus übertragen worden war (und allen wahren Dienern des Herrn gegeben worden ist), lautete, das zu lehren, »was der gesunden Lehre geziemt«. Er sollte die erschreckende Kluft zwischen den Lippen der Angehörigen des Volkes Gottes und ihrem Leben schließen. Dies ist auch der Schlüssel zu diesem Brief – die praktische Verwirklichung gesunder Lehre durch gute Werke. Die folgenden Verse geben praktische Beispiele, wie diese guten Werke aussehen sollten.
2,2 Zunächst kommen wir zu den »alten Männern« – nicht Älteste im offiziellen Sinne, sondern Männer, die schon alt und gereift waren. Sie sollen »nüchtern« sein. In erster Linie bedeutet das, dass sie beim Weintrinken mäßig sein sollen, doch es heißt weiter, dass sie in allen Verhaltensbereichen Vorsicht walten lassen sollen. Sie sollen »ehrbar« und würdig sein, aber nicht – trübsinnig! Andere haben genug eigene Probleme. Die älteren Männer sollen »besonnen« sein, d. h. ausgleichend und diskret. Sie sollen »gesund im Glauben« sein. Das Alter macht manche Menschen bitter, zynisch und herzlos. Diejenigen, die »gesund im Glauben« sind, sind dankbar, optimistisch und immer ungänglich. Sie sollen auch »gesund … in der Liebe« sein. Liebe ist nicht selbstbezogen, sie denkt an andere und zeigt sich im Geben. Und sie sollen »im Ausharren« oder in der Geduld eifrig sein. Das Alter hat seine Krankheiten und Gebrechen, die man oft nur schwer erträgt. Diejenigen, die gesund im Ausharren sind, ertragen diese Versuchungen freudig und mit Stärke.
2,3 »Alte Frauen« sollen auch eine »Haltung« haben, »wie es der Heiligkeit geziemt«. Herr, befreie uns von den leichtfertigen Frauen, deren Gedanken um überflüssige Angelegenheiten kreisen! Sie sollen »nicht verleumderisch« sein. Das Wort, das Paulus hier benutzt, ist das griechische Wort für den Teufel (diabolos). Es ist ein geeignetes Wort, weil böser Klatsch von seinem Ursprung und seiner Art her teuflisch ist. Sie sollen nicht dem Alkohol ergeben sein. Auch sollen sie nicht von Speisen, Getränken oder Medizin abhängig sein. Obwohl sie kein öffentliches Lehramt in der Gemeinde bekleiden, sind ältere Frauen angehalten, im Haus zu lehren. Wer kann die Möglichkeiten eines solchen Dienstes ermessen?
2,4 Insbesondere sollen ältere Frauen »die jungen Frauen unterweisen«. Jahre des Bibelstudiums und der praktischen Erfahrung ermöglichen es ihnen, denen wertvollen Rat zu erteilen, die ihr Leben in eigener Verantwortung gerade erst beginnen. Anderenfalls ist jede neue Generation dazu bestimmt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Während hier die älteren Frauen verantwortlich dafür sind, die jüngeren Frauen zu belehren, wird jede verständige junge Frau eine Freundschaft mit gottesfürchtigen älteren Christen pflegen und sie um Rat sowie Korrektur bitten.
Eine junge Frau soll gelehrt werden, ihren Mann »zu lieben«. Doch bedeutet das mehr, als ihm einen Abschiedskuss zu geben, wenn er zur Arbeit geht. Dazu gehören Tausende Möglichkeiten, womit sie ihm zeigen kann, dass sie ihn wirklich wertschätzt – indem sie seine Stellung als Haupt in der Familie anerkennt, indem sie keine größeren Entscheidungen ohne ihn trifft, die Wohnung sauber hält und im eigenen Heim für Ordnung sorgt. Außerdem achtet sie auf ihre Äußeres, lebt den familiären Verhältnissen entsprechend und führt den Haushalt demgemäß. Sie bekennt sofort Sünden, vergibt großzügig und hält die Kommunikation aufrecht. Sie kritisiert ihren Mann nicht vor anderen oder widerspricht ihm nicht. Darüber hinaus unterstützt sie ihn, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Junge Frauen sollen gelehrt werden, »ihre Kinder zu lieben« – indem sie ihnen aus der Bibel vorlesen und mit ihnen beten, indem sie zu Hause sind, wenn diese aus der Schule oder vom Spiel zurückkommen. Sie züchtigen, wenn nötig, ihre Kinder konsequent und gerecht. Vor allem geben sie ihnen eine Prägung für den Dienst des Herrn und nicht für die Welt (und damit für die Hölle) mit.
2,5 Junge Frauen sollen gelehrt werden, »besonnen« zu sein. Das bedeutet, dass sie ein feines Gespür dafür entwickeln, was für sie als Christen richtig ist und wie sie Extreme meiden können. Sie sollen »keusch« und ihrem Ehemann treu sein. Unreine Gedanken, Worte oder Handlungen sollen sie meiden. Sie sollen »mit häuslichen Arbeiten beschäftigt« sein. Sie sollen erkennen, dass dies der göttliche Dienst ist, der zur Verherrlichung Gottes getan werden kann. Ältere Frauen sollen versuchen, den jungen Frauen nachhaltig zu vermitteln, wie ehrenvoll der Dienst für den Herrn in der Familie als Ehefrau und Mutter ist. Sie sollten ihnen jedoch nicht nahelegen, in der Industrie oder im Geschäftsleben zu arbeiten, weil dann Heim und Familie vernachlässigt werden. Junge Frauen sollen gelehrt werden, »gütig zu sein« – wie sie für andere leben können, wie sie gastfreundlich und großzügig sein können, statt selbstbezogen und vereinnahmend zu sein. Sie sollen sich »den eigenen Männern« unterordnen und sie als Haupt des Hauses anerkennen. Wenn eine Frau begabter ist und mehr Fähigkeiten hat als ihr Ehemann, dann soll sie ihn nicht zu beherrschen suchen, sondern ihn ermutigen und ihm dabei helfen, eine aktivere Rolle als Haupt der Familie und im Dienst der Ortsgemeinde einzunehmen. Wenn sie versucht sein sollte, zu kritisieren, dann soll sie dieser Versuchung widerstehen und ihn stattdessen loben. All dies dient dazu, dass »das Wort Gottes nicht verlästert« bzw. entehrt wird. In seinem ganzen Brief ist sich Paulus der Schmach bewusst, die auf die Sache des Herrn kommt, weil sein Volk viel zu widersprüchlich lebt.
2,6 Paulus hat Titus nicht aufgefordert, selbst die jungen Frauen zu lehren. Damit die Umsicht gewahrt wird, bleibt dieser Dienst den älteren Frauen überlassen. Doch wird er aufgefordert, »die jungen Männer« zu ermahnen, und zwar insbesondere, dass sie »besonnen« sein und sich selbst unter Kontrolle halten sollen. Das ist eine hier angebrachte Ermahnung, denn die Jugend ist die Zeit überschäumenden Eifers, rastloser Energie und leidenschaftlicher Triebe. In jedem Lebensbereich müssen sie Ausgewogenheit und Beschränkung lernen.
2,7 Paulus hat auch Titus selbst einen Rat weiterzugeben. Als einer, der mit einem öffentlichen Amt in der Gemeinde betraut ist, muss Titus sicherstellen, ein »Vorbild guter Werke« zu sein, das mit seinen Worten übereinstimmt. Es sollte enge Parallelen zwischen seiner »Lehre« und seinem Verhalten geben. Seine Lehre sollte sich durch Unverfälschtheit (vgl. LU 1984) und »würdigen Ernst« auszeichnen. »Unverfälschte Lehre« (LU 1984) bedeutet, dass seine Lehre mit dem ein für alle Mal den Heiligen offenbarten Glauben in Einklang stehen sollte. Mit »würdig« meint Paulus, dass die Lehre mit würdigem Ernst und Einsicht weitergegeben werden soll. Mit »Unverderbtheit« ([Schl 2000] eine Tugend, die in den meisten Bibelübersetzungen ausgelassen wird)3 ist die Eigenschaft des aufrichtigen Lehrers gemeint, der nicht vom Weg der Wahrheit abgebracht werden kann.
2,8 »Gesunde, unanfechtbare Rede« ist frei von jedem Anstoß. Sie soll keine unwichtigen Nebensächlichkeiten und nicht dasjenige enthalten, was lehrmäßig den Anschein des Neuartigen erweckt, im Trend liegt oder unausgegoren ist. Ein solch gesunder Dienst ist unwiderstehlich. Diejenigen, die gesunder Lehre widerstehen, werden beschämt, weil sie keinen Spalt in der Rüstung des Gläubigen finden können. Es gibt kein Argument, das so effektiv wäre wie ein geheiligtes Leben!
2,9 Nun werden den Sklaven besondere Anweisungen gegeben. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Bibel die Existenz von Einrichtungen anerkennt, die sie nicht notwendigerweise für gut hält.  So  berichtet  z. B.  das  AT  über  die Polygamie der Patriarchen, doch war die Vielehe niemals Gottes Wille für sein Volk. Er hat auch niemals die Ungerechtigkeit und Grausamkeiten der Sklaverei gutgeheißen und wird die Sklavenhalter eines Tages dafür zur Rechenschaft ziehen. Gleichzeitig jedoch lehrt das NT keine Abschaffung der Sklaverei durch eine gewalttätige Revolution. Allerdings verurteilt es den Missbrauch der Sklaverei und verändert die entsprechenden Verhältnisse durch die Macht des Evangeliums. Die Geschichte zeigt, dass die Übel der Sklaverei überall dort verschwunden sind, wo das Wort Gottes weit verbreitet und gelehrt wurde.
Doch in der Zwischenzeit, in der es immer noch Sklaverei gibt, ist ein Sklave nicht von den besten Vorzügen des Christentums ausgeschlossen. Er kann ein Zeuge der verändernden Macht Christi werden und so den Schmuck praktischer Umsetzung der Lehre unseres Herrn und Heilandes tragen. Im NT ist den Sklaven mehr Raum gegeben als den Beherrschern der Nationen! Dies mag ein Hinweis auf ihre relative Bedeutung im Reich Gottes sein. Christliche »Sklaven« sollen »sich in allem unterordnen«. Ausnahmen bestehen dort, wo sie dem Herrn Jesus dadurch ungehorsam werden würden. In diesem Fall müssen sie sich weigern und als Christen geduldig die Folgen ihres Handelns auf sich nehmen. Sie sollen ihre Herren in jeder Hinsicht zufriedenstellen, d. h. sowohl in der Qualität als auch in der Quantität ihrer Arbeit. Ein solcher Dienst kann stets als Dienst für Christus getan werden. Der Betreffende wird dafür vollen Lohn empfangen. Sklaven sollen nicht »widersprechen« oder respektlos und unverschämt sein. Viele Sklaven hatten das Vorrecht, in der Frühzeit des Christentums ihre Herren zum Herrn Jesus zu führen, und zwar größtenteils deshalb, weil der Unterschied zwischen ihnen und den heidnischen Sklaven so eindeutig war.
2,10 Einer der offensichtlichsten Unterschiede war, dass die Christen sich nicht der häufigsten Sünde der anderen Sklaven schuldig machten. Sie »unterschlugen« nämlich nichts. Die christliche Ethik hielt sie zu völliger Ehrlichkeit an. Ist es ein Wunder, dass christliche Sklaven bei Versteigerungen höhere Preise erzielten als Nichtchristen? Im Allgemeinen wurden sie gelehrt, vollständige und echte »Treue zu erweisen«. Sie sollten völlig vertrauenswürdig sein und so »die Lehre, die unseres Heiland-Gottes ist«, sowohl in ihrem Leben als auch ihrem Dienst »zieren«. Was für einen christlichen Sklaven damals galt, sollte heute für alle christlichen Arbeitnehmer genauso gelten.
2,11 Die nächsten vier Verse zeigen ein wunderbares Bild unserer Erlösung. Doch wenn wir diesen literarischen Edelstein bewundern, dürfen wir ihn nicht aus seiner Fassung (d. h. aus dem Zusammenhang) entfernen. Paulus hat alle Glieder der Familie Gottes zu konsequenter Umsetzung der christlichen Lehre aufgefordert. Nun zeigt er, dass eines der großen Ziele unserer Errettung darin besteht, ein Leben in völliger Heiligung hervorzubringen.
»Denn die Gnade Gottes ist erschienen.« Hier ist die Gnade Gottes praktisch gleichbedeutend mit dem Sohn Gottes. Gottes Gnade »erschien«, als der Herr Jesus auf unsere Erde kam, und insbesondere, als er sich selbst für unsere Sünden hingab. Er erschien zum Heil für alle »Menschen«. Sein stellvertretendes Werk reicht für die Erlösung aller aus. Allen wird die Vergebung angeboten. Doch nur diejenigen, die ihn wirklich als Herrn und Heiland annehmen, werden gerettet. Weder hier noch anderswo in der Bibel wird angedeutet, dass einmal alle Menschen errettet werden. Die Allversöhnung ist eine Lüge Satans.
2,12 Dieselbe Gnade, die uns errettet, unterweist uns auch in der Schule der Heiligung. Es gibt Verbote in dieser Schule, deren Befolgung wir lernen müssen. Das erste Verbot gilt der »Gottlosigkeit«, d. h. dass wir nicht so leben dürfen, als gäbe es Gott nicht. Das zweite Verbot betrifft die »weltlichen Lüste« – nicht nur sexuelle Sünden, sondern auch das Streben nach Reichtum, Macht, Vergnügen, Ruhm und allem anderen, was grundsätzlich dem weltlichen Bereich angehört. Auf der Seite der Gebote lehrt uns die Gnade, »besonnen und gerecht« anderen gegenüber zu leben, und »gottesfürchtig« im Licht der Gegenwart Gottes zu sein. Dies sind die Tugenden, die uns in dieser Welt kennzeichnen sollen, in der sich alle Maßstäbe auflösen. Diese Welt ist der Ort, den wir als Pilger durchziehen, und nicht unsere Heimat.
2,13 Während wir als Fremdlinge in der Welt leben, werden wir von einer wunderbaren »Hoffnung« getrieben – nämlich von der Hoffnung auf die »Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus«. Haben wir darunter die Entrückung zu verstehen, wenn Christus der Gemeinde in Herrlichkeit erscheint und sie in den Himmel holt (1. Thess 4,13-18)? Oder bezieht sie sich auf die kommende Herrschaft Christi, wenn er der Welt in Herrlichkeit erscheint, seine Feinde überwindet und sein Reich errichtet (Offb 19,11-16)? Wir glauben, dass Paulus grundsätzlich hier eher von der Entrückung spricht – dem Kommen Christi für seine Braut, die Gemeinde. Doch ob er nun als Bräutigam oder König kommt, der Gläubige sollte auf seine Erscheinung in »Herrlichkeit« vorbereitet sein und darauf warten.
2,14 Indem wir der Wiederkunft Christi entgegensehen, vergessen wir nie den Zweck seines ersten Kommens und seiner Opfers am Kreuz. Er »hat sich selbst für uns gegeben«. Dies geschah nicht nur, um uns von der Schuld und Strafe der Sünde zu erlösen, sondern auch, um uns »von aller Gesetzlosigkeit« zu befreien. Es wäre wohl nur eine halbe Erlösung, wenn die Sündenstrafe zwar bezahlt gewesen wäre, doch ihre Herrschaft über unser Leben weiter bestehen würde.
Er gab sich auch hin, »um sich selbst ein Eigentumsvolk« zu reinigen. Die Ausdrucksweise der KJV (»ein eigentümliches Volk«) könnte einen falschen Eindruck erwecken.4 Allzu oft sind wir tatsächlich ein eigentümliches Volk, doch nicht in dem von Christus beabsichtigten Sinne! Als er starb, wollte er uns nicht zu einem Volk von eigenartigen Leuten oder Sonderlingen machen. Vielmehr sollten wir ein »Volk« werden, das ihm auf ganz besondere Weise gehört – ihm, und nicht der Welt oder gar uns selbst. Und er »hat sich selbst für uns gegeben, damit« wir »eifrig in guten Werken« würden. Wir sollen eifrig sein, in seinem Namen und zu seiner Ehre gute Taten zu tun. Wenn wir an den Eifer der Menschen in Sport, Politik und Wirtschaft denken, dann sollten wir uns zu heilsamer Eifersucht herausfordern und anspornen lassen, gute Taten zu vollbringen.
2,15 »Dies« sollte Titus lehren – alles, was in den vorangegangenen Versen behandelt wurde, wozu besonders der Zweck des Leidens unseres Heilandes gehörte. Er sollte die Heiligen »ermahnen« oder ermuntern, ein Leben praktischer Heiligung zu führen und jeden zu »überführen«, der den apostolischen Lehren entweder in Taten oder in Worten widersprach. Und er sollte sich nicht für seine Strenge entschuldigen, sondern »mit allem Nachdruck« und dem Mut des Heiligen Geistes lehren. »Niemand soll dich verachten!« Titus sollte keine Bedenken haben, weil er noch relativ jung war, aus heidnischen Verhältnissen kam oder irgendwelche natürlichen Einschränkungen hatte. Er verkündigte das Wort Gottes, und darin lag der entscheidende Unterschied.
V. Ermahnung in der Gemeinde (3,1-11)
3,1 Titus sollte die Gläubigen in den kretischen Gemeinden auch an ihre Verantwortung gegenüber ihrer Obrigkeit »erinnern«. Der christliche Ansatz lautet, dass alle Obrigkeiten von Gott eingesetzt sind (Röm 13,1). Eine Obrigkeit kann unchristlich oder sogar antichristlich eingestellt sein, doch jede Obrigkeit ist besser als gar keine. Wenn keine Obrigkeit vorhanden ist, herrscht Anarchie, und in einer Anarchie können Menschen nicht lange überleben. Auch wenn ein Herrscher Gott nicht kennt, so ist er doch noch immer »Gottes Gesalbter« in seinem öffentlichen Amt und soll als solcher respektiert werden. Christen sollen »staatl ichen Gewalten und Mächten« gehorchen. Doch wenn eine Obrigkeit ihren von Gott bestimmten Bereich verlässt und einem Gläubigen befiehlt, Gott ungehorsam zu werden, dann soll sich der Gläubige aufgrund von Apostelg eschichte 5,29 weigern: »Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen.« Wenn er dafür bestraft wird, soll er die Bestrafung demütig um des Herrn willen ertragen. Er soll sich niemals an einer Rebellion gegen die Regierung beteiligen noch versuchen, sie durch Gewalt zu Fall zu bringen.
Exkurs zum Thema Christen und diese Welt
Christen sollen dem Gesetz (einschließlich der Straßenverkehrsordnung) gehorchen und ihre Steuern sowie anderen Abgaben entrichten. Im Allgemeinen sollen sie gesetzestreue, gehorsame Untertane sein. Doch gibt es drei Gebiete, auf denen Christen sehr unterschiedlicher Meinung im Blick darauf sind, wie sie ihrer Verantwortung nachkommen sollen. Dies betrifft 1. ihre Beteiligung an Wahlen, 2. ihre Bewerbung um ein öffentliches Amt und 3. die Kampfeinsätze in den Streitkräften. Zu den ersten zwei Punkten finden sich die folgenden hilfreichen Richtlinien in der Bibel: 1. Christen sind in der Welt, aber nicht von der Welt (Joh 17,14.16). 2. Die ganze Weltordnung befindet sich in den Händen des Bösen und ist von Gott verurteilt (1. Joh 5,19b; 2,17; Joh 12,31).
3. Die christliche Mission besteht nicht darin, die Welt zu verbessern, sondern darin, dafür zu sorgen, dass Menschen aus ihr errettet werden. 4. Während der Gläubige fast unausweichlich ein Bürger irgendeines irdischen Landes ist, zählt ein anderes Bürgerrecht, nämlich das himmlische, viel mehr – und zwar so sehr, dass er sich selbst hier als Pilger und Fremdling ansieht (Phil 3,20; 1. Petr 2,11). 5. Kein Soldat im aktiven Dienst soll sich in die Geschäfte dieses Lebens verstricken, damit er nicht dem missfällt, der ihn angeworben hat (2. Tim 2,4). 6. Der Herr Jesus sagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh 18,36). 7. Politiker lassen sich oft aufgrund ihres Wesens korrumpieren. Christen sollen sich jedoch vom Bösen trennen (2. Kor 6,17.18). 8. Wenn ein Christ wählen würde, so wählte er normalerweise jemanden, der aufrecht und ehrlich ist. Doch manchmal ist es Gottes Wille, die niedrigsten Menschen zu erhöhen (Dan 4,14). Wie können wir in einem solchen Fall den Willen Gottes erkennen und ihm gehorchen?
Die andere Frage lautet, ob ein Gläubiger in den Krieg ziehen soll, wenn seine Obrigkeit es ihm befiehlt. Es gibt auf beiden Seiten stichhaltige Argumente, doch scheint es mir so zu sein, dass die meisten Argumente dagegen sprechen, am Krieg teilzunehmen. Die Prinzipien, die oben aufgelistet sind, gelten auch für diese Fragestellung, doch gibt es noch zusätzliche Aspekte:
1. Unser Herr sagte: »Wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft« (Joh 18,36). 2. Er hat auch gesagt: »Alle, die das Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen« (Matth 26,52). 3. Die Vorstellung, ein Menschenleben gewaltsam zu beenden, steht im krassen Gegensatz zu der Lehre dessen, der gesagt hat: »Liebt eure Feinde« (Matth 5,44).
Diejenigen, die es ablehnen, eine Waffe zu tragen, können dankbar sein, wenn sie in einem Land leben, in dem Wehrdienstverweigerung gestattet ist. Andererseits haben viele Christen ehrenvoll an Kriegen teilgenommen. Sie haben festgestellt, dass das NT römische Offiziere  (z. B.  Kornelius  und  Julius)  im besten Licht darstellt. Auch werden Bilder aus der Militärsprache benutzt, um den geistlichen Kampf zu bezeichnen (z. B. Eph 6,10-17). Wenn Kriegsdienst an sich verkehrt wäre, so ist es schwierig zu erklären, warum Paulus uns aufruft, »gute Streiter Christi Jesu« zu sein. Was immer jemand zu diesem Thema denkt, wir sollen diejenigen nicht verurteilen, die anders denken. An dieser Stelle ist Raum für unterschiedliche Ansichten. Eine andere Verpflichtung des Christen ist es, »zu jedem guten Werk bereit zu sein«. Nicht alle Arbeiten sind ehrbar. So beruht z. B. ein großer Teil des modernen Marketings auf Lügen, und manche Geschäfte verkaufen Produkte, die der geistlichen, geistigen oder körperlichen Gesundheit abträglich sind. Nach bestem Wissen und Gewissen sollten wir sagen, dass man solche Beschäftigungen meiden sollte.
3,2 Ein Christ soll »niemand … lästern«. An anderen Stellen verbietet die Bibel es ausdrücklich, einem Herrscher zu fluchen und schlecht von ihm zu reden  (2. Mose  22,27;  Apg  23,5)  –  ein  Gebot, woran sich alle Christen auch in der Hitze politischer Auseinandersetzungen oder in Zeiten der Unterdrückung und Verfolgung erinnern sollten. Doch hier wird die Ermahnung ausgeweitet, um jeden Menschen vor Spott, Hohn, Beleidigung oder übler Nachrede zu schützen. Welche Meere von Kummer, Leid und Schmerzen könnten Christen trockenlegen, wenn sie nur diesem einfachen Gebot gehorchen würden, »niemand zu lästern«!
Wir sollen »nicht streitsüchtig« sein und Streit vermeiden. Man braucht immer zwei zu einem Streit. Als jemand einmal versuchte, mit Dr. Ironside einen Streit über ein nebensächliches Thema anzufangen, über das dieser gepredigt hatte, erwiderte er: »Nun, lieber Bruder, wenn wir in den Himmel kommen, dann wird einer von uns sicherlich unrecht haben, und es kann gut sein, dass ich das bin.« Diese Gesinnung beendete die ganze Auseinandersetzung.
Wir sollen »milde« sein. Man kann kaum über diese Eigenschaft nachsinnen, ohne an den Herrn Jesus zu denken. Er war milde und freundlich, friedlich und versöhnend. Und wir sollen anderen Menschen »alle Sanftmut« oder auch Demut erweisen. Es scheint so angemessen, dass Höflichkeit als eine der christlichen Tugenden bezeichnet wird. Im Wesentlichen geht es darum, in Demut zuerst an andere zu denken, die anderen an die erste Stelle zu setzen und alles liebevoll zu sagen und zu tun. Höflichkeit dient den anderen, ehe sie sich selbst dient, und nimmt jede Gelegenheit wahr, den anderen zu helfen. Auch dankt sie für jeden Gefallen, den man erwiesen bekommen hat. Sie ist niemals rau, gemein oder grob.
3,3 Und wieder fügt der Apostel inmitten eines sehr praktischen Abschnitts ein klassisches Wort zu unserem Heil ein, wobei die Betonung darauf liegt, dass das Ziel unserer Errettung ein Leben guter Werke ist. Der Gedankengang ist folgender: 1. Unser Zustand vor der Erlösung (V. 3), 2. die Art unserer Erlösung (V. 4-7), 3. die praktischen Auswirkungen der  Erlösung  (V. 8).  Das  Bild,  das  Gott von dem Zustand vor unserer Erlösung zeichnet, ist nicht gerade schmeichelhaft. Obwohl wir dachten, auf alles eine Antwort zu haben, waren wir vom Wesen her »unverständig«, nicht in der Lage, geistliche Wahrheiten zu verstehen, und äußerst unweise in unseren Entscheidungen und unserem Verhalten. Wir waren »ungehorsam« gegen Gott und vielleicht auch unseren Eltern und anderen Autoritäten gegenüber. Wir »gingen in die Irre« und ließen uns von Satan sowie unserem eigenen irregeleiteten Urteilsvermögen täuschen. Wir verpassten immer wieder den rechten Weg und landeten immer wieder in Sackgassen. Wir »dienten mancherlei« schlechten Gewohnheiten, waren durch ein böses Gedankenleben geknechtet und von allen möglichen Sünden beherrscht. Unser Leben war von ständigem »Neid« und Hass gegenüber anderen Menschen geprägt. Als Lieblose und Selbstsüchtige waren wir selbst unglücklich und machten andere unglücklich. »Verhasst, einander hassend«: Welch ein trauriger Kommentar über das Leben aneinandergeratender Nachbarn, verfeindeter Arbeitnehmer, konkurrierender Geschäftspartner und miteinander im Streit liegender Familien!
3,4 Das düstere Bild der menschlichen Verdorbenheit wird von einem der großen »Aber« in der Heiligen Schrift unterbrochen. Wie dankbar können wir für diese kleinen, an der rechten Stelle eingefügten Konjunktionen sein, die Gottes wunderbares Eingreifen darstellen, damit der Mensch sich nicht selbst zugrunde richtet! Jemand hat sie einmal Gottes Straßensperren auf dem Weg des Menschen zur Hölle genannt.
»Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschien.« Das geschah, als der Herr Jesus vor etwa 2000 Jahren auf dieser Welt erschien. In einem anderen Sinne ist uns Gottes Liebe und »Güte« erschienen, als er uns er rettete. Als er seinen geliebten Sohn sandte und dieser für eine Welt aufrührerischer Sünder starb, wurden diese Eigenschaften geoffenbart. Das Wort, das hier für »Menschenliebe« benutzt wird, ist das griechische Wort, das unserem Wort Philan thropie zugrunde liegt. Es verbindet die Gedanken an Liebe, Güte und Mitleid. Der Titel »Heiland-Gott« bezieht sich auf Gott den Vater – unseren Heiland in dem Sinne, dass er seinen Sohn als Opfer für die Sünde in diese Welt schickte. Der Herr Jesus wird ebenfalls »Gott und Heiland« genannt (2,13), weil er die unumgängliche Strafe getragen hat, damit uns vergeben werden kann.
3,5 Er »errettete uns« von der Schuld und Strafe für alle unsere Sünden – für die vergangenen, die gegenwärtigen und die zukünftigen. Sie lagen, als der Herr starb, alle noch in der Zukunft, und sein Tod geschah trotzdem für all diese Sünden. Doch eine der einfachsten Wahrheiten des Evangeliums ist für den Menschen am schwierigsten anzunehmen. Diese Errettung geschieht »nicht« aufgrund von »Werken«; man wird nicht Christ, wenn man ein christliches Leben führt. Es sind nicht die guten Menschen, die in den Himmel kommen. Das durchgehende Zeugnis der Bibel lautet, dass sich der Mensch das Heil nicht verdienen kann (Eph 2,9; Röm 3,20; 4,4.5; 9,16; 11,6; Gal 2,16; 3,11). Der Mensch kann sich nicht selbst durch gute Werke erlösen, alle seine gerechten Taten sind vor Gott wie ein beflecktes Kleid, Lumpen gleich (Jes 64,5). Er kann nicht Christ werden, indem er ein christliches Leben führt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass niemand von sich aus die Kraft hat, ein solches Leben zu führen. Nicht die Guten kommen in den Himmel, sondern Sünder, die durch Gottes Gnade erlöst worden sind!
Mit guten Werken verdienen wir uns nicht das Heil. Vielmehr sind sie das Ergebnis der Erlösung. Wo immer es wahre Errettung gibt, wird es auch gute Werke geben. So können wir lesen, dass Gott uns »nicht aus Werken« rettete, »die, in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit«. Die Erlösung geschieht aus Gnade – nicht aufgrund der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit verlangt, dass die verdiente Strafe auch vollzogen wird; die Gnade dagegen schenkt eine Möglichkeit, dass die Bestrafung abgewendet wird und dennoch die Gerechtigkeit gewahrt bleibt. Gott rettete uns »durch die Waschung der Wiedergeburt«. Aufgrund der Bekehrung wird etwas wirklich Neues geschaffen (2. Kor 5,17), und hier wird uns diese Neuschöpfung im Bild der Waschung gezeigt. Es ist dasselbe Bild, das auch der Herr Jesus benutzt hat, als er die Jünger lehrte, dass es nur ein Bad der Wiedergeburt gibt, doch viele notwendige Reinigungen von Verunreinigung (Joh 13,10). Dieses Bad der Wiedergeburt hat nichts mit der Taufe zu tun. Es geht hier nicht um eine leibliche Reinigung durch Wasser, sondern eine moralische Reinigung durch das Wort Gottes (Joh 15,3). Die Taufe ist noch nicht einmal ein Symbol für dieses Bad, sondern zeigt stattdessen, dass wir mit Christus in den Tod begraben worden sind (Röm 6,4). Unsere Wiedergeburt wird auch »Erneuerung des Heiligen Geistes« genannt. Der Geist Gottes bewirkt eine wunderbare Veränderung – und zwar nicht, indem er dem alten Menschen neue Kleider anzieht, sondern indem er diese neuen Kleider einem neuen Menschen anlegt! Der Heilige Geist vollbringt die Wiedergeburt, und das Wort Gottes ist das Mittel dazu.
3,6 Gott hat den Heiligen Geist »reichlich über uns ausgegossen«. Jeder Gläubige hat den Heiligen Geist, sobald er wiedergeboren wird. Der Geist reicht aus, um die wunderbare Erneuerung hervorzubringen, von der wir soeben ges prochen haben. Der Geist wird »durch Jesus Christus, unseren Heiland«, geg eben. So wie die Fülle des Pharao durch Josef den Söhnen Jakobs vermittelt wurde, so werden uns die Segnungen Gottes einschließlich der unvergleichlichen Gabe des Heiligen Geistes durch den Herrn Jesus zugeeignet. So gesehen ist Jesus unser »Josef«. Alle drei Personen der Dreieinheit werden im Zusammenhang mit unserer Erlösung  genannt:  Gott  der  Vater  (V. 4), der Heilige Geist (V. 5) und Gott der Sohn (V. 6).
3,7 Die sofortige Folge unserer Wiedergeburt ist, dass wir »gerechtfertigt durch seine Gnade« und »Erben nach der Hoffnung des ewigen Lebens« werden. Durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist, hält Gott uns in seiner erstaunlichen Gnade für gerecht. Und wir werden »Erben« all dessen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben. Wir erhoffen all dasjenige, das zu der Tatsache gehört, dass wir in Christus sind und in alle Ewigkeit ihm gleich sein werden.
3,8 Wenn Paulus sagt: »Das Wort ist gewiss«, stellt sich die Frage: Haben wir darunter den vorhergehenden Abschnitt oder das Folgende zu verstehen? Die Argumentation ist wohl, dass wir, nachdem wir mit solch einer herrlichen Errettung von solch einer schrecklichen Verdammnis erlöst worden sind, nun auch so leben sollen, wie es unserer hohen Berufung würdig ist.
Titus sollte »auf diesen Dingen« in seinem Dienst auf Kreta »fest« bestehen (was in den Versen 1-7 besprochen wurde), damit die Gläubigen »Sorge tragen, gute Werke zu betreiben«. Obwohl der Ausdruck »gute Werke« hier auch bedeuten kann, dass man einer ehrbaren Beschäftigung nachgeht, so ist doch die Bedeutung hier sicher weiter zu fassen, sodass es hier um »gute Werke« allgemein geht. Die Lehre, die ein Verhalten in Übereinstimmung mit dem christlichen Zeugnis der betreffenden Person verlangt, ist »gut und nützlich«. Alle Lehre soll eine persönliche und praktische Anwendung finden.
3,9 Natürlich gibt es im christlichen Dienst immer wieder Fallen. Zur Zeit des Paulus gab es »törichte Streitfragen« über reine und unreine Speisen, über die Sabbatvorschriften und über die Beachtung anderer heiliger Tage. Außerdem erhob sich Streit wegen verschiedener »Geschlechtsregister«, sowohl von Engeln als auch von Menschen. Es gab Streit im Blick auf ein ausführliches Regelwerk, das dem Gesetz übergestülpt worden war. Paulus bezeichnet diese Streitereien als »unnütz und wertlos«. Diener des Herrn in unserer Zeit nehmen sich den Rat des Paulus zu Herzen, indem sie die folgenden Gefahren meiden:
Die hauptsächliche Beschäftigung mit Äußerlichkeiten statt geistlichen Realitäten.  Dazu  zählen  z. B.  die  alten  Streitereien über den Gebrauch von vergorenem Wein oder Traubensaft, von gesäuertem oder ungesäuertem Brot, von einem gemeinsamen Kelch oder Einzelkelchen – als ob dies die wesentlichen Fragen der Bibel wären!
Streitereien über einzelne Worte. Die ausschließliche Beschäftigung mit einer Hauptwahrheit oder sogar nur mit einem Aspekt einer solchen Wahrheit. Allegorisierung der Schrift bis hin zu Absurditäten.
Theologische Kleinlichkeiten, die niemanden erbauen.
Abweichen vom Wort, indem man sich auf politische Nebenwege begibt und christliche Kampagnen gegen dieses oder jenes führt.
Welch eine Tragödie, wenn man kostbare Zeit für solche Dinge verschwendet, während Millionen von Menschen verlorengehen!
3,10 Wer solche Streitfragen zu seinem Hauptanliegen macht, ist ein »sektiererischer« oder häretischer »Mensch«.5 Normalerweise hat er nur ein einziges Anliegen, das er immer wieder vorbringt. Schon bald versammelt er um sich eine Anhängerschaft mit der gleichen negativen Einstellung und vertreibt alle anderen. Er wird eher eine Gemeinde spalten, als sein lehrmäßiges Steckenpferd aufzugeben. Keine Gemeinde sollte solchen Unsinn dulden. Wenn er nach ein oder zwei Verwarnungen nicht hören will, so sollte er aus der Gemeinschaft der Ortsgemeinde ausgeschlossen werden und die Christen sollten mit ihm keinen Umgang mehr pflegen. Hoffentlich wird ihn solch ein Ausschluss zur Besinnung und einer ausgeglicheneren Anwendung des Wortes Gottes bringen.
3,11 Damit niemand denkt, dass »ein solcher« Mensch keine Gefahr für die Gemeinde sei, brandmarkt der Apostel ihn als »verkehrt« und sagt aus, dass er »sündigt und durch sich selbst verurteilt ist«. Sein Verhalten ist eine Verkehrung und keine Verkörperung des christlichen Glaubens. Er »sündigt«, indem er eine Sekte oder Sondergemeinschaft gründet. Er »ist durch sich selbst verurteilt«, weil er störrisch an seinem Irrtum festhält, nachdem er von verantwortlichen Christen ermahnt worden ist.
VI. Schluss (3,12-15)
3,12 Der Brief schließt mit einigen kurzen Anweisungen an Titus. Paulus hatte vor, entweder »Artemas oder Tychikus« zu senden, um Titus auf Kreta abzulösen. Tychikus ist uns schon begegnet (Apg 20,4; Eph 6,21; Kol 4,7), doch von »Artemas« haben wir bisher noch nichts gehört. Es geht wohl aus 2. Timotheus 4,12 hervor, dass »Tychikus« nach Ephesus statt nach Kreta gesandt wurde. Deshalb war »Artemas« vermutlich derjenige, der nach Kreta zur Ablösung des Titus geschickt wurde. Sobald er angekommen war, sollte Titus nach »Nikopolis« reisen, wo Paulus »überwintern« wollte. Es gab zu dieser Zeit mindestens sieben Städte mit dem Namen Nikopolis, doch die meisten Exegeten glauben, dass Titus nach Nikopolis in Epirus, Westgriechenland, aufbrechen sollte.
3,13 Titus sollte bald Besuch bekommen, nämlich »Zenas, den Gesetzesgelehrten, und Apollos«. Vielleicht überbrachten diese beiden Titus den Brief des Paulus. Es gab zu dieser Zeit zwei Arten von Gesetzesgelehrten, nämlich Schriftgelehrte, die das religiöse Gesetz auslegten, und Anwälte, die der bürgerlichen Gesetzgebung Geltung verschafften. Es bleibt uns über lassen zu entscheiden, zu welcher Gruppe »Zenas« gehört haben mag. Ich glaube, dass er eher ein Schriftgelehrter war und zu Titus gesandt wurde, um ihm dabei zu helfen, das nicht enden wollende Gezänk über das Gesetz des Mose zu beenden (V. 9). Wenn es sich um einen Anwalt handelte, dann war er sicher ein ehrlicher Vertreter dieses Berufsstandes! Der einzige andere Apollos, von dem wir im NT lesen, wird in Apostelgeschichte 18,24-28 und in 1. Korinther erwähnt. Vielleicht handelte es sich um ein und dieselbe Person. Als Paulus Titus den Auftrag gab, den beiden »mit Sorgfalt das Geleit« zu geben, so ist dar­in auch eine Ermahnung enthalten: Titus sollte während ihres Aufenthaltes auf Kreta gastfrei sein und sie mit allem, was sie für ihre weitere Reise brauchen würden, ausstatten.
3,14 Titus sollte die anderen Christen (»die Unseren«) lehren, gastfreundlich zu sein, für die Kranken und Leidenden zu sorgen und großzügig gegenüber den Bedürftigen zu sein. Statt nur für ihren eigenen Bedarf zu arbeiten, sollten sie jene Sicht haben, die für den christlichen Glauben kennzeichnend ist: Sie sollten Geld verdienen, um es mit anderen zu teilen, die weniger privilegiert sind (s. Eph 4,28b). Das würde sie von Selbstsucht heilen und vor der Tragödie eines verschwendeten, fruchtlosen Lebens bewahren.
3,15 Die Schlussgrüße sollten nicht für unwichtig und banal gehalten werden. In Ländern, in denen die Christen eine kleine Minderheit sind sowie verachtet und verfolgt werden, bringen diese Worte unermesslich viel Liebe, Freundschaft und Ermutigung zum Ausdruck. »Alle, die bei« dem Apostel waren, sandten ihre Grüße an Titus, und Titus sollte Grüße an alle sagen, die Paulus und seine Mitarbeiter »im Glauben« liebten. Schließlich beendet Paulus seinen Brief mit dem Thema, das sein Leben beherrschte – nämlich mit der »Gnade« des Herrn. »Die Gnade sei mit euch allen! Amen.« (Schl 2000).
1,1 »Paulus« stellt sich hier als »Gefangener« vor, nicht als Apostel. Er hätte seine Autorität in den Vordergrund stellen können, doch er zieht es vor, von einer scheinbar niedrigen, weniger begünstigten Stellung aus zu appellieren. Doch vergoldet der Apostel diese niedrige Stellung mit der Herrlichkeit des Himmels, denn er ist »ein Gefangener Christi Jesu«. Keine einzige Minute will er als Gefangener Roms daherkriechen. Er sieht hinter dem Kaiser den König der Könige stehen. »Timotheus« war bei ihm, als er schrieb, und deshalb bezieht er diesen treuen Jünger ein, obwohl der Brief offensichtlich von Paulus stammt.
Der Hauptadressat ist »Philemon«. Sein Name bedeutet »Liebevoller«, und offensichtlich entsprach er diesem Namen, denn Paulus nennt ihn »geliebter … Mitarbeiter«.
1,2 Weil »Aphia« ein weiblicher Name ist, nehmen die Ausleger an, dass sie die Frau des Philemon war. Die Tatsache, dass der Brief zum Teil auch an sie gerichtet ist, erinnert uns daran, dass das Christentum die Frau hoch ehrt.2 Später werden wir sehen, dass es auch die Sklaven ehrt. Fast immer haben fromme Ausleger »Archippus« als den Sohn des Philemon angesehen. Wir können uns dessen nicht sicher sein, doch wissen wir, dass er aktiv am christlichen Kampf teilnahm. Paulus ehrt ihn als »Mitkämpfer«. Wir können ihn uns als hingegebenen Jünger des Herrn Jesus vorstellen, der vor heiliger Leidenschaft brannte. Im Kolosserbrief wird ihm besondere Aufmerksamkeit gewidmet: »Und sagt Archippus: Sieh auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast, dass du ihn erfüllst« (Kol 4,17). Wenn Philemon, Aphia und Archippus ein Bild der neutestamentlichen christlichen Familie sind, dann ruft der Ausdruck »Gemeinde, die in deinem Haus ist«, die Vorstellung einer neutestamentlichen Gemeinde hervor, die in einem Haus zusammenkam. Es geht hieraus hervor, dass das »Haus« des Philemon ein Versammlungsort einer Gemeinde von Gläubigen war. Dort versammelten sie sich zur Anbetung, zum Gebet und zum Bibelstudium. Von dort gingen sie hinaus, um gegenüber einer Welt von Christus Zeugnis abzulegen, die ihre Botschaft in den seltensten Fällen willkommen heißen, sie jedoch auch nicht wieder vergessen würde. Wenn sie sich im Haus des Philemon trafen, waren die Christen alle eins in Christus Jesus. Reiche und Arme, Männer und Frauen, Herren und Sklaven – sie alle waren vollgültige Mitglieder der Familie Gottes. Sobald sie an ihren weltlichen Arbeitsplatz zurückkehrten, erschienen die sozialen Unterschiede wieder. Doch beim Herrenmahl z. B. standen sie alle gemeinsam als heilige Priester auf einer Ebene. Philemon hätte in einem solchen Fall Onesimus gegenüber keinen Vorzug.
1,3 Der charakteristische Gruß des Paulus vereint anscheinend das Beste, das er denen wünschen konnte, die er liebte. »Gnade« ist die unverdiente Zuwendung, die Gott gegenüber seinem Volk in so umfassender Weise erkennen lässt. »Friede« ist hier die geistliche Haltung, die das Leben derer festigt, die durch seine Gnade gelehrt sind. Beide Segnungen kommen »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Das ist von größter Bedeutung. Dies heißt nämlich, dass der Herr Jesus mit »Gott« dem »Vater« stellungsgleich ist, indem er Gnade und Friede austeilt. Es wäre Blasphemie, wenn man Christus solch eine Ehre zuteilwerden ließe, wenn er nicht voll und ganz Gott wäre.
II. Dank und Gebet des Paulus für Philemon (1,4-7)
1,4 Wann immer Paulus für Philemon betete, dankte er »Gott« für diesen edlen Bruder. Wir haben guten Grund zu glauben, dass er eine erlesene Trophäe der Gnade Gottes war – einen so gearteten Menschen, den man sich als Freund und Bruder wünschen würde. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass Paulus in diesen Anfangsversen sehr diplomatisch vorgeht. Es gehe ihm darum, das Herz des Philemon zu erweichen, damit er den Onesimus wieder annimmt. Das schreibt dem Apostel jedoch ein unwürdiges Motiv zu und wirft einen Schatten auf den inspirierten Text. Paulus hätte nicht so geredet, wenn er es nicht ehrlich gemeint hätte.
1,5 Es gab zwei Eigenschaften von Philemons Charakter, die Paulus sehr freuten: Seine »Liebe« und den »Glauben«, den er »an den Herrn Jesus und allen Heiligen gegenüber« hatte. Sein Glaube an Christus zeigte, dass er im Glauben verwurzelt war; und seine Liebe gegenüber »allen Heiligen« zeigte, dass er auch Frucht brachte. Sein Glaube brachte Früchte hervor.
In Epheser 1,15.16 und Kolosser 1,3.4 brachte Paulus einen ähnlichen Dank für diejenigen Heiligen, an die diese Briefe gerichtet waren, zum Ausdruck. An diesen Stellen stellte er den Glauben vor die Liebe. Hier jedoch kommt die Liebe zuerst. Warum dieser Unterschied? Maclaren antwortet: »Die Reihenfolge entspricht hier der Analyse, die sich von der Auswirkung zur Ursache hinarbeitet. Die Reihenfolge in den Parallelstellen richtet sich danach, wie Frucht hervorgebracht wird: Es geht von der Wurzel zur Frucht.« Es gibt hier noch eine andere interessante Eigenschaft der Ausdrucksweise des Paulus. Er teilt den Ausdruck »Liebe zu allen Heiligen« auf, indem er nach »Liebe« »Glauben … an den Herrn Jesus« einfügt. Wir könnten das wie folgt schreiben: »Liebe (und Glaube … an den Herrn Jesus) allen Heiligen gegenüber.« Der Glaube ist nicht irgendein Glaube, sondern der »Glaube an den Herrn Jesus«. Die Liebe ist nicht irgendeine Liebe, sondern »Liebe allen Heiligen gegenüber«. Doch Paulus umfasst die Aussage über den Glauben mit der Feststellung hinsichtlich der Liebe. Es ist, als ob er Philemon vorwarnen möchte, dass er ihm nun eine besondere Gelegenheit geben möchte, die Echtheit seines Glaubens zu beweisen, indem er seinem Sklaven Onesimus Liebe erweist. Deshalb liegt hier die besondere Betonung auf dem Wort alle – »allen Heiligen gegenüber«.
1,6 Die vorhergehenden zwei Verse drücken den Dank des Paulus für Philemon aus. Dieser Vers zeigt uns den Gebetse ifer des Apostels für ihn. »Gemeinschaft des Glaubens« bedeutet die praktische Freundlichkeit, die Philemon anderen erwies. Wir können unsere Gemeinschaft im Glauben nicht nur dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir Christus predigen. Vielmehr geschieht dies auch dadurch, dass wir die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden, die Trauernden trösten und die Verzweifelten ermutigen – ja, und auch dadurch, dass wir einem weggelaufenen Sklaven vergeben. Danach folgte ein weiteres Gebetsanliegen des Paulus. Philemons Güte sollte dazu führen, dass viele erkannten: All seine guten Taten waren »im Hinblick auf Christus« geschehen. Es liegt viel Kraft und Einfluss in einem Leben, worin sich die Liebe Gottes zeigt. Es ist eine Sache, in einem Buch über Liebe zu lesen, doch wie überzeugend ist es, wenn wir die praktische Umsetzung des Wortes in einem Menschenleben sehen!
1,7 Die Nachricht von Philemons überragender Großzügigkeit und aufopferungsvoller Liebe war von Kolossä nach Rom getragen worden und brachte dem Gefangenen Christi »große Freude«3 (oder Dankbarkeit) und Trost. Es war das große Vorrecht des Paulus gewesen, Philemon zum Herrn zu führen, doch welch eine Belohnung war es jetzt, von ihm zu hören, dass sein Kind im Glauben gute geistliche Fortschritte machte. Wie ermutigend war es zu wissen, dass »die Herzen der Heiligen« durch diesen »Bruder« sehr »erquickt worden sind«, und zwar besonders durch seine »Liebe«. Niemand lebt sich selbst und niemand stirbt sich selbst. All unsere Handlungen beeinflussen andere Menschen. Wir können unseren Einfluss überhaupt nicht ermessen. Uns steht ein fast unendliches Potenzial des Bösen oder Guten zur Verfügung. III. Paulus’ Eintreten für Onesimus (1,8-20)
1,8 Nun kommt Paulus zum Hauptanliegen seines Briefes. Er will für Onesimus eintreten. Doch wie wird er dieses Thema anschneiden? Als Apostel konnte er Philemon gerechtfertigterweise sagen: »Nun, Bruder, es ist als Gläubiger deine Pflicht, diesem entlaufenen Sklaven zu vergeben und ihn wieder anzunehmen, und genau das ist mein Gebot an dich.« Paulus hätte ihm befehlen können und Philemon hätte zweifellos gehorcht. Doch in diesem Fall wäre das ein schlechter Sieg gewesen.
1,9 Hätte der Apostel nicht das Herz des Philemon erreicht, hätte Onesimus ein kühler Empfang erwartet. Nur Gehorsam, dessen Beweggrund Liebe war, konnte die Stellung des Sklaven in diesem Haus erträglich machen. Vielleicht dachte Paulus, als er das schrieb, an die Worte unseres Heilandes: »Wenn ihr mich liebt, so werdet ihr meine Gebote halten« (Joh 14,15). Und deshalb zog der Apostel es vor, »um der Liebe willen« zu bitten, statt zu befehlen. Würde die Liebe des Philemon über das Meer reichen, wo der »Alte«4, der Botschafter Christi, als Gefangener um Jesu Christi willen saß? Würde er sich von zwei Überlegungen bewegen lassen, nämlich der Tatsache, dass Paulus schon alt war, und ebenso davon, dass er »jetzt auch ein Gefangener Jesu Christi« war? Wir wissen nicht genau, wie alt der Apostel zu dieser Zeit war. Die Schätzungen reichen von 53 bis 63 Jahren. Das erscheint uns heute nicht alt, doch er ist wahrscheinlich frühzeitig gealtert, weil sich im Dienst für Christus verzehrt hat. Und nun war er ein »Gefangener« für »Jesus Christus«. Paulus sucht nicht das Mitleid des Philemon, wenn er das erwähnt, sondern er hofft, dass Philemon diese Tatsachen in seine Entscheidung mit einbeziehen würde.
1,10 Auch im Original steht der Name Onesimus an letzter Stelle: »Ich bitte dich für mein Kind, das ich gezeugt habe in den Fesseln, Onesimus.« Als der Name des entlaufenen Sklaven genannt wurde, war Philemon wahrscheinlich schon entwaffnet. Man stelle sich seine Überraschung vor, wenn er erfahren würde, dass dieser »Gauner« sich bekehrt hatte! Und noch überraschender war, dass er von Paulus, dem Gefangenen, zu Christus geführt worden war!
Eine der verborgenen Freuden des christlichen Lebens ist es, Gott auf erstaunliche, wunderbare Weise am Werk zu sehen, indem er sich darin offenbart, dass er Umstände zusammenbringt, die nicht durch Zufall erklärt werden können. Zunächst hatte Paulus Philemon zum Herrn geführt. Dann war der Apostel gefangen genommen und nach Rom zur Verhandlung gebracht worden. Philemons Sklave war geflohen und ebenfalls nach Rom gekommen. Irgendwie hatte er Paulus getroffen und hatte sich durch ihn bekehrt. Nun hatten Herr und Sklave durch denselben Prediger ihre Wiedergeburt erlebt, auch wenn es an verschiedenen Orten und unter ganz unterschiedlichen Umständen geschah. Konnte das einfach nur Zufall sein?
1,11 Der Name Onesimus bedeutet »der Nützliche«. Doch als er entlaufen war, stand Philemon vermutlich in der Versuchung, ihn als einen »nutzlosen Schurken« zu bezeichnen. Paulus sagt nun im Grunde: »Natürlich war er für dich nützlich, doch nun ist er ›dir und mir nützlich‹.« Der Sklave, der zu Philemon zurückkehrte, war ein viel besserer Sklave als derjenige, der weggelaufen war. Man sagt, dass zur Zeit des NT christliche Sklaven einen höheren Preis erzielten als andere. Daher sollte auch heute für christliche Arbeitnehmer gelten, dass sie besser arbeiten als Ungläubige.
1,12 Die Haltung des NT zur Sklaverei wird in diesem Brief sichtbar. Wir sehen, dass Paulus die Sklaverei weder verurteilt noch sie verbietet. Er sendet sogar Onesimus zurück zu seinem Herrn. Doch die Missbräuche der Sklaverei werden im gesamten NT verurteilt und verboten. Mac laren schreibt:
Das Neue Testament mischt sich nicht direkt in politische oder soziale Angelegenheiten ein. Vielmehr legt es Prinzipien dar, die diese grundlegend ändern werden, und wirkt dahin gehend, dass diese Prinzipien Bestandteil der allgemeinen Meinung werden, indem viele sie verinnerlichen.5 Eine gewalttätige Revolution ist nicht der biblische Weg, um soziale Missstände zu bessern. Die Ursache der Unmenschlichkeit des Menschen liegt in seiner gefallenen Natur. Das Evangelium geht die Ursache an und bietet ein neues Leben in Christus Jesus an.
Man kann sich leicht vorstellen, dass ein Sklave, der einen freundlichen Herrn hatte, in den damaligen Verhältnissen besser dran war, als wenn er unabhängig gewesen wäre. (So fehlte z. B. einem entlaufenen Sklaven, obwohl pro forma »frei«, jeglicher Rechtsschutz; Anm. d. Übers.) Das gilt z. B. auch heute für Gläubige, die ja Knechte des Herrn Jesus sind. Diejenigen, die seine Sklaven sind, erfahren wirkliche Freiheit. Indem Paulus Onesimus zu Philemon »zurückgesandt« hat, beging er an dem Sklaven keine Ungerechtigkeit. Sowohl Herr als auch Sklave waren gläubig. Philemon war verpflichtet, Onesimus mit christlicher Freundlichkeit zu behandeln. Von Onesimus konnte erwartet werden, dass er nun mit christlicher Ehrlichkeit diente. Die tiefe Zuneigung des Apostels gegenüber Onesimus drückt sich in den Worten aus: »… ihn, das ist mein Herz.« Paulus fühlte sich, als ginge mit ihm ein Teil seines eigenen Wesens.
Wir sollten festhalten, dass hier das wichtige Prinzip der Wiedergutmachung erklärt wird. War es nötig, dass Onesimus zu seinem ursprünglichen Herrn zurückkehrte, da er nun errettet worden war? Die Antwort ist ein eindeutiges »Ja«. Die Erlösung nimmt die Strafe und die Macht der Sünde weg, doch hebt sie keine Schulden auf. Der gerade zum Glauben gekommene Christ muss alle unbezahlten Rechnungen begleichen und alles Unrecht wiedergutmachen, soweit es menschenmöglich ist. Onesimus war verpflichtet, in den Dienst seines Herrn zurückzukehren und ihm das Geld (oder sonstiges Eigentum Philemons) zurückzugeben, das er womöglich gestohlen hatte.
1,13 Der Apostel hätte es wohl vorgezogen, Onesimus bei sich in Rom zu »behalten«. Es gab vieles, das der bekehrte Sklave für Paulus hätte tun können, während dieser um des Evangeliums willen gefangen war. Und es wäre eine Gelegenheit für Philemon gewesen, dem Apostel zu »dienen« – indem er ihm nämlich Onesimus als Hilfe zur Verfügung stellte. Doch dies wäre ohne das Wissen und Einverständnis des Philemon nicht recht gewesen.
1,14 Paulus wollte von dem Eigentümer des Sklaven keinen Gefallen erzwingen, indem er Onesimus bei sich in Rom behielt. Er würde im Hinblick auf Onesimus »nichts« tun, ohne Philemons Einverständnis zu erhalten. Der Gefallen wäre keiner mehr gewesen, wenn er nicht »freiwillig« geschehen wäre.
1,15 Es ist ein Zeichen geistlicher Reife, imstande zu sein, über die widrigen Umstände des Augenblicks hinauszublicken und zu sehen, wie Gott denjenigen, die ihn lieben, alles zum Guten mitwirken lässt (Röm 8,28). Als Onesimus weglief, war Philemon vielleicht wegen seines finanz iellen Verlusts erbittert. Würde er seinen Sklaven jemals wieders ehen? Nun zeichnet Paulus den Regenbogen vor die finsteren Wolken. Onesimus ging den Angehörigen jener Hausgemeinschaft in Kolossä für eine Weile verloren, damit sie ihn »für immer besitzen« sollten. Das ist ein Trost für Christen, die gläubige Verwandte oder Freunde durch Tod verlieren. Die Trennung wird nicht lange dauern, und die Wiedervereinigung wird für immer sein.
1,16 Philemon bekam Onesimus nicht nur zurück, sondern er konnte ihn auch in einem besseren Zustand wiederaufnehmen, als er ihn vorher je gekannt hatte. Es würde keine normale Herr-SklaveBeziehung mehr sein. Onesimus war nun »mehr als« ein »Sklave«, er war ein »geliebter Bruder« in dem Herrn. Von nun an würde die Liebe an die Stelle der Furcht treten. Paulus hatte seine Gemeinschaft als »geliebter Bruder« schon genossen. Doch nun würde er ihn nicht mehr länger bei sich in Rom haben. Der Verlust des Apostels würde der Gewinn des Philemon werden. Er würde nun Onesimus als Bruder »sowohl im Fleisch als auch im Herrn« kennen. Der frühere Sklave würde das Vertrauen des Paulus sowohl »im Fleisch« (d. h. durch seinen hingegebenen tagtäglichen Dienst in Philemons Haus) als auch »im Herrn« (d. h. in der Gemeinschaft als Gläubiger) rechtfertigen.
1,17 Die Bitte des Apostels erstaunt sowohl in ihrer Kühnheit als auch in ihrer Freundlichkeit. Er bittet Philemon, Onesimus aufzunehmen »wie« den Apostel selbst. Er sagt: »Wenn du mich nun für deinen Gefährten hältst, so nimm ihn auf wie mich.« Die Worte rufen uns die Aussagen des Heilands ins Gedächtnis: »Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat« (Matth 10,40), und: »Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr es einem der geringsten dieser meiner Brüder getan habt, habt ihr es mir getan« (Matth 25,40). Sie erinnern uns auch daran, dass Gott uns in seinem Sohn ang enommen hat und wir Gott so nahe und vertraut sind wie Christus selbst.
Wenn Philemon Paulus als einen »Gefährten« ansah (als einen, mit dem er Gemeinschaft hatte), dann bittet der Apostel, Onesimus auf derselben Grundlage anzunehmen. Damit sollte nicht gemeint sein, dass Onesimus nun fortwährend im Haus Philemons leben konnte, ohne zur Arbeit verpflichtet zu sein. Er würde in der Familie immer noch ein Sklave sein, doch einer, der zu Christus gehörte und deshalb ein Bruder im Glauben war.
1,18 Der Apostel sagt nicht ausdrücklich, dass Onesimus dem Philemon etwas gestohlen hat, doch enthält dieser Vers die Möglichkeit, dass es so war. Sicherlich war Diebstahl eine der Hauptsünden von Sklaven. Paulus war bereit, die Verantwortung für jeden Verlust zu übernehmen, der Philemon durch Onesimus entstanden war. Er wusste, dass Wiedergutmachung erforderlich war. Die Bekehrung des Onesimus hat die Schulden gegenüber Philemon nicht ausgelöscht. Deshalb sagt Paulus, Philemon solle es ihm anrechnen.
Wir können dies nicht lesen, ohne uns an den riesigen Schuldenberg zu erinnern, den wir als Sünder auf uns gehäuft haben, und wie all das dem Konto des Herrn Jesus auf Golgatha angerechnet wurde. Er zahlte die volle Schuld, als er – unser Stellvertreter – starb. Wir werden hier auch an den Dienst Jesu als unser Fürsprecher erinnert. Wenn Satan, der Verkläger der Brüder, uns wegen unserer Sünden anklagt, dann sagt unser Herr im Grunde: »Rechne dies mir an.« Die Lehre von der Versöhnung wird in diesem Buch bildlich dargestellt. Onesimus hatte sich durch seine bösen Taten von Philemon entfremdet. Durch den Dienst des Paulus (wir haben jeden Grund, das zu glauben) wurden die Feindschaft und die Kluft zwischen beiden beseitigt. Der Sklave wurde mit seinem Meister wieder versöhnt. Genauso waren wir durch unsere Sünde von Gott entfremdet. Doch durch den Tod und die Auferstehung Christi ist die Ursache für die Feindschaft beseitigt und die Gläubigen sind nun mit Gott versöhnt.
1,19 Normalerweise hat Paulus seine Briefe jemand anderem diktiert und nur das Schlusswort mit seiner »Hand geschrieben«. Wir können nicht sicher sein, ob er diesen Brief ganz selbst geschrieben hat, doch mindestens an diesem Punkt hat er die Feder genommen und sich in seiner vertrauten Handschrift verpflichtet, jede Schuld zu zahlen, die Onesimus noch zu begleichen hatte. Er würde das trotz der Tatsache tun, dass Philemon ihm vieles schuldete. Paulus hatte ihn zum Herrn geführt. Er schuldete Paulus sein geistliches Leben, weil Paulus das Werkzeug zu seiner Errettung gewesen war. Doch hier drängte Paulus nicht auf Begleichung der Schuld.
1,20 Indem er Philemon als »Bruder« bezeichnet, bittet er nur um einen Vorteil »im Herrn«, nämlich um Erquickung »in Christus«. Er bittet darum, dass Onesimus freundlich aufgenommen und ihm vergeben wird und er seine Dienststellung im Haushalt wieder erhält – nun nicht mehr als Sklave, sondern als Bruder in der Familie der Kinder Gottes. IV. Abschließende Anmerkungen (1,21-25)
1,21 Der Apostel »vertraute« darauf, dass Philemon »mehr tun« würde, als er erbeten hatte. Er selbst hatte umfassende und unverdiente Vergebung erfahren. Paulus würde sicherlich für Onesimus nicht weniger tun. Hier haben wir ein schönes Beispiel für Epheser 4,32: »Seid aber zueina nder gütig, mitleidig, und vergebt einander, so wie Gott in Christus euch vergeben hat.«
1,22 Doch wie würde Paulus erfahren, wie Philemon Onesimus behandelt hatte? Er hoffte, Kolossä besuchen und als Gast in Philemons Haus sein zu können. Er erwartete, als Antwort auf die »Gebete« der Christen, von den Behörden freigelassen zu werden. Und deshalb bittet er Philemon, »eine Herberge« für ihn zu bereiten. Vielleicht wäre das eine der ersten Aufgaben, die Onesimus bekommen würde: »Mache das Gästezimmer für unseren Bruder Paulus bereit.« Wir wissen jedoch nicht, ob Paulus Kolossä noch einmal besucht hat. Wir können nur annehmen, dass das Gästezimmer für ihn bereit war und alle Glieder des Haushaltes ihn erwarteten, ihre Herzen in Liebe vereint.
1,23 »Epaphras« könnte einer der Gründer der Gemeinde in Kolossä gewesen sein (Kol 1,7.8; 4,12.13). Er ist nun ein »Mitgefangener« des Paulus in Rom und stimmt in die Grüße an Philemon mit ein.
1,24 Zu dieser Zeit waren »Markus, Aristarch, Demas« und »Lukas« bei Paulus. Diese Namen werden auch in Ko­losser 4,10.14 erwähnt. Zusätzlich wird in Kolosser 4 noch Jesus, genannt Justus, erwähnt, der hier aus irgendeinem Grund ausgelassen wird. »Markus« ist der Autor des zweiten Evangeliums. Er hatte sich als treuer Diener des Herrn erwiesen, obwohl er vorher ein Versager war (2. Tim 4,11; vgl. Apg 13,13; 15,36-39). »Aristarch«, ein Gläubiger aus Thessalonich, begleitete Paulus auf einigen Reisen einschließlich seiner Romreise. In Ko­losser 4,10 nennt Paulus ihn seinen »Mitgefangenen«. »Demas« hat Paulus später verlassen, weil er die Welt lieb gewann (2. Tim 4,10). »Lukas«, der geliebte Arzt, erwies sich bis ans Ende als treuer Gefährte und Helfer (2. Tim 4,11).
1,25 Der Brief schließt mit dem für Paulus charakteristischen Segenswunsch. Er wünscht, dass »die Gnade unseres Herrn Jesus Christus mit« Philemons »Geist« sein möge. Das Leben kann uns keinen größeren Segen bieten als die Gnade des Heilands, seine unverdiente Zuwendung als ständige Erfahrung unseres Lebens. In ständiger Erkenntnis und Freude im Blick auf die Person und das Werk unseres Herrn zu wandeln, ist alles, was das Herz begehren kann.
Paulus legte nun seine Feder nieder und übergab den Brief an Tychikus, der ihn Philemon bringen sollte. Er erkannte wohl kaum, wie der Inhalt dieses Briefes das christliche Verhalten in den folgenden Jahrhunderten beeinflussen sollte. Der Brief ist ein Klassiker der Liebe und Höflichkeit, der sich heute noch genauso anwenden lässt wie zu der Zeit, als er geschrieben wurde. »Amen« (Schl 2000).
1,1 Kein anderer Brief des NT kommt so schnell auf sein Anliegen zu sprechen wie der Hebräerbrief. Ohne Begrüßung oder Einleitung kommt der Autor direkt zum Thema. Es scheint so, als wäre er von einer heiligen Ungeduld erfüllt, die überragende Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus darzustellen.
Als Erstes stellt er die Offenbarung Gottes durch die »Propheten« der Offenbarung in seinem Sohn gegenüber. Die »Propheten« waren von Gott bestimmte Männer, die in seinem Namen sprachen. Sie wurden als Diener Jahwes verehrt. Der geistliche Reichtum ihres Dienstes ist im AT bewahrt.
Doch ihr Dienst war nur Stückwerk und blieb fragmentarisch. Jedem war ein bestimmtes Maß an Offenbarung gegeben, doch sie war in jedem Fall unvollständig.
Die Wahrheit wurde ihnen nicht nur in einzelnen Teilen offenbart, sie benutzten auch »vielerlei« Mittel, um ihre Offenbarung den Menschen weiterzugeben. Sie wurde als Gesetz, Geschichte, Poesie und Prophezeiung weitergegeben. Manchmal handelte es sich um mündliche, mitunter um schriftliche Offenbarung. Zuweilen waren es Visionen, Träume, Symbole oder sogar theatralische Handlungen. Doch welche Methode sie auch immer benutzten, wichtig ist, dass Gottes frühere Offenbarungen an das jüdische Volk vorläufig waren, immer wieder ergänzt wurden und in ihrer Darstellungsart »vielfältig« waren.
1,2 Die zeitgebundenen, teilweisen und Ausschnittcharakter aufweisenden Prophezeiungen des AT sind nun durch Gottes unübertroffene und endgültige Offenbarung »im Sohn« überschattet worden. Die Propheten waren nur Kanäle, wodurch das göttliche Wort weitergeleitet wurde. Der Herr Jesus Christus ist selbst die abschließende Offenbarung Gottes an die Menschheit. Johannes hat dazu gesagt: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht« (Joh 1,18). Der Herr Jesus sagte von sich selbst: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen« (Joh 14,9). Christus spricht nicht nur für Gott, sondern als Gott.
Um die unendliche Überlegenheit des Sohnes Gottes über die Propheten zu betonen, stellt ihn der Autor zunächst als »Erben aller Dinge« dar. Dies bedeutet, dass ihm das Universum gehört, weil Gott es so bestimmt hat, und dass er bald über dieses Universum herrschen wird. Gott hat die Erde »durch« Jesus Christus gemacht. Jesus Christus war aktiv an der Schöpfung beteiligt. Er rief den Sternenhimmel, den Himmel über der Erde (d. h.  die  Atmosphäre),  die  Erde  selbst, die Menschen und den göttlichen Heilszeitplan ins Leben. Alles Erschaffene, sowohl im unsichtbaren als auch im natürlichen Bereich, sowohl das Geistliche als auch das Fassbare, wurde von ihm gemacht.
1,3 Er ist die »Ausstrahlung« der »Herrlichkeit« Gottes. Dies bedeutet, dass alle Vollkommenheit, die sich im Vater findet, auch im Sohn zu finden ist. Er ist die »Ausstrahlung« (wörtl. »das Hinausleuchten«) oder der »Abglanz« (LU 1984) der »Herrlichkeit« Gottes. Alle moralischen und geistlichen Herrlichkeiten Gottes werden in ihm sichtbar. Weiterhin ist der Herr Jesus der genaue »Abdruck« des Wesens Gottes. Das bezieht sich nicht darauf, dass er ein körperliches Abbild ist, weil Gott vom Wesen her Geist ist. Es bedeutet, dass Christus auf jede nur erdenkliche Weise den Vater widerspiegelt. Es könnte keine größere Ähnlichkeit geben. Der Sohn, der Gott selbst ist, offenbart den Menschen durch seine Worte und Taten, wie Gott ist. Und er erhält das Universum »durch das Wort seiner Macht«. Zunächst einmal hat er gesprochen, um die Welt zu erschaffen (Hebr 11,3). Noch immer redet er, und sein machtvolles »Wort« erhält das Leben, hält die Materie zusammen und wacht über der Ordnung im Universum. Durch ihn wird alles zusammengehalten (Kol 1,17). Hier haben wir eine einfache Erklärung eines schwierigen wissenschaftlichen Problems. Die Wissenschaftler versuchen zu erklären, was die Materie zusammenhält. Wir erfahren hier, dass Jesus Christus der Erhalter des Universums ist und dies »durch« sein vollmächtiges »Wort« tut. Doch die nächste Herrlichkeit unseres Heilandes ist die erstaunlichste von allen – »nachdem er die Reinigung von den Sünden bewirkt hat«. Der Schöpfer und Erhalter wurde zum Träger unserer Sünde. Um das Universum zu schaffen, genügte sein Wort. Um das Universum zu erhalten und seine Ordnung aufrechtzuerhalten, genügt ebenfalls sein Wort, denn hier ist kein moralisches Problem zu lösen. Doch um unsere Sünde ein für alle Mal zu beseitigen, musste er am Kreuz von Golgatha sterben. Es ist atemberaubend, wenn man sich vorstellt, dass der souveräne Herr sich so erniedrigen würde, um das Opferlamm zu werden. »Was ich zum Dank auch gebe Dir, / die ganze Welt ist noch zu klein; / der Dank für diese Liebe hier / kann nur mein eignes Leben sein«, wie es ein Lied von Isaac Watts so treffend ausdrückt. Schließlich wird noch seine Erhöhung als thronender Herr erwähnt: Er »hat sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt«. Er hat sich »gesetzt« – eine Stellung der Ruhe. Dies ist nicht die Ruhe nach harter, vielleicht vergeblicher Arbeit und Mühe, sondern die Ruhe des Wohlgefallens über ein vollendetes Werk. Diese Stellung zeigt uns, dass das Werk der Erlösung vollendet ist. Die »Rechte der Majestät in der Höhe« ist eine Ehren- und Vorrechtsstellung (Hebr 1,13). Aufgrund seines herrlichen Sieges hat Gott ihn erhöht. Zur Rechten Gottes ist auch die Stellung der Macht (Matth 26,64) und der Freude (Ps 16,11). Die nageldurchgrabene Hand des Erlösers hält das Zepter der allumfassenden Herrschaft (1. Petr 3,22). Indem wir den Weg unseres Herrn von der Schöpfung über Golgatha in die Herrlichkeit verfolgt haben, sind die Propheten scheinbar ganz aus unserem Blickfeld geschwunden. So berühmt sie auch gewesen sein mögen, sie sind in den Hintergrund getreten. Sie haben von dem kommenden Messias gezeugt (Apg 10,43). Nachdem er nun gekommen ist, entschwinden sie froh unserer Aufmerksamkeit.
B. Christus ist den Engeln überlegen (1,4 – 2,18)
1,4 Der nächste Schritt der Argumentation des Briefes zeigt, dass Christus den »Engeln« überlegen ist. Das war notwendig, weil die Juden den Dienst der Engel sehr hoch schätzten. Schließlich war das Gesetz durch Engel gegeben worden (Apg 7,53; Gal 3,19), und Engel waren in der Geschichte des Volkes Gottes häufig erschienen. Vielleicht wurde folgendermaßen argumentiert: Wenn man das Judentum aufgeben und sich Christus zuwenden würde, trennte man sich von diesem wichtigen Wesensmerkmal des nationalen und gottesdienstlichen Erbes. Die Wahrheit besteht jedoch darin, dass der Bekehrte, wenn er Christus besitzt, jemanden gewonnen hat, der auf zweifache Weise den Engeln überlegen ist: als Sohn Gottes (1,4-14) und als Menschensohn (2,5-18).
Christus »ist um so viel erhabener geworden als die Engel, wie er einen vorzüglicheren Namen vor ihnen ererbt hat«. Dies kündet zunächst von einer erworbenen Überlegenheit und außerdem von einer ihm eigenen Überlegenheit. Die erworbene Überlegenheit resultiert aus seiner Auferstehung, Himmelfahrt und Erhöhung als Herr und Christus. In der Fleischwerdung ist er ein wenig niedriger geworden als die Engel
1,6 Auf eine dritte Weise ist Christus größer als die Engel, nämlich dahin gehend, dass er von ihnen angebetet wird, während sie seine Botschafter und Diener sind. Um sein Argument zu unterstützen, zitiert  der  Autor  5. Mose  32,43  (Septuaginta) und Psalm 97,7.
Der Vers in 5. Mose bezieht sich auf die Zeit, da er »den Erstgeborenen wieder in den Erdkreis einführt«. Mit anderen Worten, er bezieht sich auf die Wiederkunft Christi. Zu dieser Zeit wird er öffentlich von den Engeln angebetet werden. Dies kann nur bedeuten, dass er Gott ist. Es wäre Götzendienst, jemand anders als den wahren Gott anzubeten. Und doch befiehlt Gott hier, dass der Herr Jesus von den »Engeln« angebetet werden soll. »Erstgeborener« kann »Erster im zeitlichen Sinne« (Lk 2,7) oder aber »Erster dem Rang bzw. der Ehre nach« (Ps 89,27) heißen. Die letztere Bedeutung hat das Wort an dieser Stelle und auch in Römer 8,29 sowie in Kolosser 1,15.18.
1,7 Im Gegensatz zu seinem bevorrechtigten Sohn macht Gott »seine Engel zu Winden … und seine Diener zu einer Feuerflamme«. Er ist der Schöpfer der Engel und kann ihnen befehlen. Sie gehorchen seinem Willen so schnell wie der »Wind« und mit glühendem Eifer wie »Feuer«.
1,8 Nun folgt eine große Anzahl an Herrlichkeiten, in denen der Sohn unvergleichlich ist. Als Erstes wird er von Gott als »Gott« bezeichnet. In Psalm 45,7 begrüßt der Vater den Messias mit den Worten: »Dein Thron, o Gott, ist in alle Ewigkeit.« Hier wird die Gottheit Christi wieder einmal unmissverständlich dargestellt, wobei das Argument aus dem überlieferten hebräischen Text stammt. (Es gibt in jedem Kapitel des Hebräerbriefes mindestens ein Zitat aus dem AT.) Er ist der ewige Herrscher, sein Thron währt »in alle Ewigkeit«. Ja, es gilt: »Jesus hat seine Herrschaft bestellt / bis an das Ende dieser Welt; / sein Königreich wird nicht vergeh’n, / solange sich die Sonnen dreh’n.«
Er ist der gerechte König. Der Psalmist spricht von dem »Zepter der Aufrichtigkeit«, was eine poetische Umschreibung der Tatsache ist, dass dieser König in absoluter Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit herrscht.
1,9 Seine persönliche Aufrichtigkeit zeigt sich anhand der Tatsache, dass er immer »Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehasst« hat. Das bezieht sich in erster Linie auf die 33 Jahre seines Lebens auf der Erde, in deren Verlauf das Auge Gottes keinen Makel an seinem Charakter und kein Versagen in seinem Verhalten entdecken konnte. Er hat sich für die Herrschaft als geeignet erwiesen. Wegen seiner persönlichen Vorzüge hat Gott ihn »mit Freudenöl vor« seinen »Gefährten« gesalbt. Das bedeutet, dass Gott Christus die überragende Stellung über alle Wesen gegeben hat. Das »Freudenöl« kann hier für den Heiligen Geist stehen, denn Christus war mehr als alle anderen mit dem Geist begabt (Joh 3,34). Seine »Gefährten« sind alle diejenigen, die sich mit ihm verbunden wissen, doch bedeutet der Ausdruck nicht, dass sie ihm gleich sind. Es könnte sein, dass hier auch die Engel eingeschlossen sind, doch wahrscheinlicher bezieht es sich auf seine jüdischen Glaubensbrüder.
1,10 Der Herr Jesus Christus ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Das zeigt sich in Psalm 102,26-28. In diesem Psalm  betet  der  Messias  (V. 25):  »Mein Gott, nimm mich nicht hinweg!« Dieses Gebet in Gethsemane und auf Golgatha wird von Gott dem Vater beantwortet: »Du, Herr, hast im Anfang die Erde gegründet, und die Himmel sind Werke deiner Hände.«
Man sollte festhalten, dass Gott hier in Vers 10 seinen Sohn als »Herrn«, d. h. als Jahwe, anspricht. Die Folgerung daraus ist unausweichlich: Der Jesus des NT ist der Jahwe des AT.
1,11.12 In den Versen 11 und 12 wird die Vergänglichkeit der Schöpfung der Ewigkeit des Schöpfers gegenübergestellt. Seine Werke »werden untergehen«, doch er selbst wird »bleiben«. Obwohl Sonne, Mond, Sterne, Berge, Seen, Meere und Flüsse dauerhaft erscheinen, sind sie doch in Wahrheit so gemacht, dass sie eines Tages vergehen. Der Psalmist vergleicht sie mit einem »Kleid«: Zunächst einmal wird es abgenutzt, dann wird es als unbrauchbar zusammengefaltet und schließlich wird es gegen ein besseres Gewand  gewechselt  werden  (vgl.  LU 1984 und Schl 2000; Anm. d. Übers.). Man schaue sich eine schneebedeckte Bergkette, einen herrlichen Sonnenuntergang oder den funkelnden Sternenhimmel an. Dabei sollte man sich die majestätischen Worte in Erinnerung rufen: »Wie einen Mantel wirst du sie zusammenrollen, und sie werden wie ein Kleid gewechselt werden. Du aber bist derselbe, und deine Jahre werden nicht aufhören.«
1,13 Ein weiteres Zitat (Ps 110,1) beweist die Überlegenheit des Sohnes. In diesem Psalm lädt Gott den Messias ein: »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege als Schemel deiner Füße.« Es wird die Frage gestellt: »Zu welchem Engel hat Gott je so gesprochen?« Die Antwort lautet natürlich: »Zu keinem«.
Zur »Rechten« Gottes zu sitzen, bedeutet, eine Stellung höchster Ehre und unbegrenzter Macht innezuhaben. Und wenn alle Feinde als »Schemel« der Füße eines Herrschers hingelegt worden sind, zeigt dies die allgemeine Unterwerfung dieser Feinde und die unumschränkte Macht über sie an.
1,14 Die Aufgabe der Engel ist es, nicht zu herrschen, sondern zu dienen. Sie sind Geistwesen, die Gott geschaffen hat »zum Dienst um derer willen, die das Heil erben sollen«.
Das kann man auf zwei verschiedene Arten verstehen: Zunächst dienen die Engel denen, die noch nicht bekehrt sind. Zweitens dienen sie denen, die von der Strafe und der Macht der Sünde errettet worden, aber noch nicht von der Gegenwart der Sünde befreit worden sind. Dies bedeutet, dass sie denjenigen Gläubigen dienen, die noch auf der Erde sind. Das bedeutet, dass sie »Schutzengel« sind. Warum sollten wir über eine solche Wahrheit überrascht sein? Es ist sicher, dass es böse Geister gibt, die ständig gegen die Erwählten Gottes Krieg führen (Eph 6,12). Ist es da verwunderlich, dass es auch heilige Engel gibt, die über diejenigen wachen, die zum »Heil« berufen sind?
Doch wir müssen zur Hauptsache dieses Abschnitts zurückkehren – nicht zu den Schutzengeln, sondern zu der Tatsache, dass Engel niedriger sind als der Sohn Gottes, so wie Diener niedriger sind als der Herrscher.
2,1 Der Autor hat soeben seine Argumentationen beendet, dass Christus weitaus besser ist als die Engel, weil er der Sohn Gottes ist. Ehe er nun zeigt, dass er auch als Menschensohn überlegen ist, hält er einen Augenblick inne, um die erste von einigen ernsten Warnungen zu äußern, die wir in diesem Brief finden. Es handelt sich um eine Warnung vor dem »Vorbeigleiten« am Ziel der Botschaft des Evangeliums.
Weil der Geber und seine Gabe so groß sind, müssen diejenigen, die das Evangelium hören, ganz besonders darauf »achten«. Es gibt immer die Gefahr, an der Person vorbeizugleiten und in einen Gottesdienst zurückzufallen, der von Sinnbildern und Schatten geprägt ist. Das bedeutet, in den Abfall abzugleiten – die Sünde, die nicht vergeben werden kann.
2,2 Wir haben schon erwähnt, dass die Juden dem Dienst der Engel in ihrer Geschichte besondere Bedeutung zu maßen. Eines der entsprechenden Haupt ereignisse war sicherlich die Gesetz gebung, als Myriaden von Engelwesen  anwesend  waren  (5. Mose  33,2; Ps 68,18). Es stimmt, dass das Gesetz »durch Engel verkündet« worden ist. Und dieses Gesetz galt. Es stimmt auch, dass jede kleine Abweichung entsprechend gea hndet wurde. Dies muss man durchaus zug eben.
2,3 Doch nun wird vom Geringeren auf das Größere geschlossen. Wenn diejenigen, die das Gesetz brachen, bestraft wurden, welches Schicksal erwartet dann diejenigen, die das Evangelium »missachten«? Das Gesetz sagt den Menschen, was sie tun müssen; das Evangelium dagegen sagt ihnen, was Gott getan hat. Durch das Gesetz kam die Erkenntnis der Sünde, durch das Evangelium kam die Erkenntnis der »Errettung«.
»Eine so große Errettung« zu missachten, ist eine schlimmere Sünde als die Übertretung des Gesetzes. Das Gesetz wurde von Gott durch Engel an Mose und dann an das Volk weitergegeben. Doch das Evangelium wurde direkt von unserem Herrn Jesus selbst verkündigt. Und nicht nur das, sondern es wurde den ersten Christen durch die Apostel und von anderen »bestätigt«, die den Heiland »gehört« hatten.
2,4 Gott selbst hat die Botschaft »durch Zeichen und Wunder und mancherlei Machttaten und Austeilungen des Heiligen Geistes« bestätigt. »Zeichen« waren die Wunder des Herrn und der Apostel, die geistliche Wahrheiten verdeutlichen sollten. Zum Beispiel war die Speisung der Fünftausend (Joh 6,1-14) die Einleitung zur Predigt vom Brot des Lebens, die dann folgte (Joh 6,25-59). »Wunder« waren übernatürlich vollbrachte Werke, die großes Staunen in den Beobachtern hervorrufen sollten, wie es die Auferweckung des Lazarus zeigt (Joh 11,1-44). »Machttaten« waren Offenbarungen übernatürlicher Kräfte, die die Naturgesetze überwanden. »Austeilungen des Heiligen Geistes« waren besondere Befähigungen, die den Menschen gegeben wurden, damit sie auf eine Art und Weise reden und handeln konnten, die völlig über ihre natürlichen Fähigk eiten hinausging.
Der Zweck all dieser Wunder war es, die Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen, und zwar insbesondere dem jüdischen Volk, das traditionellerweise erst Zeichen sehen wollte, ehe es glaubte. Es gibt einige Hinweise darauf, dass die Notwendigkeit für bestätigende Wunder aufhörte, als das NT in schriftlicher Form vorlag. Doch es ist unmöglich, schlüssig zu beweisen, dass der Heilige Geist diese Wunder in anderen Zeitaltern niemals wiederholt.
Die Worte »nach seinem Willen« zeigen an, dass der Geist die Wundergaben so austeilt, wie es ihm gefällt. Sie sind Gaben Gottes, zu denen er nicht verpflichtet ist. Menschen dürfen sie nicht von ihm verlangen oder als Antwort auf Gebet einfordern, weil Gott sie niemals allen verh eißen hat.
2,5 Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass Christus als Sohn Gottes den Engeln überlegen ist. Nun wird gezeigt, dass er auch als Menschensohn überlegen ist. Es wird uns im Folgenden helfen, den Gedankengang zu verfolgen, wenn wir uns daran erinnern, dass nach jüdischer Auffassung der Gedanke an die Fleischwerdung unglaublich ist und die Tatsache seiner Erniedrigung eine Schande für sie darstellte. Für die Juden war Jesus nur ein Mensch und gehörte deshalb zu einer niedrigeren Ordnung als die Engel. Die folgenden Verse beweisen, dass Jesus sogar als Mensch den Engeln überlegen war. Zunächst wird darauf hingewiesen, was Gott bestimmt hat: Demzufolge soll der bewohnte »Erdkreis« in Zukunft nicht unter der Herrschaft der Engel stehen. Mit dem »zukünftigen Erdkreis« ist hier das goldene Zeitalter des Friedens und des Reichtums gemeint, das die Propheten so oft erwähnt haben. Wir nennen es das Tausendjährige Reich.
2,6 Hier wird Psalm 8,5-7 zitiert, um zu zeigen, dass die endgültige Herrschaft über die Erde den Menschen und nicht den Engeln gegeben ist. In gewissem Sinne ist der Mensch unbedeutend, und doch »gedenkt« Gott seiner. Er ist in gewissem Sinne unwichtig, doch Gott »achtet … auf ihn«.
2,7 Von seiner Stellung her ist der Mensch in der Schöpfung »niedriger« als die Engel. Er ist beschränkter, und zwar in seinem Wissen, seiner Bewegungsfähigkeit und in seiner Macht. Und er ist dem Tod unterworfen. Und doch ist der Mensch nach den Plänen Gottes dazu bestimmt, »mit Herrlichkeit und Ehre … gekrönt« zu werden. Die Beschränkungen seines Leibes und seines Geistes werden größtenteils beseitigt werden, und er wird auf der Erde erhöht werden.
2,8 Eines Tages wird »alles unter« die Autorität des Menschen gestellt werden – die Heerscharen der Engel, die Tierwelt, Vögel, Fische, die Sterne – ja, jedes Teil des geschaffenen Universums wird einst »unter« seiner Herrschaft stehen. Das war Gottes ursprüngliche Absicht für den Menschen. Er hatte ihm z. B. geboten: »Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt die Erde, und macht sie euch untertan; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen« (1. Mose 1,28). Warum »sehen« wir dann aber nicht, dass ihm »alles unterworfen« ist? Die Antwort lautet, dass der Mensch seine Herrschaft durch die Sünde verloren hat. Die Sünde Adams brachte den Fluch über die Schöpfung. Friedliche Tiere wurden gefährlich. Der Boden fing an, Dornen und Disteln zu tragen. Die Kontrolle des Menschen über die Natur wurde eingeschränkt.
2,9 Doch wenn der Sohn des Menschen wiederkehrt, um über die Erde zu herrschen, dann wird die Herrschaft des Menschen wiederhergestellt. Jesus als Mensch wird wiederbringen, was Adam verloren hat, und noch darüber hinaus gehen. So sehen wir zwar zur Zeit nicht, dass alles unter der Herrschaft des Menschen steht, aber »wir sehen Jesus«, und in ihm finden wir den Schlüssel zur endgültigen Herrschaft des Menschen über die Erde.
Für eine kleine Weile wurde Jesus »unter die Engel erniedrigt«, insbesondere in den 33 Jahren seines irdischen Dienstes. Er stieg vom Himmel nach Bethlehem hinab, ging nach Gethsemane, Gabbata, Golgatha und schließlich ins Grab – man beachte die Stufen seiner Demütigung. Doch jetzt ist er »mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt«. Seine Erhöhung ist das Ergebnis seines Leidens und Todes, das Kreuz führte ihn zur Krone. Gottes gnadenreicher Plan war es, dass Christus »für jeden den Tod schmeckte«. Der Heiland starb als unser Stellvertreter, d. h. er starb als Mensch und für die Menschen. Am Kreuz trug er an seinem Leib das ganze Gericht Gottes über die Sünde, damit diejenigen, die an ihn glauben, es niemals erdulden müssen.
2,10 Es entsprach völlig dem gerechten Charakter Gottes, dass er die Herrschaft des Menschen durch die Erniedrigung des Heilands wiederhergestellt hat. Die Sünde hatte Gottes Ordnung zerstört. Doch ehe das Chaos wieder in Ordnung gebracht werden konnte, musste die Sünde gerecht gerichtet werden. Es entsprach dem heiligen Charakter Gottes, dass Christus leiden und sterben musste, um die Sünde hinwegzutun. Der weise Planer wird hier beschrieben als der Eine, »um dessentwillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind«. Zunächst einmal ist er das Ziel aller Schöpfung, und alles wurde zu seiner Ehre und zu seiner Freude gemacht. Doch er ist auch der Schöpfer, nichts wurde ohne ihn gemacht. Sein großes Ziel bestand darin, »viele Söhne zur Herrlichkeit« zu führen. Wenn wir unsere eigene Wertlosigkeit bedenken, dann sind wir erstaunt angesichts der Vorstellung, dass er sich auch nur im Geringsten mit uns abgibt. Doch weil er der Gott aller Gnade ist, hat er uns zu seiner ewigen Herrlichkeit berufen. Was waren die Kosten unserer Verherrlichung? Der »Urheber« unserer »Errettung« musste »durch Leiden vollkommen« gemacht werden. Soweit es um seinen moralischen Charakter geht, war der Herr Jesus schon immer sündlos und vollkommen. In diesem Sinne konnte er nicht vollkommen gemacht werden. Doch er musste noch als unser Heiland vollkommen gemacht werden. Um die ewige Erlösung für uns zu erreichen, musste er die Strafe tragen, die unsere Sünde verdiente. Wir konnten durch sein makelloses Leben nicht erlöst werden, deshalb war sein stellvertretender Tod eine absolute Notwendigkeit.
Gott hat einen Weg zu unserer Errettung gefunden, der seiner selbst würdig war. Er sandte seinen eingeborenen Sohn, um an unserer Stelle zu sterben.
2,11 Die nächsten drei Verse betonen die Vollkommenheit des Menschseins Jesu. Wenn Jesus die Herrschaft wiedererlangen wollte, die Adam verloren hatte, dann musste unter Beweis gestellt werden, dass er der wahre Mensch ist. Zunächst einmal wird eine Tatsache festgestellt: »Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem«. Dies bedeutet, dass sie alle zur Menschheit gehören. Oder, wie eine englische Übersetzung sagt, sie haben »alle einen Ursprung«, was etwa heißt, dass sie in ihrem Menschsein alle einen Gott und Vater haben. Christus ist derjenige, »welcher heiligt«,  d. h.  er  sondert  Menschen  aus  der Welt für Gott ab. Glückselig sind alle, die so abgesondert sind!
Ein Geheiligter oder etwas Geheiligtes ist von seinem normalen Gebrauch ausgeschlossen und soll nun Gott allein gehören, damit er es gebrauchen und sich darüber freuen kann. Das Gegenteil von Heiligung ist Entweihung. Es gibt vier Arten der Heiligung in der Bibel: Heiligung vor der Bekehrung, stellungsmäßige Heiligung, praktische Heiligung und vollständige Heiligung. Diese Arten der Heiligung werden ausführlich in dem Exkurs zu 1. Thessalonicher 5,23 beschrieben, der intensiv durchgearbeitet werden sollte.
Der Leser sollte auf die verschiedenen Abschnitte im Hebräerbrief achten, in denen die Heiligung erwähnt wird, und versuchen zu bestimmen, um welche Art der Heiligung es sich jeweils handelt. Weil Christus wirklich Mensch wurde, »schämt er sich nicht«, seine Jünger »Brüder zu nennen«. Ist es möglich, dass der ewige Herrscher des Universums Mensch wurde und sich so sehr mit seinen Geschöpfen identifizierte, dass er sie »Brüder nennen« konnte?
2,12 Die Antwort findet sich in Psalm 22,23. Dort hören wir ihn sagen: »Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern.« Derselbe Vers zeigt ihn auch, wie er sich mit seinem Volk in gemeinsamer Anbetung eins macht: »Inmitten der Gemeinde will ich dir lobsingen.« In seiner Todesqual erwartete er den Tag, an dem er den Lobgesang der Erlösten anstimmen wird, wenn sie Gott den Vater preisen werden.
2,13 Zwei weitere Verse werden aus dem AT zitiert, um das Menschsein Christi zu beweisen. In Jesaja 8,17 (Septuaginta) spricht der Messias davon, dass er sein »Vertrauen« auf Gott setzt. Vertrauen auf Jahwe ist eines der deutlichsten Zeichen wahren Menschseins. Dann wird in Jesaja 8,18 der Herr zitiert, wie er sagt: »Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat.« Es geht darum, dass sie Glieder einer Familie sind und einen gemeinsamen Vater anerkennen.
2,14 Diejenigen, die die Demütigung des Menschensohns für eine Schande halten, werden nun aufgefordert, über vier wichtige Segnungen nachzudenken, die seine Leiden erwirkt haben. Die erste ist die Vernichtung Satans. Wie geschah sie? Als Gott seine Kinder Christus gab, um sie zu heiligen, zu erretten und aus den Klauen Satans zu reißen, erfolgte dies auf besondere Weise. Weil diese Kinder menschlicher Natur waren, nahm der Herr Jesus einen Leib aus Fleisch und Blut an. Er legte die äußeren Zeichen seiner Göttlichkeit beiseite und verhüllte seine Gottheit in einem »irdenen Mantel«.
Doch er beschränkte sich nicht auf Bethlehem. »Er hat mich so geliebt, / er hat mich so geliebt, / er ging bis hin nach Golgatha, / weil er mich so geliebt«, heißt es in einem Lied.
»Durch« seinen »Tod« hat er den vernichtet, »der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel«. Mit Vernichtung ist hier der Verlust des Wohlergehens und nicht der Verlust des Seins (im Sinne von Auslöschung) gemeint. Das Wort bedeutet so viel wie »zunichtemachen«. Satan versucht immer noch, Gottes Pläne mit dieser Welt zu vereiteln, doch ihm ist am Kreuz die Todeswunde bereits geschlagen worden. Seine Zeit ist kurz und seine endgültige Bestimmung gewiss. Er ist schon besiegt.
In welchem Sinne hat Satan nun »die Macht des Todes«? Wahrscheinlich hauptsächlich dahin gehend, dass seine Macht darin besteht, den Tod fordern zu dürfen. Durch Satan kam die Sünde in die Welt. Gottes Heiligkeit beschloss den Tod aller Sünder. In seiner Rolle als Ankläger kann der Teufel verlangen, dass die Strafe vollzogen wird.
In den heidnischen Ländern kann man die Macht Satans auch an den Fähigkeiten seiner Knechte, der Zauberer und Schamanen, sehen, die einen Fluch gegenüber einem Menschen aussprechen können, woraufhin der Betreffende ohne natürliche Ursache stirbt. Die Vorstellung, dass Satan einen Gläubigen ohne Zulassung Gottes mit dem Tod strafen kann, gibt es in der Schrift nicht (Hiob 2,6). Deshalb kann er den Todeszeitpunkt eines Gläubigen nicht bestimmen. Es ist ihm manchmal erlaubt, einen Gläubigen durch gottlose Menschen umzubringen. Doch Jesus sagte seinen Jüngern, dass sie nicht diejenigen fürchten sollten, die den Leib zerstören können. Vielmehr sollten sie Gott fürchten, der sowohl Leib als auch Seele in der Hölle verderben kann (Matth 10,28). Im AT kamen Henoch und Elia in den Himmel, ohne vorher gestorben zu sein. Sie waren gläubig, deshalb wurde ihnen der Tod Christi angerechnet, auch wenn dieses Geschehen zu dem betreffenden Zeit noch in der Zukunft lag. Wenn Christus bei der Entrückung wiederkommt, werden alle dann lebenden Gläubigen in den Himmel aufgenommen werden, ohne durch den Tod gehen zu müssen. Auch für sie gilt, dass sie nicht sterben brauchen, weil den Forderungen der Heiligkeit Gottes durch den Tod Christi volle Genüge getan wurde. Der auferstandene Christus hat nun »die Schlüssel des Todes und des Hades« (Offb  1,18),  d. h.  er  hat  völlige Autorität über sie.
2,15 Die zweite Segnung, die aus der Erniedrigung Christi resultiert, ist die Befreiung von »Todesfurcht«. Vor dem Kreuz hielt die »Todesfurcht« die Menschen in lebenslanger Knechtschaft. Obwohl es im AT gelegentliche Einblicke über das Leben nach dem Tod gibt, wird der allgemeine Eindruck von Unsicherheit, Schrecken und Finsternis erweckt. Was damals nur andeutungsweise bekannt war, ist nun eindeutig, weil Christus Leben und Unvergänglichkeit durch das Evangelium ans Licht gebracht hat (2. Tim 1,10).
2,16 Die dritte überragende Segnung ist die Ausrottung der Sünde. Indem unser Herr auf diese Welt kam, hat er sich »nicht der Engel« angenommen, »sondern der Nachkommenschaft Abrahams«. »… nimmt er sich an« ist eine Übersetzung von epilambano, »ergreifen«. Während das Verb hier nicht die Vorstellung eines gewaltsamen Ergreifens beinhaltet, wie das an anderen Stellen der Fall ist, so enthält es doch die Vorstellung von Hilfe und Befreiung. »Nachkommenschaft Abrahams« kann sich auf Abrahams leibliche Nachkommen beziehen, nämlich auf die Juden. Damit können aber auch seine geistlichen Nachkommen – die Gläubigen jedes Zeitalters – gemeint sein. Wichtig ist hier, dass es sich um Menschen handelt, nicht um Engelwesen.
2,17 Weil das so ist, war es notwendig, dass »er in allem den Brüdern gleich werden« musste. Er wurde voll und ganz Mensch. Er wurde menschlichen Bedürfnissen, Gedanken und Gefühlen unterworfen – mit einer bedeutsamen Ausnahme: Er war ohne Sünde. Sein Menschsein war das Ideal, während unsere Stellung als Menschen von einem fremden Element verunstaltet ist – nämlich von der Sünde.
Sein vollkommenes Menschsein ermöglicht es ihm, »barmherzig und ein treuer Hoherpriester vor Gott« zu sein. Er kann »barmherzig« zu den Menschen und gleichzeitig »Gott« »treu« sein. Seine Hauptaufgabe als »Hoherpriester« besteht darin, »die Sünden des Volkes zu sühnen«. Um das zu erreichen, tat er, was kein anderer Hoherpriester je tun konnte – er brachte sich selbst als sündloses Opfer dar. Er starb bereitwillig an unserer Stelle.
2,18 Die vierte Segnung ist Hilfe für die Menschen, »die versucht werden«. Weil »er selbst gelitten hat« und »versucht worden ist, kann er denen helfen«, die gerade Versuchung erleiden. Er kann anderen helfen, Versuchung durchzustehen, weil er sie selbst schon durchlebt hat. Hier müssen wir wieder eine Einschränkung machen. Der Herr Jesus wurde von außen »versucht«, niemals jedoch von innen. Die Versuchung in der Wüste zeigt, wie er von außen versucht wurde. Satan erschien ihm und wollte ihn durch äußere Reize verführen. Doch der Heiland konnte nie von inneren Begierden und Leidenschaften versucht werden, denn in ihm war keine Sünde und nichts, was auf Sünde hätte ansprechen können. Er litt, »als er versucht worden ist«. Während es uns schmerzt, der Versuchung zu widerstehen, litt er Schmerzen, als er versucht wurde. C. Christus ist Mose und Josua überlegen (3,1 – 4,13)
3,1 Mose gilt neben Abraham und David als der Nationalheld Israels. Deshalb zeigt der Verfasser in einem dritten Schritt, dass Christus Mose unendlich überlegen ist. Die Botschaft ist an die »heiligen Brüder, Teilhaber der himmlischen Berufung«, gerichtet. Alle wahren Gläubigen sind von ihrer Stellung her »heilig«, wobei sie in ihrem praktischen Leben ebenso heilig sein sollten. Da sie in Christus schon heilig sind, sollten sie von sich aus nun heilig sein.
Ihre »himmlische Berufung« steht im Gegensatz zur irdischen Berufung Israels. Die Heiligen des AT waren zu materiellem Segen im verheißenen Land berufen (obwohl sie ebenfalls eine himmlische Hoffnung hatten). Im Zeitalter der Gemeinde sind Gläubige zu geistlichen Segnungen in der Himmelswelt und zu einem himmlischen Erbe in der Zukunft berufen.
»Betrachtet« Jesus. Er ist unserer Betrachtung unendlich wert, nämlich als »Apostel und Hoherpriester unseres Bekenntnisses«. Wenn wir ihn als »Apostel« bekennen, dann meinen wir damit, dass er uns gegenüber in göttlicher Vollmacht handelt. Wenn wir ihn als »Hohenpriester« bekennen, so handelt er uns gegenüber in seiner hohenpriesterlichen Stellung vor Gott.
3,2 Es gibt einen Aspekt, hinsichtlich dessen Christus zugegebenerweise Mose ähnlich ist. Er war Gott »treu« »wie auch Mose in« Gottes »ganzem Hause«. Das »Haus« umfasst hier nicht nur das Heiligtum, sondern den gesamten Bereich, in dem Mose die Interessen Gottes vertrat. Es geht um das »Haus« Israel, Gottes irdisches Volk von alters her.
3,3 Doch hier enden die Ähnlichkeiten auch schon. In jeder anderen Hinsicht ist Christus zweifellos überlegen. Zuerst ist der Herr Jesus »größerer Herrlichkeit gewürdigt worden als Mose«, weil der Erbauer des Hauses »größere Ehre als das Haus« selbst hat. Der Herr Jesus war der Erbauer des Hauses Gottes, Mose dagegen war nur ein Teil dieses Hauses.
3,4 Zweitens ist Jesus größer, weil er Gott ist. »Denn jedes Haus« muss einen Erbauer haben. »Der aber alles erbaut hat, ist Gott.« Aus Johannes 1,3; Kolosser 1,16 und Hebräer 1,2.10 erfahren wir, dass der Herr Jesus derjenige war, der alles geschaffen hat. Die Folgerung daraus ist unausweichlich: Jesus Christus ist Gott.
3,5 Der dritte Punkt lautet, dass Christus höher ist, weil er Sohn ist. »Mose« war nur »als Diener« über Gottes Haus »treu« (4. Mose 12,7) und wies die Menschen auf den kommenden Messias hin. Er zeugte »von dem, was verkündigt werden sollte«, d. h. von der guten Nachricht der Erlösung in Christus. Deshalb sagte Jesus einmal: »Denn wenn ihr Mose glaubtet, so würdet ihr mir glauben, denn er hat von mir geschrieben« (Joh 5,46). In seinem Gespräch mit den Emmausjüngern begann Jesus bei Mose und allen Propheten und »erklärte ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf« (Lk 24,27).
3,6 »Christus aber« war über Gottes Haus »als Sohn« treu, nicht als Diener, und in seinem Fall bedeutet Sohnschaft Stellungsgleichheit mit Gott. Gottes Haus war »sein Haus«.
Hier erklärt der Verfasser, was mit Gottes »Haus« heute gemeint ist. Es besteht aus allen wirklich an den Herrn Jesus Gläubigen: »Sein Haus sind wir, wenn wir die Freimütigkeit und den Ruhm der Hoffnung bis zum Ende standhaft festhalten.«1 Zunächst scheint das zu bedeuten, dass unser Heil davon abhängt, dass wir festhalten. In diesem Fall wäre die Erlösung durch unser Ausharren erwirkt, nicht durch das vollendete Werk Christi am Kreuz. Entsprechend der wirklichen Bedeutung dieser Aussage beweisen wir jedoch, dass wir Gottes Haus sind, wenn wir das Genannte festhalten. Festhalten ist ein Beweis für echten Glauben. Diejenigen, die ihr Vertrauen auf Christus und seine Verheißungen verlieren und zu den Ritualen und Zeremonien zurückkehren, zeigen, dass sie niemals wiedergeboren worden sind. Gegen solch einen Abfall ist die folgende Warnung gerichtet.
3,7 An diesem Punkt fügt der Verfasser seine zweite Warnung in diesem Brief ein – eine Warnung vor der Verhärtung der Herzen. Das geschah mit Israel in der Wüste und könnte auch wieder geschehen. Durch Psalm 95,7-11 spricht der »Heilige Geist« deshalb noch immer, wie er es schon tat, als er diese Sätze inspiriert hat: »Heute, wenn ihr seine Stimme hört.«
3,8 Wann immer Gott spricht, sollten wir zum Hören bereit sein. Wenn wir sein Wort anzweifeln, nennen wir ihn einen Lügner und ziehen uns seinen Zorn zu. Genau das war die Geschichte der Israeliten »in der Wüste«. Es ist ein Bericht, der traurigerweise immer wieder das Gleiche enthält: Klagen, Murren, Begierden, Götzendienst, Unglaube und Auflehnung. In Refidim z. B. beklagten sie sich, weil sie kein Wasser hatten. Sie zweifelten an Gottes Gegenwart in ihrer Mitte (2. Mose 17,1-17). In der Wüste Paran entschied sich das Volk, nach Ägypten, dem Land  ihrer  Knechtschaft  (4. Mose  14,4), zurückzukehren, als die ungläubigen Kundschafter mit falschen, entmutigenden Berichten zurückkamen und Zweifel unter dem Volk säten (4. Mose 13,25-29).
3,9 Gott war sehr zornig und beschloss, dass das Volk noch vierzig Jahre in der Wüste wandern sollte (4. Mose 14,33.34). Von allen Wehrtüchtigen, die aus Ägypten ausgewandert und zwanzig Jahre alt oder darüber waren, würden nur zwei ins Land Kanaan kommen, nämlich Kaleb und Josua (4. Mose 14,28-30). Es gibt eine bedeutsame Parallele: So wie Israel vierzig Jahre in der Wüste verbracht hat, handelte der Geist Gottes nach dem Tod Christi etwa 40 Jahre an Israel. Das Volk hatte jedoch sein Herz gegenüber der Botschaft Christi verhärtet. Im Jahr 70 n. Chr. wurde Jerusalem zerstört und das Volk unter die Heiden zerstreut.
3,10 Gottes offensichtliches Missfallen an den Israeliten in der Wüste brachte diese harte Verurteilung mit sich. Er klagte sie an, immer wieder von ihm abzuweichen und willentlich seine »Wege« zu missachten.
3,11 In seinem »Zorn … schwor« Gott, dass sie »nimmermehr in« seine »Ruhe eingehen« sollten. Dies bedeutet, dass sie das Land Kanaan nie erreichen würden.
3,12 Die Verse 12-15 beschreiben die Lehre, die der Heilige Geist aus dieser Erfahrung Israels zieht. Wie auch an anderen Stellen im Hebräerbrief werden die Leser als »Brüder« angesprochen. Das bedeutet nicht, dass sie alle echte Christen waren. Deshalb gilt die Warnung insbesondere allen, die vorgeben, Christen zu sein. Sie sollten sich fortwährend vor einem »bösen Herzen des Unglaubens« hüten, das sie dazu bringen könnte, »vom lebendigen Gott« abzufallen. Das ist eine ständige Gefahr.
3,13 Ein Gegenmittel besteht darin, sich jederzeit gegenseitig zu ermahnen. Besonders in schwierigen und notvollen Zeiten sollte Gottes Volk »jeden Tag« einander ermahnen, Christus nicht aufzugeben, um sich Religionen zuzuwenden, die keine Lösung für unser Sündenproblem bieten.
Man beachte, dass die Aufgabe der Ermahnung sich nicht auf eine Klasse von sogenannten »Geistlichen« beschränkt, sondern die Pflicht aller Geschwister ist. Wir sollen »solange« ermahnen, wie »es heute  heißt«,  d. h.  solange  Gottes  Rettungsangebot durch den Glauben besteht. »Heute« ist die wohlangenehme Zeit, heute »ist der Tag des Heils« (vgl. 2. Kor 6,2; Anm. d. Übers.). Wer abfällt, wird »durch Betrug der Sünde« »verhärtet«. Sünde sieht, bevor man sie begeht, sehr attraktiv aus. An dieser Stelle bietet sie scheinbar einen Ausweg aus der Schmach Christi, herabgesetzte Maßstäbe hinsichtlich der Heiligung, Rituale, die aufgrund ihrer beeindruckenden Erscheinung die Sinne der Betreffenden ansprechen, und die Verheißung eines irdischen Gewinns. Doch in der Rückschau zeigen sich stets die verheerenden Folgen der Sünde. Sie lässt den Menschen ohne Sündenvergebung, ohne Hoffnung über den Tod hinaus und sogar ohne die Möglichkeit der Buße zurück.
3,14 Und wieder werden wir daran erinnert, dass wir »Teilhaber des Christus geworden« sind, »wenn wir die anfängliche Zuversicht bis zum Ende standhaft festhalten«. Verse wie diese werden oft missbraucht, um zu lehren, dass man errettet und dann wieder verlorengehen kann. Doch eine solche Auslegung ist unmöglich, weil das überwältigende Zeugnis der Bibel lautet, dass die Errettung durch Gottes Gnade dem Sünder be dingungslos zugeeignet wird. Sie wurde durch Christi Blut erkauft, wird durch den Glauben des Menschen empfangen und zeigt sich in guten Werken des Betreffenden. Wahrer Glaube zeichnet sich immer durch Beständigkeit aus. Wir halten nicht fest, um unsere Erlösung zu bewahren, sondern das Festhalten ist ein Beweis dafür, dass wir wirklich errettet sind. Der Glaube ist die Wurzel der Er rettung, das Aus harren ist ihre Frucht. Wer ist ein »Teilhaber des Christus«? Die Antwort lautet: »Diejenigen, die durch ihre Standhaftigkeit im Glauben be weisen, dass sie ihm wirklich gehören.«
3,15 Nun zeigt der Autor die persönliche Schlussfolgerung und Anwendung der traurigen Erfahrung des Volkes Israel, indem er die Worte von Psalm 95,7.8 wiederholt: »Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht wie in der Erbitterung.« Dieser erschütternde Aufruf, der einst an Israel gerichtet war, gilt nun denjenigen, die versucht sein mögen, das Evangelium zu verlassen und zum Gesetz zurückzukehren.
3,16 Das Kapitel schließt mit einer historischen Auslegung im Blick auf den Abfall Israels. In einer Folge von drei Fragen und Antworten zeigt der Autor, wie Israel rebelliert und Gott herausgefordert hat, worauf die Reaktion Gottes folgt. Danach führt er die Schlussfolgerung aus diesen Fragen und Antworten an. Rebellion. Die Rebellen waren »alle, die durch Mose von Ägypten ausgezogen waren«. Kaleb und Josua waren die einzigen Ausnahmen.
3,17 Herausforderung. Es waren dieselben Aufrührer, die Gott »vierzig Jahre« lang herausgefordert und zum Zorn gereizt hatten. Es handelte sich um etwa 600 000  Menschen  (wenn  man  nur  die Männer ab dem 20. Lebensjahr berücksichtigt und deren Frauen außer Acht lässt; Anm. d. Übers.), und nach den vierzig  Jahren  gab  es  in  der  Wüste  600 000 Gräber.
3,18 Reaktion. Es waren dieselben, die nun durch ihren Unglauben aus dem Land Kanaan ausgeschlossen wurden. Die einfache Nennung dieser Fragen und Antworten sollte einen bleibenden Einfluss auf alle haben, die versucht sein mögen, die verachtete Minderheit wahrer Christen um der großen Mehrheit von Menschen willen zu verlassen, die der äußeren Form nach religiös sind, aber die Kraft der Gottseligkeit verleugnen. Hat die Mehrheit immer recht? In diesem Kapitel der Geschichte Israels traf dies nur auf zwei Menschen zu, während sich über eine halbe Million Menschen im Irrtum befanden!
A. T. Pierson betont folgendermaßen, wie schwer die Sünde Israels war: Ihr Unglaube war eine vierfache Provokation:
1. Er war ein Angriff auf die Wahrheit Gottes und stempelte ihn zum Lügner.
2. Er war ein Angriff auf Gottes Macht, denn der Unglaube hielt ihn für schwach und nicht imstande, das Volk in das verheißene Land zu bringen.
3. Er war ein Angriff auf seine Unwandelbarkeit. Obwohl die Angehörigen des Volkes dies nicht ausdrücklich sagten, zeigte nämlich ihr Handeln, dass sie Gott für wankelmütig hielten. Sie waren der Meinung, dass er nicht mehr die Wunder tun könne, die er einst vollbracht hatte. 4. Er war auch ein Angriff auf seine väterliche Treue. Sie erweckten den Eindruck, als rufe er Erwartungen wach, die er dann nicht einzulösen bereit wäre.2
Kaleb und Josua dagegen ehrten Gott, indem sie sein Wort für absolut wahr hielten. Für sie waren seine Macht unendlich groß, seine Vorhaben unveränderlich gnädig und seine Treue so groß, dass er niemals eine Hoffnung wecken würde, die er nicht erfüllen könnte.
3,19 Schlussfolgerung. Es war »Unglaube«, der die aufrührerischen Kinder Israel nicht in das verheißene Land kommen ließ, und es ist ebenfalls »Unglaube«, der in jedem Zeitalter den Menschen von Gottes Erbe ausschließt. Die Folgerung daraus ist eindeutig: Man soll sich vor einem bösen Herzen »des Unglaubens« hüten.
4,1 Die folgenden Verse stellen einen der schwierigsten Abschnitte des ganzen Briefes dar. Es gibt wenig Einigkeit unter den Auslegern, wie hier der genaue Argumentationsgang ist, obwohl die allgemeine Lehre dieses Abschnittes recht eindeutig ist.
Das Thema von 4,1-13 ist die Ruhe Gottes und die Notwendigkeit des Eifers, um sie zu erlangen. Es wird uns hilfreich sein, wenn wir am Anfang verschiedene Arten von Ruhe untersuchen, die in der Bibel erwähnt werden:
1. Gott ruhte nach dem sechsten Tag der Schöpfung  (1. Mose  2,2).  Diese  Ruhe war kein Zeichen der Müdigkeit nach schwerer Arbeit, sondern des Wohlgefallens über das Werk, das er vollendet hatte. Es war die Ruhe angesichts der Tatsache, dass er mit seinem Werk völlig  zufrieden  war  (1. Mose  1,31). Gottes Ruhe wurde durch den Einbruch der Sünde in diese Welt unterbrochen. Seit dieser Zeit ist er unaufhörlich am Werk gewesen. Jesus sagte dazu: »Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke« (Joh 5,17).
2. Kanaan sollte das Land der Ruhe für die Kinder Israel werden. Die meisten von ihnen kamen nie in das Land, und diejenigen, die es erreichten, fanden die Ruhe nicht, die Gott für sie vorgesehen hatte. Kanaan wird hier als Bild für Gottes endgültige, ewige Ruhe gesehen. Viele derer, die Kanaan nicht erreichten  (z. B.  Korach,  Datan  und Abiram) stehen für die heutigen Abgefallenen, die Gottes Ruhe wegen ihres Unglaubens nicht erreichen. 3. Die Gläubigen heute erfreuen sich der Ruhe des Gewissens, weil sie wissen, dass die Strafe für ihre Sünden durch das vollendete Werk Christi schon getragen worden ist. Dies ist die Ruhe, die der Heiland verheißen hat: »Kommt her zu mir … ich werde euch Ruhe geben« (Matth 11,28). 4. Der Gläubige genießt auch Ruhe im Dienst für den Herrn. Während die oben genannte Ruhe die Ruhe der Erlösung ist, handelt es sich hier um eine Ruhe des Dienstes: »Nehmt auf euch mein Joch, und lernt von mir, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen« (Matth 11,29).
5. Schließlich gibt es dann noch die ewige Ruhe, die den Gläubigen im Vaterhaus erwartet. Dies ist die zukünftige Ruhe, die auch Sabbatruhe genannt wird (Hebr 4,9), die endgültige Ruhe, hinsichtlich derer die anderen Arten der Ruhe Vorbilder bzw. ein Vorgeschmack sind. Diese Ruhe ist hier das Hauptthema (Hebr 4,1-13). Niemand sollte denken, dass die Verheißung der »Ruhe« nicht mehr gilt. Sie hat in der Vergangenheit noch keine vollkommene und endgültige Erfüllung gefunden, deshalb »steht« diese Verheißung noch »aus«.
Doch alle, die sich Christen nennen, sollten sicher sein, dass sie nicht »als zurückgeblieben erscheinen«, weil sie dann das Ziel verfehlen. Wenn ihr Bekenntnis ohne echte Grundlage ist, dann stehen sie immer in der Gefahr, sich von Christus abzuwenden und wieder ebenjenem religiösen System zu verfallen, das keine Erlösungsmacht hat.
4,2 »Uns ist eine frohe Botschaft verkündigt worden« – die gute Nachricht vom ewigen Leben durch den Glauben an Christus. Die Israeliten hatten ebenfalls eine gute Nachricht gehört – die gute Nachricht von der Ruhe im Lande Kanaan. Doch sie haben aus dem »Evangelium der Ruhe« keinen Nutzen gezogen. Es gibt zwei mögliche Erklärungen für ihr Versagen, je nachdem, welche Lesart der Manuskripte wir für Vers 2 annehmen. Nach ER ist ihr Versagen darin begründet, dass die Botschaft »bei denen, die« sie »hörten, sich nicht mit dem Glauben verband«. Mit anderen Worten, sie glaubten nicht oder handelten nicht danach.
Die andere Lesart lautet z. B. nach der Anmerkung  der  Elb 2003,  dass  sie  nicht durch Glauben mit denen verbunden waren, die die Botschaft hörten und befolgten. Die Bedeutung hier ist, dass die Mehrheit der Israeliten nicht durch Glauben mit Kaleb und Josua verbunden wurden – mit den zwei Kundschaftern, die der Verheißung Gottes glaubten. In jedem Fall ist hier vor allem daran gedacht, dass sie der Unglaube von der Ruhe ausschloss, die Gott ihnen im Land der Verheißung bereitet hatte.
4,3 Es wird schwierig, an dieser Stelle den Gedankengang zu verfolgen. Anscheinend gibt es drei unverbundene Teilsätze, und doch können wir sehen, dass es eine gemeinsame Verbindung zwischen ihnen gibt – nämlich das Thema der Ruhe Gottes.
Zunächst erfahren wir, dass wir, »die geglaubt haben«, diejenigen sind, die »in die Ruhe« Gottes eingehen. Glaube ist der Schlüssel, der die Tür öffnet. Wie wir schon herausgestellt haben, genießen die Gläubigen heute die Ruhe des Gewissens, weil sie die Zusicherung haben, dass sie niemals das Gericht über ihre Sünden erleben werden (Joh 5,24). Doch gilt auch, dass diejenigen, die glauben, die Einzigen sind, die einmal Gottes endgültige Ruhe in der Herrlichkeit erreichen werden. Es ist wahrscheinlich diese zukünftige Ruhe, die hier in erster Linie gemeint ist. Der nächste Teilsatz bestärkt diese Vorstellung, indem er sie negativ ausdrückt: »Wie er gesagt hat: So schwor ich in meinem Zorn: Sie sollen nimmermehr in meine Ruhe eingehen« (leicht geändertes Zitat aus Psalm 95,11). So wie der Glaube den Zutritt gewährt, so verwehrt ihn der Unglaube. Wir, die wir auf Christus vertrauen, sind uns der Ruhe Gottes sicher; die ungläubigen Israeliten konnten sich ihrer nicht sicher sein, weil sie Gottes Wort nicht glaubten. Der dritte Teilsatz enthält die größte Schwierigkeit. Er lautet: »Obwohl die Werke von Grundlegung der Welt an fertig waren.« Vielleicht findet sich die diesbezüglich einfachste Erklärung darin, dass wir dies mit dem vorhergehenden Teilsatz verbinden. Dort hatte Gott von seiner zukünftigen Ruhe gesprochen: »Sie sollen nimmermehr in meine Ruhe eing ehen.« Die Verwendung der Zukunftsform deutet an, dass die Ruhe Gottes noch immer möglich ist, auch wenn einige sie durch ihren Unglauben verwirkt haben. Diese Ruhe ist noch immer erreichbar, und zwar trotz der Tatsache, dass Gottes »Werke von Grundlegung der Welt an fertig waren«.
4,4 Dieser Vers soll anhand der Schrift beweisen, dass Gott »ruhte«, nachdem er das Werk der Schöpfung vollendet hatte. Dass der Verfasser hier nur eine vage Andeutung bezüglich der Quelle dieses Zitats macht, bedeutet nicht, dass er nicht weiß, woher das Zitat stammt. Es handelt sich nur um ein literarisches Mittel, um einen Vers aus einem Buch zu zitieren, das zu dieser Zeit noch nicht in Kapitel und Verse eingeteilt war. Dieser Vers ist aus 1. Mose 2,2 übernommen: »Und Gott vollendete am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebten Tag von all seinem Werk, das er gemacht hatte.«
Hier wird die Vergangenheitsform verwendet, was andeuten könnte, dass Gottes Ruhe nur noch Geschichte ist und keine Prophezeiung enthält, sodass sie für uns heute keine Bedeutung mehr hat. Doch ist dies nicht der Fall.
4,5 Der Verfasser will die Vorstellung stützen, dass die Erwähnung der Ruhe Gottes nach der Schöpfung nicht auf Ruhe als abgeschlossenen Sachverhalt hindeutet. Deshalb zitiert er wieder mit einer kleinen Veränderung aus Psalm 95,11. Die dortige Zeitform ist das Futur: »Sie sollen nimmermehr in meine Ruhe eingehen.« Er sagt hier im Grunde: »In eurem Denken solltet ihr die Ruhe Gottes nicht auf die Ereignisse in 1. Mose 2 beschränken, sondern euch daran erinnern, dass Gott später von seiner Ruhe als einem Sachverhalt gesprochen hat, der noch erreichbar ist.«
4,6 Bis zu diesem Punkt der Argumentation haben wir gesehen, dass Gott seit der Schöpfung den Menschen seine Ruhe angeboten hat. Das Eingangstor steht offen.
Die Israeliten in der Wüste sind ihres »Ungehorsams wegen nicht hineingegangen«. Doch das heißt nicht, dass die Verheißung nicht mehr gelten würde!
4,7 Der nächste Schritt besteht darin, Folgendes zu zeigen: Sogar in »Davids« Fall (etwa 400 Jahre, nachdem den Israeliten der Einzug in Kanaan verwehrt worden ist) hat Gott noch immer das Wort »heute« als Tag der Gelegenheit verwendet. Der Verfasser hat Psalm 95,7.8 schon in Hebräer 3,7.8.15 zitiert. Nun zitiert er diesen Vers wieder, um zu beweisen, dass Gottes Verheißung nicht mit den Israeliten in der Wüste ungültig geworden ist. Zur Zeit Davids bat Gott noch immer die Menschen, ihm zu vertrauen und ihre »Herzen« nicht zu »verhärten«.
4,8 Einige der Israeliten haben natürlich mit »Josua« Kanaan erreicht. Doch auch diese konnten die endgültige »Ruhe« nicht genießen, die Gott für diejenigen bereitet hat, die ihn lieben. Es gab Konflikte in Kanaan, dazu Sünde, Krankheit, Schmerz, Leid und Tod. Wenn sie den Geltungsbereich der Ruheverheißung Gottes damit schon voll ausgeschöpft hätten, dann hätte er sie nicht zur Zeit Davids erneut anbieten können.
4,9 Die vorhergehenden Verse haben uns zu dieser Schlussfolgerung geführt: »Also bleibt noch eine Sabbatruhe dem Volk Gottes übrig.« Hier benutzt der Verfasser ein anderes griechisches Wort für »Ruhe«, nämlich sabbatismos, das mit dem Wort Sabbat verwandt ist. Es bezieht sich auf die ewige Ruhe, die all diejenigen genießen werden, die durch das kostbare Blut Christi erlöst worden sind. Es wird sich um eine Sabbatruhe handeln, die nie mehr aufhören wird.
4,10 Wer immer in Gottes »Ruhe« eingehen wird, wird von seiner Arbeit ruhen, so wie »Gott« es am siebten Tag tat. Vielleicht hatten wir, ehe wir errettet wurden, versucht, uns das Heil zu erarbeiten. Als wir dann erkannten, dass Christus sein Werk auf Golgatha vollendet hat, haben wir unsere eigenen wertlosen Bemühungen eingestellt und dem auferstandenen Erlöser vertraut. Nach der Errettung geben wir uns dann selbst hin, indem wir uns aus Liebe für den Einen mühen, der uns geliebt hat und sich selbst für uns gegeben hat. Unsere guten Werke sind die Frucht des in uns wohnenden Heiligen Geistes. Wir sind oft müde in seinem Dienst, obwohl wir dieses Dienstes nicht müde sind. In Gottes ewiger Ruhe werden wir uns nicht mehr wie hier auf der Erde mühen. Das bedeutet nicht, dass wir im Himmel gar nichts tun würden. Wir werden Gott noch immer anbeten und ihm dienen, doch wird es keine Müdigkeit, keine Not, keine Verfolgung und keine Anfechtung mehr geben.
4,11 Die vorhergehenden Verse haben gezeigt, dass Gottes Ruhe noch immer erreichbar ist. Dieser Vers sagt nun aus, dass Eifer notwendig ist, um »in jene Ruhe einzugehen«. Wir müssen »eifrig sein«, damit wir die Tatsache festmachen, dass unsere einzige Hoffnung Christus als der Herr ist. Wir müssen eifrig der Versuchung widerstehen, den Glauben an ihn nur nach außen hin zu bekennen, und der Gefahr widerstehen, ihn in der Hitze des Leidens und der Verfolgung zu verleugnen.
Die Israeliten waren nachlässig. Sie nahmen Gottes Verheißungen nicht ernst. Sie sehnten sich nach Ägypten, dem Land ihrer Knechtschaft. Sie hatten keinen Eifer, Gottes Verheißungen im Glauben zu ergreifen. Infolgedessen erreichten sie Kanaan nicht. Wir sollten uns von ihrem Beispiel warnen lassen.
4,12 Die nächsten zwei Verse enthalten eine ernsthafte Warnung, dass Unglaube niemals unbemerkt bleibt. Als Erstes wird er vom »Wort Gottes« aufgedeckt. (Das hier benutzte griechische Wort ist logos, das Wort, das uns so gut durch die Einleitung zum Johannesevangelium vertraut ist. Doch in diesem Vers bezieht es sich nicht auf Jesus als das lebendige Wort, sondern auf das geschriebene Wort, die Bibel.) Dieses »Wort Gottes« ist:
»Lebendig« – immer vor Leben sprühend.
»Wirksam« – es gibt uns große Kraft. Schneidend – »schärfer als jedes zweischneidige Schwert«.
Zerteilend – »durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist« (den beiden unsichtbaren, immateriellen Bereichen des Menschseins). Es durchdringt »sowohl Gelenke als auch Mark«, wobei die »Gelenke« uns unsere äußeren Bewegungen erlauben, und das »Mark« zwar nicht sichtbar ist, jedoch für das Leben der Knochen besonders wichtig ist. Unterscheidend – es beurteilt und richtet die »Gedanken und Gesinnungen des Herzens«. Das Wort richtet uns, nicht wir das Wort.
4,13 Zweitens wird der Unglaube vom lebendigen Herrn aufgedeckt. Hier wandelt sich das unpersönliche in ein persönliches Pronomen: »Und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar.« Nichts entgeht seiner Aufmerksamkeit. Er ist absolut allwissend. Er ist sich ständig all dessen bewusst, was im Universum vor sich geht. Natürlich ist der entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang, dass Christus weiß, wo richtiger Glaube ist und wo es sich nur um intellektuelle Zustimmung zu den entsprechenden Tatsachen handelt.
II. Christus ist in seinem Priestertum überlegen (4,14 – 10,18) A. Das Hohepriestertum Christi ist dem aaronitischen überlegen (4,14 – 7,28)
4,14 Diese Verse nehmen den Gedankengang des Autors auf, den er in 3,1 begonnen hat – Christus als der »große Hohepriester« seines Volkes. Sie stellen ihn als den großen Helfer seines bedürftigen Volkes vor, der imstande ist, es vor dem Fallen zu bewahren. Auch lenken sie »den Blick weg vom Wort als dem unerbittlichen Richter und lassen uns stattdessen auf den Herrn als den mitfühlenden Fürsprecher sehen«. Wenn das Wort uns gründlich  durchleuchtet  hat  (V. 12.13), dürfen wir ihn um Gnade und Barmherzigkeit bitten.
Man beachte, wie hervorragend unser wunderbarer Herr ist:
1. Er ist »ein großer Hoherpriester«. Es gab in der mosaischen Haushaltung viele Hohepriester, doch keiner von ihnen wurde »groß« genannt. 2. Er ist »durch die Himmel« der Atmosphäre und den Sternenhimmel zum dritten Himmel, der Wohnstätte Gottes, gegangen. Damit ist natürlich seine Himmelfahrt und Verherrlichung zur Rechten des Vaters gemeint.
3. Er ist menschlich. »Jesus« war der Name, der ihm bei seiner Geburt gegeben wurde. Es ist der Name, der besonders mit seinem Menschsein in Verbindung gebracht wird. 4. Er ist göttlich. Wenn die Worte »Sohn Gottes« für Christus gebraucht werden, dann bedeutet das seine absolute Stellungsgleichheit mit dem Vater. Aufgrund seines Menschseins war er von unserem Standpunkt aus geeignet, infolge seiner Göttlichkeit war er es aus Gottes Sicht. Kein Wunder, dass er »großer Hoherpriester« genannt wird.
4,15 Dann müssen wir noch seine Erfahrung erwähnen. Niemand kann wirklich »Mitleid« mit jemandem haben, es sei denn, er hat selbst ähnliche Erfahrungen gesammelt. Als Mensch hat der Herr dieselben Erfahrungen wie wir gemacht und kann deshalb verstehen, welche Prüfungen wir durchleben. (Er kann jedoch nicht mit uns mitfühlen, wenn wir Sünden begehen, denn er hat selbst nie gesündigt.) Nie eine Träne und nie einen Schmerz, nie einen Seufzer, der nicht trifft sein Herz,
nie in Gefahren, die fremd für ihn sind; Stunde um Stunde sorgt er für sein Kind!
Er wurde in jeder Hinsicht »wie wir versucht, … doch ohne Sünde«. Die Schrift wacht über der sündlosen Vollkommenheit des Herrn mit eifersüchtiger Sorgfalt, und wir sollten dasselbe tun. Er kannte keine Sünde (2. Kor 5,21), er hat keine  Sünde  getan  (1. Petr  2,22),  und  in ihm ist keine Sünde (1. Joh 3,5). Er konnte unmöglich sündigen, und zwar sowohl in seiner Stellungsgleichheit mit Gott dem Vater als auch in seinem Menschsein. Als vollkommener Mensch konnte er nichts von sich selbst aus tun, sondern war dem Vater absolut gehorsam (Joh 5,19), und der Vater hätte ihn niemals angeleitet, eine Sünde zu tun. Die Argumentation, dass seine Versuchung keine wirkliche Bedeutung hätte, wenn er nicht hätte sündigen können, ist abwegig. Ein Ziel seiner Vers uchung bestand darin, endgültig zu zeigen, dass er nicht sündigen konnte.3
Wenn man Gold prüft, dann ist die Prüfung nicht deshalb unzureichend, weil das Gold rein ist. Wenn es unrein wäre, dann würde es sich bei der Prüfung zeigen. Deshalb ist es falsch zu argumentieren, dass Christus, weil er nicht sündigen konnte, kein völliger Mensch gewesen sei. Die Sünde ist kein notwendiger Bestandteil des Menschseins, sondern eigentlich ein dem Menschsein fremder Bestandteil. Unser Menschsein ist durch die Sünde verdorben worden, und Jesus war ein vollkommener Mensch. Wenn Jesus als Mensch auf Erden hätte sündigen können, was würde ihn im Himmel von der Sünde abhalten? Er ließ sein Menschsein hier nicht zurück, als er zur Rechten des Vaters auffuhr. Er war auf Erden rein, und er ist es auch im Himmel.
4,16 Nun wird die gnadenreiche Einladung ausgesprochen: Naht euch voller Zuversicht »zum Thron der Gnade«! Unsere Zuversicht beruht auf dem Wissen, dass er starb, um uns zu retten, und dass er lebt, um uns zu bewahren. Uns gilt die Zusicherung, dass wir mit herzlicher Liebe aufgenommen werden. Wir sollen nämlich »hinzutreten«, wie er gesagt hat. Die Menschen des AT durften Gott nicht in dieser Weise nahen. Nur der Hohepriester durfte dies, und zwar nur an einem Tag im Jahr. Wir können zu jeder Tages- oder Nachtzeit in seine Gegenwart treten und »Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe«. Seine Barmherzigkeit bedeckt alles, was wir nicht hätten tun sollen. Demgegenüber ermöglicht es uns seine »Gnade«, zu tun, was wir sollen, wozu wir von uns aus jedoch nicht die Kraft haben.
Morgan merkt dazu in hilfreicher Weise an:
Ich werde niemals müde darauf hinzuweisen, dass der griechische Ausdruck, der mit »zur rechtzeitigen Hilfe« übersetzt wird, ein üblicher Ausdruck dafür ist, was wir als »gerade immer rechtzeitig« bezeichnen. »Damit wir gerade immer rechtzeitig Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden.« Die Gnade ist genau dann da, wenn ich sie brauche. Du wirst von einer Versuchung bedroht. Im Augenblick des Angriffs schaust du zu Jesus auf, und die Gnade ist da, um dir gerade rechtzeitig zu helfen. Verschiebe deine Bitte nicht bis zum Abendgebet. Auf der Straße (dort, wo du gerade bist), wenn die flammende Verführung vor dir steht, dann wende dich mit einem Hilferuf an Christus, und die Gnade wird gerade rechtzeitig bei dir sein.4
5,1 Bis zu diesem Punkt ist gezeigt worden, dass Jesus den Propheten, den Engeln und Mose überlegen ist. Wir wenden uns nun dem wichtigen Thema der Priesterschaft zu, um zu erkennen, dass das Hohepriestertum Christi demjenigen des Aaron überlegen ist. Als Gott Mose auf dem Berg Sinai das Gesetz gab, setzte er eine menschliche Priesterschaft ein, durch die das Volk sich ihm nähern konnte. Er bestimmte, dass die Priester aus dem Stamme Levi und aus der Familie Aarons abstammen mussten. Diese Ordnung ist bekannt als das levitische oder aaronitische Priestertum.
Es wird im AT noch eine andere göttlich verfügte Priesterordnung erwähnt, und zwar das Priestertum des Patriarchen Melchisedek. Dieser Mann lebte zur Zeit Abrahams, lange ehe das Gesetz gegeben wurde, und war sowohl König als auch Priester. In dem uns vorliegenden Abschnitt wird der Verfasser zeigen, dass der Herr Jesus Christus ein Priester nach der Ordnung Melchisedeks ist und dass sich diese Ordnung als dem aaronitischen Priestertum überlegen erweist. In den ersten vier Versen finden wir eine Beschreibung des aaronitischen Priesters. In den Versen 5-10 wird Christi Eignung als Priester erklärt, und zwar immer im Kontrast mit dem vorher Gesagten.
Die erste Qualifikation eines aaronitischen »Hohenpriesters« bestand dari n, dass er »aus Menschen« ausgewählt werden musste. Mit anderen Worten, er musste selbst Mensch sein. Er wurde ernannt, um »für Menschen« eine Verbindung »zu Gott« herzustellen. Er gehörte zu einer bestimmten Menschengruppe, die als Vermittler zwischen Menschen und Gott diente. Eine seiner Hauptaufgaben war es, »sowohl Gaben als auch Schlachtopfer für Sünden« darzubringen. Das Wort »Gaben« bezieht sich auf alle Opfer, die Gott dargebracht werden. »Opfer« im engeren Sinne sind die besonderen Opfer, bei denen Blut zur Vergebung der Sünden vergossen wurde.
5,2 Der Hohepriester musste »Nachsicht haben« mit der menschlichen Schwachheit und mit den »Unwissenden und Irrenden« liebevoll umgehen können. Sein eigenes schwaches Fleisch rüstete ihn aus, die Probleme zu verstehen, die andere Menschen hatten. Dieser Bezug auf die »Unwissenden und Irrenden« in diesem Vers ist eine Erinnerung daran, dass die Opfer des AT für unabsichtliche Sünden gedacht waren. Es gab keine Vorkehrungen des Gesetzes für absichtliche Sünden.
5,3 Doch während die Menschlichkeit des Hohenpriesters ein Vorteil war, weil er sich in seiner priesterlichen Stellung mit den Menschen eins machen musste, war seine sündhafte Natur ein Nachteil. Er musste sowohl »für sich selbst« als auch »für das Volk« Opfer für die Sünden darbringen.
5,4 Das Hohepriesteramt war keine gottesdienstliche Stellung, die ein Mensch sich aussuchen konnte. Man musste zu diesem Werk »von Gott berufen« werden »wie auch Aaron«. Gottes Berufung war auf Aaron und seine Nachkommen beschränkt. Niemand außerhalb dieser Familie konnte im Heiligtum (sei es im Zelt der Begegnung oder später im Tempel) dienen.
5,5 Der Verfasser wendet sich nun »Christus« zu und lässt seine Eignung als Hoherpriester erkennen, und zwar deshalb, weil er von Gott berufen, als Mensch geoffenbart und von seinen erworbenen Qualifikationen her dazu geeignet war. Seine Berufung geschah durch Gott selbst. Es war eine souveräne Berufung, die nichts mit menschlicher Abstammung zu tun hatte. Damit war eine bessere Beziehung zu Gott geschaffen, als sie je ein irdischer Priester gehabt hat. Unser »Hoherpriester« ist der einzige »Sohn« Gottes, von Ewigkeit »gezeugt«, bei seiner Menschwerdung gezeugt und bei seiner Auferstehung gezeugt.
5,6 Weiter ist die Priesterschaft Christi von einer höheren Ordnung, weil er in Psalm 110,4 von Gott als »Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks« bezeichnet wird. Diese Überlegenheit wird ausführlicher in Kapitel 7 erklärt. Hier geht es darum, dass Christi Priesterschaft im Gegensatz zur aaronitischen Priesterschaft »in Ewigkeit« eingesetzt ist.
5,7 Christus ist nicht nur der sündlose Sohn Gottes, er ist auch wahrer Mensch. Der Verfasser bezieht sich hier auf die verschiedenen menschlichen Erfahrungen, die Jesus »in den Tagen seines Fleisches« machen musste, um dies zu beweisen. Man beachte die Worte, die hier verwendet wurden, um Jesu Leben und insbesondere seine Erfahrung im Garten Gethsemane zu beschreiben: »… sowohl Bitten als Flehen mit starkem Geschrei und Tränen.« Sie alle beschreiben seinen Weg als abhängiger Mensch, der im Gehorsam gegenüber Gott lebt und die menschlichen Gefühle teilt, die nicht mit der Sünde verbunden sind. Das Gebet Christi lautete nicht, dass er vor dem Sterben bewahrt werden möge, denn der Zweck seines Kommens in die Welt war es ja, für Sünder zu sterben (Joh 12,27). Sein Gebet lautete, dass er »aus dem Tod« errettet werden und dass seine Seele nicht im Hades bleiben möge. Dieses Gebet wurde erhört, als Gott ihn aus den Toten auferweckte. Er wurde »um seiner Gottesfurcht willen erhört«.
5,8 Nun stehen wir wieder dem großen Geheimnis der Menschwerdung gegenüber – der Tatsache, wie Gott Mensch werden konnte, um für die Menschen zu sterben. »Obwohl er Sohn war … « – nicht ein  Sohn  (d. h.  einer  unter  vielen),  sondern er war der eingeborene Sohn Gottes. Trotz dieser ungeheuerlichen Tats ache, »lernte« er »an dem, was er litt, den Gehorsam«. Sein Kommen in diese Welt als Mensch ließ ihn Erfahrungen machen, die er nie gemacht hätte, wäre er im Himmel geblieben. Jeden Morgen war sein Ohr geöffnet, um von seinem Vater die Anweisungen für diesen Tag zu empfangen (Jes 50,4). Er »lernte … den Gehorsam« als Sohn Gottes kennen, der immer dem Willen seines Vaters untertan ist.
5,9 »… und vollendet«. Das kann sich nicht auf seinen persönlichen Charakter beziehen, weil der Herr Jesus absolut vollkommen war. Seine Worte, Handlungen und Vorgehensweisen waren absolut fehlerlos. In welchem Sinne wurde er dann »vollendet«? Die Antwort lautet: In seinem Dienst als unser Heiland. Er hätte nicht unser vollkommener Erlöser werden können, wenn er im Himmel geblieben wäre. Doch durch seine Menschwerdung, seinen Tod, seine Grablegung, seine Auferstehung und Himmelfahrt vollendete er das Werk, das notwendig war, um uns von unseren Sünden zu erlösen. Nun hat er die Herrlichkeit dahin gehend erreicht, dass er der vollkommenste Heiland der Welt ist. Indem er in den Himmel zurückgekehrt ist, gilt: Er »ist … allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden«. Er ist für alle zum Heiland geworden, doch nur die, »die ihm gehorchen«, werden errettet.
Hier wird das »Heil« vom Gehorsam abhängig gemacht. An vielen anderen Stellen heißt es jedoch, dass nur der Glaube die Bedingung für das Heil ist. Wie können wir diesen Widerspruch erklären? Zunächst einmal geht es um Glaubensgehorsam (Röm 1,5; 16,25-27): »Der Glaube, den Gott will, ist Glaube an sein Wort.« Doch es stimmt auch, dass errettender Glaube zum Gehorsam führt. Es ist unmöglich, im Sinne des NT zu glauben, ohne gehorsam zu sein.
5,10 Nachdem der Herr Jesus auf herrliche Weise das grundlegende priesterliche Werk vollbracht hatte, wurde er »von Gott begrüßt als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks«.
Man sollte hier anmerken, dass zwar die Priesterschaft Christi nach der Ordnung Melchisedeks eingesetzt wurde, seine priesterlichen Funktionen aber die gleichen sind, die durch das aaronitische Priestertum erfüllt wurden. Der Dienst der jüdischen Priester schattete das von Christus vollbrachte Werk vor und versinnbildlichte es.
5,11 An diesem Punkt muss der Verfasser abschweifen. Obwohl er gern mit dem Thema des melchisedekschen Priestertums Christi fortfahren würde, muss er anders weitermachen. Er steht unter dem göttlichen Befehl, seine Leser wegen ihrer Unreife zu rügen und sie zugleich ernstlich vor den Gefahren des Abfalls zu warnen.
Es ist leider wahr, dass unser Verständnis der göttlichen Wahrheit durch unseren eigenen geistlichen Zustand beschränkt wird. »Träge« Ohren können keine tiefgründigen Wahrheiten empfangen. Wie oft gilt für uns Jünger, dass der Herr uns viele Dinge zu sagen hätte, wir sie jedoch nicht tragen können (Joh 16,12).
5,12 Der Verfasser erinnert die Hebräer daran, dass sie schon so lange gelehrt wurden, dass sie eigentlich schon andere hätten lehren sollen. Doch die Tragödie bestand darin, dass sie »wieder« jemanden »nötig« hatten, der sie die Grundlagen »der Aussprüche Gottes« lehren musste.
»… während ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet.« Gottes Ordnung lautet, dass jeder Gläubige so heranreifen sollte, dass er andere lehren kann. Jeder sollte mindestens einen anderen Menschen lehren! Es stimmt zwar, dass manche eine besondere Lehrgabe haben, doch gilt auch, dass jeder Gläubige sich an irgendeinem Lehrdienst beteiligen sollte. Es war niemals Gottes Absicht, dass diese Aufgabe auf nur wenige beschränkt werden sollte. »Ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise.« Im leiblichen Bereich ist ein Kind, das nicht von der Milch zu fester Speise fortschreitet, behindert. Es gibt diese Form der Behinderung auch im geistlichen Bereich (1. Kor 3,2).
5,13 Bekennende Christen, die sich weiterhin von Milch nähren, sind »unerfahren im Worte der Gerechtigkeit« (Elb). Sie sind Hörer des Wortes, aber keine Täter. Sie verlieren, was sie nicht anwenden, und bleiben in einem Zustand ewiger Kindheit.
Sie haben keinen geschärften geistlichen Unterscheidungssinn und werden »hin und her geworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre durch die Betrügerei der Menschen, durch ihre Verschlagenheit zu listig ersonnenem Irrtum« (Eph 4,14).
5,14 »Feste« geistliche »Speise aber ist für Erwachsene« gedacht, »die infolge der Gewöhnung geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten wie auch des Bösen«. Indem sie dem Licht gehorchen, das sie aus dem Wort Gottes empfangen haben, werden diese Menschen fähig, geistliche Urteile zu fällen und sich selbst vor moralischen und lehrmäßigen Gefahren zu bewahren.
Hier werden die Leser ermahnt, zwischen »Gutem« und »Bösem« im Zusammenhang mit dem Judentum und Christentum zu unterscheiden. Nicht das Judentum an sich war böse, denn das levitische Priestertum hatte Gott selbst eingesetzt. Doch es war dazu gedacht, auf Christus hinzuweisen. Er ist die Erfüllung der zeremoniellen Vorbilder und Schatten. Nun, da Christus gekommen ist, sündigt man, wenn man sich von ihm abwendet, um zu den Sinnbildern zurückzukehren. Alles, was die Hingabe und Liebe zu Christus verdrängen will, ist böse. Geistlich reife Gläubige sind in der Lage, zwischen der Unterlegenheit des aaronitischen Priestertums und der Überlegenheit des Priestertums Christi zu unterscheiden.
6,1 Die Warnung, die in 5,11 begann, zieht sich weiter durch dieses Kapitel. Es handelt sich um einen der umstrittensten Abschnitte des gesamten NT. Weil so viele gläubige Christen in der Auslegung dieses Abschnitts uneins sind, sollten wir hier nicht dogmatisch werden. Wir stellen hier die Erklärung vor, die anscheinend am besten zum Zusammenhang und zum restlichen NT passt.
Zunächst einmal werden die Leser ermahnt, »das Wort vom Anfang des Christus« zu verlassen. Wir verstehen darunter die grundlegenden Lehren der gottesdienstlichen Ordnung, wie sie im AT gelehrt wurden und die dazu bestimmt waren, Israel auf das Kommen des Messias vorzubereiten. Diese Lehren werden im 2. Teil von Vers 1 und in Vers 2 aufgeführt. Wir werden versuchen zu zeigen, dass sie nicht die Grundlagen des Christentums waren, sondern grundlegende Lehren des AT, die die Basis für ein späteres Lehrgebäude bildeten. Sie enthielten den auferstandenen und verherrlichten Christus nicht. Die Ermahnung lautet, diese Grundlagen zu verlassen, und zwar nicht in dem Sinne, sie als wertlos aufzugeben, sondern von ihnen aus zur Reife fortzuschreiten. Dies beinhaltet die Vorstellung, dass die Zeit des Judentums eine Zeit geistlicher Kindheit war. Das Christentum steht für die volle geistliche Entwicklung.
Sobald ein Fundament gelegt ist, besteht der nächste Schritt darin, auf diesem aufzubauen. Ein lehrmäßiger »Grund« wurde mit dem AT gelegt, es enthielt die sechs grundlegenden Lehren, die nun aufgeführt werden. Diese sind aber nur der Anfang. Die großen Wahrheiten des NT über Christus, seine Person und sein Werk sind der Dienst der Reife. Die erste Lehre des AT ist die »Buße von toten Werken«. Sie wurde sowohl von den Propheten als auch vom Vorgänger des Messias gepredigt. Sie alle riefen das Volk auf, sich von »Werken« abzuwenden, die in dem Sinne »tot« waren, dass sie nicht im Glauben geschahen. »Tote Werke« kann sich hier auch auf Werke beziehen, die früher einmal richtig waren, doch nun »tot« sind, weil Christus gekommen ist. Zum Beispiel wurden alle Dienste, die im Zusammenhang mit dem Tempel standen, durch das vollendete Werk Christi überflüssig. Zweitens erwähnt der Verfasser den »Glauben an Gott«. Damit wird erneut ein Schwerpunkt aus dem AT aufgegriffen. Im NT ist es fast immer Christus, an den wir glauben. Damit wird zwar nicht der Glauben an Gott verdrängt, doch ein Glaube an Gott, der Christus außen vor lässt, ist fortan ebenso unzureichend.
6,2 Anweisungen über »Waschungen« beziehen sich nicht auf die christliche Taufe5 sondern auf zeremonielle Waschungen, die damals im religiösen Leben der Priester und des Volkes Israel eine große Rolle spielten (s. a. 9,10). Das Ritual der »Handauflegung« wird in 3. Mose 1,4; 3,2 und 16,21 beschrieben. Der Opfernde oder der Priester legte seine Hand auf ein Tier und identifizierte sich dadurch mit ihm. Symbolisch trug das Tier die Sünden des Menschen weg, der sich mit ihm identifiziert hatte. Diese Zeremonie ist ein Vorbild oder Typus für die stellvertretende Sühne. Wir glauben nicht, dass sich dies in irgendeiner Weise auf die Praxis der Handauflegung durch die Apostel oder andere Gläubige in der Gemeinde der Frühzeit bezieht (Apg 8,17; 13,3; 19,6).
»Totenauferstehung« wird in Hiob 19,25-27 und Psalm 17,15 gelehrt; außerdem wird sie in Jesaja 53,10-12 vorausgesetzt. Was im AT nur undeutlich erkennbar war, ist nun deutlich im NT offenbart (2. Tim 1,10). Die letzte Grundwahrheit des AT war das »ewige Gericht« (Ps 9,19; Jes 66,24). Diese grundlegenden Prinzipien stehen für das Judentum und waren eine Vorbereitung auf das Kommen Christi. Die Christen sollten sich damit nicht zufriedengeben, sondern zur umfassenderen Offenbarung fortschreiten, die sie nun in Christus haben. Die Leser werden aufgefordert, »vom Schatten zur Wirklichkeit, vom Typus zum Antitypus, von der Schale zum Kern, von der tödlichen Erstarrung in den Riten ihrer Vorväter zu den lebendigen Realitäten in Christus« fortzuschreiten.
6,3 Der Verfasser drückt sein Verlangen aus, ihnen zu helfen, dies6 zu »tun, wenn Gott es erlaubt«. Doch der begrenzende Faktor liegt bei ihnen, nicht bei Gott. Gott wird sie befähigen, zur vollen geistlichen Reife zu gelangen, doch sie müssen auf das Wort positiv reagieren, indem sie wahren Glauben praktizieren und wahres Ausharren erkennen lassen.
6,4 Wir kommen nun zum Kern der Warnung vor dem Abfall. Sie gilt für eine Gruppe von Menschen, für die es »unmöglich« ist, wieder zur Buße zu gelangen. Offensichtlich haben diese Menschen einmal Buße getan (obwohl hier ihr Glaube an Christus nicht erwähnt wird). Nun wird hier deutlich ausgesagt, dass eine neuerliche Buße unmöglich ist. Wer sind diese Menschen? Die Antwort wird in den Versen 4 und 5 gegeben. Wenn wir die großen Vorrechte untersuchen, die sie genossen, dann sollten wir festhalten, dass dies auch für unerlöste Menschen gelten kann. Es wird nirgendwo eindeutig ausgesagt, dass diese Menschen wiedergeboren waren. Auch werden nirgendwo solche Grundlagen wie ein rettender Glaube, die Erlösung durch Christi Blut oder das ewige Leben erwähnt.
Sie sind »einmal erleuchtet worden«. Sie hatten das Evangelium von der Gnade Gottes gehört. Sie waren sich über den Heilsweg nicht im Unklaren. Judas Iskariot war z. B. erleuchtet, doch er hat das Licht abgelehnt.
Sie haben »die himmlische Gabe geschmeckt«. Der Herr Jesus ist die himmlische Gabe. Sie haben ihn geschmeckt, doch ihn nie durch einen definitiven Glaubensakt angenommen. Es ist möglich, etwas zu schmecken, ohne das Betreffende zu essen oder zu trinken. Als die Männer Jesus am Kreuz Wein mit Galle vermischt anboten, probierte Jesus davon, doch er wollte es nicht trinken (Matth 27,34). Es reicht nicht, Christus nur zu schmecken, wenn wir nicht das Fleisch des Menschensohnes essen und sein Blut trinken. Dies bedeutet, dass wir kein Leben in uns haben, wenn wir ihn nicht wirklich als Herrn und Heiland annehmen (Joh 6,53).
Sie waren »des Heiligen Geistes teilhaftig geworden«. Ehe wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass dies notwendigerweise eine Bekehrung einschließt, sollten wir uns daran erinnern, dass der Heilige Geist auch schon vor der Bekehrung an Menschen wirkt. Er heiligt Ungläubige (1. Kor 7,14) und versetzt sie in eine äußerlich bevorrechtigte Stellung. Er überführt Ungläubige von Sünde, von Gerechtigkeit und von Gericht (Joh 16,8). Er führt Menschen zur Buße und weist sie auf Christus als ihre einzige Hoffnung hin. Menschen können so vom Heiligen Geist profitieren, ohne dass er in ihnen wohnt.
6,5 Sie hatten »das gute Wort Gottes … geschmeckt«. Als sie die Predigt des Evangeliums hörten, wurden sie davon auf besondere Weise bewegt und angezogen. Sie waren wie das Samenkorn, das auf felsigen Grund fällt. Sie hörten das Wort und nahmen es sofort voller Freude an, doch hatten sie keine Wurzel in sich. Sie hielten eine Zeit lang aus, doch als sich Anfechtung oder Verfolgung wegen des Wortes erhob, fielen sie sogleich ab (Matth 13,20.21).
Sie hatten »die Kräfte des zukünftigen Zeitalters geschmeckt«. »Kräfte« bedeutet hier »Wunder«. Das »zukünftige Zeitalter« ist das Tausendjährige Reich, das kommende Reich des Friedens und Wohlergehens, in dem Christus tausend Jahre lang über die Erde herrschen wird. Die Wunder, die die Verkündigung des Evangeliums in der Urgemeinde begleiteten (Hebr 2,4), waren ein Vorgeschmack der Zeichen und Wunder, die in Christi Reich geschehen werden. Diese Menschen hatten die Wunder des 1. Jahrhunderts gesehen, vielleicht hatten sie sogar Anteil daran. Man denke etwa an das Wunder der Brotvermehrung. Nachdem Jesus fünftausend Menschen gespeist hatte, folgten ihm die Leute, indem sie zum gegenüberliegenden Ufer des Sees Genezareth wanderten (weil Jesus in der Nacht auf dem See gegangen war und das letzte Stück bis zum anderen Ufer mit den Jüngern im Boot zurückgelegt hatte; Anm. d. Übers.). Der Heiland erkannte jedoch, dass sie zwar ein Wunder geschmeckt hatten, aber nicht wirklich an ihn glaubten. Er sagte zu ihnen: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich, nicht weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und gesättigt worden seid« (Joh 6,26).
6,6 Wenn sie »doch abgefallen sind«7, nachdem sie die eben aufgezählten Vorrechte genossen haben, dann ist es unmöglich, sie »wieder zur Buße zu erneuern«. Sie haben die Sünde des Abfalls begangen. Sie haben die Stelle erreicht, wo auf dem Weg zur Hölle alle Lichter verlöschen.
Die ungeheuer große Schuld der Abgefallenen zeigt sich in den Worten: »… da sie für sich den Sohn Gottes wieder kreuzigen und dem Spott aussetzen.« Damit ist ein bewusstes, boshaftes Verschmähen Christi und nicht nur ein unachtsames Vorbeigehen gemeint. Es geht hier um einen eindeutigen Verrat an Christus, um ein Bündnis mit seinen Feinden und darum, dass seine Person sowie sein Werk verächtlich gemacht werden.
Exkurs zum Thema Abfall
Abgefallene sind Menschen, die das Evangelium hören, sich äußerlich zu Christus bekennen, sich einer christlichen Gemeinde anschließen und dann ihren äußerlich bekannten Glauben aufgeben, Christus die Gefolgschaft bewusst aufkündigen, die christliche Gemeinde verlassen und ihren Platz unter den Feinden Christi einnehmen. Abfall ist eine Sünde, die nur von Ungläubigen begangen werden kann, aber nicht von solchen, die betrogen werden. Vielmehr sind es diejenigen, die sich wissentlich, willentlich und in böser Absicht gegen den Herrn wenden.
Man darf dies nicht mit der Sünde des durchschnittlichen Ungläubigen verwechseln, der das Evangelium hört, aber sich nicht darum kümmert. So kann es sein, dass ein Mensch Christus auch nach wiederholten Einladungen des Heiligen Geistes nicht nachfolgt. Dennoch ist er kein Abgefallener. Er kann noch immer gerettet werden, wenn er sich dem Heiland anvertraut. Natürlich ist er für immer verloren, wenn er im Unglauben stirbt, doch es gibt so lange Hoffnung, wie er fähig ist, sein Vertrauen auf den Herrn zu setzen.
Abfall sollte auch nicht mit Zurückgehen verwechselt werden. Ein echter Gläubiger kann sich sehr weit von Christus entfernen. Durch die Sünde wird seine Gemeinschaft mit Gott gestört. Er kann sogar einen Punkt erreichen, an dem er nicht mehr als Christ erkennbar ist. Doch er kann in die völlige Gemeinschaft zurückgeführt werden, sobald er seine Sünde bekennt und lässt (1. Joh 1,9). Abfall ist auch nicht dasselbe wie die Sünde, die nicht vergeben werden kann, wie sie in den Evangelien erwähnt wird. Dies war die Sünde derjenigen, die die Wunder des Herrn Jesus dem Obersten der Dämonen zuschrieben. Jesu Wunder wurden aber in Wirklichkeit in der Kraft des Heiligen Geistes vollbracht. Wer sie Satan zuschrieb, lästerte damit den Heiligen Geist. Man sagte damit, dass der Heilige Geist der Teufel sei. Jesus sagte, dass eine solche Sünde nicht vergeben werden kann, weder in diesem noch in dem zukünftigen Zeitalter (Mk 3,22-30). Abfall ist der Lästerung des Heiligen Geistes insofern ähnlich, dass sie eine Sünde mit ewigen Auswirkungen ist, doch hier enden die Ähnlichkeiten auch schon.
Ich bin der Ansicht, dass der Abfall dasselbe ist wie die »Sünde zum Tod«, die in 1. Johannes 5,16b erwähnt wird. Johannes schrieb über Menschen, die äußerlich bekannt hatten, gläubig zu sein, und an den Aktivitäten der Ortsgemeinde teilgenommen hatten. Dann hatten sie die Irrlehren der Gnostiker angenommen und die christliche Gemeinschaft in boshafter Absicht verlassen. Ihre bewusste Abkehr zeigte, dass sie nie wirklich wiedergeboren worden waren (1. Joh 2,19). Indem sie offen leugneten, dass Jesus der Christus ist  (1. Joh  2,22)  hatten  sie  die  Sünde  begangen, die zum Tod führt. Daher war es nutzlos, für ihre Wiederherstellung zu beten (1. Joh 5,16b). Einige ernsthafte Christen sind beunruhigt, wenn sie Hebräer 6 und ähnliche Abschnitte lesen. Satan benutzt diese Verse besonders, um Gläubige die körperliche oder seelische Probleme haben, durcheina nderzubringen und zu verwirren. Sie fürchten, dass sie von Christus abgefallen sind und keine Hoffnung auf Wiederherstellung ihrer Beziehung zu Gott besteht. Sie sorgen sich, dass sie über den Punkt hinausgegangen sind, an dem noch Buße möglich ist. Die Tatsache, dass sie sich noch Sorgen machen, ist jedoch ein schlüssiger Beweis dafür, dass sie nicht abgefallen sind. Ein Abgefallener macht sich solche Sorgen nicht, er lehnt Christus eiskalt ab. Die Sünde des Abfalls gibt es für wahre Gläubige nicht, aber es stellt sich die Frage: Wen betrifft sie heute? Sie wird zum Beispiel von einem jungen Mann begangen, der sich zu Christus bekennt, eine ganze Weile in vielversprechender Weise mit ihm lebt, in dessen Leben dann jedoch etwas geschieht. Vielleicht durchlebt er erbitterte Verfolgung. Oder er begeht eine schwere sexuelle Verfehlung. Oder vielleicht geht er auf die Universität und wird von den christusfeindlichen Argumenten seiner atheistischen Lehrer erschüttert. Obwohl er die Wahrheit in umfassender Weise kennt, wendet er sich absichtlich von ihr ab. Er lehnt Christus völlig ab und tritt selbst die heiligsten grundlegenden Lehren des christlichen Glaubens mit Füßen. Die Bibel sagt, dass es unmöglich ist, einen solchen zur Buße zu führen, und die Erfahrung lehrt, dass die Bibel recht hat. Wir haben viele gekannt, die vom christlichen Glauben abgefallen sind, doch wir haben noch niemanden gesehen, der zu ihm zurückgekehrt wäre.
Während wir auf das Ende dieses Zeitalters zugehen, können wir erwarten, dass es eine Flutwelle von Abgefallenen geben wird (2. Thess 2,3; 1. Tim 4,1). Deshalb wird die Warnung vor dem Abfall mit jedem Tag, der vergeht, aktueller.
6,7 Nun wendet sich der Verfasser der Natur zu, um ein Beispiel für einen wahren  Gläubigen  (V. 7)  und  für  den Abgefallenen  (V. 8)  zu  finden.  In  beiden  Fällen wird die betreffende Person mit dem Erdboden verglichen. Die Vorrechte, die in Vers 4 und 5 aufgeführt werden, werden mit dem Leben spendenden »Regen« verglichen. Die Ernte spricht von der endgültigen Reaktion des Menschen auf die empfangenen Vorrechte. Diese wiederum bestimmt, ob das Land gesegnet oder verflucht ist.
Der wahre Gläubige gleicht dem Ackerland, »das den häufig darauf kommenden Regen trinkt«, nützliche Pflanzen hervorbringt und von »Gott« gesegnet ist.
6,8 Der Abgefallene dagegen ist wie Land, das ebenfalls gut bewässert ist, doch nichts als »Dornen und Disteln«, die Frucht der Sünde, »hervorbringt«. Das Land empfängt sehr viel, doch es bringt keine nützlichen Pflanzen hervor. Solches Land ist nutzlos. Es steht bereits unter dem Fluch. Seine Bestimmung besteht darin, abgebrannt zu werden.
6,9 Es gibt in Vers 9 und 10 zwei wichtige Hinweise darauf, dass die Abgefallenen, die in den vorhergehenden Versen beschrieben wurden, Ungläubige sind. Zunächst einmal haben wir hier einen abrupten Wechsel der Pronomen. Als der Verfasser über die Abgefallenen spricht, redet er von »ihnen«. Nun spricht er die wahren Gläubigen mit »ihr« und »euer« an.
Der zweite Hinweis ist noch deutlicher. Als er sich an die Gläubigen wendet, sagt er: »Wir aber sind, wenn wir auch so reden, im Hinblick auf euch, Geliebte, vom Besseren und zum Heil Dienlichen überzeugt.« Die Folgerung daraus ist, dass das, was der Verfasser in den Versen 4-6 und 8 beschrieben hat, nicht zum Heil dienlich war.
6,10 Zwei Sachverhalte des zum Heil Dienlichen zeigten sich im Leben der Heiligen – ihr »Werk« und ihre »Liebe«. Ihr Glaube wurde in einem Leben guter Werke sichtbar, und sie hatten das Kennzeichen wahrer christlicher Gesinnung – aktive »Liebe« zur Gemeinde. Sie dienten dem Volk Gottes um des Herrn willen.
6,11 Die nächsten zwei Verse scheinen an eine andere Gruppe von Menschen gerichtet zu sein, nämlich an diejenigen, hinsichtlich derer sich der Verfasser nicht sicher war. Dies waren diejenigen, die anscheinend in der Gefahr standen, ins Judentum zurückzukehren.
Zunächst wünscht er sich, dass sie »denselben Eifer … beweisen«, den auch die wahren Gläubigen unter Beweis gestellt haben, als sie »die volle Gewissheit der Hoffnung bis ans Ende« anerkannten. Er möchte, dass sie fest zu Christus stehen, bis sich die endgültige Hoffnung des Christen im Himmel verwirklicht. Dies ist ein Beweis der Echtheit des Glaubens.
6,12 Sie sollen »nicht träge« werden. In ihrem Glaubensleben sollten sie den schlurfenden Schritt vermeiden, und ihr Geist sollte nicht nachlässig werden. Sie sollten sich weiter bemühen und alle wahren Gläubigen nachahmen, »die durch Glauben und Ausharren die Verheißungen erben«.
6,13 Der letzte Teil von Kapitel 6 ist mit der Ermahnung von Vers 12 verbunden, in Glauben und Ausharren zu bleiben. Das Beispiel Abrahams wird uns als Anregung gegeben, und die Gewissheit der Hoffnung des Gläubigen wird bestätigt.
In gewissem Sinne mag der Christ scheinbar im Nachteil sein. Er hat alles für Christus aufgegeben und nichts Vorzeigbares, Materielles dafür bekommen. Alles liegt in der Zukunft. Wie kann er sich dann sicher sein, dass seine Hoffnung nicht vergeblich ist?
Die Antwort findet sich in Gottes »Verheißung« an »Abraham«, eine Zusage, die in sich ansatzweise alles enthielt, was er uns später in der Person Christi geben wollte. Als Gott diese »Verheißung gab, schwor er bei sich selbst – weil er bei keinem Größeren schwören konnte«.
6,14 Die Verheißung findet sich in 1. Mose  22,16.17:  »Ich  schwöre  bei  mir selbst, spricht der Herr, … darum werde ich dich reichlich segnen und deine Nachkommen überaus zahlreich machen.« Gott verpflichtete sich, diese Verheißung zu erfüllen, und deshalb war die Erfüllung sicher.
6,15 Abraham glaubte an Gott und harrte deshalb geduldig aus. Dadurch erlangte er die Erfüllung der Verheißung. In Wirklichkeit ging Abraham kein Risiko ein, als er an Gott glaubte. Das Wort Gottes ist die sicherste Tatsache des Universums. Jede »Verheißung« Gottes wird so sicher erfüllt, als ob die Erfüllung schon stattgefunden hätte.
6,16 Im menschlichen Umgang schwören »Menschen … bei einem Größeren«, der über ihnen steht. In einer Gerichtsverhandlung  schwören  sie  z. B.,  die  Wahrheit zu sagen, und fügen dann hinzu: »So wahr mir Gott helfe.« Sie rufen Gott als Bestätigung an, dass das, was sie sagen werden, der Wahrheit entspricht. Wenn Menschen einen Eid ablegen, um ein Versprechen festzumachen, dann beendet dies normalerweise jeden »Widerspruch«. Man geht dann davon aus, dass das Versprechen eingehalten wird.
6,17 »Gott« wollte, dass sein gläubiges Volk absolut sicher war, dass alles, was er versprach, auch eintreffen würde. Eigentlich wäre seine bloße Zusage ausreichend gewesen, doch er wollte sie noch besonders sicher »beweisen«. Deshalb hat er sich zusätzlich noch »mit einem Eid verbürgt«.
Die »Erben der Verheißung« sind alle diejenigen, die durch den Glauben Kinder des gläubigen Abraham sind. Die »Verheißung«, die hier erwähnt wird, ist die Zusage ewigen Heils für alle, die an Jesus Christus glauben. Als Gott Abraham die Verheißung gab, dass er Nachkommen haben würde, fand sie ihre endgültige Erfüllung in Christus. Alle Segnungen, die sich aus der Gemeinschaft mit Christus ergeben, waren deshalb in dieser Verheißung schon enthalten.
6,18 Der Gläubige hat nun »zwei unveränderliche Dinge«, worauf er sich verlassen kann, nämlich auf Gottes Wort und auf seinen Eid. Es ist unmöglich, sich etwas Gewisseres vorzustellen.8 Gott verspricht, alle zu erretten, die an Christus glauben; dann bestätigt er diese Verheißung noch mit einem Eid. Die Folgerung ist unausweichlich: Der Gläubige ist auf ewig sicher.
Im Rest von Kapitel 6 benutzt der Verfasser vier Bilder, um die ausgesprochene Verlässlichkeit der christlichen Hoffnung noch weiter zu betonen: 1. einen Zufluchtsort, 2. einen Anker, 3. einen Vorläufer und 4. einen Hohenpriester. Zunächst werden alle wahren Gläubigen als diejenigen dargestellt, die aus dieser dem Untergang geweihten Welt in die himmlische Stadt der »Zuflucht« fliehen. Um sie auf ihrer Flucht zu ermutigen, hat Gott ihnen eine sichere »Hoffnung« gegeben, die auf seinem Wort und seinem Eid beruht.
6,19 In den Stürmen und Anfechtungen des Lebens dient diese »Hoffnung »als … sicherer und fester Anker der Seele«. Das Wissen, dass unsere Verherrlichung so gewiss ist, als ob sie schon stattgefunden hätte, hält uns davon ab, uns den Wogen des Zweifels und der Verzweiflung zu überlassen. Der »Anker« ist nicht in den unsicheren Sand der Welt geworfen worden, sondern hat seinen Halt im himmlischen Heiligtum. Weil unsere »Hoffnung« der »Anker« ist, besteht die Bedeutung dari n, dass unsere Hoffnung durch Gottes Gegenwart im »Inneren des Vorhanges« befestigt ist. Genauso sicher, wie sich der Anker schon dort befindet, werden wir ebenfalls dort sein.
6,20 Jesus ist als unser »Vorläufer« in das Heiligtum hineingegangen. Seine Gegenwart dort sichert allen, die ihm gehören, den Zugang. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass auch der einfachste Gläubige auf Erden sich des Himmels so sicher sein kann wie die Heiligen, die sich bereits dort befinden. D. Anderson-Berry schreibt: Das Wort, das mit »Vorläufer« übersetzt wird, findet sich an keiner Stelle sonst im NT. Es drückt eine Vorstellung aus, die dem levitischen Zeitalter fremd war, denn der Hohepriester ging nur als Stellvertreter ins Allerheiligste. Doch unser »Vorläufer« ist ein Unterpfand dafür, dass wir dort sein werden, wo er sich schon aufhält. 1. Als Vorläufer verkündigte er dort unsere Ankunft.
2. Als Vorläufer nahm er den Himmel für uns ein.
3. Als Vorläufer ist er vorausgegangen, um sein Volk begrüßen zu können, wenn es kommt, und es der Majestät im Himmel vorzustellen.9
Das vierte Bild betrifft den Hohenpriester. Unser Herr ist »nach der Ordnung Melchisedeks Hoherpriester in Ewigkeit geworden«. Sein ewiges Priestertum garantiert unsere ewige Bewahrung. Genauso sicher, wie wir mit Gott durch seinen Tod versöhnt sind, so werden wir durch sein Leben als unser Hoherpriester zur Rechten Gottes errettet (Röm 5,10).
Diese Erwähnung des Hohenpriestertums Jesu »nach der Ordnung Melchisedeks« erinnert uns daran, dass dieses Thema in Kapitel 5,10 unterbrochen wurde, als der Autor abschweifte, um vor dem Abfall zu warnen. Nun ist er bereit, sein Thema wiederaufzunehmen. Es geht darum, dass das Hohepriestertum Christi größer ist als dasjenige Aarons. Der Verfasser ist geschickt zu seinem Hauptgedankengang zurückgekehrt.
7,1 »Melchisedek« ist eine geheimnisvolle Person, die nur kurz auf dem Schauplatz der menschlichen Geschichte erschien  (1. Mose  14,18-20)  und  dann wieder verschwand. Jahrhunderte später wird sein Name noch einmal von David erwähnt (Ps 110,4). Dann, ebenfalls viele Jahrhunderte später, erscheint er noch einmal im Hebräerbrief. Eines ist offensichtlich: Gott hat die Einzelheiten seines Lebens so gestaltet, dass er ein wunderbares Vorbild für unseren Herrn Jesus Christus werden konnte.
In diesen ersten drei Versen von Kapitel 7 erfahren wir einige historische Fakten über ihn. Wir werden daran erinnert, dass er »König« und »Priester« in einer Person war. Er war gleichzeitig »König von Salem« (später Jerusalem) und »Priester Gottes, des Höchsten«. Er war der politische und geistliche Führer seines Volkes. Dies ist natürlich Gottes Idealvorstellung – die Tatsache, dass es keine Trennung zwischen dem Heiligen und dem Gewöhnlichen gibt. Wenn sündige Menschen regieren, ist es notwendig, Staat und Kirche zu trennen. Nur wenn Christus in Gerechtigkeit regieren wird, wird es möglich sein, den Bereich des Heiligen und des Gewöhnlichen zu verbinden (Jes 32,1.17).
»Melchisedek« begegnete »Abraham«, als dieser von einem militärischen Sieg »zurückkehrte«, und »segnete ihn«. Die Bedeutung dieser Handlung wird erst in Vers 7 erklärt. Wenn wir nur das AT hätten, könnten wir nie die tiefe Bedeutung dieser scheinbar so unbedeutenden Einzelheiten erkennen.
7,2 »Abraham« gab diesem geheimnisvollen Priesterkönig »den Zehnten« von der gesamten Beute. Und wieder müssen wir bis zu den Versen 4.6.8-10 warten, um die verborgene Bedeutung der Tatsache zu erfahren, dass Abraham hier den Zehnten entrichtete. In der Schrift steht der Name eines Menschen oft für seine Eigenschaften. Wir erfahren hier einiges über Melchisedeks Namen und seinen Titel: Sein Name bedeutet »König der Gerechtigkeit«, sein Titel (»König von Salem«) bedeutet »König des Friedens«.
Es ist nicht unbedeutend, dass zuerst die »Gerechtigkeit« und dann erst der »Friede« erwähnt wird. Es gibt erst dann Frieden, wenn Gerechtigkeit herrscht. Wir sehen das deutlich am Werk Christi. Am Kreuz »sind Gnade und Wahrheit sich begegnet, Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst« (Ps 85,11). Weil der Heiland alle gerechten Ansprüche Gottes an uns wegen unserer Sünden erfüllte, können wir Frieden mit Gott haben.
7,3 Das Rätsel um Melchisedek wird noch geheimnisvoller, wenn wir lesen, dass er weder »Vater« noch »Mutter« hatte, und von ihm weder »Geschlechtsregister« noch Geburt oder Tod erwähnt werden. Wenn wir diese Aussagen aus ihrem Kontext reißen, könnten wir zu dem Schluss kommen, dass er ein Besucher aus dem Himmel oder von einem anderen Planeten bzw. ein besonderes Geschöpf Gottes war.
Doch der Schlüssel zum Verständnis liegt darin, diese Aussagen in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Es geht hier um das Priestertum. Der Verfasser zeigt die Unterschiede zwischen dem melchisedekschen und dem aaronitischen Priestertum auf. Um zum aaronitischen Priestertum zugelassen zu werden, musste der betreffende Mann aus dem Stamm Levi und der Familie Aarons stammen. Die Abstammung war von höchster Bedeutung. Zudem begann seine Eignung mit seiner Geburt und endete mit dem Tod.
Das Priestertum Melchisedeks war ganz anderer Art. Er erbte es nicht, indem er in eine Priesterfamilie hineingeboren wurde. Gott wählte ihn einfach aus und machte ihn zum Priester. Bezüglich seines Priestertums gab es keinerlei Aufzeichnungen über seinen »Vater«, seine »Mutter« oder sein »Geschlechtsregister«. In seinem Fall war das nicht wichtig, und soweit es die Aufzeichnungen betrifft, wird auch seine Geburt oder sein Tod nicht erwähnt. Deshalb ist sein Priestertum noch immer in Kraft.
Wir sollten hieraus nicht schließen, dass Melchisedek keine Eltern hatte, dass er nicht geboren wurde und nicht starb. Darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass es, soweit es um sein Priestertum ging, diese wichtigen statistischen Angaben fehlen, weil sein Dienst als Priester von ihnen nicht abhing.
Er war nicht der Sohn Gottes, wie einige irrtümlicherweise denken, sondern »gleicht dem Sohn Gottes« in dieser Hinsicht, dass sein Priestertum ohne Unterbrechung weitergeführt wurde. Nun wird der Verfasser zeigen, dass das Priestertum Melchisedeks der priesterlichen Stellung Aarons überlegen war. Es gibt in dem Beweis drei Argumente: das Argument bezüglich des Zehnten und der Segnung, das Argument bezüglich der stattgefundenen Veränderung sowie der Ablösung des aaronitischen Priestertums und das Argument hinsichtlich des ewigen Bestands des melchisedekschen Priestertums.
7,4 In den Versen 4-10 geht es um das erste Argument. Es beginnt mit einem ungewöhnlichen Ausruf, der die Leser auffordert, über die Größe Melchisedeks nachzudenken. »Schaut aber, wie groß dieser ist, dem Abraham, der Patriarch, den Zehnten von der Beute gab.« Weil Abraham einer der größten Sterne des hebräischen Himmels war, folgt daraus, dass Melchisedek ein noch größerer Stern sein musste.
7,5 Die Leviten waren vom Gesetz ermächtigt, »den Zehnten« von ihren Landsleuten zu nehmen. Sowohl die Priester als auch die Angehörigen des Volkes führten ihre Abstammung auf »Abraham«, den Vater der Gläubigen, zurück.
7,6 Doch wenn Melchisedek »den Zehnten von Abraham genommen« hat, dann war dies eine ungewöhnliche und unkonventionelle Handlung. Abraham, der der Vater des Volkes genannt wird, aus dem der Messias kommen sollte, zahlte jemandem Tribut, der auf keinerlei Weise mit dem erwählten Volk verbunden war. Melchisedeks Priestertum hat alle volksgruppenbezogenen Barrieren gesprengt.
Eine andere bedeutsame Tatsache ist, dass Melchisedek Abraham »gesegnet« hat. Er sagte: »Gesegnet sei Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde geschaffen hat!« (1. Mose 14,19.20).
7,7 Wenn ein Mann einen anderen segnet, dann bedeutet das gleichzeitig, dass der Höhere den Niedrigeren segnet. Damit ist natürlich keine persönliche oder moralische Unterlegenheit, sondern einfach eine stellungsmäßige Unterlegenheit gemeint.
Wenn wir diese auf dem AT beruhenden Argumente lesen, sollten wir versuchen, uns die Reaktion der Hebräer darauf vorzustellen. Sie hatten Abraham immer als einen der größten Nationalhelden verehrt, und das mit Recht. Doch nun erfahren sie, dass Abraham einen »Nichtjuden« als höherrangig anerkannte. Man stelle sich das einmal vor! Das stand schon immer in ihrer Bibel, und sie hatten es nie bemerkt.
7,8 In der aaronitischen Priesterschaft wurde der Zehnte von Männern eingenommen, die dem Tod unterworfen waren. Immer wieder kamen neue Hohep riester, von denen jeder seiner Generation diente, und dann starb. Im Falle Melchisedeks wird nie erwähnt, dass er gestorben wäre. Deshalb kann er für eine Priesterschaft stehen, die in dem Sinne einzigartig ist, dass sie ewigen Bestand hat.
7,9 Indem Melchisedek von »Abraham« den Zehnten erhielt, empfing er ihn praktisch auch von »Levi«. Da Levi das Haupt des Priesterstammes war, läuft dies darauf hinaus, dass die aaronitische Priesterschaft Melchisedek den »Zehnten« gezahlt hat, und damit die Überlegenheit Melchisedeks anerkannte.
7,10 Durch welche Argumentationskette kann behauptet werden, dass Levi Melchisedek den Zehnten gezahlt hat? Nun, zunächst einmal war es natürlich Abraham, der den Zehnten entrichtete. Er war der Urgroßvater Levis. Obwohl Levi noch nicht geboren war, war er doch schon »in der Lende des« Abraham, d. h. er sollte von dem Patriarchen abstammen. Abraham handelte also als Stellvertreter seiner gesamten Nachkommenschaft, als er Melchisedek den Zehnten gab. Deshalb nahm Levi (und mit ihm die von ihm abstammende Priesterschaft) den zweiten Platz hinter Melchisedek und seinem Priestertum ein.
7,11 In den Versen 11-20 finden wir das zweite Argument, das zeigt, dass Melchisedeks Priestertum der priesterlichen Stellung Aarons überlegen ist. Die Argumentation lautet, dass es in der Priesterschaft einen Wechsel gegeben hat. Die Priesterschaft Christi hat das levitische Priestertum abgelöst. Das wäre nicht notwendig gewesen, wenn das levitische Priestertum seinen Zweck voll und ganz erfüllt hätte.
Tatsache ist jedoch, dass »Vollendung durch das levitische Priestertum« nicht erreichbar war. Die Sünden wurden nicht hinweggetan, während die Gottesdienstteilnehmer nie völlige Gewissensruhe erlangten. Die Priesterschaft, die im Rahmen des mosaischen Gesetzes berufen wurde, besaß keinen endgültigen Status. Eine andere Art des Priestertums ist jetzt eingesetzt worden. Der vollkommene Priester ist gekommen, wobei sein Priestertum nicht »nach der Ordnung Aarons«, sondern »nach der Ordnung Melchisedeks« eingesetzt wurde.
7,12 Es steht also fest, dass »das Priestertum geändert« worden ist. Dies zwingt zu der Folgerung, dass die gesamte Gesetzesordnung, worauf das Priestertum beruht, ebenfalls Änderungen unterworfen ist. Das ist eine sehr radikale Feststellung! Wie eine Glocke läutet sie das Ende der alten Ordnung ein und begrüßt die neue. Wir stehen nicht mehr unter dem Gesetz!
7,13 Dass das Gesetz geändert worden ist, zeigt sich in der Tatsache, dass der Herr Jesus »zu einem anderen Stamm gehört«, der durch das levitische Gesetz von priesterlichen Aufgaben eigentlich ausgeschlossen war.
7,14 »Unser Herr« stammte nämlich aus dem Stamme »Juda«. Das mosaische Gesetz berechtigte niemals einen Nachkommen dieses Stammes zum Priestertum. Doch Jesus ist ein Priester. Wie kann das sein? Weil das Gesetz geändert worden ist.
7,15 Der Autor hat noch weitere Beweise, dass es im Gesetz der Priesterschaft eine große Veränderung gegeben hat. Eine andere Art von »Priester … gleich dem Melchisedek« ist aufgestanden, wobei sich seine Eignung für diese Stellung von den entsprechenden Voraussetzungen der Söhne Aarons völlig unterscheidet.
7,16 Die levitischen Priester konnten dadurch, dass sie die Anforderungen des Gesetzes an die leibliche Abstammung erfüllten, zu Priestern werden. Sie mussten dem Stamm Levi und der Familie Aarons angehören.
Doch der Herr konnte durch die »Kraft seines unauflöslichen Lebens« Priester wie Melchisedek werden. Es geht hier nicht um eine Abstammung, sondern um persönliche, eigene Kraft. Jesus wird ewig leben.
7,17 Dies wird durch die Worte aus Psalm 110,4 bestätigt, wo David auf das Priestertum des Messias hinweist: »Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.« Hier liegt die Betonung auf den Worten »in Ewigkeit«. Sein Dienst wird niemals enden, weil sein Leben niemals enden wird.
7,18 Das Gesetz, das die aaronitische Priesterschaft einsetzte, ist »seiner Schwachheit und Nutzlosigkeit wegen« aufgehoben worden. Durch die Ankunft Christi ist es ungültig geworden. In welchem Sinne war nun das Gesetz schwach und nutzlos? War es nicht von Gott selbst gegeben worden? Konnte Gott etwas geben, das kraftlos und nutzlos war? Die Antwort lautet, dass Gott niemals geplant hat, dass dies das endgültige Priestergesetz sein würde. Es sollte darauf vorbereiten, dass Gottes ideales Priestertum kommen würde. Es war ein teilweises und der Zeit unterworfenes Bild des Vollkommenen und Endgültigen.
7,19 Es war auch schwach und nutzlos in dem Sinne, dass es »nichts zur Vollendung gebracht« hat. Die Menschen durften niemals in die Gegenwart Gottes im Allerheiligsten treten. Diese erzwungene Distanz zwischen Gott und Menschen war eine ständige Erinnerung dara n, dass die Sündenfrage noch nicht ein für alle Mal gelöst war. Doch nun ist »eine bessere Hoffnung eingeführt« worden, »durch die wir Gott nahen«. Diese »bessere Hoffnung« ist der Herr Jesus selbst. Diejenigen, die ihn als ihre einzige Hoffnung festhalten, haben jederzeit vollkommenen Zugang zu »Gott«.
7,20 Nicht nur die Ordnung des Priestertums und das entsprechende Gesetz sind geändert worden. Vielmehr erfolgte auch die Einsetzung der neuen Ordnung auf ganz andere Art, wie wir sehen werden. Die Argumentation dreht sich hier um den Gebrauch des »Eidschwurs« Gottes im Zusammenhang mit dem Priestertum Christi. Der »Eidschwur« bezeichnet die Einführung des Unveränderlichen und Ewigen. Rainsbury sagt: »Nichts weniger als der Eid des allmächtigen Gottes garantiert die Wirksamkeit und den ewigen Bestand des Priestertums unseres geliebten Herrn Jesus.«10
7,21 Die aaronitischen Priester wurden »ohne Eidschwur« ernannt. Deshalb wird hier im Grunde ausgesagt, dass ihre Priesterschaft absichtlich nur vorläufig und nicht auf Dauer angelegt war. Doch Gott hat Christus bei der entsprechenden Anrede als »Priester« »mit Eidschwur« angesprochen. Die Form des Schwures findet sich in Psalm 110,4: »Der Herr hat geschworen, und es wird ihn nicht gereuen: Du bist Priester in Ewigkeit!« Henderson sagt:
Gott unterstützt den Auftrag Christi mit den ewigen Wahrheiten seines Throns und den unveränderlichen Eigenschaften seines Wesens. Wenn sie sich ändern könnten, dann würde sich auch das neue Priestertum ändern. Doch diese Eigenschaften bleiben auf ewig unveränderlich!11
7,22 Daraus folgt, dass »Jesus auch eines besseren Bundes Bürge geworden« ist. Das aaronitische Priestertum war Teil des alten Bundes. Demgegenüber gehört das Priestertum Christi zum neuen »Bund«. Bund und Priestertum stehen und fallen miteinander.
Der neue Bund ist eine bedingungslose Übereinkunft der Gnade, die Gott mit dem Haus Israel und dem Haus Juda treffen wird, wenn der Herr Jesus sein irdisches Reich errichten wird (Jer 31,33.34). Die Gläubigen heute genießen schon einige der Segnungen des neuen Bundes, doch er wird erst dann vollständig erfüllt werden, wenn Israel wiederhergestellt und als Volk erlöst worden ist. »Jesus« ist der »Bürge« des neuen »Bundes« in dem Sinne, dass er selbst die Garantie für ihn ist. Durch seinen Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung schuf er die gerechte Grundlage, worauf Gott die Bedingungen des Bundes erfüllen konnte. Seine ewige Priesterschaft ist auch an entscheidender Stelle mit der zuverlässigen Erfüllung der Bundesbedingungen verbunden.
7,23 Wir kommen nun zum dritten und abschließenden Argument bezüglich der Überlegenheit des melchisedekschen Priestertums.
Die Priester Israels waren immer »in größerer Anzahl« vorhanden. Man sagt, es habe 84 Hohepriester in der Geschichte des Volkes gegeben, und es gab natürlich noch unzählige Priester in niedrigerer Stellung. Das Amt ging immer wieder auf andere über, weil die jeweiligen Amtsi nhaber ausnahmslos dem »Tod« entgegengingen. Der Dienst litt unter diesen unausweichlichen Unterbrechungen.
7,24 Im Falle der Priesterschaft Christi gibt es kein solches Versagen, denn er lebt »in Ewigkeit«. Sein »Priestertum« wird niemals an jemand anders übertragen, und es gibt keine Unterbrechung in seinem Dienst. Sein »Priestertum ist »unveränderlich« und nicht übertragbar.
7,25 Weil er ewig »lebt, kann er auch völlig erretten, die durch ihn Gott nahen«. Wir sind normalerweise der Ansicht, dass sich dies auf sein Werk als derjenige bezieht, der Sünder von der Sündenstrafe erlöst, doch in Wirklichkeit spricht der Verfasser davon, dass im Rahmen des Werkes Christi Heilige von der Sündenmacht erlöst werden. Es ist weniger seine Rolle als Heiland sondern vielmehr seine Aufgabe als Hoherpriester, die hier im Vordergrund steht. Es besteht keine Gefahr, dass irgendein Gläubiger verlorengeht. Die ewige Sicherheit der Gläubigen beruht darauf, dass Jesus sich ständig »für sie verwendet«. Er kann sie »auch« für alle Zeit »völlig erretten«, weil sein gegenwärtiger Dienst für sie zur Rechten Gottes niemals vom Tod unterbrochen werden kann.
7,26 Christi Priestertum ist der priesterlichen Stellung Aarons überlegen, weil er so viel überragender ist. Er ist »heilig«, wenn er vor Gott steht. Er ist »unschuldig« (Elb) bzw. sündlos in seinem Umgang mit Menschen. Er ist »unbefleckt« in seinem persönlichen Charakter. Er ist in seinem Leben zur Rechten Gottes »abgesondert von den Sündern«. Er ist »höher als die Himmel geworden« in seiner gegenwärtigen und ewigen Herrlichkeit. Es »geziemte sich für uns«, einen solchen Hohenpriester zu haben.
7,27 Ganz anders als die levitischen Priester braucht unser Hoherpriester »nicht Tag für Tag« Opfer »darzubringen …; denn dies hat er ein für alle Mal getan«. Er braucht »für die eigenen Sünden« kein Opfer »darzubringen«, weil er absolut sündlos ist. Ein dritter erstaunlicher Aspekt, hinsichtlich dessen er sich von den früheren Priestern unterscheidet, ist die Tatsache, dass »er sich selbst« für die Sünden des Volkes »dargebracht hat«. Der Priester gab sich selbst als Opfer hin. Welch wundervolle unvergleichliche Gnade Jesu!
7,28 »Das Gesetz« setzt »Hohepriester« ein, die unvollkommen sind. Sie sind von »Schwachheit« und Versagen gekennzeichnet; sie sind nur in ritueller Hinsicht heilig.
Gottes »Eidschwur« jedoch, der nach dem Gesetz gegeben wurde, »bestellt … einen Sohn« als Priester, »der in Ewigkeit vollendet ist«. Dieser Schwur wurde in Vers 21 dieses Kapitels erwähnt und aus Psalm 110,4 zitiert.
In den Versen, die wir soeben untersucht haben, liegen enorme Schlussfolgerungen verborgen. Das menschliche Priestertum ist durch ein göttliches und ewiges Priestertum ersetzt worden. Wie töricht ist es dann, wenn Menschen eine Priesterordnung nach dem AT einsetzen und in die Aufgaben unseres großen Hohenpriesters eingreifen wollen! B. Christi Dienst ist dem aaronitischen überlegen (Kap. 8)
8,1 In den folgenden Versen wird gezeigt, dass Christus von seinem Dienst her Aaron überlegen ist, weil er in einem besseren  Heiligtum  (V. 1-5)  und  unter  einem besseren Bund dient (V. 7-13). Nun kommt der Verfasser zur »Hauptsache« seiner Argumentation. Er fasst hier nicht zusammen, was er schon gesagt hat, sondern stellt die Hauptthese dessen auf, was er in diesem Brief zu sagen beabsichtigt.
»Wir haben einen solchen Hohenpriester.« In den Worten »wir haben« findet sich ein triumphierender Grundton wieder. Es ist die Antwort an die Juden, die die ersten Christen mit den Worten verspotteten: »Wir haben das Zelt der Begegnung, wir haben die Priesterschaft, wir haben die Opfer, wir haben die Zeremonien, wir haben den Tempel, wir haben die wundervollen priesterlichen Gewänder.« Die zuversichtliche Antwort des Gläubigen lautet: »Ja, ihr habt die Schatten, doch wir haben die Erfüllung. Ihr habt die Zeremonien, doch wir haben Christus. Ihr habt das Bild, doch wir haben die Person, die das Bild darstellt. Und unser Hoherpriester hat ›sich gesetzt … zur Rechten des Thrones der Majestät‹. Kein anderer Hoherpriester hat sich je angesichts eines erfüllten Werkes niedersetzen können, und keiner hatte solch einen Ehrenplatz und solche Vollmacht.«
8,2 Christus dient dem Volk im »Heiligtum« des Himmels. Dies ist das »wahrhaftige Zelt«, wovon das irdische Heiligtum nur ein Abbild war. Das »wahrhaftige Zelt« hat »der Herr errichtet, nicht ein Mensch« wie im Falle des irdischen Zeltes.
8,3 Weil eine der Hauptaufgaben eines »Hohenpriesters« darin besteht, »sowohl Gaben als auch Schlachtopfer darzubringen«, folgt daraus, dass unser Hoherpriester dies ebenfalls tun muss. »Gaben« bezeichnet hier alle Arten von Opfern, die Gott dargebracht wurden. Bei »Schlachtopfern« brachte der Betreffende ein Tier dar, das getötet wurde. Was opfert Christus nun? Die Frage wird erst in Kapitel 9 direkt beantwortet.
8,4 Dieser Vers übergeht die Frage, was Christus opfert, und erinnert uns einfach daran, dass er »auf Erden« nicht einmal geeignet wäre, im Allerheiligsten des Tempels Gaben zu opfern. Unser Herr stammte aus dem Haus Juda und nicht aus dem Stamm Levi oder der Familie Aarons. Aus diesem Grund war er nicht berechtigt, im irdischen Heiligtum zu dienen. Wenn wir in den Evangelien lesen, dass der Herr Jesus in den Tempel ging (s. Lk 19,45), müssen wir darunter vers tehen, dass er nur in die Vorhöfe und nicht in das Heiligtum selbst oder gar ins Allerheiligste ging.
Dies erhebt natürlich die Frage, ob Christus hohenpriesterliche Funktionen erfüllte, während er hier noch auf Erden war, oder ob sein priesterlicher Dienst erst begann, als er in den Himmel aufgefahren war. Die Hauptsache in Vers 4 ist jedoch, dass er auf Erden nicht zum levitischen Priestertum zugelassen war, und nicht im Tempel in Jerusalem dienen durfte. Doch das bedeutet nicht, dass er nicht die Aufgaben eines melchisedekschen Priesters hätte wahrnehmen können. Schließlich ist sein Gebet in Johannes 17 ein hohenpriesterliches Gebet, und seine Selbsta ufopferung als vollkommenes Opfer auf Golgatha war ganz gewiss eine priesterl iche Handlung (s. 2,17).
8,5 Das Heiligtum auf Erden war eine Nachbildung des »himmlischen« Heiligtums. Seine Gestaltung zeigte die Art, wie das Bundesvolk Gottes ihm in Anbetung nahen konnte. Zunächst gab es die Tür des Vorhofes, dann den Brandopferaltar, dann das eherne Waschbecken. Danach betraten die Priester das eigentliche Heiligtum, während der Hohepriester ins Allerheiligste ging, wo Gott selbst anwesend war.
Das »Zelt« selbst war niemals dazu bestimmt, das endgültige Heiligtum zu sein. Es war nur ein »Abbild und Schatten«. Als Gott Mose auf den Berg Sinai rief und ihn beauftragte, das Zelt der Begegnung zu bauen, gab er ihm eindeutige Pläne mit, die er zu befolgen hatte. Dieses »Muster« war ein Abbild einer höheren, »himmlischen«, geistlichen Realität. Warum betont der Verfasser dies so ausdrücklich? Er will einfach alle Menschen, die versucht sein mögen, zum Judentum zurückzukehren, warnen: Falls die Betreffenden dies tun, würden sie das Eigentliche um der Schatten willen verlassen, wo sie sich doch von den Schatten zum Eigentlichen bewegen sollten. Vers 5 lehrt eindeutig, dass die Einrichtungen des AT Abbilder himmlischer Wirklichkeiten sind. Deshalb rechtfertigt er die Typologie (die Lehre von den Vorbildern), wenn sie im Einklang mit der Schrift und ohne Absurditäten weitergegeben wird.
8,6 Dieser Vers ist ein Übergang zwischen dem Thema des besseren Heiligtums und dem Grundgedanken eines »besseren Bundes«.
Zunächst haben wir es mit einem Vergleich zu tun. Christi Dienst ist dem Dienst der aaronitischen Priester so überlegen, wie der von ihm geschlossene Bund besser als der alte ist. Als Zweites erfahren wir einen Grund für die Überlegenheit: Der »Bund« ist »besser«, weil er auf »besseren Verheißungen« beruht.
Christi »Dienst« ist unendlich viel besser. Christus opferte sich selbst und brachte kein Tier dar. Er legte den Wert seines eigenen Blutes dar, nicht den Wert des Blutes von Stieren und Böcken. Er nahm die Sünde weg und bedeckte sie nicht nur. Er gab den Gläubigen ein gutes Gewissen, statt sie jährlich an die Sünde zu erinnern. Er bereitet uns den Weg in die Gegenwart Gottes, statt uns draußen von fern stehen zu lassen. Er ist auch »Mittler eines besseren Bundes«. Als »Mittler« steht er zwischen Gott und Menschen, um die Kluft der Entfremdung zu überbrücken. Griffith Thomas vergleicht die beiden Bünde in prägnanter Form:
Der Bund ist »besser«, weil er absolut ist statt bedingt, geistlich statt fleischlich, allumfassend statt ortsgebunden, ewig statt zeitlich, individuell statt national, innerlich statt äußerlich.12
Es ist ein »besserer Bund«, weil er sich auf »besseren Verheißungen« gründet. Der Bund des Gesetzes verhieß Segen im Falle des Gehorsams, doch drohte er den Ungehorsamen mit dem Tod. Er forderte Gerechtigkeit, doch gab er nicht die Fähigkeit zur Gerechtigkeit. Der neue Bund ist ein Bund der bedingungslosen Gnade. Er gibt Gerechtigkeit, wo keine ist. Er lehrt die Menschen, gerecht zu leben, gibt ihnen die Kraft dazu und belohnt sie dafür.
8,7 »Jener erste Bund« war nicht vollkommen, d. h. er konnte nicht die ideale Beziehung zwischen Gott und Mensch herstellen. Er war nie als endgültiger Bund, sondern als Vorbereitung auf das Kommen Christi gedacht. Die Tatsache, dass später ein »zweiter« Bund erwähnt wird, zeigt, dass der »erste« nicht dem Ideal entsprach.
8,8 Eigentlich lag das Problem nicht am ersten Bund selbst: »So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut« (Röm 7,12). Das Problem waren die Menschen, denen er geg eben war, das Gesetz musste mit schlechten Rohmaterial arbeiten – was das moralische Niveau der Israeliten betraf. Das wird hier ausgesagt: »Denn tadelnd spricht er zu ihnen …« Der Fehler lag nicht beim Bund, sondern beim Bundesvolk. Der erste Bund beruhte auf dem Gehorsamsversprechen des Menschen (2. Mose  19,8;  24,7),  und  deshalb  konnte er nicht lange bestehen. Der neue Bund ist vom Anfang bis zum Ende eine Auflistung dessen, was Gott zu tun versprochen hat, und darin liegt die Stärke dieses Bundes.
Der Verfasser zitiert nun Jeremia 31,31-34. Damit will er zeigen, dass Gott schon in den heiligen Schriften des Judentums einen neuen Bund verheißen hat. Die ganze Argumentation dreht sich um das Wort »neu«. Wenn der alte Bund ausreichend und zufriedenstellend gewesen wäre, ergab sich die Frage: Warum hätte es dann einen neuen geben müssen? Doch Gott hat ausdrücklich verheißen, »mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund« zu schließen. Wie schon vorher erwähnt, hat der »neue Bund« es in der Hauptsache mit dem Volk »Israel« und nicht mit der Gemeinde zu tun. Er wird seine völlige Erfüllung finden, wenn Christus wiederkommt, um über ein bußfertiges und erlöstes Volk zu herrschen. In der Zwischenzeit werden einige der Segnungen des Bundes von allen Gläubigen genossen. Deshalb sagte der Heiland zu seinen Jüngern, als er den Kelch mit dem Wein an seine Jünger weitergab: »Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis« (1. Kor 11,25). Henderson zitiert das Folgende: Und so unterscheiden wir zwischen der ursprünglichen Auslegung für Israel und der weiteren, geistlichen Anwendung auf die Gemeinde heute. Wir genießen jetzt in der Kraft des Heiligen Geistes die Segnungen des neuen Bundes, und doch wird er nach Gottes Verheißung noch eine weitere und zukünftige Erfüllung für Israel finden.13
8,9 Gott hat insbesondere verheißen, dass der neue Bund nicht wie der »Bund« sein würde, den er »mit ihren Vätern« geschlossen hat, als er »ihre Hand ergriff, um sie aus … Ägypten herauszuführen«. In welcher Weise würde der neue Bund anders sein? Gott sagt es nicht ausdrücklich, doch wahrscheinlich findet sich die Antwort im Rest des Verses: »… denn sie blieben nicht in meinem Bund, und ich kümmerte mich nicht um sie, spricht der Herr.« Der Bund des Gesetzes reichte nicht aus, weil er auf Bedingungen beruhte. Er forderte ein Volk zum Gehorsam auf, das ihn nicht leistete. Indem er den neuen Bund zu einem bedingungslosen Bund der Gnade machte, umgeht Gott jegliche Möglichkeit des Scheiterns, weil die Erfüllung des Bundes nur von ihm selbst abhängt und seine Worte nicht hinfällig werden können.
Das Zitat aus Jeremia enthält eine radikale Veränderung. Die Worte des heb räischen Textes aus Jeremia 31,32 lauten: »… obwohl ich doch ihr Herr war.« Einige frühe Übersetzungen von Jeremia lesen: »… und ich kümmerte mich nicht um sie.« Der Heilige Geist, der die Worte Jeremias inspirierte und über der Bewahrung der Bibel wachte, leitete den Verfasser des Hebräerbriefes an, diese alternative Lesart zu wählen.
8,10 Man beachte die Wiederholung der  Worte  »ich  will«  (LU 1984).  Das  AT sagt, was der Mensch tun muss, das NT sagt uns, was Gott tun will. Zunächst werden die »Tage« vorbeigehen, in denen die Angehörigen des Volkes Israel ungehorsam waren. Dann wird Gott seine »Gesetze … in ihren Sinn« schreiben, sodass sie diese kennen, und »auf ihre Herzen«, sodass sie sie lieben. Sie werden gehorchen wollen, nicht aus Angst vor Bestrafung, sondern aus Liebe zu Gott. Das Gesetz wird nicht mehr in Stein gehauen sein, sondern auf den Tafeln ihrer Herzen geschrieben stehen.
»Ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein  Volk  sein«  (LU 1984).  Das  kündet von Nähe. Das AT gebot dem Menschen, Gott fernzubleiben, die Gnade fordert ihn auf, sich zu nahen. Der Vers spricht auch von einer ungebrochenen Beziehung und einer bedingungslosen Sicherheit. Nichts kann je dieses bluterkaufte Band wieder lösen.
8,11 Der neue Bund umfasst auch allgemeine Erkenntnis über den Herrn. Während der herrlichen Regentschaft Christi wird es nicht notwendig sein, »seinen Mitbürger« oder »seinen Bruder« zu »lehren«, den Herrn zu erkennen. Jeder wird ein inneres Bewusstsein von ihm haben, »vom Kleinen bis zum Großen unter ihnen«. »Denn das Land wird voll von Erkenntnis des Herrn sein, wie von Wassern, die das Meer bedecken« (Jes 11,9).
8,12 Das Beste von allem ist jedoch, dass der neue Bund einem ungerechten Volk Barmherzigkeit und ewiges Vergessen »ihrer Sünden« verheißt. Das Gesetz war unbeugsam: »Jede Übertretung und jeder Ungehorsam empfing gerechte Vergeltung« (Hebr 2,2).
Zudem konnte das Gesetz nicht wirklich mit der Sünde fertig werden. Es gab zwar Vorkehrungen, die Sünden zu sühnen, aber es bestand keine Möglichkeit, sie wegzunehmen. (Das hebräische Wort für Sühne kommt von dem Verb mit der Bedeutung bedecken.) Die im Gesetz vorgeschriebenen Opfer machten den Menschen  rituell  rein,  d. h.  er  durfte  am gottesdienstlichen Leben des Volkes teilnehmen. Doch diese rituelle Reinigung war äußerlich, sie berührte das innere Leben des Menschen nicht. Sie konnte keine moralische Reinigung bieten oder das Gewissen befreien.
8,13 Die Tatsache, dass Gott einen »neuen Bund« einführt, bedeutet, dass der »erste … veraltet« ist. Deshalb sollten wir noch nicht einmal daran denken, zum Gesetz zurückzukehren. Doch dies entspricht genau dem, was die Namenschristen versucht waren zu tun. Der Schreiber weist sie nachdrücklich darauf hin, dass der Gesetzesbund nicht mehr gilt, weil ein besserer zur Verfügung steht. Sie sollten dem göttlichen Offenbarungsfortschritt Rechnung tragen. C. Christi Opfer ist den alttestamentlichen Opfern überlegen (9,1 – 10,18)
9,1 In 8,3 erwähnte der Verfasser beiläufig, dass jeder Hohepriester etwas haben muss, was er opfern kann. Der Schreiber ist nun bereit, das Opfer unseres großen Hohenpriesters im Gegensatz zu den Opfern des AT zu behandeln. Um in sein Thema einzuführen, erinnert er noch einmal kurz an den Bauplan des Zeltes der Begegnung (der Stiftshütte) und die Anweisungen für den Gottesdienst.
9,2 Die Stiftshütte war ein »Zelt«, in dem Gott unter den Israeliten wohnte, und zwar von der Gesetzgebung am Sinai bis zur Zeit des Tempelbaus. Der Bereich um dieses Zelt wurde Vorhof genannt. Er wurde von einem Zaun umschlossen, der aus einer Reihe von Säulen bestand, die auf bronzenen Fußgestellen ruhten. Zwischen den Säulen waren Leinenplanen gespannt. Nachdem der Israelit den Vorhof des Heiligtums betreten hatte, kam er zum Brandopferaltar, wo die Opfertiere geschlachtet und verbrannt wurden. Dann gelangte er zum Waschbecken, einem großen Bronzegefäß, das Wasser enthielt, in dem die Priester ihre Hände und Füße wuschen.
Das Zelt selbst war etwa 15 Meter lang, 5 Meter breit und 5 Meter hoch. Es war in zwei Teile unterteilt. Der erste, das Heiligtum, war 10 Meter lang; der zweite, das Allerheiligste, war 5 Meter lang. Das Zelt bestand aus einem hölzernen Grundgerüst und war mit Ziegenhaardecken und wasserdichten Decken aus Tierhäuten bedeckt. Nach oben hin, zur Rechten und zur Linken sowie nach hinten hin war es von diesen Zeltbahnen bedeckt. Die Vorderseite war von einem gestickten Vorhang bedeckt.
Im Heiligtum standen drei Einrichtungsgegenstände:
1. Der »Tisch« mit den »Schaubroten«, zwölf Laibe Brot, die für die zwölf Stämme Israel standen. Dieses Brot wurde auch »Brot der Gegenwart« genannt, weil sie vor dem Angesicht oder der Gegenwart Gottes lagen. 2. Der goldene Leuchter mit sieben aufrechten Armen, die Öllampen trugen. 3. Der goldene Räucheraltar, auf dem morgens und abends das heilige Räucherwerk verbrannt wurde.
9,3 »Hinter dem zweiten Vorhang« war »das Allerheiligste«. Hier zeigte Gott seine Gegenwart in einer lichten Wolke. Hier war der eine Ort auf Erden, wo man mit dem Sühneblut Gott nahen konnte.
9,4 Dieser zweite Raum der ursprünglichen Stiftshütte enthielt die »Lade des Bundes«, einen großen hölzernen Kasten, der an allen Seiten »mit Gold überdeckt« war. In dem Kasten befanden sich ein »goldener Krug« mit »Manna …, der Stab Aarons, der gesprosst hatte, und die« zwei »Tafeln des Bundes«. (Als der Tempel später errichtet wurde, waren in der Bundeslade nur noch die beiden Gesetzestafeln; vgl. 1. Kön 8,9.) Vers 4 sagt, dass der »goldene Räucheraltar« auch im Allerheiligsten war. Das griechische Wort, das mit »Räucheraltar«14 übersetzt wird, kann einmal für den Räucheraltar selbst benutzt werden (von dem in 2. Mose 30,6 ausgesagt wird, dass er im Heiligtum stand), oder aber für die Platte mit Räucherwerk, die der Hohepriester am großen Versöhnungstag vom Räucheraltar ins Allerheiligste trug. Mit der letztgenannten Möglichkeit lässt sich das Problem am besten erklären: Der Schreiber betrachtete das Räucherfass (vgl. Elb und Elb 2003) als zum Allerheiligsten gehörig, weil der Hohepriester das vom Altar genommene Räucherwerk am Versöhnungstag in das Allerheiligste hineinbrachte.
9,5 Der goldene Deckel der Bundeslade wurde auch »Versöhnungsdeckel« genannt. Auf ihm waren zwei goldene Figuren angebracht, »Cherubim« genannt. Sie standen einander gegenüber, die Schwingen ausgebreitet und ihre Köpfe dem Deckel der Bundeslade zugewandt. Der Verfasser beendet hier seine kurze Beschreibung. Er will hier nicht zu ausführlich werden, sondern die Einrichtung der Stiftshütte und die Beschreibung, wie man Gott nahen kann, nur kurz andeuten.
9,6 Weil der Verfasser das Opfer Christi mit den Opfern des Judentums vergleichen will, muss er zunächst die Opfer beschreiben, die vom Gesetz verlangt wurden. Es gab sehr viel, was er beschreiben konnte. Er wählt jedoch das Wichtigste der gesamten Gesetzesordnung – das Opfer, das am großen Versöhnungstag dargebracht  wurde  (3. Mose  16).  Wenn er beweisen kann, dass das Werk Christi dem Dienst des Hohenpriesters an diesem hera usragenden Tag des gottesdienstlichen Kalenders Israels überlegen ist, hat er seine Beweisführung beendet. Die Priester hatten Zugang zum ersten Raum der Stiftshütte, d. h. zum Heiligtum. Sie gingen dort ein und aus, um ihre rituellen Pflichten zu erledigen. Das gewöhnliche Volk durfte diesen Raum nicht betreten, sie mussten draußen bleiben.
9,7 Nur ein Mensch auf der Welt durfte ins Allerheiligste gehen – der Hohepriester Israels. Und dieser Mann aus einem bestimmten Volk, aus einem bestimmten Stamm und aus einer bestimmten Familie durfte dort nur an einem einzigen Tag des Jahres eintreten – am großen Versöhnungstag. Als er dort hineinging, musste er ein Becken mit »Blut« mitbringen, »das er darbringt für sich selbst und für die Verirrungen des Volkes«.
9,8 Mit dieser Handlung waren tiefe geistliche Wahrheiten verbunden. »Der Heilige Geist« lehrte damit, dass die Sünde einen tiefen Graben zwischen Mensch und Gott aufgerissen hat. Außerdem lehrte er, dass der Mensch Gott durch einen Mittler nahen musste und der Mittler auch nur durch das Blut eines Opfertieres vor Gott treten konnte. Das Ziel dieser Lektion war es, das Volk zu lehren, »dass der Weg« zur Gegenwart Gottes für die Gläubigen »noch nicht geoffenbart ist«.
Dieser Zustand des begrenzten Zugangs hielt an, »solange das vordere Zelt noch Bestand hat«. Das Zelt der Begegnung wurde während der Regentschaft Salomos durch den Tempel ersetzt. Doch der nach der Babylonischen Gefangenschaft neu errichtete Tempel stand noch bis zum Tod, zur Grablegung und zur Auferstehung Christi. Die Prinzipien, die das Zelt im Blick darauf verkündigte, wie wir Gott nahen können, waren solange gültig, bis der Vorhang des Tempels von oben bis unten in zwei Teile zerrissen wurde.
9,9 Das Zelt der Begegnung »ist ein Gleichnis für die gegenwärtige Zeit«. Es versinnbildlichte etwas Besseres, das noch kommen sollte, und umfasste eine unvollkommene Darstellung des vollkommenen Werkes Christi. Die »Gaben und Schlachtopfer« konnten die Gläubigen »im Gewissen … nicht vollkommen machen«. Wenn die Sünden wirklich weggenommen worden wären, dann wäre das »Gewissen« des Opfernden frei von der Schuld der Sünde gewesen. Doch das geschah nicht.
9,10 Es ist eine Tatsache, dass die levitischen Opfer »nur« für rituelle Verunreinigungen dargebracht wurden. Sie bezogen sich auf solche Äußerlichkeiten, wie z. B. unreine und reine »Speisen und Getränke«, sowie auf zeremonielle »Waschungen«, die die Menschen rituell rein machten, aber sich nicht mit der moralischen Unreinheit befassten. Die Opfer wurden für ein Volk dargebracht, das sich in einer Bundesbeziehung zu Gott befand. Sie waren dazu bestimmt, die Angehörigen des Volkes in einer Stellung ritueller Reinheit zu erhalten, sodass sie Gott anbeten konnten. Die Opfer hatten nichts mit Erlösung oder der Reinigung von Sünde zu tun. Die Menschen wurden durch den Glauben an den Herrn errettet, und zwar auf der Basis des Werkes Christi, das zu dieser Zeit noch in der Zukunft lag.
Schließlich waren die Opfer darüber hinaus zeitlich beschränkt. Sie wurden »bis auf die Zeit einer rechten Ordnung auferlegt«. Sie wiesen auf das Kommen Christi und auf sein vollkommenes Opfer hin. Das christliche Zeitalter ist »die Zeit einer richtigen Ordnung«, worauf hier Bezug genommen wird.
9,11 »Christus« ist »als Hoherpriester der zukünftigen Güter«15 gekommen, d. h. der großen Segnungen, die er denen zueignet, die ihn annehmen. Sein Heiligtum ist »das größere und vollkommenere Zelt«. Es ist »nicht mit Händen gemacht« in dem Sinne, dass es nicht aus Materialien dieser vergänglichen Welt besteht. Es ist das Heiligtum des Himmels, der Wohnstätte Gottes. Nicht jener Tiere Blut,
das einst im Zelt dort floss, spricht für uns arme Sünder gut, noch macht’s von Sünden los. Du trugst, o Gottes Lamm, dein Blut ins Heiligtum
und brachtest dort am Kreuzesstamm ein Opfer Gott zum Ruhm. Verfasser unbekannt
9,12 Unser Herr ist »ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen«. Als er in den Himmel auffuhr, kam er in die Gegenwart Gottes, nachdem er das Werk der »Erlösung« auf Golgatha vollendet hatte. Wir sollten niemals aufhören, uns über diese Worte zu freuen: »ein für alle Mal«. Das Werk ist vollbracht, preist den Herrn! Er opferte sein »eigenes Blut«, nicht das von Stieren oder Böcken. Tierblut hatte keine Kraft, die Sünden hinwegzunehmen. Es war nur wirksam, um Vergehungen gegen die rituellen Gesetze wegzunehmen. Doch das Blut Christi hat unbegrenzten Wert, seine Macht reicht aus, um alle Sünden aller Menschen, die je gelebt haben, die jetzt leben und die in Zukunft leben werden, zu beseitigen. Natürlich wird seine Kraft nur für diejenigen wirksam, die im Glauben zu ihm kommen. Doch das Reinigungspotenzial an sich ist unbegrenzt.
Durch sein Opfer »hat« er »eine ewige Erlösung« für uns erworben. Die früheren Priester konnten nur eine jährliche Sühnung erreichen. Dazwischen besteht ein großer Unterschied.
9,13 Um den Unterschied zwischen dem Opfer Christi und den Zeremonien des Gesetzes zu zeigen, wendet sich der Verfasser nun dem Ritual der roten »Kuh« zu. Im Rahmen des Gesetzes wurde ein Israelit sieben Tage lang zeremoniell unrein, wenn er einen Toten berührte. Das Mittel dagegen war die »Asche einer jungen Kuh«. Sie wurde mit Quellwasser vermischt, das wiederum am dritten und am siebten Tag auf den Verunreinigten gesprengt wurde. Damit wurde er rein. Mantle sagt:
Die Asche wurde als Konzentrat der wesensmäßigen Eigenschaften des Sündopfers angesehen und konnte jederzeit mit verhältnismäßig wenig Aufwand und wenig Zeit eingesetzt werden. Eine rote Kuh konnte mehrere Jahrhunderte reichen. Man sagt, dass während der gesamten jüdischen Geschichte nur sechs verwendet wurden, weil schon die kleinste Menge der Asche ausreichte, um die Reinigungskraft auf reines Quellwasser zu übertragen (4. Mose 19,17).16
9,14 Wenn die Asche einer Kuh solche Reinigungskraft von einer der schlimmsten Arten äußerlicher Verunreinigung hatte, »wie viel mehr« muss dann »das Blut des Christus« Kraft haben, von den abgrundtiefsten inneren Sünden zu »reinigen«!
Jesu Opfer geschah »durch den ewigen Geist«. Es gibt auseinandergehende Meinungen darüber, was dieser Ausdruck bedeutet. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass mit diesem Begriff (»durch einen ewigen Geist«) der willige Geist gemeint ist, in welchem Jesus das Opfer brachte, und zwar im Gegensatz zum unfreiwilligen Charakter der Tieropfer. Andere verstehen darunter »durch Gottes ewigen Geist«. Wir glauben, dass hier eher der Heilige Geist gemeint ist. Es geht also darum, dass Jesus sein Opfer in der Kraft des Heiligen »Geistes« darbrachte. Es war ein Opfer, das »Gott« dargebracht wurde. Jesus war das fehlerlose, sündlose Lamm Gottes, das ihn aufgrund seiner moralischen Vollkommenheit befähigte, unsere Sünden zu tragen. Die Tieropfer mussten äußerlich fehlerlos sein, Jesus dagegen war in moralischer Hinsicht ohne Fehl.
Sein »Blut« reinigt das »Gewissen … von toten Werken«, damit wir »dem lebendigen Gott« dienen können. Es geht nicht nur um eine äußere oder zeremonielle Reinigung, sondern um eine moralische Reinigung des Gewissens. Das Blut reinigt von den toten Werken, die die Ungläubigen vollbringen, um ihre eigene Reinigung zu erwirken. Es befreit den Menschen von diesen toten Werken, »damit« er »dem lebendigen Gott« dienen kann.
9,15 Die vorhergehenden Verse haben betont, dass das Blut des neuen Bundes dem Blut des alten Bundes überlegen ist. Dies führt zu der Schlussfolgerung von Vers 15. Sie besagt, dass Christus »Mittler eines neuen Bundes« geworden ist. Wuest erklärt:
Das Wort »Mittler« ist die Über setzung von »mesites«. Damit wird jemand bezeichnet, der zwischen zwei Parteien ver mittelt, um Frieden zu stiften, Freundschaft zu schließen oder beides wiederherzustellen, um eine Übereinkunft zu treffen oder einen Bund zu besiegeln. Hier wirkt der Messias als Mittler oder Mittelsmann zwischen dem heiligen Gott und dem sündhaften Menschen. Durch seinen Tod am Kreuz nimmt er das Hindernis (die Sünde) weg, den Grund für die Entfremdung zwischen Mensch und Gott. Wenn der Sünder den Wert des Opfers des Messias annimmt, dann ist die Schuld und die Strafe für seine Sünde weggenommen und die Macht der Sünde in seinem Leben gebrochen. Er bekommt Anteil am göttlichen Wesen, und die Entfremdung zwischen ihm und Gott, sowohl im gesetzlichen als auch persönlichen Bereich, verschwindet.17 Nun können die Berufenen das verheißene »ewige Erbe« empfangen. Durch das Werk Christi genießen sowohl die Heiligen des AT als auch diejenigen des NT »ewige« Erlösung und Befreiung. Die Gläubigen der vorchristlichen Zeit werden durch die Tatsache zum Erbe berechtigt, dass jemand gestorben ist, nämlich Christus. Sein Tod erlöst sie »von den Übertretungen unter dem« Gesetz. Als Gott die Menschen des AT errettete, war dies in gewisser Weise »ein im Voraus gewährter Gnadenakt«. Sie wurden genau wie wir durch den Glauben gerechtfertigt. Doch Christus war noch nicht gestorben. Wie konnte Gott sie da retten? Die Antwort lautet, dass er sie aufgrund dessen erlöste, was Christus entsprechend er Vorkenntnis Gottes in Zukunft tun würde. Sie wussten nichts oder kaum etwas von dem, was Christus auf Golgatha tun würde. Doch Gott wusste es schon, und er rechnete ihnen den Wert dieses Werkes an, wenn sie den ihnen gegebenen Offenbarungen glaubten, wie immer diese auch geartet sein mochten. In gewissem Sinne hatte sich im Rahmen des alten Bundes ein großer Schuldenberg von Übertretungen angesammelt. Durch seinen Tod hat Christus die Gläubigen der früheren Haushaltungen von diesen »Übertretungen« erlöst. Die Art, wie Gott sie durch das noch in der Zukunft liegende Werk Christi errettet hat, ist auch als »rückwirkende Sündenvergebung« bezeichnet worden. Nähere Ausführungen dazu finden sich in den Anmerkungen zu Römer 3,25.26.
9,16 Dass der Autor in Vers 15 das Erbe erwähnt, erinnert ihn an ein Testament oder einen Letzten Willen. Ein Testament erlangt erst dann Gültigkeit, wenn der Beweis erbracht ist, dass derjenige, »der das Testament gemacht hat«, gestorben ist. Normalerweise reicht eine Sterbebescheinigung aus.
9,17 Derjenige, der das Testament macht, kann es schon Jahre vor seinem Tod aufgesetzt und in einem Safe sichergestellt haben, doch es tritt erst in Kraft, wenn er stirbt. Solange er noch lebt, kann sein Eigentum nicht unter den im Testament genannten Erben verteilt werden.
9,18 Nun findet ein Themenwechsel vom Testament eines Menschen zum alten »Bund« statt, der von Gott durch Mose geschlossen wurde. (Mit den deutschen Worten »Bund« und »Testament« wird dasselbe griechische Wort, nämlich diatheke, wiedergegeben.) Auch hier musste jemand sterben. Der Bund wurde durch das Vergießen von »Blut« in Kraft gesetzt.
In alter Zeit wurde jeder Bund durch den Opfertod eines Tieres geschlossen. Das Blut war eine Garantie dafür, dass die Bedingungen des Bundes erfüllt wurden.
9,19 Nachdem »Mose« dem Volk das Gesetz vorgetragen hatte, »nahm er das Blut der Kälber und Böcke mit Wasser und Purpurwolle und Ysop und besprengte sowohl das Buch« des Gesetzes »selbst als auch das ganze Volk«. Auf diese Weise besiegelte Mose den Bund feierlich durch eine Zeremonie. In 2. Mose 24,1-11 lesen wir, dass Mose den Altar und »das Volk … besprengte«. Das »Buch« wird nicht erwähnt, auch nicht »Wasser und Purpurwolle und Ysop«. Es ist am besten anzunehmen, dass beide Berichte einander ergänzen. Gott, der durch den Altar vertreten war, und »das ganze Volk« waren die Vertragsparteien. »Das Buch« war der Bund selbst. Das versprengte »Blut« band beide Seiten daran, die Bedingungen des Bundes einzuhalten. Die Angehörigen des Volkes versprachen Gehorsam, während der Herr Segen verhieß, wenn sie gehorsam wären.
9,20 Als Mose das Blut sprengte, sagte er: »Dies ist das Blut des Bundes, den Gott für euch geboten hat.« Diese Handlung forderte das Leben der Menschen, wenn sie das Gesetz nicht halten würden.
9,21 Auf ähnliche Weise »besprengte« Mose »aber auch das Zelt und alle Gefäße«, die im Tempel verwendet wurden »mit dem Blut«. Dieses Ritual findet sich nicht im AT. Das Blut wird bei der Einweihung der Stiftshütte in 2. Mose 40 nicht erwähnt. Die hier gebrauchte Symbolik ist jedoch eindeutig. Alles, was mit dem sündigen Menschen in Berührung kommt, wird verunreinigt und muss wieder gereinigt werden.
9,22 »Fast alle Dinge« im Rahmen des Gesetzes »werden mit Blut gereinigt«. Doch es gab einige Ausnahmen. So konnte z. B. ein Mann, der in einer Volkszählung Israels gemustert wurde, einen halben Schekel Silber als »Lösegeld« zahlen, statt ein blutiges Opfer zu bringen  (2. Mose  30,11-16).  Das  Geldstück versinnbildlichte die Sühne für die Seele dieses Menschen, damit er als Angehöriger des Volkes Gottes angesehen werden konnte. Eine andere Ausnahme lässt sich in 4. Mose 5,11 finden, wo bestimmte Formen ritueller Unreinheit durch ein Feinmehlopfer geregelt werden konnten. Diese Ausnahmen hatten es mit der Sühne oder Bedeckung von Sünden zu tun, obwohl allgemein gesprochen ein blutiges Opfer auch für die Sühne erforderlich war. Doch soweit es um die Sündenvergebung geht, gab es keine Ausnahme: Es musste »Blut« vergossen werden.
9,23 Die restlichen Verse von Kapitel 9 vergleichen die beiden Bünde und stellen sie einander gegenüber.
Zunächst einmal musste das irdische Zelt der Begegnung mit dem Blut von Stieren und Böcken »gereinigt werden«. Wie wir schon gesagt haben, handelte es sich um eine rituelle Reinigung. Es ging um eine symbolische Heiligung eines sinnbildlichen Heiligtums. Das »himmlische« Heiligtum war die Realität, die das irdische Heiligtum nur abbildete. Es musste »durch bessere Schlachtopfer als diese« gereinigt werden,  d. h.  mit  den  »Schlachtopfern« Christi. Die Verwendung des Plurals für das eine Opfer Christi ist ein sprachliches Mittel, das man als »Pluralis Majestatis« (Majestätsplural) bezeichnet. Es mag erstaunlich erscheinen, dass sogar das himmlische Heiligtum »gereinigt« werden muss. Vielleicht findet sich ein Hinweis darauf in Hiob 15,15: »Die Himmel sind nicht rein in seinen Augen.« Zweifellos liegt das daran, dass Satan seine erste Sünde im Himmel beging (Jes 14,12-14) und noch immer Zugang zur Gegenwart Gottes hat (Offb 12,10).
9,24 »Christus« hat das von Menschen errichtete »Heiligtum« nicht betreten, das ein Vorbild oder Abbild des »wahren« Heiligtums war. Vielmehr ist er in »den Himmel selbst« hineingegangen. Dort erscheint er »vor dem Angesicht Gottes für uns«.
Es ist schwierig zu verstehen, waru m jemand das Original verlassen und zur Kopie zurückkehren wollte. Wieso wollte jemand den großen, im himmlischen Heiligtum dienenden Hohenpriester verl assen, um zu den Priestern Israels zurückzukehren, die in einem symbol ischen Zelt dienten?
9,25 Der Herr Jesus brachte keine wiederholten Opfer dar, »wie der« aaronitische »Hohepriester« es tun musste. Der Hohepriester der alten Ordnung ging an einem  Tag  des  Jahres,  d. h.  am  großen Versöhnungstag, »in das Heiligtum« hinein und opferte nicht sein eigenes Blut, sondern das von Opfertieren vergossene Blut.
9,26 Wenn Christus wiederholte Opfer dargebracht hätte, dann hätte das wiederholtes Leiden bedeutet, weil sein Opfer sein eigenes Leben war. Es ist undenkbar, dass er die Schmerzen von Golgatha immer wieder »von Grundlegung der Welt an« hätte erleiden müssen! Und unnötig dazu!
Im Rahmen des neuen Bundes haben wir:
1. Einen Zustand der Endgültigkeit – »Er ist einmal … geoffenbart« worden. Sein Werk muss nicht wiederholt werden.
2. Eine gelegene Zeit – Er erschien »in der Vollendung der Zeitalter«, d. h. nachdem der alte Bund das Versagen und die Machtlosigkeit des Menschen schlüssig bewiesen hatte. 3. Ein vollendetes Werk – Er kam, »um … die Sünde aufzuheben«. Die Betonung liegt hier auf dem Wort »aufheben«. Es muss nicht mehr jährlich Sühne erwirkt werden. Es gibt ewige Vergebung.
4. Ein persönliches Opfer – Er hat die Sünde »durch sein Opfer«, und zwar durch das Opfer seiner Selbsthingabe, weggenommen. An seinem eigenen Leib ertrug er die Strafe, die unsere Sünde verdient hatte.
Für mich ertrugst du Bande, das Kreuz, die Dornenkron’, für mich den Hohn, die Schande; o Preis dir, Gottes Sohn! Verfasser unbekannt
9,27 Die Verse 27 und 28 zeigen offensichtlich einen weiteren Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Bund. Das Gesetz verurteilte die Sünder dazu, »einmal zu sterben, danach aber das Gericht«. Das Gesetz war Menschen gegeben, die schon Sünder waren und es nicht vollkommen halten konnten. Deshalb wurde es zu einem Werkzeug der Verdammnis für alle, die darunter lebten.
9,28 Der neue Bund führt das unendlich vollmächtige Opfer Christi ein. Er wurde »einmal geopfert …, um vieler Sünden zu tragen«. Er stellt die glückselige Hoffnung seiner baldigen Rückkehr dar, und zwar für diejenigen, »die ihn erwarten«. Doch wenn er wiederkommt, dann wird er nicht kommen, um das Problem der »Sünde« zu lösen: Er hat dieses Werk am Kreuz vollendet. Vielmehr wird er kommen, um sein Volk in den Himmel heimzuholen. Dies wird der Höhepunkt des »Heils« sein; »die Erlösten werden verherrlichte Leiber erhalten und für immer dem Bereich der Sünde entzogen sein.
Der Ausdruck »die ihn erwarten« ist eine Beschreibung aller wahren Gläubigen. Alle, die zum Volk des Herrn ge hören, warten auf seine Wiederkunft, auch wenn sie sich nicht einig sein mögen, in welcher Reihenfolge die Ereignisse bei seiner Wiederkehr nun stattfinden werden.
Die Bibel lehrt nicht, dass nur eine bestimmte Gruppe besonders geistl icher Christen bei der Entrückung in den Himmel kommt. Sie beschreibt diejenigen, die an ihr teilhaben, als »die Toten in Christus« und redet von den »Lebenden, die übrig  bleiben«  (1. Thess  4,16.17).  Damit meint sie alle wahren Gläubigen, ob sie nun tot sind oder leben. In 1. Korinther 15,23 werden sie als »die, welche Christus gehören«, bezeichnet. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass in den Versen 24-28 drei verschiedene Erscheinungen Christi genannt werden. Sie können wie folgt zusammengefasst werden:
Vers 26: Er ist erschienen. Das bezieht sich auf sein erstes Kommen, als er diese Erde betrat, um uns von der Strafe der Sünde zu erlösen (Errettung in der Vergangenheit).
Vers 24: Er erscheint jetzt. Das ist ein Hinweis auf seinen jetzigen Dienst in der Gegenwart Gottes, um uns von der Macht der Sünde zu erlösen (Errettung in der Gegenwart).
Vers 28: Er wird erscheinen. Das spricht von seiner baldigen Rückkehr, bei der er uns von der Gegenwart der Sünde erlösen wird (Errettung in der Zukunft).
10,1 »Das Gesetz« war nur »ein Schatten der Güter«, die noch kommen sollten. Es wies auf die Person und das Werk Christi hin, doch es war ein armseliger Ersatz für das Original. Wenn man das Gesetz Christus vorzieht, bedeutet dies, dass man das Bild einer Person der Person selbst vorzieht. Das ist eine Beleidigung seiner Majestät!
Die Schwäche der Gesetzesordnung zeigt sich in der Tatsache, dass ihre Opfer dauernd wiederholt werden mussten. Diese Wiederholung bewies, wie wenig sie den Ansprüchen eines heiligen Gottes gerecht werden konnten. Man beachte die Ausdrücke, die benutzt werden, um diesen Gedanken der Wiederholung auszudrücken: »dieselben Schlachtopfer … alljährlich ununterbrochen« (Elb). Die »Opfer« waren nicht imstande, die Gläubigen »vollkommen« zu »machen«,  d. h.  sie  verhalfen  den  Menschen bezüglich der Sünde nie zu einem vollkommen reinen Gewissen. Die Israeliten kannten nie den Zustand, für immer von der Schuld der Sünde gereinigt zu sein. Sie hatten niemals echte Gewissensruhe.
10,2 Wenn die Opfer sie vollständig und für immer von der Sünde befreit hätten, müsste man sich fragen: Hätten die Israeliten dann »nicht (mit) ihrer Darbringung aufgehört«, statt jährlich zum Zelt der Begegnung bzw. zum Tempel zu reisen? Die regelmäßige Wiederholung der Opfer brandmarkte sie als unzureichend. Wer jede Stunde eine Medizin einnehmen muss, damit er am Leben bleibt, kann kaum als geheilt bezeichnet werden.
10,3 Statt das Gewissen zu befriedigen, hat die levitische Ordnung es jedes Jahr wieder aufgeweckt. Hinter dem wunderbaren Ritual des Versöhnungstages wartete die jährliche Erinnerung an die Tatsache, dass die Sünden nur bedeckt, aber nicht weggenommen waren.
10,4 Das »Blut von Stieren und Böcken« hat einfach nicht die Kraft, »Sünden« wegzunehmen. Wie schon weiter oben erwähnt, galten diese Opfer für rituelle Verfehlungen. Sie vermittelten eine gewisse zeremonielle Reinigung, doch sie versagten völlig dahin gehend, den Betreffenden angesichts ihrer verdorbenen menschlichen Natur oder ihrer böser Taten das göttliche Wohlgefallen zuzueignen.
10,5 Im Gegensatz zur Schwäche der levitischen Opfer kommen wir nun auf die Stärke des überragenden Opfers Christi, wovon jetzt die Rede ist. Als Einleitung dürfen wir Christi Monolog bei seiner Fleischwerdung lauschen. Indem er aus Psalm 40 zitiert, betont der Verfasser Gottes Unzufriedenheit mit den Opfern und Gaben des alten Bundes. Gott hatte diese Opfer eingesetzt, und doch waren sie nie seine endgültige Lösung. Sie waren nicht dazu gedacht, Sünden wegzunehmen. Vielmehr sollten sie auf das Lamm Gottes hinweisen, das die Sünden der Welt tragen würde. Konnte Gott mit Strömen von Tierblut oder mit Haufen von Tierkadavern zufriedengestellt werden?
Ein anderer Grund für Gottes Unzufriedenheit war die Haltung des Volkes. Dessen Angehörige dachten, dass es ihm gefallen könnte, wenn sie der Form halber diese Zeremonien einhielten, während ihr inneres Leben sündig und verdorben war. Viele von ihnen brachten immer wieder Opfer dar, ohne ihre Sünden zu bereuen. Sie dachten, dass Gott mit ihren Tieropfern zufrieden war, wo er doch auf das Opfer ihres zerbrochenen Herzens wartete. Sie erkannten nicht, dass Gott sich mit leeren Riten nicht zufriedengeben konnte!
Weil Gott mit den ersten Opfern unzufrieden war, »bereitete« er einen menschlichen »Leib« für seinen Sohn, der ein wesentlicher Teil seines Wesens und Lebens als Mensch war. Dies bezieht sich natürlich auf das unergründliche Wunder der Menschwerdung, als das ewige Wort Fleisch wurde, sodass es als Mensch für Menschen sterben konnte. Es ist interessant, dass der Satz: »… einen Leib aber hast du mir bereitet« (aus Psalm 40,7 sinngemäß zitiert), noch zwei andere Bedeutungen hat. In diesem Psalm heißt es: »Ohren hast du mir gegraben«, oder: »Die Ohren hast du mir aufgetan« (LU 1984). Das offene Ohr bedeutet natürlich, dass der Messias immer bereit war, Anweisungen von Gott zu empfangen und ihnen sofort zu gehorchen. Das gegrabene Ohr mag eine Anspielung auf einen israelitischen Sklaven sein (2. Mose 21,1-6), dessen Ohr mit einem Pfriem am Türpfosten durchstoßen wurde. Dies war das Zeichen dafür, dass er sich willentlich für immer seinem Herrn gab. In seiner Menschwerdung sagte der Heiland im Grunde: »Ich liebe meinen Herrn, ich möchte nicht frei sein.«
10,6 Indem er weiter aus Psalm 40 zitierte, wiederholte der Messias, dass Gott »kein Wohlgefallen … an Brandopfern und Sündopfern … gefunden« hat. Diese Tiere waren unfreiwillige Opfer, deren Blut nicht reinigen konnte. Auch stellten sie niemals Gottes endgültiges Verlangen dar. Sie waren Bilder und Schatten, die auf das Opfer Christi hinwiesen. Für sich genommen, hatten sie keinen Wert.
10,7 Gott gefiel jedoch die Bereitschaft des Messias, seinen »Willen … zu tun«, ganz gleich, was die Kosten sein mochten. Christus bewies seinen Gehorsam, indem er sich selbst auf dem Opferaltar darbrachte. Als unser Herr diese Worte äußerte, wurde er daran erinnert, dass vom Anfang bis zum Ende des AT von ihm bezeugt wird, dass er von ganzem Herzen daran Gefallen fand, Gottes »Willen« zu tun.
10,8 In den Versen 8-10 beschreibt der Verfasser die geistliche Bedeutung dieses Monologs. Er sieht sie als Ankündigung für das Ende der alten Opferordnung und die Einsetzung des einen, vollkommenen und endgültigen Opfers Jesu Christi. Er wiederholt das Zitat aus Psalm 40 in zusammengefasster Form, um Gottes mangelndes »Wohlgefallen« an den Opfern zu betonen, die »nach dem Gesetz dargebracht werden«.
10,9 Dann sieht der Verfasser die bedeutsame Tatsache, dass sofort nach Gottes Erklärung über sein Missfallen mit der alten Ordnung der Messias gewissermaßen hervortrat, um das eine zu tun, das dem Herzen des Vaters wirklich gefallen würde. Es ist die hier genannte Folgerung: »Er nimmt das Erste weg, um das Zweite aufzurichten«, d. h. er verwirft die alte Opferordnung, die durch das Gesetz bestimmt wurde, und führt sein eigenes großes Opfer für die Sünden ein. Der Gesetzesbund zieht sich an den Rand der Bühne zurück, während der neue Bund in die Mitte tritt.
10,10 Durch »diesen Willen« Gottes, dem Jesus völlig gehorsam war, »sind wir geheiligt durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi«. George Landis kommentiert: Es handelt sich um eine stellungs mäßige Heiligung, wie dies im gesamten Hebräerbrief mit Ausnahme von 12,14 der Fall ist. Sie gilt für alle Gläubigen (1. Kor 6,11) und nicht nur für einige »fortgeschrittene Christen«. Sie wird durch den Willen Gottes und das Opfer Christi hervorgebracht. Wir sind »von« Gott und »für« Gott auserwählt. Wir dürfen es nicht mit dem fortschreitenden Werk der Heiligung durch den Geist Gottes verwechseln, das an dem Gläubigen durch das Wort geschieht (Joh 17,17-19; 1. Thess 5,23).18
10,11 Der Dienst jedes aaronitischen »Priesters« wird nun dem Dienst Christi gegenübergestellt. Die Erstgenannten mussten »täglich« ihre Pflichten erf üllen. Es gab im Zelt der Begegnung oder im Tempel keine Stühle. Sie konnten nicht ruhen, weil ihr Werk nie vollendet war. Sie brachten »oft dieselben Schlachtopfer dar«. Es handelte sich um eine immer wiederkehrende Abfolge festgelegter Handlungen, die das eigentliche Sündenproblem nicht löste und das Gewissen ohne Erleichterung ließ. Diese Opfer konnten »niemals Sünden hinwegnehmen«. »Aaron«, schreibt A. B. Bruce, »war zwar eine wichtige Persönlichkeit in der levitischen Ordnung, doch er war letztlich nur ein Berufener, der tagaus, tagein die gleichen priesterlichen Zeremonien vollführte, die keinen echten Wert hatten«.19
10,12 Unser hochgelobter Herr brachte ein einziges »Schlachtopfer für Sünden« dar. Kein anderes ist je wieder nötig! Frei vom Gesetz, o glückliches Leben, denn der Herr Jesus hat alles vergeben! Christus erlöst uns völlig vom Fall, sein Blut gilt ein für alle Mal! Verfasser unbekannt
Nachdem er das Werk der Erlösung vollendet hat, hat er »sich für immer gesetzt zur Rechten Gottes«. In diesem Vers kann die Zeichensetzung verschieden sein, sodass sich das Wort »für immer« auf verschiedene Worte bezieht. Es heißt entweder dieser aber hat für immer ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht oder aber er hat sich für immer gesetzt. Beides ist richtig, doch wir sind der Ansicht, dass die letztere Möglichkeit die richtige Auslegung ist. Er kann »für immer« sitzen, weil die ungeheuer große Forderung der Sünde erfüllt worden ist. Er sitzt »zur Rechten Gottes«. Dies ist der Ehrenplatz, der seine Macht und die ihm von Gott entgegengebrachte Liebe zeigt. Man mag hier einwenden, dass er nicht »für immer« sitzen kann, weil er sich eines Tages zum Gericht erheben wird. Doch dies ist kein Widerspruch. Soweit es das Sündopfer betrifft, sitzt er »für immer«. Was jedoch das Gericht angeht, sitzt er noch nicht für immer.
10,13 Er wartet, »bis seine Feinde hingelegt sind als Schemel seiner Füße«. Das wird an jenem Tag sein, an dem sich jedes Knie vor ihm beugen und jede Zunge ihn als Herrn bekennen wird, zur Ehre Gottes des Vaters (Phil 2,10.11). Dies wird der Tag seiner öffentlichen Rechtfertigung auf Erden sein.
10,14 Den überragenden Wert seines »Opfers« erkennt man an der Tatsache, dass er »die, die geheiligt werden, für immer« (oder ›auf ewig‹) »vollkommen gemacht« hat. »Die, die geheiligt werden«, sind hier alle, die Gott von der Welt abgesondert hat. Damit sind alle wahren Gläubigen gemeint. Sie sind auf zweifache Weise »vollkommen gemacht« worden. Zunächst haben sie eine vollkommene Stellung vor Gott, sie stehen vor dem Vater in aller Annehmlichkeit seines geliebten Sohnes. Zweitens haben sie ein vollkommenes Gewissen, soweit es die Schuld und Sündenstrafe betrifft, denn sie wissen, dass der Preis voll und ganz bezahlt worden ist und Gott keine zweite Zahlung verlangen wird.
10,15 »Der Heilige Geist … bezeugt« auch die Tatsache, dass im Rahmen des neuen Bundes mit der Sünde ein für alle Mal aufgeräumt wird. Er »bezeugt« es durch die alttestamentlichen Schriften.
10,16 In Jeremia 31,31 hat »der Herr« verheißen, einen neuen »Bund« mit seinem erwählten irdischen Volk zu schließen.
10,17 Dann, im gleichen Abschnitt, fügt er hinzu: »Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nicht mehr gedenken.« Es ist erstaunlich, dass Jeremia 31,34 die Verheißung der vollen und endgültigen Vergebung enthält. Dennoch wollten einige derer, die in den Tagen lebten, als diese Verheißung sich zu erfüllen begann, zu den niemals endenden Opfern des Judentums zurückkehren!
10,18 Die Verheißung der Vergebung im Rahmen des neuen Bundes bedeutet, dass es »kein Opfer für die Sünde mehr« gibt. Mit diesen Worten kein Opfer für die Sünde mehr beendet der Verfasser denjenigen Teil, den wir als lehrmäßigen Teil des Briefes bezeichnen könnten. Er möchte, dass diese Worte in unseren Herzen und Gedanken weiterklingen, wenn er uns nun unsere praktischen Verpflichtungen vor Augen führt.
III. Warnungen und Ermahnungen (10,19 – 13,17) A. Warnung: Verachtet Christus nicht! (10,19-39)
10,19 In der Zeit des AT musste das Volk in einer gewissen Entfernung von der Stätte der jeweiligen Gottesoffenbarung verharren, doch nun in Christus sind wir durch »das Blut« seines Kreuzes nahe gebracht worden. Deshalb werden wir hier ermutigt, uns Gott zu nahen. Diese Ermahnung setzt voraus, dass alle Gläubigen nun Priester sind, weil wir aufgefordert werden »durch das Blut Jesu Freimütigkeit« zu »haben zum Eintritt in das Heiligtum«. Die gewöhnlichen Menschen im jüdischen Zeitalter waren vom Heiligtum und erst recht vom Allerheiligsten ausgeschlossen. Lediglich die Priester durften den ersten Raum des Heiligtums betreten, und nur der Hohepriester durfte in das Allerheiligste hineingehen. Das hat sich nun geändert. Gott hat keinen besonderen Ort mehr, an dem sich ihm nur eine besondere Gruppe von Menschen nahen darf. Stattdessen dürfen im Glauben zu jeder Zeit und an jedem Ort alle Gläubigen in seine Gegenwart treten.
Du bist, o Herr, gegangen schon ein ins Heiligtum; du hast von Gott empfangen ein ew’ges Priestertum.
Der Vorhang ist zerrissen, die Sünd’ hinweggetan;
befreit ist das Gewissen, anbetend wir jetzt nah’n. Carl Brockhaus
10,20 Unser Zugang erfolgt auf dem »neuen und lebendigen Weg«. »Neu« kann hier »eben erst getötet« oder »gerade erst bereitet« bedeuten. »Lebendig« scheint ein Hinweis auf Jesus in seiner Auferstehung zu sein und sich deshalb auf einen »lebendigen« Heiland zu beziehen. Dieser Weg wurde »durch den Vorhang – das ist durch sein Fleisch« eröffnet. Das lehrt eindeutig, dass der »Vorhang« zwischen den beiden Teilen des Zeltes der Begegnung ein Vorbild des Leibes unseres Herrn war. Damit wir Zugang in Gottes Gegenwart haben, musste der Vorhang zerrissen werden, d. h. sein Leib musste im Tod zerbrochen werden. Das erinnert uns daran, dass wir uns nicht aufgrund des sündlosen Lebens Jesu nahen dürfen, sondern aufgrund seines stellvertretenden Todes. Nur durch die tödlichen Wunden des Lammes können wir hineingelangen. Jedes Mal, wenn wir im Gebet oder in Anbetung in die Gegenwart Gottes treten, sollten wir uns dara n erinnern, dass uns dieses Vorrecht zu einem teuren Preis erkauft worden ist.
10,21 Wir haben nicht nur großes Vertrauen, wenn wir in die Gegenwart Gottes treten. Vielmehr haben wir auch einen »großen Priester über das Haus Gottes«. Selbst wenn wir selbst Priester sind  (1. Petr  2,9;  Offb  1,6),  brauchen  wir für uns noch immer einen Priester. Christus ist unser großer »Hoherpriester« (LU 1984), und sein gegenwärtiger Dienst für uns stellt sicher, dass wir bei Gott willkommen sind.
10,22 »Lasst uns hinzutreten.« Das ist das bluterkaufte Vorrecht des Gläubigen. Das ist so wundervoll, dass man es kaum in Worte fassen kann: Wir sind herzugerufen, eine Audienz zu haben, und zwar nicht bei den Berühmtheiten dieser Welt, sondern beim Herrscher des Universums! Das Ausmaß, in dem wir diese Einladung schätzen, zeigt sich in der Art, wie wir darauf reagieren.
Hier findet sich eine vierfache Beschreibung im Blick darauf, wie unsere geistliche Haltung sein sollte, wenn wir in den Thronsaal treten: 1. »… mit wahrhaftigem Herzen.« Die Angehörigen des Volkes Israel nahten sich Gott mit ihrem Mund und ehrten ihn nur mit den Lippen, doch ihr Herz war ihm oft fern (Matth 15,8). Wir sollten voller Aufrichtigkeit vor ihn treten.
2. »… in voller Gewissheit des Glaubens.« Wir nahen uns mit dem Vertrauen auf die Verheißungen Gottes und in der festen Überzeugung, dass wir in seiner Gegenwart gnadenreich empfangen werden.
3. »… die Herzen besprengt und damit gereinigt vom bösen Gewissen.« Das kann nur durch die Wiedergeburt geschehen. Wenn wir auf Christus vertrauen, dann wird uns der Wert seines Blutes zugeschrieben. Bildlich gesprochen besprengen wir unsere Herzen damit, so wie die Israeliten ihre Türen mit dem Blut des Passahlammes besprengten. Das befreit uns vom »bösen Gewissen«.
Ruhe fand hier mein Gewissen, denn sein Blut – o reicher Quell! – hat von allen meinen Sünden mich gewaschen rein und hell. Julius Anton von Poseck
4. »… und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.« Wieder handelt es sich hier um eine bildliche Sprache. Unser »Leib« steht für unser Leben. Das »reine Wasser« kann sich entweder auf das Wort (Eph 5,25.26), den Heiligen Geist an sich (Joh 7,37-39) oder auf den Heiligen Geist dahin gehend beziehen, dass er das Wort benutzt, um unser Leben von der täglichen Befleckung zu reinigen. Wir werden ein für alle Mal durch den Tod Christi von der Sündenschuld gereinigt, doch wir werden immer wieder vom Geist von der Verunreinigung durch die Sünde gereinigt, indem er uns durch das Wort davon befreit (s. Joh 13,10). So könnten wir die vier Bedingungen zum Herzutreten in die Gegenwart Gottes als Aufrichtigkeit, Gewissheit, Erlösung und Heiligung bezeichnen.
10,23 Die zweite Ermahnung lautet, dass wir »das Bekenntnis der Hoffnung unwandelbar festhalten« sollen. Nichts darf uns von dem mutigen Zeugnis abhalten, dass unsere einzige »Hoffnung« in Christus liegt.
Es gab damals diejenigen, die versucht sein mochten, die zukünftigen, unsichtbaren Segnungen um der gegenwärtigen, sichtbaren Dinge des Judentums willen aufzugeben. Für sie findet sich hier die Erinnerung daran, dass derjenige, »der die Verheißung gegeben hat … treu ist«. Seine Verheißungen können nicht hinfällig werden, und niemand, der ihm vertraut, wird je enttäuscht werden. Der Heiland wird kommen, wie er verheißen hat, und sein Volk wird für immer bei ihm sein und ihm gleich sein.
10,24 Wir sollten auch Möglichkeiten finden, unsere Mitgläubigen dazu zu ermutigen, »Liebe« zu üben und »gute Werke« zu tun. Im Sinne des NT ist »Liebe« kein Gefühl, sondern eine Willensentscheidung. Uns wird befohlen zu lieben; deshalb geht es um etwas, das wir tun können und sollen. »Liebe« ist die Wurzel, »gute Werke« sind die Frucht. Durch unser Vorbild und unsere Lehre sollten wir andere Gläubige zu einem solchen Leben »anreizen«.
O dass wir blühen wie ein Garten, drauf die Gnade niedertaut, und dein Kind in treuem Warten deines Geistes Früchte schaut. Verfasser unbekannt
10,25 Außerdem sollten wir immer wieder »zusammenkommen« und die Ortsgemeinde nicht verlassen, »wie es bei einigen Sitte ist«. Das kann als allgemeine Ermahnung an die Gläubigen angesehen werden, treu in ihrem Gottesdienstbesuch zu sein. Fraglos finden wir Kraft, Trost, Nahrung und Freude durch gemeinsame Anbetung und gemeinsamen Gottesdienst.
Dieser Vers kann auch als besondere Ermahnung an Christen angesehen werden, die Zeiten der Verfolgung durchleben. Es gibt immer die Versuchung, sich selbst abzuschotten, um der Gefangennahme, der Schande und dem Leiden aus dem Weg zu gehen, und im Verborgenen Jünger zu sein.
Doch grundsätzlich ist der Vers eine Warnung vor dem Abfall. Die Ortsgemeinde zu verlassen, bedeutet hier, dem christlichen Glauben den Rücken zuzukehren und sich wieder dem Judentum zuzuwenden. Einige taten das zu der Zeit, als der Brief geschrieben wurde. Es bestand die Notwendigkeit, einander zu ermahnen, insbesondere angesichts der bev orstehenden Wiederkunft Christi. Wenn Christus kommt, dann werden die verfolgten, geschmähten und geächteten Gläubigen auf der Seite des Siegers stehen. Bis dahin brauchen wir Standhaftigkeit.
10,26 Nun äußert der Verfasser seine vierte dringende Warnung. Wie in den vorhergehenden Fällen handelt es sich um eine Warnung vor dem Abfall, die hier als absichtliches »Sündigen« dargestellt wird.
Wir haben schon darauf hingewiesen, dass es unter Christen ziemlich geteilte Meinungen über das Wesen dieser Sünde gibt. Kurz gesagt geht es darum, auf wenn sich die Sünde, die hier genannt ist, bezieht:
1. Sind wahre Christen gemeint, die sich von Christus abwenden und verlorengehen?
2. Betrifft sie wahre Christen, die zurückgehen, aber am Ende doch gerettet werden?
3. Oder hat sie mit denjenigen zu tun, die sich für eine Weile äußerlich zum christlichen Glauben bekennen, zu einer Ortsgemeinde gehören, aber sich dann bewusst von Christus abwenden? Sie sind niemals wirklich wiedergeboren worden, und nun haben sie die Möglichkeit dazu verwirkt. Ganz gleich, welche Ansicht wir für richtig halten – es gibt Schwierigkeiten bei der Auslegung dieser Stelle. Wir glauben, dass die dritte Ansicht richtig ist, weil sie am besten mit der Gesamtlehre des Hebräerbriefes und des gesamten NT übereinstimmt.
Hier in Vers 26 wird der Abfall als bewusstes Sündigen definiert, »nachdem« man »die Erkenntnis der Wahrheit empfangen« hat. Wie Judas hat der Betreffende das Evangelium gehört. Er kennt den Heilsweg, er hat sogar vorgegeben, die Erlösung empfangen zu haben, doch dann lehnt er sie bewusst ab. Für einen solchen Menschen »bleibt kein Schlachtopfer für Sünden mehr übrig«. Er hat absichtlich und endgültig das ein für alle Mal gültige Opfer Christi abgelehnt. Gott hat ihm keinen anderen Erlösungsweg anzubieten.
In gewissem Sinne wird jede Sünde bewusst begangen, doch der Autor spricht hier vom Abfall als einer in böser Absicht begangenen Sünde, die besonders schwer wiegt.
Die Tatsache, dass der Autor in diesem Abschnitt das Wort »wir« benutzt, muss nicht unbedingt heißen, dass er sich selbst einbezieht. In Vers 39 schließt er sich und seine Mitgläubigen sogar definitiv von denen aus, die zurückweichen zum Verderben.
10,27 Für den Betreffenden bleibt nichts als »ein furchtbares Erwarten des Gerichts«. Er hat keine Hoffnung, davonzukommen. Es ist unmöglich, einen Abgefallenen zur Buße zu erneuern (6,4). Er hat sich wissentlich und willentlich von der Gnade Gottes in Christus getrennt. Seine endgültige Bestimmung ist der Aufenthalt im »gierigen Feuer, das die Widersacher verzehren wird« (LU 1984). Es ist zwecklos, darüber zu streiten, ob es sich hier um ein wirkliches Feuer handelt. Die Ausdrucksweise soll offensichtlich eine Strafe bezeichnen, die ausgesprochen hart und schrecklich ist. Man beachte, dass Gott Abgefallene als »Widersacher« einstuft. Das bedeutet aktiven Widerstand gegen Christus, keine gleichgültige Neutralität.
10,28 Das Schicksal der Gesetzesbrecher des AT wird nun angeführt, um als Hintergrund für die Beschreibung der schlimmeren Bestimmung eines Abgefallenen zu dienen. Wenn jemand »das Gesetz des Mose« gebrochen hatte, indem er ein Götzendiener wurde, starb er »ohne Barmherzigkeit«, wenn seine Schuld durch »zwei oder drei Zeugen« bewiesen werden konnte (5. Mose 17,2-6).
10,29 Der Abgefallene hat nun eine viel »schlimmere« Strafe verdient, weil er viel größere Vorrechte hatte. Die Schwere seiner Sünde sieht man an den drei Anklagen, die gegen ihn angeführt werden: 1. Er hat »den Sohn Gottes mit Füßen getreten«. Nachdem er sich als Nachfolger Jesu ausgab, behauptet er nun mit eiserner Stirn, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Er bestreitet, dass er Christus als Heiland nötig hat, und leugnet ihn vor allem als Herrn seines Lebens.
In Japan gibt es ein Kruzifix, das in Zeiten der Christenverfolgungen von der Regierung benutzt wurde. Es wurde auf die Erde gelegt, und jeder musste auf das Gesicht des Gekreuzigten treten. Die Nichtchristen zögerten nicht, auf dieses Gesicht zu treten, die wahren Christen weigerten sich jedoch und wurden getötet. Man sagt, dass das Gesicht Jesu von den Tritten der Menschen ganz zerkratzt und abgenutzt war.
2. Er hat »das Blut des Bundes, durch das er geheiligt wurde, für gemein geachtet«. Er hält das »Blut« Christi für nutzlos und unheilig, das doch den neuen Bund geschlossen hat. Er war durch dieses Blut in eine Stellung äußerlicher Bevorzugung gebracht worden. Durch seine Verbindung mit den Christen wurde er geheiligt, so wie ein ungläubiger Ehemann durch seine gläubige Frau geheiligt wird (1. Kor 7,14). Doch das bedeutet nicht, dass er gerettet war.
3. Er hat »den Geist der Gnade geschmäht«. Der Geist Gottes hatte ihm Erleuchtung hinsichtlich der Guten Nachricht gegeben, ihn der Sünde überführt und ihn auf Christus als die einzige Zuflucht der Seele hingewiesen. Doch er hat den gnadenreichen »Geist … geschmäht«, indem er ihn und die von ihm angebotene Erlösung offen ausgeschlagen hat.
10,30 Die bewusste Ablehnung des geliebten Sohnes Gottes ist eine äußerst schwere Sünde. Gott wird Gericht über alle halten, die sich ihrer schuldig gemacht haben. Er hat gesagt: »Mein ist die Rache, ich  will  vergelten«  (vgl.  5. Mose  32,35). »Rache« in diesem Sinne bedeutet volle Gerechtigkeit. Wenn Gott rächt, dann handelt es sich nicht um irgendeine Rachsucht oder darum, es jemandem »heimzuzahlen«. Es geht einfach darum, einem Menschen das zukommen zu lassen, was er wirklich verdient hat. Da wir die Wesensart Gottes kennen, können wir sicher sein, dass er tun wird, was er gesagt hat, indem er einen Abgefallenen angemessen bestraft.
»Und wiederum: Der Herr wird sein Volk richten.« Gott wird diejenigen rächen und rechtfertigen, die wirklich zu ihm gehören, doch hier in Vers 30 geht es offensichtlich um das Gericht über böse Menschen.
Wenn es uns schwierig erscheint, uns die Abgefallenen als »sein Volk« vorzustellen, sollten wir uns an Folgendes erinnern: Allein schon durch die Schöpfung, aber noch viel mehr aufgrund ihres äußeren Bekenntnisses gehören sie ihm. Er ist ihr Schöpfer, selbst wenn er nicht ihr Heiland ist. Sie haben einmal bekannt, zu seinem Volk zu gehören, auch wenn sie ihn nie persönlich kennengelernt haben.
10,31 Die bleibende Lektion für alle ist folgende: Gehört nicht zu denen, die »in die Hände des lebendigen Gottes … fallen« und gerichtet werden, weil dies »furchtbar ist«.
Nichts in diesem Schriftabschnitt war je dazu bestimmt, diejenigen zu beunruhigen, die wirklich zu Christus gehören. Dieser Abschnitt wurde absichtlich so scharf, kritisch und herausfordernd geschrieben, damit alle Namenschristen davor gewarnt werden, welch schreckliche Konsequenzen es hat, sich von Christus abzuwenden.
10,32 In den übrigen Versen von Kapitel 10 führt der Verfasser drei wichtige Gründe an, warum die frühen Judenchristen weiterhin in ihrer Treue zu Christus standhaft bleiben sollten. 1. Ihre »frühere« Erfahrung sollte ihnen ein Anreiz sein.
2. Die Nähe der Belohnung sollte sie stärken.
3. Die Furcht vor Gottes Missfallen sollte sie vor dem Zurückweichen bewahren.
Zunächst einmal geht es darum, dass ihre früheren Erfahrungen sie anregen sollten, bei Christus zu bleiben. Nachdem sie sich zum Glauben an Christus bekannt hatten, wurden sie zur Zielscheibe bitterer Verfolgung: Ihre Familien enterbten sie, ihre Freunde verließen sie und ihre Feinde stellten ihnen nach. Doch statt Angst und Feigheit hervorzurufen, bestärkten diese »Leiden« sie in ihrem Glauben. Zweifellos spürten sie etwas von der überschwänglichen Freude, für würdig gehalten worden zu sein, für seinen Namen Schmach zu erleiden (Apg 5,41).
10,33 Manchmal litten sie als Einzelpersonen; sie waren auf sich allein gestellt und wurden öffentlich Schimpf und Schande preisgegeben. Zuweilen litten sie jedoch auch gemeinsam mit anderen Christen.
10,34 Sie hatten keine Angst davor, diejenigen zu besuchen, die um Christi willen im Gefängnis saßen, auch wenn sie immer Gefahr liefen, als Komplizen ebenfalls gefangen genommen zu werden. Wenn ihre »Güter« von den Behörden beschlagnahmt wurden, dann ertrugen sie dies »mit Freuden«. Sie waren lieber Jesus treu, als ihren materiellen Besitz zu sichern. Sie wussten, dass sie ein »unvergängliches und unbeflecktes und unverwelkliches  Erbteil«  besaßen  (1. Petr  1,4). Es war wirklich ein Wunder göttlicher Gnade, irdischen Reichtum so wenig zu schätzen.
10,35 Die zweite Überlegung ist folgende: Die Nähe der »Belohnung« sollte sie stärken. Sie haben in der Vergangenheit schon so viel ertragen, da sollten sie jetzt nicht kapitulieren. Der Verfasser sagt hier im Grunde: »Verpasst die Ernte eurer Tränen nicht« (F. B. Meyer). Sie waren jetzt der Erfüllung der Verheißungen Gottes näher als je zuvor. Es war kein geeigneter Zeitpunkt, nun umzukehren. »Werft euer Vertrauen nicht weg! Es wird sich erfüllen, worauf ihr hofft« (Hfa).
10,36 Sie mussten unbedingt »ausharren«, d. h. entschlossen sein, den Verfolgungen standzuhalten, statt ihnen durch Verleugnung des Herrn zu entkommen. Nachdem sie dann »den Willen Gottes getan« hatten, würden sie auch die verheißene Belohnung empfangen.
10,37 Die zukünftige Belohnung wird bei der Wiederkunft des Herrn Jesus ausgeteilt, daher wird das Zitat aus Habakuk 2,3 angeführt: »Noch eine ganz kleine Weile, und der Kommende wird kommen und nicht säumen.« In Habakuk lautet der Vers: »Denn das Gesicht gilt erst für die festgesetzte Zeit, und es strebt auf das Ende hin und lügt nicht. Wenn es sich verzögert, warte darauf; denn kommen wird es, es wird nicht ausbleiben.« Über diese Veränderung sagt Vincent: Im Hebräischen ist das Subjekt des Satzes das Gesicht (die Vision) von der Ausrottung der Chaldäer … Nach der Septuaginta muss entweder Jahwe oder der Messias das Subjekt werden. Der Abschnitt wurde von den Theologen des Spätjudentums auf den Messias bezogen und wird so von unserem Verfasser angewendet.20
A. J. Pollock kommentiert: Der Abschnitt des AT und das veränderte Zitat im NT sind beide wörtlich inspiriert und im gleichen Maße Heilige Schrift. Das Wort »es« bei Habakuk bezieht sich auf die Vision und behandelt das Kommen Christi zur Herrschaft. Im Hebräerbrief wird »es« zu »er« und bezieht sich dann auf die Entrückung.
Dann fährt er allgemeiner fort: Wenn ein inspirierter Verfasser das AT zitiert, benutzt er gerade so viel von dem Abschnitt, wie es dem Zweck Gottes angemessen ist, obwohl er dem ursprünglichen Abschnitt niemals widerspricht. Er ändert ihn jedoch oft, um eine tiefere Bedeutung – nicht jedoch die genaue Bedeutung des alttestamentlichen Abschnitts – herauszustellen, die vom Heiligen Geist im NT vermittelt werden soll. … Nun kann niemand als Gott allein die Schrift so behandeln. Die Tatsache, dass es geschieht, und zwar an vielen Stellen, ist ein weiterer Beweis der Inspiration. Gott ist der Urheber und eigentliche Autor der Bibel, und er kann seine »eigenen« Worte zitieren, sie verändern und etwas hinzufügen, damit es seiner Absicht gerecht wird. Doch wenn einer von uns die Schrift zitiert, muss das mit großer Genauigkeit geschehen. Wir haben nicht das Recht, auch nur ein i-Tüpfelchen zu verändern. Aber der Autor des Buches des Bücher ist dazu befugt. Es ist ganz gleich, wessen Feder er benutzt, ob es nun die Feder von Mose oder Jesaja, Petrus oder Paulus, Matthäus oder Johannes ist: Alles ist seine Schrift.21
10,38 Ein letzter Anreiz für standhaftes Ausharren ist die Furcht, Gottes Missfallen zu erregen. Der Verfasser zitiert weiter aus Habakuk und zeigt, dass ein Leben, das Gott gefällt, ein Leben des Glaubens ist: »Mein Gerechter22 aber wird aus Glauben leben.« Dies ist das Leben, das Gottes Verheißungen annimmt, das Unsichtbare schaut und bis ans Ende durchhält.
Andererseits ist das Gott missfallende Leben eines Menschen dadurch gekennzeichnet, dass er dem Messias entsagt und zu den überflüssigen Opfern des Tempels zurückkehrt: »Wenn er sich zurückzieht, wird meine Seele kein Wohlgefallen an ihm haben.«
10,39 Der Verfasser zeigt nun ohne Weiteres, dass er und seine Mitgläubigen nicht zu »denen« gehören, »die zurückweichen zum Verderben«. Das trennt die Abgefallenen von echten Christen. Abgefallene »weichen zurück« und gehen verloren. Wahre Gläubige halten am »Glauben« fest und bewahren ihre Seele vor der letztendlichen Bestimmung des Abtrünnigen.
Mit dieser Erwähnung des »Glaubens« wird die Grundlage zu einer ausführlicheren Betrachtung des Gott wohlgefälligen Lebens gelegt. Dass nun das bekannte elfte Kapitel an diesem Punkt folgt, liegt auf der Hand. B. Ermahnung zum Glauben anhand von Beispielen aus dem Alten Testament (Kap. 11)
11,1 Dieses Kapitel behandelt den Glaubensblick und das Ausharren im »Glauben«. Es stellt uns Männer und Frauen des AT vor, die eine scharfe geistliche Sicht hatten und große Schande sowie Leid ertrugen, statt ihren Glauben zu verleugnen.
Vers 1 ist keine Definition des Glaubens, sondern eher eine Beschreibung dessen, was der »Glaube« für uns tut. Er lässt Dinge, auf die wir »hoffen«, so real erscheinen, als ob wir sie schon hätten. Außerdem bietet er den unerschütterlichen Beweis dafür, dass die unsichtbaren geistlichen Segnungen des christlichen Glaubens absolut sicher und real sind. Mit anderen Worten, er bringt die Zukunft in unsere Gegenwart und macht das Unsichtbare sichtbar. »Glaube« ist Vertrauen auf die Vertrauenswürdigkeit Gottes. Er ist die Überzeugung, dass das, was Gott sagt, wahr ist, und dass seine Verheißungen sich erfüllen werden.
Glaube braucht Offenbarungen und Verheißungen Gottes als Grundlage. Er ist kein Sprung ins Ungewisse. Er verlangt die besten Beweise des Universums und findet sie im Wort Gottes. Er ist nicht auf Mögliches beschränkt, sondern dringt bis in den Bereich des Unmöglichen vor. Jemand hat einmal gesagt: »Glaube beginnt da, wo das Mögliche endet. Wenn es möglich wäre, dann diente es nicht zur Verherrlichung Gottes.«
Dir, Herr Jesus, dir vertrau’ ich, glaube, was dein Wort verspricht, scheint auch manches ganz unmöglich du verlässt die Deinen nicht! Verfasser unbekannt
Es gibt im Glaubensleben Schwierigkeiten und Probleme. Gott prüft unseren Glauben, um zu erfahren, ob er echt ist. Doch Georg Müller sagt dazu: »Schwierigkeiten sind Nahrung für den Glauben.«
11,2 Weil sie im Glauben und nicht im Schauen wandelten, erhielten die alttestamentlichen Heiligen die göttliche Anerkennung. Der Rest dieses Kapitels ist ein Beispiel dafür, wie Gott ihnen Zeugnis gegeben hat.
11,3 »Glaube« liefert uns die einzigen Fakten über die Schöpfung. Gott ist der Einzige, der dabei war. Er berichtet uns, wie es geschehen ist. Wir glauben seinem Wort und wissen es deshalb. McCue sagt: »Die Vorstellung von einem Gott, der vor der Materie existierte und sie durch sein Wort ins Dasein gerufen hat, geht über den Bereich des Verstands oder der Beweise hinaus. Sie wird einfach durch einen Glaubensakt angenommen.« »Durch Glauben verstehen wir.« Die Welt sagt: »Ich glaube, was ich sehe.« Gott sagt: »Du siehst, was du glaubst.« Jesus sagte zu Marta: »Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, so würdest du … sehen?« (Joh 11,40). Der Apostel Johannes schrieb: »Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst …, die ihr an den Namen des  Sohnes  Gottes  glaubt«  (1. Joh  5,13). In geistlichen Angelegenheiten kommt zuerst der Glaube und dann das Verstehen.
»… dass die Welten durch Gottes Wort bereitet worden sind.« Gott sprach, und die Materie entstand. Das stimmt vollkommen mit der Entdeckung des Menschen überein, dass Materie im Grunde nur eine Form der Energie ist. Als Gott sprach, entstand Energie in Form von Schallwellen. Sie wurden zu Materie, und die Welt entstand.
»… sodass das Sichtbare nicht aus Erscheinendem geworden ist.« Energie ist unsichtbar, ebenso Atome, Moleküle und Gase für das bloße Auge, doch wenn sie zusammenkommen, werden sie sichtbar. Die Tatsache der Schöpfung, wie sie in Hebräer 11,3 beschrieben wird, ist unanfechtbar. Diese Beschreibung ist nie verbessert worden und wird nie verbessert werden müssen.
11,4 Adam und Eva werden in der »Ehrentafel der Glaubenshelden« nicht erwähnt. Als Eva sich entscheiden musste, ob Gott oder Satan die Wahrheit gesagt hat, beschloss sie, Satan Glauben zu schenken. Doch damit wird nicht infrage gestellt, dass Adam und Eva später doch noch durch Glauben gerettet wurden, wie sich an den Leibröcken aus Fell zeigt.
»Abel« muss eine Offenbarung gehabt haben, dass sich der sündige Mensch Gott nur aufgrund vergossenen Blutes nähern konnte. Vielleicht hatte er dies von seinen Eltern gelernt: Erst nachdem Gott sie mit Leibröcken (aus Tierhäuten gefertigt) bekleidet hatte, bot sich ihnen wieder die Möglichkeit zur Gemeinschaft mit Gott (1. Mose 3,21). Jedenfalls ließ Abel »Glauben« erkennen, als er Gott mit dem Blut eines »Opfers« nahte. Das Opfer Kains bestand aus Pflanzen und Früchten. Bei ihm war also kein Blut dabei. Abel illustriert die Wahrheit der Errettung durch den Glauben. Kain steht für den vergeblichen Versuch des Menschen, sich selbst durch gute Werke zu erlösen. George Cutting weist darauf hin, »dass es nicht die persönlichen Vorzüge Abels waren, die Gott dazu führten, ihn als gerecht anzusehen. Vielmehr waren es die Vorzüge des Opfers, das er brachte, und sein Glauben daran«. Und genauso ist es mit uns: Wir werden nicht wegen unseres Charakters oder unserer guten Werke gerechtfertigt, sondern nur aufgrund der Tatsache, dass das Opfer Christi vortrefflich ist und wir auf dieses Opfer vertrauen.
Abel wurde von Kain ermordet, weil das Gesetz die Gnade hasst. Der selbstgerechte Mensch hasst die Wahrheit, dass er sich nicht selbst retten kann und sich auf die Liebe sowie Gnade Gottes verlassen muss.
Doch Abels Zeugnis war nicht umsonst: »Durch diesen Glauben redet er noch« heute. In gewissem Sinne ist es durch den Glauben möglich, dass die Stimme eines Menschen noch immer reden kann, auch wenn der Mensch selbst schon im Grab liegt.
11,5 Irgendwann in seinem Leben muss »Henoch« von Gott die Verh eißung erhalten haben, dass er in den Himmel kommen würde, ohne sterben zu müssen. Bis zu diesem Zeitpunkt war jeder früher oder später gestorben. Es gab keinen Bericht über jemanden, der »entrückt« wurde, ohne zu sterben. Doch Gott verhieß es, und Henoch glaubte daran. Es war das Vernünftigste, was Henoch tun konnte, denn was ist vern ünftiger, als dass ein Geschöpf seinem Schöpfer glaubt?
Und genauso geschah es! Henoch lebte 300 Jahre mit dem unsichtbaren Gott (1. Mose 5,21-24), und dann ging er in die Ewigkeit ein. »Vor der Entrückung hat er das Zeugnis gehabt, dass er Gott wohlgefallen habe.« Ein Leben des Glaubens gefällt Gott immer wohl; er liebt es, wenn wir ihm vertrauen.
11,6 »Ohne Glauben aber ist es unmöglich, ihm wohlzugefallen.« Keine guten Werke können mangelnden »Glauben« ersetzen. Wenn all dies gesagt und getan ist, und ein Mensch sich dann weigert, Gott zu glauben, macht er ihn zum Lügner. »Wer Gott nicht glaubt, hat ihn zum  Lügner  gemacht«  (1. Joh  5,10).  Wie kann Gott Gefallen an Menschen finden, die ihn der Lüge beschuldigen? Nur der Glaube räumt Gott seine ihm zukommende Stellung ein, und verweist auch den Menschen an seinen Platz. »Eine solche Haltung verherrlicht Gott über alle Maßen«, schreibt C. H. Mackintosh, »weil sie beweist, dass wir auf seine Sicht mehr vertrauen als auf unser eigenes Sehvermögen«.
Glaube bedeutet nicht nur, an die Existenz Gottes zu glauben. Vielmehr ist damit auch gemeint, darauf zu vertrauen, dass er die belohnt, »die ihn suchen«. Es gibt nichts an Gott, was es dem Menschen unmöglich macht, an ihn zu glauben. Das Problem liegt immer beim menschlichen Willen.
11,7 Der »Glaube« Noahs beruhte auf der Warnung Gottes, dass er die Welt in einer Flut untergehen lassen würde (1. Mose  6,17).  Es  hatte  nie  zuvor  eine Sintflut gegeben, und wir haben sogar allen Grund anzunehmen, dass es bis zu dieser Zeit keinen Regen gegeben hatte (1. Mose  2,5.6).  Noah  glaubte  Gott  und baute »eine Arche«, auch wenn er wahrscheinlich von jedem schiffbaren Wasser weit entfernt war. Zweifellos wird er manchen Witz über sich gehört haben. Doch Noahs Glaube wurde belohnt: Sein »Haus« wurde gerettet und »die Welt« durch sein Leben sowie sein Zeugnis »verurteilt«. Er »wurde Erbe der Gerechtigkeit, die« man aufgrund des »Glaubens« empfängt.
Vielleicht fragten sich viele der ersten Judenchristen, die Erstempfänger dieses Briefes waren, warum sie nur eine so verschwindende Minderheit bildeten, wenn sie doch recht hatten. Noah spricht zu ihnen aus dem AT, um sie daran zu erinnern, dass sich zu seiner Zeit nur acht Menschen recht verhielten und die gesamte restliche Welt unterging!
11,8 »Abraham« war wahrscheinlich ein Götzendiener, der in Ur in Chaldäa lebte, als Gott ihm erschien und ihm befahl, von dort wegzuziehen. Im »Gehorsam« des Glaubens verließ er seine Heimat und sein Land, »ohne zu wissen«, wohin die Reise gehen sollte. Zweifellos lachten ihn seine Freunde aus, weil sie dies für Torheit hielten. Ist mein Weg auch ein Wagnis des Glaubens,
der Herr ist mir jeden Tag nah. Er führt mich, so wie er’s verheißen, nie bin ich hier allein – er ist da! Der Wandel im Glauben erweckt bei anderen manchmal den Eindruck, dass man unbedacht und sorglos wäre. Wer jedoch Gott kennt, ist zufrieden, sich blind führen zu lassen, »ohne zu wissen«, welchen Weg er geführt wird.
11,9 Gott hatte Abraham das »Land« Kanaan verheißen. In einem ganz realen Sinne gehörte es ihm. Doch das einzige Stück Land, das er je dort kaufte, war eine Grabstätte für seine Toten. Statt in einer festen Unterkunft zu wohnen, gab er sich damit zufrieden, »in Zelten« zu leben. Dies versinnbildlichte seine Pilgerschaft. Einstweilen erweckte er den Eindruck, als sei Kanaan für ihn »fremdes« Land.
Die Gefährten seiner Pilgerschaft waren sein Sohn und sein Enkel. Sein gottesfürchtiges Beispiel hinterließ auch bei ihnen seine Spuren, und sie waren »Miterben derselben Verheißung« in dem Land, das ihnen gehören würde.
11,10 Warum klammerte sich Abraham nicht wie andere Menschen an Grundbesitz? Weil er »die Stadt … erwartete, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist«. Er hing sein Herz nicht an die gegenwärtigen materiellen Dinge, sondern an die ewigen Güter. Im Original findet sich sowohl vor dem Wort »Stadt« als auch vor dem Wort »Grundlagen« der bestimmte Artikel – »die Stadt« und »die Grundlagen«. Der Glaube hält nur eine »Stadt« für die richtige. Für ihn gibt es nur eine Stadt mit sicheren »Grundlagen«.
Gott ist der Baumeister dieser himmlischen Stadt und auch ihr »Schöpfer«. Sie ist das Vorbild jeder Stadt – ohne Slums, ohne verschmutzte Luft, ohne verschmutztes Wasser, ohne all die Probleme, die unsere heutigen Metropolen so plagen.
11,11 »Durch Glauben« war es »Sara« möglich, noch mit neunzig Jahren einen Sohn zu »empfangen«. Der Bericht sagt ausdrücklich, dass sie »über die geeignete Zeit« hinaus war, in der sie noch hätte ein Kind bekommen können. Doch sie wusste, dass Gott ihr ein Kind verheißen hatte, und sie wusste, dass er sein Wort nicht brechen konnte. Sie hatte einen unerschütterlichen Glauben, dass er »die Verheißung« erfüllen würde.
11,12 Abraham war etwa 99 Jahre alt, als Isaak geboren wurde. Menschlich gesprochen war es für ihn so gut wie unmöglich, Vater zu werden, und doch hatte Gott ihm eine zahlreiche Nachkommenschaft verheißen. Deshalb musste es so geschehen.
Durch Isaak ist Abraham der Vater einer irdischen Familie, der Stammvater des jüdischen Volkes, geworden, dessen Angehörige »niemand zählen kann« (vgl. hier und im Folgenden Zürcher). Durch Christus wurde er der Vater einer geistlichen Familie, deren Angehörige ebenso »niemand zählen kann«. Damit sind alle wahren Gläubigen in den auf ihn folgenden Zeitaltern gemeint. Der »Sand am Ufer des Meeres« steht wahrscheinlich für seine irdische Nachkommenschaft, während die »Sterne des Himmels« seine himmlische Nachkommenschaft verkörpern.
11,13 Alle Patriarchen »sind im Glauben gestorben«. Sie erlebten die Erfüllung der göttlichen »Verheißungen« nicht. So hat z. B. Abraham seine zahlreiche Nachkommenschaft nie gesehen. Das jüdische Volk hat niemals das ganze Land besessen, das ihm verheißen worden war. Die Heiligen des AT erlebten nicht die Erfüllung der Messiasverheißung. Doch ihr Glaubensblick brachte ihnen die »Verheißungen« nahe, so nahe, dass sie hier als diejenigen dargestellt werden, die ihnen voller Vorfreude zuwinkten. Sie erkannten, dass diese Welt nicht ihre letztendliche Heimat war. Sie waren zufrieden, »Fremde und ohne Bürgerrecht« zu sein. Dabei weigerten sie sich, dem Druck nachzugeben, sich hier einzurichten und es sich bequem zu machen. Ihr Verlangen war es, durch diese Welt zu ziehen, ohne ihre Wesensmerkmale zu übernehmen. Ihre Herzen waren auf Pilgerschaft ausgerichtet (Ps 84,6; nach der engl. Übertragung von J. Knox).
11,14 Ihr Leben zeigte »deutlich, dass sie ein Vaterland« suchten. Der Glaube war die treibende Kraft, die hinter ihrer Sehnsucht nach ihrer wahren Heimat stand. Infolgedessen gaben sie sich nicht mit den Freuden Kanaans zufrieden. Sie verspürten stets den Drang nach einem besseren Land, das sie Heimat nennen konnten.
11,15 Indem er sagt, dass sie nach einer Heimat suchten, will der Verfasser klarstellen, dass er nicht das Land ihrer Geburt meint. Wenn Abraham nach Mesopotamien hätte zurückkehren wollen, hätte er das tun können, doch dies war für ihn keine Heimat mehr.
11,16 Die wahre Erklärung dafür lautet, dass die Patriarchen eine »himmlische« Heimat suchten. Dies ist sehr bemerkenswert, wenn wir uns daran erinnern, dass die meisten Verheißungen an das Volk Israel materielle Segnungen auf dieser Erde betreffen. Doch auch sie hatten eine himmlische Hoffnung, und diese Hoffnung ermöglichte es ihnen, diese Welt als fremdes Land zu empfinden. Diese Pilgergesinnung gefiel Gott besonders. Darby schreibt: »Er schämt sich nicht, Gott derer genannt zu werden, deren Herz und Erbteil im Himmel sind.« »Er hat ihnen eine Stadt bereitet«, und dort finden sie Ruhe, Glück und vollkommenen Frieden.
11,17 Wir kommen nun zur größten Glaubensprüfung Abrahams. Gott befahl ihm, seinen einzigen Sohn »Isaak« auf dem Altar zu opfern. Ohne Zögern machte sich Abraham auf, im Gehorsam Gott den liebsten Schatz seines Herzens darzubringen. War er sich des Dilemmas etwa nicht bewusst? Gott hatte ihm eine zahllose Nachkommenschaft verheißen. Isaak war sein »einziger Sohn«. Abraham war bereits ca. 120 und Sara etwa 110 Jahre alt!
11,18 Die Verheißungen einer großen Nachkommenschaft sollten sich »in Isaak« erfüllen. Das Dilemma war folgendes: Wenn Abraham Isaak töten würde, wie konnte sich dann die Verheißung erfüllen? Isaak war annähernd 20 Jahre alt und noch unverheiratet.
11,19 Abraham wusste, was Gott ihm verheißen hatte, und nur das allein zählte. Wenn Gott ihm befahl, seinen Sohn zu opfern (so seine Schlussfolgerung), dann würde er ihn »auch aus den Toten erwecken«, um seine Verheißung zu erfüllen. Bis zu dieser Zeit gab es noch keinen Fall einer Auferstehung aus den Toten. Es gab in der menschlichen Geschichte keinerlei Statistiken über solche Fälle. In einem ganz realen Sinne hat Abraham der Auferstehungsvorstellung den Weg bereitet. Sein Glaube an die Verheißung Gottes führte ihn zu der Schlussfolgerung, dass Gott Isaak aus den Toten auferwecken müsste.
»Im Gleichnis« erhielt er Isaak auch »aus den Toten« zurück. Er hatte sich mit der Vorstellung vertraut gemacht, dass Isaak geopfert werden musste. Gott erkannte seine Absicht an. Doch Grant merkte dazu mit treffenden Worten an: »Der Herr ersparte Abraham einen Schmerz, den er sich selbst nicht ersparen würde.« Er hatte einen Bock an Isaaks Stelle ersehen, und der einzige Sohn durfte mit seinem Vater nach Hause zurückkehren.
Ehe wir dieses herausragende Glaubensbeispiel verlassen, sollten wir noch zweierlei erwähnen. Erstens: Gott hatte von Anfang an nicht vor, dass Abraham seinen Sohn opfert. Menschenopfer waren nie der Wille Gottes für sein Volk. Er prüfte Abrahams Glauben und erkannte, dass er echt war. Daraufhin hob er seine Anordnung auf.
Zweitens wurde Abrahams Glaube an die Verheißung einer zahlreichen Nachkommenschaft über hundert Jahre lang erprobt. Der Patriarch war 75 Jahre alt, als ihm das erste Mal ein Sohn verheißen wurde. Er wartete 25 Jahre lang, ehe Isaak geboren wurde. Isaak war annähernd 20 Jahre alt, als Abraham ihn zum Berg Morija mitnahm, um ihn Gott zu opfern. Nachdem Isaak mit 40 Jahren geheiratet hatte, wurden ihm im Alter von 60 Jahren Zwillinge geboren. Abraham starb mit 175 Jahren. Zu dieser Zeit belief sich seine Nachkommenschaft auf einen Sohn (75 Jahre alt) und zwei Enkel (15 Jahre alt). Doch während seines ganzen Lebens »zweifelte er nicht durch Unglauben an der Verheißung Gottes, sondern wurde gestärkt im Glauben, weil er Gott die Ehre gab. Und er war der vollen Gewissheit, dass er, was er verheißen habe, auch zu tun vermöge« (Röm 4,20.21).
11,20 Mit unserem an den westlichen Welt ausgerichteten Verstand können wir nur schwer verstehen, was am Glauben von »Isaak«, »Jakob« und »Josef« so ungewöhnlich war, wie dies in den nächsten drei Versen erwähnt wird. »Isaak« z. B. erhielt seinen Platz in der Ehrentafel der Glaubenshelden, weil er seine Söhne »Jakob und Esau« segnete. Was ist daran so bemerkenswert?
Ehe die Kinder geboren waren, hatte der Herr Rebekka angekündigt, dass die Jungen die Urväter zweier Völker werden sollten und der Ältere (Esau) dem Jüngeren (Jakob) dienen würde. Esau war der Liebling Isaaks und hätte normalerweise als Ältester den Erstgeburtssegen von seinem Vater erhalten. Doch Rebekka und Jakob betrogen Isaak, der nicht mehr gut sehen konnte, sodass dieser Jakob den Erstgeburtssegen gab. Als alles herauskam, zitterte Isaak. Doch Isaak erinnerte sich an Gottes Wort, dass der Ältere dem Jüngeren dienen sollte. Und obwohl er Esau lieber hatte, erkannte er, dass Gott seine natürliche, dem göttlichen Plan entgegenstehende Neigung überwunden hatte, und es dabei bleiben musste.
11,21 Es gab viele unrühmliche Kapitel im Leben Jakobs, doch er wird hier trotzdem als Glaubensheld geehrt. Sein Charakter wandelte sich mit zunehmendem Alter zum Positiven hin, bis er schließlich in Herrlichkeit starb. Als er Ephraim und Manasse (die »Söhne Josefs«) segnete, kreuzte er seine Hände. Damit wurde der Segen des Älteren Ephraim, dem Jüngeren, zugeeignet. Trotz der Proteste Josefs bestand Jakob darauf, dass dieser Segen so bleiben musste, weil dies die Reihenfolge war, die der Herr bestimmt hatte. Obwohl er mit seinen natürlichen Augen kaum noch sehen konnte, hatte er doch in geistlicher Hinsicht scharfe Augen. Am Ende seines Lebens finden wir Jakob als Anbeter, indem er sich anbetend »über« die »Spitze seines Stabes« neigte (vgl. Anm. ER; Anm. d. Übers.). C. H. Mackintosh fasst dies in seinem üblichen schönen Stil zusammen:
Das Ende von Jakobs Lebensweg bildet einen erfreulichen Gegensatz zu allen früheren Szenen seiner ereignisreichen Geschichte. Es erinnert an einen heiteren Abend nach einem stürmischen Tag: Die Sonne, die während des Tages hinter Wolken und Nebel verborgen war, geht in majestätischem Glanz unter, wobei sie mit ihren Strahlen den Himmel im Westen vergoldet und einen schönen Morgen verheißt. So ist es auch mit Jakob. Das Überlisten und Feilschen, das Überlegen und Planen, die ungläubigen selbstsüchtigen Befürchtungen und Sorgen – all diese finsteren Wolken der Natur sind anscheinend verschwunden. Jakob tritt in der ganzen Hoheit des Glaubens auf, um Segen auszuteilen und Würden zu verleihen. Dies tut er gemäß der heiligen Erkenntnis, die man nur in der Gemeinschaft mit Gott erlangt.23
11,22 Josefs »Glaube« war ebenfalls stark, als er starb. Er glaubte Gottes Verheißung, dass er das Volk »Israel« aus Ägypten führen würde. Der Glaube half ihm, sich den »Auszug« schon vorzustellen. Er war sich so sicher, dass er seine Söhne anwies, seine »Gebeine« mitzunehmen, damit sie diese in Kanaan begruben. »So war er zwar«, schreibt William Lincoln, »von der ganzen Herrlichkeit Ägyptens umgeben. Sein Herz weilte jedoch nicht dort, sondern bei seinem Volk, wie es einst herrlich und gesegnet sein würde.«24
11,23 Es ist eigentlich der »Glaube« seiner »Eltern«, um den es hier geht, nicht der Glaube von »Mose« selbst. Als sie ihr Kind betrachteten, sahen sie, »dass das Kind schön war« – doch es handelte sich um mehr als um äußerliche Schönheit. Sie sahen, dass er eine besondere Bestimmung haben würde und von Gott für ein bestimmtes Werk ausersehen war. Ihr Glaube, dass Gottes Pläne zum Ziel kommen mussten, gab ihnen den Mut, »das Gebot des Königs« zu übertreten und das Kind »drei Monate« zu verbergen.
11,24 »Durch Glauben« war »Mose« selbst imstande, in edler Gesinnung auf etliche Vorteile zu verzichten. Obwohl er im Luxus des Palastes in Ägypten aufgewachsen war und alles haben konnte, nach dem Menschen hier auf Erden streben, erfuhr er doch, »dass nicht der Besitz von Dingen, sondern der Verzicht uns Ruhe bringt« (J. Gregory Mantle). Zunächst verzichtete er auf Ägyptens Ruhm. Er war durch Adoption »Sohn der Tochter Pharaos«. Deshalb war ihm ein Platz in der sozialen Elite sicher, vielleicht sogar als Thronfolger des Pharao. Doch er war von besserer Herkunft – ein Glied des auserwählten Volkes Gottes auf Erden. Von diesem Adelsstand konnte er sich nicht herablassen, um am ägyptischen Königshaus zu bleiben. Als er erwachsen war, traf er seine Entscheidung. Er wollte seine ursprüngliche Herkunft nicht verleugnen, um einige Jahre irdischen Ruhms zu erwerben. Und das Ergebnis? Statt dass ihm eine ein- oder zweizeilige Hieroglyphen-Inschrift auf irgendeinem ägyptischen Grab gewidmet wurde, wird er in Gottes zeitlosem Buch erwähnt. Statt in einem Museum als ägyptische Mumie wiedergefunden zu werden, ist er einer der berühmtesten Gottesmänner geworden.
11,25 Zweitens wies er den »zeitlichen Genuss« Ägyptens zurück. Demütige Identifikation mit dem leidenden »Volk Gottes« bedeutete ihm mehr als die vergängliche Befriedigung seiner Sinne. Das Vorrecht, an den Misshandlungen seines eigenen Volkes teilzuhaben, war ihm eine größere Freude als alle Ausschweifung am Hof des Pharao.
11,26 Drittens kehrte er den »Schätzen Ägyptens« den Rücken. Der Glaube ermöglichte ihm zu erkennen, dass die fabelhaften Schatzkammern Ägyptens im Lichte der Ewigkeit völlig wertlos waren. Deshalb entschied er sich, dieselbe »Schmach« auf sich zu nehmen, die später auch über den Messias kommen sollte. Treue und Liebe zu seinem Gott waren ihm mehr wert als alle Reichtümer Pharaos. Er wusste, dass er darauf sofort nach seinem Tode zählen konnte.
11,27 Außerdem wandte er sich auch von Ägyptens Herrscher ab. »Durch Glauben« ermutigt, verließ er das Land der Knechtschaft, ohne auf »die Wut des Königs« zu achten. Er wandte sich eindeutig von der Politik dieser Welt ab. Er fürchtete Pharao so wenig, weil er Gott so sehr fürchtete. Er richtete seine Augen auf den »seligen und alleinigen Machthaber, den König der Könige und Herrn der Herren, der allein Unsterblichkeit hat und ein unzugängliches Licht bewohnt, den keiner der Menschen gesehen hat noch sehen kann. Dem sei Ehre und ewige Macht! Amen« (1. Tim 6,15.16).
11,28 Schließlich lehnte er Ägyptens Religion ab. Indem er »das Passah« einsetzte und »die Blutbestreichung« ausführte, trennte er sich ausdrücklich für immer von jeglichem ägyptischen Götzendienst. Er warf dem religiösen Establishment den Fehdehandschuh hin. Für ihn gab es Erlösung nur durch das Blut des Lammes, nicht jedoch durch das Wasser des Nils. Als Ergebnis wurden die Erstgeburt Israels verschont, während die Erstgeborenen der Ägypter von dem Gerichtsengel getötet wurde.
11,29 Zunächst schien das »Rote Meer« für die flüchtigen Israeliten die größte Gefahr zu bedeuten. Der Feind war hinter ihnen her, und nun saßen sie in der Falle. Doch im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes gingen sie vorwärts, als die Wasser sich teilten: »Der Herr ließ das Meer die ganze Nacht durch einen starken Ostwind zurückweichen und machte so das Meer zum trockenen Land, und die  Wasser  teilten  sich«  (2. Mose  14,21). Als »die Ägypter … versuchten«, ihnen zu folgen, fraßen sich ihre Räder in den Sand, die Wasser kehrten zurück und das Heer des Pharao wurde »verschlungen«. So wurde den Israeliten beim Durchzug durch das Rote Meer der Weg in die Freiheit gebahnt, während der Angriff der Ägypter in der Sackgasse des Untergangs endete.
11,30 Die befestigte Stadt »Jericho« war das erste militärische Ziel bei der Eroberung Kanaans. Die Vernunft würde uns sagen, dass eine solche undurchdringliche Festung nur von überlegenen Streitmächten eingenommen werden konnte. Doch die Methoden des Glaubens sind ganz anders. Gott benutzt Strategien, die den Menschen töricht erschienen, um zu seinem Ziel zu kommen. Er befahl den Angehörigen des Volkes, »sieben Tage« lang um die Stadt zu ziehen. Am siebten Tag mussten sie siebenmal um sie herumziehen. Die Priester sollten laut ihre Hörner blasen, das Volk sollte rufen, und »die Mauern« würden fallen. Militärexperten würden solche Methoden für irrsinnig halten. Doch das für unmöglich Gehaltene trat ein! Die Waffen des geistlichen Kampfes sind nicht von dieser Welt, sondern haben göttliche Kraft, um Festungen zu zerstören (2. Kor 10,4).
11,31 Wir wissen nicht, wann »Rahab, die Hure«, an Jahwe gläubig wurde. Es ist jedoch eindeutig, dass dies geschah. Sie verließ die falsche Religion Kanaans, um sich dem Volk Israel anzuschließen. Ihr Glaube wurde einer harten Prüfung unterzogen, als die Kundschafter in ihr Haus kamen. Würde sie ihrem Land und ihren Landsleuten treu bleiben, oder würde sie zu Gott halten? Sie entschied sich dafür, auf Gottes Seite zu bleiben, auch wenn das bedeutete, ihr Land zu verraten. Sie nahm »die Kundschafter« freundlich auf, und sie wurde mit ihrer Familie verschont, während ihre ungehorsamen Nachbarn umkamen.
11,32 An diesem Punkt stellt der Verfasser eine rhetorische Frage: »Und was soll ich noch sagen?« Er hat eine imposante Liste von Männern und Frauen aufgeführt, die während der Zeit des AT Glauben und Geduld unter Beweis stellten. Wie viele muss er noch aufzählen, um entsprechende Argumente anzuführen? Er hat noch genug Beispiele, die er anbringen könnte, doch dafür reicht ihm die Zeit nicht. Es würde zu weit führen, sich hier in Details zu verlieren. Deshalb begnügt er sich damit, einige wenige noch zu nennen und einige Glaubenssiege und Glaubensproben kurz darzustellen. Zunächst war da »Gideon«, dessen Armee von 32 000 Mann auf 300 reduziert wurde. Zunächst wurden die Furchtsamen nach Hause geschickt, dann diejenigen, die zu sehr an ihre eigene Bequemlichkeit dachten (weil sie sich beim Trinken des Quellwassers hingekniet hatten, statt es wie die anderen von der Hand zum Mund zu führen und dann aufzulecken; Anm. d. Übers.). Mit einem harten Kern treuer Soldaten schlug Gideon die Midianiter in die Flucht. Dann war da noch »Barak«. Als er berufen wurde, um Israel gegen die Kanaaniter in die Schlacht zu führen, sagte er nur unter der Bedingung zu, dass Debora mitgehen würde. Trotzdem er in dieser Situation wenig Mut erkennen ließ, sah Gott doch echtes Vertrauen bei ihm und führt ihn unter den Glaubenshelden auf. »Simson« war ein anderer Mann mit offensichtlichen Schwächen. Doch trotzdem fand Gott wahren Glauben in seinem Leben. Er ermöglichte es ihm, einen jungen Löwen mit bloßen Händen zu töten, dreißig Philister in Aschkelon zu erschlagen, tausend Philister mit einem Eselskinnbacken zu töten, die Flügel des Stadttores von Gaza samt den Pfosten wegzutragen und schließlich noch den Tempel Dagons einzureißen. Durch die letztgenannte Tat, bei der er selbst starb, kamen mehr Philister um als in seinem gesamten Leben.
Obwohl er ein uneheliches Kind war, wurde »Jeftah« zum Befreier seines Volkes von den Ammonitern. Er ist ein Beispiel für die Wahrheit, dass der Glaube es einem Menschen ermöglicht, sich über seine Herkunft und seine Umwelt zu erheben und für Gott Geschichte zu schreiben.
Der Glaube »Davids« zeigte sich besonders in seinem Kampf mit Goliath, in seinem edlen Verhalten gegenüber Saul, in seiner Eroberung Zions und in zahllosen anderen Begebenheiten. In seinen Psalmen schlägt sich sein Glaube in Buße, Lobpreis und Prophetie nieder. »Samuel« war der letzte der Richter Israels und sein erster Prophet. Er war ein Gottesmann zu einer Zeit, als die Priesterschaft durch einen völligen geistlichen Niedergang geprägt war. Er war einer der größten Führer in Israels Geschichte. Hier wird nun die Liste der »Propheten« hinzugefügt, eine edle Schar derjenigen Männer, die im Namen Gottes redeten und gleichsam das Gewissen des Volkes verkörperten. Sie starben lieber, als Lügen zu verbreiten; sie gingen lieber mit einem guten Gewissen in den Himmel, als mit einem schlechten auf Erden zu bleiben.
11,33 Der Verfasser wendet sich nun von der Aufzählung der Glaubenshelden zu ihren Errungenschaften. Sie »bezwangen Königreiche«. Hier denken wir an Josua, die Richter (die in Wirklichkeit größtenteils Militärführer waren), an David und an andere. Sie »wirkten Gerechtigkeit«. Könige wie Salomo, Asa, Joschafat, Joasch, Hiskia, und Josia stehen für Regentschaften, die zwar nicht vollkommen, aber doch von »Gerechtigkeit« gekennzeichnet waren.
Sie »erlangten Verheißungen«. Das kann bedeuten, dass Gott mit ihnen einen Bund schloss, wie etwa mit Abraham, Mose, David oder Salomo, oder es kann bedeuten, dass sie die Erfüllung von Verheißungen erlebten und so mit ihrem Leben die Wahrheit des Wortes Gottes unter Beweis stellten.
Sie »verstopften der Löwen Rachen«. Daniel ist ein hervorragendes Beispiel dafür (Dan 6,22), doch sollten wir uns auch an Simson (Ri 14,5.6) und an David (1. Sam 17,34.35) erinnern.
11,34 Sie »löschten des Feuers Kraft aus«. Der Feuerofen konnte nur die Fesseln der drei jungen Juden verbrennen und sie damit freigeben (Dan 3,25). So wurde er zu einer Segnung, obwohl es zunächst überhaupt nicht danach aussah. Sie »entgingen des Schwertes Schärfe«. David entrann den bösartigen Angriffen Sauls (1. Sam 19,9.10), Elia entkam dem mörderischen Hass Isebels (1. Kön 19,1-3), und Elisa entging dem König von Syrien (2. Kön 6,15-19). Sie »gewannen aus der Schwachheit Kraft«. Es findet sich in den Berichten über den Glauben viel »Schwachheit«.  Ehud  z. B.  war  Linkshänder,  und doch erschlug er den König von Moab (Ri 3,12-22). Jael, vom »schwachen Geschlecht«, tötete Sisera mit einem Zeltpflock (Ri 4,21). Gideon benutzte zer brechliche tönerne Gefäße, um die Midianiter zu bezwingen (Ri 7,20). Simson benutzte den Kinnbacken eines Esels, um tausend Philister zu erschlagen (Ri 15,15). Sie alle zeigen die Wahrheit, dass Gott Schwaches in der Welt erwählt, um die Starken zu beschämen (1. Kor 1,27). Sie »wurden im Kampf stark«. Der Glaube gab den Menschen Kraft über ihre natürlichen Fähigkeiten hinaus und ermöglichte es ihnen, angesichts unüberwindbarer Hindernisse zu siegen. Sie »trieben der Fremden Heere zurück«. Obwohl sie oft schlechter ausgestattet und deutlich in der Minderzahl waren, trugen die Israeliten zur Verwirrung der Feinde und zum Erstaunen aller den Sieg davon.
11,35 »Frauen erhielten ihre Toten durch Auferstehung wieder.« Die Witwe von Zarpat (1. Kön 17,22) und die Schunemiterin (2. Kön 4,34) sind Beispiele dafür. Doch der Glaube hat noch ein anderes Gesicht. Zu denen, die Wunderbares erlebten, kommen diejenigen hinzu, die intensiv litten. Gott wertet das eine so hoch wie das andere.
Wegen ihres Glaubens an den Herrn wurden einige grausam gefoltert. Wenn sie Jahwe geleugnet hätten, wären sie befreit worden. Sie zogen es jedoch vor, zu sterben und in himmlischer Herrlichkeit wiederaufzuerstehen, statt in diesem Leben als Verräter Gottes zu leben. Zur Zeit der Makkabäer wurden von den Schergen des Seleukidenkönigs Antiochus Epiphanes eine Mutter und ihre sieben Söhne einer nach dem anderen vor den Augen der anderen umgebracht. Sie weigerten sich, die Befreiung anzunehmen, »um eine bessere Auferstehung zu erlangen«. Dies bedeutet, dass sie besser war als ein bloßes Weiterleben auf Erden. Morrison kommentiert:
Ein Ergebnis des Glaubens besteht also darin, dass er manchmal dem Menschen »nicht« die Befreiung bringt. Stattdessen gibt er dem Betreffenden, wenn die Befreiung winkt, den größeren Mut, um sie abzulehnen. Es gibt Zeiten, wo sich der Glaube im Annehmen zeigt, aber auch andere Zeiten, da man durch Ablehnung Zeugnis gibt. Es gibt eine Befreiung, die der Glaube ergreift, und es gibt eine Befreiung, die er zurückweist. Die Betreffenden wurden gefoltert, weil sie die Befreiung nicht annahmen – das war das Zeichen und Siegel ihrer Treue. Es gibt Stunden, in denen der stärkste Beweis des Glaubens die offene Ablehnung der Freiheit ist.25
11,36 »Andere« wurden verspottet, gegeißelt oder ins »Gefängnis« geworfen. Für seine Treue zu Gott erduldete Jeremia all diese Arten der Bestrafung (Jer 20,1-6; 37,15). Josef wurde ebenfalls ins Gefängnis geworfen, weil er lieber litt, als zu sündigen (1. Mose 39,20).
11,37 »Sie wurden gesteinigt.« Jesus erinnerte die Schriftgelehrten und Pharisäer daran, dass ihre Vorfahren auf diese Weise Secharja zwischen dem Heiligtum und dem Altar getötet hatten (Matth 23,35).
»Sie wurden zersägt.« Die Überlieferung berichtet, dass Manasse Jesaja auf diese Weise umbrachte.
»Sie wurden versucht« (Elb).26 Dies beschreibt wahrscheinlich den starken Druck, dem die Gläubigen ausgesetzt waren, Kompromisse zu schließen, zu widerrufen, zu sündigen oder auf irgendeine Art ihren Herrn zu verleugnen. Sie »starben den Tod durch das Schwert«. Uria, der Prophet, zahlte diesen Preis für die treue Verkündigung der Botschaft Gottes, als er im Auftrag des Königs Jojakim hingerichtet wurde (Jer 26,23). Der Ausdruck bezieht sich hier jedoch auf die Massenmorde zur Zeit der Makkabäer.
Sie »gingen umher in Schafpelzen, in Ziegenfellen, Mangel leidend, bedrängt, geplagt«. Moorehead kommentiert: Sie hätten in knisternder Seide und fließendem Samt umhergehen können, sie hätten in luxuriösen königlichen Palästen leben können, wenn sie Gottes Wort geleugnet und den Lügen der Welt Glauben geschenkt hätten. Stattdessen liefen sie in Schaf- und Ziegenfellen umher, selbst nicht höher geachtet als Ziegen oder Schafe, ja, in den Augen der Herrschenden waren sie wie das Kleinvieh nur zum Schlachten geeignet.27 Sie litten unter Armut, Entbehrung und Verfolgung.
11,38 Die Welt behandelte sie, als wären sie ihrer nicht wert – als hätten sie kein Recht, in ihr zu leben. Doch der Geist Gottes muss hier einfügen, dass es genau umgekehrt war: »Die Welt« war ihrer »nicht wert«.
Sie »irrten umher in Wüsten und Gebirgen und Höhlen und den Klüften der Erde«. Sie hatten keine Wohnung, waren von ihren Familien getrennt, wie Tiere verfolgt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie ertrugen Hitze und Kälte, Mühsal und Härten, doch sie wollten ihren Gott nicht verleugnen.
11,39 Gott war Zeuge des Glaubens dieser alttestamentlichen Helden, aber sie starben, bevor sie Augenzeugen einer Erfüllung der »Verheißung« wurden. Sie erlebten die Ankunft des lang ersehnten Messias nicht mehr und genossen die Segnungen nicht, die sich aus seinem Dienst ergeben würden.
11,40 »Gott« hat »für uns etwas Besseres vorgesehen«. Er hat bestimmt, dass »sie nicht ohne uns vollendet werden sollten«. Sie genossen niemals ein vollkommenes Gewissen bezüglich der Sünde, und sie werden nicht die ganze Vollkommenheit des verherrlichten Leibes im Himmel erfahren, ehe wir nicht alle hinaufgenommen werden, um dem Herrn in der  Luft  zu  begegnen  (1. Thess  4,13-18). Die Geister der alttestamentlichen Heiligen sind schon in dem Sinne vollendet, dass sie in der Gegenwart des Herrn leben (Hebr 12,23), doch ihre Leiber werden erst dann aus den Toten auferweckt, wenn der Herr wiederkommt, um sein Volk heimzuholen. Dann werden sie die Vollkommenheit der Auferstehungsherrlichkeit kennenlernen.
Um es anders auszudrücken: Die alttestamentlichen Gläubigen hatten nicht so viele Vorrechte wie wir. Doch man denke nur an ihre überwältigenden Siege und ihre großen Erprobungen! Man denke an ihre Heldentaten und ihr Ausharren! Sie lebten in der Zeit vor dem Kreuz, wir dagegen leben in der vollen Herrlichkeit des Kreuzes. Doch was ist unser Leben im Vergleich mit dem ihren? Das ist die zwingende Herausforderung von Hebräer 11.
C. Ermahnung zur Hoffnung in Christus (Kap. 12)
12,1 Wir sollten im Gedächtnis behalten, dass der Hebräerbrief an Menschen in der Verfolgung gerichtet ist. Weil sie das Judentum um Christi willen verlassen hatten, stießen die Gläubigen auf großen Widerstand. Es bestand die Gefahr, dass sie ihr Leiden als Zeichen verstehen könnten, dass Gott an ihnen keinen Gefallen fände. Sie könnten entmutigt werden und aufgeben. Wenn es am schlimmsten käme, könnten sie versucht sein, zum Tempel mit seinen Zeremonien zurückzukehren. Sie sollten nicht denken, dass ihr Leiden außergewöhnlich war. Viele der Glaubenszeugen, die in Kapitel 11 beschrieben worden sind, litten sehr, weil sie dem Herrn treu waren, und hielten dennoch aus. Wenn diese Zeugen unverzagt ausharrten, wo sie doch viel weniger Vorrechte genossen, wie viel mehr sollten wir ausharren, die wir die viel besseren Segnungen Christi genießen. Die Heiligen des AT umgeben uns als »große Wolke von Zeugen«. Das bedeutet nicht, dass sie Zuschauer der Ereignisse auf Erden wären. Sie sind vielmehr Zeugen für uns durch ihr Glaubensleben sowie ihr Ausharren und haben uns ein großes Vorbild gegeben, dem wir nacheifern sollen.
Dieser Vers lässt unausweichlich die Frage aufkommen: »Können die Heiligen im Himmel unser Leben auf Erden sehen oder vielleicht sogar wissen, was kommt?« Das einzige Geschehen im Himmel, von dem wir in dieser Hinsicht etwas Genaues wissen, umfasst die Bekehrung eines Sünders: »So wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die die Buße nicht nötig haben.« Das Leben des Christen ist ein Wettlauf, der Disziplin und Durchhaltevermögen erfordert. Wir müssen uns von allem trennen, was uns hinderlich sein kann. »Bürden« oder Lasten können viele Dinge sein, die an sich harmlos sind und doch unser Fortkommen behindern können. Dazu gehören z. B. materieller Besitz, Familienbande, die Liebe zur Bequemlichkeit, mangelnde Mobilität und vieles andere. Bei den olympischen Wettbewerben gibt es keine Regel, die verbietet, Nahrungsvorräte oder Getränke mit ins Rennen zu nehmen, doch ein Läufer könnte nie gewinnen, wenn er sie mitnähme. Wir müssen auch »die uns so leicht umstrickende Sünde ablegen«. Obwohl dies Sünde in jeder Form sein kann, ist damit besonders die Sünde des Unglaubens gemeint. Wir müssen auf die Verheißungen Gottes vollkommen vertrauen und auch fest damit rechnen, dass ein Leben des Glaubens uns sicher zu Siegern macht.
Wir müssen uns vor der Vorstellung hüten, dass der »Wettkampf« ein kurzer Sprint ist und alles im christlichen Leben rosig sein wird. Wir müssen darauf vorbereitet sein, mit Durchhaltevermögen auch Prüfungen und Versuchungen zu überstehen.
12,2 Während des gesamten Wettlaufs sollten wir alles andere aus unserem Gesichtsfeld verbannen und unsere Augen auf »Jesus« gerichtet halten, der vor uns herläuft. A. B. Bruce kommentiert: Einer ragt aus der gesamten Menge heraus, … der Mann, der als Erstes ein vollkommenes Leben durch Glauben in die Wirklichkeit umsetzte, … der unbeirrt die bitteren Leiden am Kreuz ertrug und der Schande nicht achtete – von einem Glauben aufrecht gehalten, der sich so lebhaft die kommende Freude und Herrlichkeit vorstellen konnte, dass das gegenwärtige Bewusstsein von Schmerz und Schande überwunden wurde.28 Er ist der »Anfänger« oder der Urheber »des Glaubens« in dem Sinne, dass er uns das einzige vollkommene Beispiel dafür gegeben hat, wie ein solches Leben des Glaubens aussieht.
Er ist auch der »Vollender des Glaubens«. Er hat das Rennen nicht nur begonnen, sondern auch siegreich beendet. Für ihn begann die Rennbahn im Himmel. Sie erstreckte sich über Bethlehem, Gethsemane und Golgatha, ging über das Grab hinaus und endete schließlich wieder im Himmel. Zu keiner Zeit zögerte er oder wandte er sich um. Er hielt seine Augen auf die kommende Herrlichkeit gerichtet, wenn alle Erlösten mit ihm dereinst in Ewigkeit versammelt sein werden. Dies ermöglichte es ihm, die »Schande nicht« zu achten und Leid sowie Tod zu ertragen. Heute sitzt er »zur Rechten des Thrones Gottes«.
12,3 Das Bild wandelt sich nun vom Rennen zum Kampf gegen die Sünde. Unser unerschrockener Befehlshaber ist der Herr Jesus. Niemand hat je »so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet« wie er. Wann immer wir dazu neigen, müde und matt zu werden, sollten wir daran denken, was er durchlitten hat. Unsere Anfechtungen werden im Vergleich dazu bedeutungslos erscheinen.
12,4 Wir stehen in einem ständigen »Kampf gegen die Sünde«. Doch wir haben  »noch  nicht  bis  aufs  Blut«,  d. h.  bis zum Tod, »widerstanden«. Er hat es jedoch getan!
12,5 Nun wird uns die christliche Betrachtungsweise des Leidens vorgestellt. Warum kommen Verfolgung, Erprobungen, Prüfungen, Krankheit, Schmerz, Leid und Bedrängnis in das Leben des Gläubigen? Sind sie ein Zeichen für Gottes Missfallen oder sogar für seinen Zorn? Geschehen sie einfach zufällig? Wie sollten wir darauf reagieren? Diese Verse lehren uns, dass diese Ereignisse ein Teil von Gottes Erziehung seiner Kinder sind. Obwohl sie nicht von Gott kommen, lässt er sie zu. Dann überwindet er sie zu seiner Ehre, zu unserem Besten und zum Segen für andere. Nichts geschieht dem Christen durch Zufall. Tragödien erweisen sich demzufolge letztendlich doch als Segen, und Enttäuschungen sind Gottes Möglichkeiten. Gott benutzt die widrigen Lebensumstände, um uns in das Bild Christi zu verwandeln.
Deshalb wurden die ersten Judenchristen ermahnt, sich an Sprüche 3,11.12 zu erinnern, wo Gott jeden von ihnen als »Sohn« anspricht. Er warnt dort davor, seine Züchtigung zu verachten oder unter seiner Hand den Mut zu verlieren. Wenn sie sich auflehnen oder aufgeben würden, dann ginge der Nutzen seines Handelns an ihnen verloren, sodass sie seine Lektionen nicht lernen würden.
12,6 Wenn wir das Wort »züchtigen« oder »Züchtigung« lesen, dann denken wir oft an Schläge. Doch hier bedeutet das Wort so viel wie Kindererziehung oder Ausbildung. Dazu gehören Unterweisung, Disziplin, Zucht, Korrektur und Warnung. Alle sind dazu bestimmt, christliche Tugenden zu fördern und das Böse auszutreiben. In diesem Abschnitt ist die Züchtigung nicht die Bestrafung für Sünden, sondern Übungsfeld inmitten von Verfolgung.
Der Abschnitt aus den Sprüchen sagt eindeutig, dass Gottes Zucht ein Ausdruck seiner Liebe ist und kein »Sohn« der Züchtigung entgeht.
12,7 Indem wir uns der »Züchtigung« Gottes unterwerfen, erlauben wir ihm, uns in sein Bild zu verwandeln. Wenn wir versuchen, seine Vorhaben mit uns zu unterlaufen, kann es sein, dass er uns über längere Zeit hinweg erziehen und dabei auch Methoden anwenden muss, die unserem Ich größere Schläge versetzen und beschwerlicher sind. Es gibt Abschlüsse in der Schule Gottes, und wir werden sie nur erlangen, wenn wir unsere Hausaufgaben gemacht haben.
Wenn also Prüfungen auf uns zukommen, sollten wir erkennen, dass Gott uns als »Söhne« behandelt. In jeder normalen Vater-Sohn-Beziehung erzieht der Vater den Sohn, weil er ihn liebt und sein Bestes will. Gott liebt uns zu sehr, als dass er uns die Regie unseres Lebens überlassen würde.
12,8 Im geistlichen Bereich sind diejenigen, die Gottes Züchtigung nicht erfahren, »Bastarde« und keine wirklichen »Söhne«. Schließlich pflegt der Gärtner keine Disteln, sondern nur Reben. Wie im natürlichen Bereich, so ist es auch im geistlichen.
12,9 Die meisten von uns sind von »unseren« menschlichen »Vätern« gezüchtigt worden. Wir haben dies nicht als ein Zeichen des Hasses interpretiert. Wir erkannten, dass sie an unserem Wohlergehen interessiert waren, und wir »scheuten sie«.
Wie viel mehr sollten wir uns der Belehrung durch den »Vater der Geister« unterwerfen! Gott ist »der Vater« (oder der Schöpfer) aller Wesen, die Geister sind oder einen Geist haben. Der Mensch ist ein Geist, der in einem Körper aus Fleisch und Blut lebt. Wenn wir Gott untertan sind, dann genießen wir im wahrsten Sinne des Wortes das Leben.
12,10 Die Erziehung durch irdische Eltern ist nicht vollkommen. Sie hält außerdem nur einige Zeit an, d. h. während der Kindheit und Jugend. Wenn sie bis dahin nicht erfolgreich war, dann kann sie nichts mehr bewirken. Und sie geschieht »nach« dem »Gutdünken« der Eltern, d. h.  nach  dem,  was  in  ihren Augen  das Beste für uns ist. Und manchmal mögen sie damit Unrecht gehabt haben. Doch Gottes Erziehung ist immer vollkommen. Seine Liebe ist unendlich und seine Weisheit ohne Irrtum. Seine Züchtigungen entspringen nie einer Laune, sondern sollen immer unserem Wohl dienen. Sein Ziel besteht darin, »damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden«. Und Gottesfurcht kann niemals außerhalb der Schule Gottes erlernt werden. Jowett erklärt:
Der Zweck der Züchtigung Gottes besteht nicht in der Strafe. Vielmehr will Gott etwas Neues gestalten. Er züchtigt, »damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden«. Dieser Ausdruck (»damit wir teilhaftig werden«) hat eine Richtung, und die Richtung weist auf ein gereinigtes Leben hin – auf ein Leben, das anmutigere Züge trägt. Das Feuer, das hier angezündet wird, ist nicht einfach ein Feuer, das achtlos sowie unbewacht brennt und Wertvolles verschlingt. Es ist vielmehr ein Läuterungsfeuer. Während es lodert, sitzt der Schmelzer dabei und formt geduldig, vorsichtig, aber beständig Heiligkeit aus Achtlosigkeit und Festigkeit aus Schwachheit. Gott ist immer schöpferisch tätig, auch wenn er die bitteren Mittel der Gnade benutzt. Er bringt die Früchte und Blüten des Geistes hervor. Seine Liebe sucht immer nach kostbaren Gütern.29
12,11 Während wir der Züchtigung ausgesetzt sind, schmerzt sie immer. Doch sie »gibt denen, die durch sie geübt sind, die friedsame Frucht der Gerechtigkeit«. Deshalb hören wir so oft von solchen Zeugnissen wie diesem von Leslie Weatherhead:
Wie alle Menschen bevorzuge ich die sonnigen Höhen der Erfahrung, wo Gesundheit, Glück und Erfolg auf uns warten. Ich habe jedoch weit mehr über Gott, das Leben und mich selbst in der Dunkelheit der Angst und des Versagens gelernt, als ich je im Sonnenschein gelernt habe. Es gibt so etwas wie die Schätze der Finsternis. Die Finsternis geht – Dank sei Gott! – vorüber. Doch was man in der Finsternis gelernt hat, behält man für immer. »Was uns so anficht«, sagt Bischof Fénelon, »und was scheinbar zwischen Gott und uns steht, wird sich als Mittel zur Gemeinschaft mit ihm erweisen, wenn wir es demütig ertragen. Was uns nahezu überwältigt und unseren Stolz erschüttert, tut uns besser als alles, was uns anregt und be geistert.«30
Oder man betrachte das folgende Zeugnis von C. H. Spurgeon: Ich fürchte, dass aller Nutzen, den ich aus der Zeit des Wohlergehens und den glücklichen Stunden gezogen habe, fast auf einem Penny Platz finden würde. Doch das Gute, das ich durch meine Sorgen und Schmerzen und mein Leid erhalten habe, ist fast unermesslich. Was schulde ich nicht alles dem Hammer und dem Amboss, dem Feuer und der Feile. Anfechtung ist das beste Möbelstück meines Hauses.31
12,12 Gläubige sollten unter den widrigen Umständen des Lebens nicht kapitulieren; ihr Mangel an Glauben könnte auf andere einen schlechten Einfluss haben. Wir sollten schlaffe »Hände« wieder beleben, um dem lebendigen Christus zu dienen. Wir sollten »gelähmte Knie« stärken, damit wir erneut anhaltend beten können.
12,13 Stolpernden »Füßen« sollten wir helfen, damit sie in die »gerade Bahn« christlicher Jüngerschaft finden. Williams schreibt:
Alle, die ganz dem Herrn folgen, bereiten den Weg des Glaubens für die schwachen Brüder. Diejenigen jedoch, die nicht ganz folgen, machen den Pfad für die Füße anderer uneben und bringen geistliche Krüppel hervor.32
G. H. Lang veranschaulicht dies an einem wunderbaren Beispiel: Ein erschöpfter Reisender, der Straße und des tosenden Sturmes müde, steht mutlos und lahm da. Auffällig sind seine hängenden Schultern, seine herabgesunkenen, schlaffen Hände sowie seine gebeugten und zitternden Knie. Er will gerade aufgeben und zu Boden sinken. So kann es Gottes Pilgern ergehen, wie es der Verfasser des Hebräerbriefes dargestellt hat.
Doch dann kommt jemand zu ihm mit zuversichtlicher Miene, lächelt ihn freundlich an und sagt mit fester Stimme: »Fasse dich, stehe auf, stärke deine Glieder und nimm dir die Gnade zu Herzen. Du bist nun schon so weit gekommen, lass deine Mühen nicht umsonst gewesen sein. Am Ende der Reise wartet auf dich eine wunderbare Heimat. Schau mal, dort drüben ist die Straße, die direkt dorthin führt. Gehe stracks darauf zu und bitte unseren großen Arzt darum, dass er dich von deiner Lahmheit heilt. Dein Vorläufer hat denselben beschwerlichen Weg zum Palast Gottes auf sich genommen, andere vor dir sind auf ihm erfolgreich gewesen, andere sind noch auf dem Weg; du bist nicht allein, halte nur aus. Und dann wirst du das Ziel erreichen und den Preis erringen.«
Glücklich ist, wer weiß, wie man die Müden mit Worten wiederaufrichten kann (Jes 50,4). Glücklich ist, wer Ermahnung annehmen kann (Hebr 13,22). Und dreifach glücklich ist derjenige, dessen Glaube ganz auf das Ziel ausgerichtet und stark ist, sodass er keinen Grund findet, sich am Herrn zu stoßen, wenn seine Züchtigung schwer ist.33
12,14 Christen sollten jederzeit danach streben, im »Frieden« mit allen Menschen zu leben. Doch diese Ermahnung ist besonders nötig, wenn Christen hart verfolgt werden, wenn einige vom Glauben abfallen und wenn die Nerven aller überbeansprucht sind. Zu solchen Zeiten ist es nur zu leicht, die eigene Frustration und Furcht an denen auszulassen, die uns am nächsten stehen und uns am liebsten sind. Wir sollten auch nach »Heiligung« streben, »ohne die niemand den Herrn schauen wird«. Welche Art der »Heiligung« ist hier gemeint? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns daran erinnern, dass im NT das Wort »Heiligung« auf mindestens dreierlei Weise im Zusammenhang mit den Gläubigen benutzt wird.
Zunächst einmal wird der Gläubige von seiner Stellung her heilig, sobald er sich bekehrt. Er wird von Gott aus der Welt herausgenommen und abgesondert (1. Kor 1,2; 6,11). Durch seine Vereinigung mit Christus ist er für immer geheiligt. Das meint Luther, wenn er sagt: »Meine Heiligung ist im Himmel.« Christus ist unsere  Heiligung,  d. h.  soweit  es  unsere Stellung vor Gott angeht. Dann gibt es aber auch noch die praktische Heiligung (1. Thess 4,3; 5,23). Diese sollten wir Tag für Tag praktizieren. Wir sollten uns jederzeit von allen Formen des Bösen trennen. Diese Heiligung sollte fortschreiten, d. h. wir sollten mit der Zeit immer mehr dem Herrn Jesus ähneln. Schließlich gibt es noch die vollkommene Heiligung. Diese wird dem Gläubigen zuteil, wenn er in den Himmel kommt. Dort wird er für immer von der Sünde befreit sein. Seine alte Natur wird weggenommen, und sein Zustand entspricht vollkommen seiner Stellung. Welcher Heiligung sollen wir nun »nachjagen«? Offensichtlich ist hier die praktische Heiligung im Blick. Wir brauchen der stellungsmäßigen Heiligung nicht nachzujagen, denn sie gehört uns automatisch, sobald wir uns bekehren. Und der vollkommenen Heiligung brauchen wir ebenfalls nicht nachzujagen, weil wir sie erhalten, sobald wir Gottes Angesicht sehen. Doch die praktische oder fortschreitende Heiligung ist ein Sachverhalt, wozu unser Gehorsam und unsere Mitwirkung gehören; wir müssen auf die Heiligung stets Wert legen. Die Tatsache, dass wir ihr nachjagen müssen, ist ein Beweis dafür, dass wir sie in diesem Leben nie vollkommen erlangen werden (s. die Anmerkungen zu Hebr 2,11 [wo die verschiedenen Aspekte der Heiligung ausführlicher behandelt werden]). Wuest schreibt:
Die Ermahnung ergeht an wiedergeborene Juden, die den Tempel verlassen haben, um ein durchgängig heiliges Leben zu führen und sich fest an ihren neu gefundenen Glauben zu klammern. Dies sollte derart überzeugend geschehen, dass die unerlösten Juden, die ebenfalls den Tempel verlassen und rein äußerlich die Wahrheit des Neuen Testaments angenommen hatten, ermutigt würden, weiter an den Messias als ihren Hohenpriester zu glauben. Anderenfalls standen sie in der Gefahr, zu den überholten Opfern der levitischen Ordnung zurückzukehren. Die wahren wiedergeborenen Juden werden gewarnt: Ein halbherziges christliches Leben könnte die Ursache dafür sein, wenn diese unerretteten Juden auf dem Weg straucheln.34 Doch eine Schwierigkeit bleibt! Stimmt es, dass wir den Herrn ohne praktische Heiligung nicht sehen werden? Ja, in gewissem Sinne ist das wahr. Wir sollten jedoch Folgendes verstehen: Dies bedeutet nicht, dass wir uns das Recht verdienen, Gott zu sehen, indem wir ein geheiligtes Leben führen. Jesus Christus ist unser einziger Anspruch auf den Himmel. Mit diesem Vers ist jedoch gemeint, dass es bei uns praktische »Heiligung« als Beweis des neuen Lebens in uns geben muss. Wenn ein Mensch nicht immer mehr geheiligt wird, dann ist er nicht errettet. Wenn der Heilige Geist in diesem Menschen wohnt, dann verdeutlicht er seine Gegenwart dadurch, dass er den Betreffenden zu einem von der Sünde getrennten Leben veranlasst. Es handelt sich hier um Ursache und Wirkung. Wenn jemand Christus angenommen hat, dann werden Ströme lebendigen Wassers fließen.
12,15 Die nächsten zwei Verse nennen ausdrücklich vier Sünden, die vermieden werden müssen. Doch es gibt hier wieder vom Zusammenhang her starke Anzeichen dafür, dass es sich um eine weitere Warnung vor der einen Sünde des Abfalls handelt und dass diese vier Sünden alle damit verbunden sind.
Zunächst bedeutet Abfall, »an der Gnade Gottes Mangel« zu leiden. Der Betreffende sieht aus wie ein Christ, redet wie ein Christ, bezeugt auch sein Christsein, aber er ist nie wiedergeboren worden. Er ist dem Heiland so nahe gekommen, doch hat er ihn nie wirklich angenommen; er ist ihm so nahe und ist doch so fern.
Abfall ist eine »Wurzel der Bitterkeit«. Der Betreffende wird bitter gegen den Herrn und verachtet den christlichen Glauben. Seine Krankheit ist ansteckend. Andere werden durch seine Klagen, Zweifel und Leugnungen »verunreinigt«.
12,16 Der Abfall ist eng verbunden mit sexuellen Sünden. Ein Namenschrist kann in schlimme moralische Sünden verfallen. Statt seine Schuld zuzugeben, gibt er dem Herrn die Schuld und fällt ab. Abfall und sexuelle Sünde werden auch in 2. Petrus  2,10.14.18  und  in  Judas  8.16.18 miteinander verbunden.
Schließlich ist Abfall eine Form des Unglaubens, wie sich bei »Esau« zeigt. Er schätzte sein Erstgeburtsrecht nicht, sondern verkaufte es bewusst, um seinen Hunger vorübergehend zu stillen.
12,17 Später bereute Esau den Verlust des doppelten Anteils, den das Erstgeburtsrecht ihm zusprach, doch es war zu spät. Sein Vater konnte seinen Segen nicht mehr zurücknehmen, den er stattdessen Jakob zugeeignet hatte.
Genauso ist es mit einem Abgefallenen. Er hat die geistlichen Werte nicht richtig geschätzt. Er lehnt Christus bewusst ab, um Schande, Leid oder Märtyrertum zu entgehen. Er mag bereuen, aber er tut keine echte Buße.
12,18 Diejenigen, die versucht sind, zum Gesetz zurückzukehren, sollten sich an die furchterregenden Umstände in Zusammenhang mit der Gesetzgebung erinnern und aus ihnen geistliche Lehren ziehen. Das Ganze geschah am Berg Sinai, einem irdischen »Berg« im wörtlichen Sinne, der ganz von »Feuer« bedeckt war. Er war verhüllt, sodass alles undeutlich, verborgen und nebulös erschien. Ein schrecklicher Sturm wütete um ihn herum.
12,19 Mit diesen ungewöhnlichen Naturerscheinungen gingen furchtbare übernatürliche Phänomene einher. Posaunenschall ertönte, der Donnerhall einer Stimme war so schrecklich, dass die Angehörigen des Volkes baten, sie möge aufhören.
12,20 Vollends waren sie von der göttlichen Anweisung verunsichert, dass, »wenn ein Tier den Berg berührt«, es »gesteinigt werden« solle.35 Sie wussten, wenn eine solche Handlung für ein vernunftloses, unverständiges Tier den Tod bedeutet, wie viel mehr würde es für die Menschen den Tod bringen, die die Warnung verstanden.
12,21 Die gesamte Szene war so »furchtbar« und schrecklich, dass sogar »Mose« selbst zitterte. All dies spricht eindrücklich vom Wesen und Dienst des Gesetzes. Es ist die Offenbarung von Gottes gerechtem Anspruch und von seinem Zorn auf die Sünde. Der Zweck des Gesetzes bestand nicht darin, die Heilserkenntnis, sondern die Sündenerkenntnis zu vermitteln. Es kündet von der Distanz zwischen Gott und Mensch aufgrund der Sünde. Es ist ein Dienst der Verurteilung, der Finsternis und der Dunkelheit.
12,22 Gläubige sind nicht zu den bedrohlichen Schrecken vom Sinai gekommen, sondern zum Willkommen der Gnade:
O du allmächt’ger, starker Gott, du gabst dem Mose dein Gebot auf Sinai, dem Berg des Herrn; das Volk erbebte, stand von fern. O Gottes Lamm, du brachtest dar dein Leben auf des Herrn Altar jetzt thronst du in der Herrlichkeit, wir nah’n dir mit Freimütigkeit. Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals Jetzt kann jedes bluterkaufte Gotteskind in die folgende Liedstrophe einstimmen: Mein Gewissen beißt mich nicht, will mich das Gesetz verklagen; der mich frei und ledig spricht, hat die Schulden abgetragen, dass mich nichts verdammen kann: Jesus nimmt die Sünder an. Erdmann Neumeister
»Wir sind im Prinzip schon dort, wo wir eines Tages für immer sein werden. Im Heute besitzen wir das Morgen. Auf Erden besitzen wir den Himmel« (ohne Quellenangabe).
Wir kommen nicht zu einem Berg auf Erden, den man mit Händen anf assen kann. Unser Vorrecht ist es, das Heiligtum im Himmel zu betreten. Durch den Glauben nahen wir uns Gott in Bekenntnis, Lobpreis und Gebet. Wir brauchen uns nicht auf einen Tag im Jahr zu beschränken, sondern können das Heiligtum jederzeit in dem Wissen betreten, dass wir immer willkommen sind. Gott sagt nicht mehr: »Haltet Abstand«, sondern: »Tretet vertrauensvoll herzu.«
Zum Gesetz gehört der Berg Sinai, zum Glauben dagegen der »Berg Zion«. Dieser himmlische Berg steht für alle Segnungen der Gnade – alles, was wir durch das Erlösungswerk Christi Jesu zugesprochen bekommen.
Das Gesetz hat sein irdisches Jerusalem, doch der Glaube hat seine »himmlische« Hauptstadt droben. Die »Stadt des lebendigen Gottes« ist im Himmel, die fest gegründete Stadt, deren Architekt und Baumeister Gott selbst ist. Wenn wir in die Gegenwart Gottes treten, dann sind wir von einer erhabenen Versammlung umgeben. Zunächst einmal stehen dort »Myriaden von Engeln«. Obwohl sie nie gesündigt haben, können sie nicht in unser Lied einstimmen, weil sie »die Freude nicht kennen, die die Erlösung uns schenkt«.
12,23 Dann stehen wir dort mit der »Gemeinde der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind«. Sie sind Teil der »Gemeinde«, des Leibes und der Braut Christi. Es sind jene, die seit Pfingsten gestorben sind und nun bei vollem Bewusstsein die Gegenwart des Herrn genießen. Sie warten auf den Tag, an dem ihre verherrlichten Leiber aus den Gräbern auferstehen und mit ihrem Geist wieder vereint werden.
Im Glauben sehen wir »Gott, den Richter aller«. Er ist nicht länger in Finsternis und Dunkelheit verborgen, der Glaube kann ihn in seiner Herrlichkeit sehen.
Auch die Heiligen des AT sind dort, »die Geister der vollendeten Gerechten«. Gerechtfertigt durch Glauben stehen sie in makelloser Reinheit dort, weil der Wert des Werkes Christi ihnen ebenso angerechnet wird. Auch sie warten auf die Zeit, wenn die Gräber ihre Beute hergeben müssen und sie ihre verherrlichten Leiber erhalten.
12,24 Darüber hinaus ist »Jesus« da, der »Mittler des neuen Bundes«. Es gibt einen Unterschied zwischen Mose als Mittler des alten und Jesus als »Mittler des neuen Bundes«. Mose diente als Mittler einfach, indem er das Gesetz von Gott empfing und es an das Volk Israel weitergab. Er war der Bote oder Stellvertreter des Volkes, der die Opfer darbrachte, wodurch der Bund geschlossen wurde. Christus ist »Mittler des neuen Bundes« in einem ganz anderen Sinne. Ehe Gott in seiner Gerechtigkeit diesen Bund schließen konnte, musste der Herr Jesus sterben. Er musste den Bund mit seinem eigenen Blut besiegeln und sich selbst als Opfer für viele geben (1. Tim 2,6). Durch seinen Tod garantierte er die Segnungen des neuen Bundes für sein Volk. Durch sein ewiges Leben kann er diese Garantie geben. Er bewahrt sein Volk, sodass es durch seinen gegenwärtigen Dienst diese Segnungen in einer feindlichen Welt zur Rechten Gottes genießen kann. All dies gehört zu seiner Aufgabe als Mittler.
Der Herr Jesus trägt die Male von Golgatha und ist als Fürst und Heiland zur Rechten Gottes erhöht.
O Gottes Lamm! Bald wird Dich droben, mit Dir vereint auf immerdar, in tausend neuen Weisen loben der Deinen heil’g e, frohe Schar. Nicht einer fehlt, Du riefst sie alle, sie singen laut mit Jubelschalle: Dem Lamme Ehr’, das uns versöhnt! nach Georg Erne
Schließlich haben wir dort noch »das Blut der Besprengung, das besser redet, als das Blut Abels«. Als Christus in den Himmel auffuhr, präsentierte er Gott den ganzen Wert seines am Kreuz vergossenen Blutes. Hier wird nicht angedeutet, dass er wörtlich sein Blut in den Himmel getragen habe, sondern der Wert seines Blutes ist im Heiligtum verkündigt worden. Der Liederdichter hat dies in folgende Worte gefasst:
Die Wunden, die das teure Blut vergossen,
das uns vom ew’gen Tode hat befreit; sie künden vom Werk, das einst ward beschlossen,
dem Wert dieses Werks bis in Ewigkeit. Verfasser unbekannt
Sein kostbares »Blut« wird mit dem Blut »Abels« verglichen. Ob wir darunter das Blut des Opfers Abels verstehen, oder sein eigenes Blut, das von Kain vergossen wurde, sei dahingestellt. Auf jeden Fall gilt, dass Christi Blut wesentlich wichtiger für uns ist. Das Blut des Opfers Abels sagte: »Für eine Zeit bedeckt«, Christi Blut sagt: »Auf ewig vergeben«. Abels Blut schrie: »Rache!«, während Christi Blut ruft: »Gnade, Vergebung und Frieden!«.
12,25 Die abschließenden Verse von Kapitel 12 vergleichen die Offenbarung Gottes am Sinai mit der Offenbarung, die in und durch Christus erfolgte. Die unvergleichlichen Vorrechte und Herrlichkeiten des christlichen Glaubens dürfen nicht gering geachtet werden. Gott spricht, lädt ein und wirbt. Wer ihn »abweist«, wird verlorengehen. Diejenigen, die dem Willen Gottes nicht gehorchten, der im Gesetz zum Ausdruck kam, wurden entsprechend bestraft. Wenn man größere Vorrechte genießt, dann ist auch die Verantwortung größer. In Christus hat Gott seine umfassendste und abschließende Offenbarung gegeben. Diejenigen, die seine Stimme zurückweisen, wie sie »jetzt von den Himmeln her« im Evangelium »redet«, haben größere Verantwortung als diejenigen, die das Gesetz gebrochen haben. Wie will man da entkommen?
12,26 Am Sinai verursachte die Stimme Gottes ein Erdbeben. Doch wenn er in Zukunft sprechen wird, dann wird seine Stimme zu einem »Himmelsbeben« führen. Dies wurde im Wesentlichen vom Propheten Haggai vorausgesagt (2,6): »Noch einmal – wenig Zeit ist es noch –, und ich werde den Himmel und die Erde und das Meer und das Trockene erschüttern.«
Diese Erschütterung wird während jener Zeit stattfinden, die sich von der Entrückung bis zum Ende des Reiches Christi erstreckt. Vor der Wiederkunft Christi zur Herrschaft wird es in der Natur sowohl auf Erden als auch in den Himmeln große Umwälzungen geben. Planeten werden aus ihrer Bahn geworfen werden, was zu Springfluten und Stürmen führen wird. Gegen Ende der tausendjährigen Herrschaft Christi werden die Erde, der Sternenhimmel und die Atmosphäre im Feuer vernichtet werden (2. Petr 3,10-12).
12,27 Als Gott sagte: »Noch einmal«, da sah er die vollständige und endgültige »Verwandlung« des Himmels und der Erde. Diese Vorgänge werden den Mythos zerstören, dass nur das real sei, was man sehen und berühren kann, während alles Unsichtbare irreal sei. Wenn Gott den Sichtungs- und Erschütterungsprozess beendet, dann wird nur übrig bleiben, was wirklich real ist.
12,28 Diejenigen, die sich mit den äußerlich wahrnehmbaren, sichtbaren Riten des Judentums beschäftigten, klammerten sich an Dinge, die erschüttert werden können. Wahre Gläubige haben »ein unerschütterliches Reich«. Das sollte uns zu höchster Anbetung führen. Wir sollten Gott unaufhörlich preisen, und zwar »mit Scheu und Furcht«.
12,29 »Gott ist ein verzehrendes Feuer« für alle, die sich weigern, auf ihn zu hören. Doch auch für die Seinen sind seine Heiligkeit und Gerechtigkeit so groß, dass sie in uns tiefe Ehrerbietung und tiefste Ehrfurcht hervorrufen sollten. D. Mahnung zu verschiedenen christlichen Tugenden (13,1-17)
13,1 Der praktische Abschnitt des Hebräerbriefes geht mit sechs Ermahnungen weiter. Sie betreffen die Tugenden, die ein Christ entwickeln sollte. An erster Stelle steht die »Liebe« zu den Brüdern. Wir sollten allen Christen gegenüber ein Empfinden dafür haben, dass wir als Familie Gottes zusammengehören. Dieser Verwandtschaft sollten wir durch liebevolle Worte und Taten Ausdruck verleihen (1. Joh 3,18).
13,2 Die Leser werden aufgefordert, Fremden gegenüber »Gastfreundschaft« zu üben. Das könnte sich in erster Linie auf Gläubige beziehen, die verfolgt wurden und nur schwer Menschen fanden, die sie beherbergten und beköstigten. Damit setzten sich die Gastgeber – ob Männer oder Frauen – nämlich selbst der Verfolgung aus. Dieser Vers kann aber auch als allgemeine Ermutigung gelten, jedem Gläubigen, der darauf angewiesen ist, Unterkunft zu gewähren.
Es besteht immer die atemberaubende Möglichkeit, dass wir dabei, »ohne es zu wissen, Engel« beherbergen! Dies bezieht sich natürlich auf Abrahams Erlebnis mit den drei Männern, die wirklich Envorhanden ist.« Das sollten auch meine Worte sein! Was der Christ hat, ist so unendlich viel größer als das Beste des Judentums – warum sollte er sich nicht damit »begnügen«? Er hat Christus, und das reicht.
Die Geldliebe kann ein großes Hindernis für den Gläubigen werden. So wie ein kleines Silberstück, das man vor das Auge hält, zwischen das Auge und die Sonne tritt, so beeinträchtigt »Geldliebe« in erheblichem Maße die Gemeinschaft mit Gott und verhindert geistliches Wachstum.
Die größten Reichtümer, die man besitzen kann, liegen darin, dass man den Herrn sein Eigen nennen darf. Er hat verheißen: »Ich will dich nicht versäumen noch verlassen.« Im Griechischen wird eine Verneinung betont, wenn die entsprechende Form zweimal oder noch häufiger gebraucht wird. (Das ist das Gegenteil der deutschen Konstruktion, wo die doppelte Verneinung eine positive Aussage ergibt.) In diesem Vers ist die diesbezügliche Konstruktion besonders nachdrücklich, weil hier fünf Verneinungen stehen, die die Unmöglichkeit anzeigen, dass Christus die Seinen im Stich lässt.
13,6 Die Worte aus Psalm 118,6 sind das zuversichtliche Bekenntnis eines Menschen, der Christus hat: »Der Herr ist mein Helfer; ich will mich nicht fürchten. Was soll mir ein Mensch tun?« Die Tatsache bleibt bestehen, dass wir in Christus vollkommene Sicherheit, Bewahrung und vollkommenen Frieden haben.
13,7 Die Leser werden angewiesen, ihrer »Führer« zu »gedenken«, der christlichen Lehrer, »die das Wort Gottes zu« ihnen »geredet haben«. Was war »der Ausgang ihres Wandels«? Sie waren nicht zu der levitischen Ordnung zurückgekehrt, sondern hatten ihr Bekenntnis standhaft bis zum Ende aufrechterhalten. Vielleicht waren einige um Christi willen zu Märtyrern geworden. Sie haben den »Glauben«, den wir nachahmen sollten, den Glauben, der an Christus und seiner Lehre festhält und Gott in jede Entscheidung mit einbezieht. Wir sind nicht alle zum gleichen Dienst, wohl aber alle zu einem Leben des Glaubens berufen.
13,8 Die Verbindung dieses Verses zum vorhergehenden ist nicht eindeutig. Vielleicht ist es am einfachsten, ihn als Zusammenfassung der Lehre, des Ziels und des Glaubens dieser Führer zu verstehen. Die Quintessenz ihrer Lehre war Folgendes: »Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.« Das Ziel ihres Lebens war: »Jesus Christus, derselbe gestern und heute und in Ewigkeit«. Die Grundlage ihres Glaubens war, dass »Jesus« der »Christus« (= Messias) ist, »derselbe gestern und heute und in Ewigkeit«.
13,9 Als Nächstes folgt eine Warnung vor den Irrlehren der Gesetzlichkeit. Die judaistischen Irrlehrer bestanden darauf, dass Heiligung mit Äußerlichkeiten wie z. B. den gottesdienstlichen Zeremonien, der Gottesdienstform oder mit reinen Speisen zu tun hat. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Heiligung »durch Gnade« geschieht, nicht durch das Gesetz. Die Verordnungen über reine und unreine Speisen waren dazu bestimmt, rituelle Reinheit zu erreichen. Man konnte rituell rein und doch von Hass und Hinterlist beherrscht sein. Nur Gottes Gnade kann den Gläubigen die Kraft und die Motivation zu einem geheiligten Leben schenken. Die Liebe zum Heiland, der für unsere Sünden gestorben ist, motiviert uns, »besonnen und gerecht und gottesfürchtig« zu leben »in dem jetzigen Zeitlauf« (Titus 2,12). Letztendlich haben unzählige Regeln über Essen und Trinken ihren Anhängern nichts genützt.
13,10 Wir sollten dem Triumph, der in den Worten »wir haben einen Altar« steckt, unsere Aufmerksamkeit schenken. Sie sind die selbstbewusste Antwort des Christen auf die wiederholten Angriffe der jüdischen Gesetzeslehrer. Unser »Altar« ist Christus, und deshalb beinhaltet er alle Segnungen, die sich in ihm finden. Diejenigen, die der levitischen Ordnung anhängen, haben »kein Recht«, an den besseren Dingen des Christentums teilzuhaben. Sie müssen sich erst von ihren Sünden bekehren und an Jesus Christus als einzigen Herrn und Heiland glauben.
13,11 Im Rahmen der Opferordnung wurden bestimmte »Tiere« geschlachtet und ihr Blut »durch den Hohenpriester« ins Allerheiligste »für die Sünde … hineingetragen«. »Die Leiber dieser Tiere« wurden an einen Platz außerhalb der Stiftshütte gebracht und verbrannt. »Außerhalb des Lagers« bedeutet außerhalb des Zaunes, der den Vorhof der Stiftshütte umschloss.
13,12 Die Tiere, die außerhalb des Lagers verbrannt wurden, waren entsprechende Typen, während der Herr Jesus den Antitypus verkörperte. Er wurde außerhalb der Stadtmauern Jerusalems gekreuzigt. Außerhalb des organisierten Judentums (sozusagen »außerhalb des Lagers«) »heiligte« er »durch sein eigenes Blut« »das Volk«.
13,13 Die Anwendung für die Hebräer war, dass sie eine klare Trennung gegenüber dem Judentum vollziehen sollten. Sie sollten sich von den Tempelopfern wegwenden und sich zu dem vollendeten Werk des Herrn als ihrem hinreichenden Opfer hinwenden.
Die Anwendung ist für uns ähnlich: Das »Lager« ist heute das gesamte religiöse System, das Erlösung durch Werke, durch Charaktereigenschaften, durch Rituale oder Vorschriften verheißt. Es ist das moderne Kirchensystem mit seiner von Menschen eingesetzten Priesterschaft, seinen irdischen Anbetungsgegenständen und seinen liturgischen Fallstricken. Es ist ein verdorbenes Christentum, eine Gemeinde ohne Christus. Der Herr Jesus ist außerhalb, und wir sollten »zu ihm hinausgehen … und seine Schmach tragen«.
13,14 Jerusalem war den Herzen derer lieb und heilig, die im Tempel dienten. Es war das geografische Zentrum ihres »Lagers«. Der Christ hat »keine« solche »Stadt« hier auf Erden, sein Herz sehnt sich nach der himmlischen Stadt, dem neuen Jerusalem, wo das Lamm in all seiner Herrlichkeit wohnt.
13,15 Im NT sind alle Gläubigen Priester. Sie sind heilige Priester, die ins Heiligtum Gottes gehen, um anzubeten  (1. Petr  2,5),  und  sie  sind  königliche Priester, die in die Welt hinausgehen, um Zeugnis zu geben (1. Petr 2,9). Es gibt mindestens drei Opfer, die die Gläubigen als Priester darbringen. Zunächst einmal geht es um das Opfer der eigenen Person, indem wir dem Herrn hingegeben leben (Röm 12,1). Dann finden wir hier in Vers 15 das zweite Opfer: »das Opfer des Lobes«. Es wird »Gott« durch den Herrn Jesus dargebracht. All unsere Gebete und all unser Lobpreis müssen erst bei ihm vorbei, ehe sie Gott den Vater erreichen. Unser großer Hoherpriester nimmt alle Unreinheit und Unvollkommenheit weg und fügt seine eigene Vorzüglichkeit hinzu.
Lieblich ist’s, wenn Heil’ge beten, wenn ihr Lobpreis ist durchweht von dem Wohlgeruch des Christus, der als Priester sie versteht. Nachdichtung unter Verwendung des englischen Originals Das »Opfer des Lobes« ist »Frucht der Lippen, die seinen Namen« ane rkennen. Der einzige Lobpreis, den Gott annimmt, ist derjenige, der von erlösten Lippen kommt.
13,16 Das dritte Opfer ist das Opfer unseres Eigentums. Wir sollen unsere materiellen Mittel nutzen, um damit »wohlzutun« und mit Bedürftigen zu teilen. »An solch« einem hingebungsvollen Leben »hat Gott Wohlgefallen«. Es ist das Gegenteil davon, für sich selbst Reichtümer aufzuhäufen.
Schon auf Erden und einst droben – stehen Priester vor dem Herrn, Tag und Nacht bereit, zu loben, ihm zu dienen immer gern. Sie erscheinen Gott zum Ruhm vor dem Thron im Heiligtum. Verfasser unbekannt
13,17 In den Versen 7 und 8 werden die Leser angewiesen, sich ihrer ehemaligen Führer zu erinnern. Hier werden sie nun gelehrt, ihren gegenwärtigen Führern zu »gehorchen«. Das bezieht sich in erster Linie auf die Ältesten der Ortsgemeinde. Diese Männer handeln in göttlicher Vollmacht in der Versammlung. Ihnen ist die Autorität gegeben, und Gläubige sollten sich dieser Autorität »fügen«. Als Unterhirten »wachen« sie über die »Seelen« ihrer Herde. Sie werden eines Tages Gott dafür »die Rechenschaft geben« müssen. Sie werden es entweder freudig oder traurig tun, je nachdem, wie der geistliche Fortschritt der ihnen Anvertrauten war. Wenn sie dabei traurig sein werden, bedeutet das Verlust für die betreffenden Heiligen. Deshalb dient es jedem zum Guten, die Autoritäten anzuerkennen, die Gott eingesetzt hat. IV. Abschließender Segen (13,18-25)
13,18 Als der Verfasser zum Schluss seines Briefes kommt, fügt er noch eine persönliche Bitte um Fürbitte hinzu. Der Rest des Verses legt nahe, dass der Verfasser vielleicht von Kritikern angegriffen wurde. Wir können erraten, wer diese Kritiker waren – diejenigen, die die Menschen drängten, zum Gottesdienst des alten Bundes zurückzukehren. Er wirft hier ein, dass trotz der Anklagen, die gegen ihn erhoben wurden, sein »Gewissen« rein und sein Bestreben aufrichtig war.
13,19 Ein weiterer Grund zum Gebet war, dass er ihnen »desto schneller wiedergegeben werde«. Vielleicht bezieht sich dies auf seine Freilassung aus dem Gefängnis. Wir können über diesen Punkt jedoch nur spekulieren.
13,20 Dann fügt er einen der schönsten Segenssprüche der Bibel an – einen, der  4. Mose  6,24-26;  2.  Korinther  13,14 und Judas 24.25 ebenbürtig ist. Er ist an den »Gott des Friedens« gerichtet. Wie schon erwähnt, hatten die Heiligen des AT niemals vollen Gewissensfrieden. Doch im Rahmen des neuen Bundes haben wir Frieden mit Gott (Röm 5,1) und den Frieden von Gott (Phil 4,7). In diesem Vers wird nun ergänzend erklärt, dass dieser Friede die Frucht des Werkes Christi ist. Gott hat »unseren Herrn Jesus … aus den Toten« auferweckt als Zeichen dafür, dass sein Werk am Kreuz die Sündenfrage ein für alle Mal gelöst hat. Christus als guter Hirte gab sein Leben für die Schafe (Joh 10,11). Als der »große Hirte« ist er aus den Toten auferstanden, nachdem er die Erlösung für uns erkauft hat (Hebr 13,20). Als Oberhirte wird er wiederkommen, um seine Diener zu belohnen (1. Petr 5,4). Wir sehen ihn als den guten Hirten in Psalm 22, als den großen Hirten in Psalm 23 und als den Oberhirten in Psalm 24.
Er wurde in Übereinstimmung mit dem ewigen Bund »aus den Toten heraufgeführt«. Wuest kommentiert diesen Ausdruck:
Das Neue Testament wird auch der ewige Bund genannt, im Gegensatz zum ersten Bund, der vorläufiger Natur war. Innerhalb des Bereiches des ewigen Bundes wurde nun der Messias, nachdem er für die sündigen Menschen gestorben war, aus den Toten auferweckt. Er könnte kein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks werden, wenn er nicht aus den Toten auferweckt worden wäre. Der sündige Mensch braucht einen lebendigen Priester, der dem gläubigen Sünder Leben gibt, nicht einen toten Priester, der nur für seine eigenen Sünden bezahlt hat. Deshalb wurde im Rahmen des Neuen Testaments bestimmt, dass der Priester, der sich selbst als Opfer hingab, aus den Toten auferstehen sollte.37
13,21 Das Gebet, das in Vers 20 begonnen wurde, lautet, dass die Heiligen ausgerüstet würden zu »jedem guten Werk« nach Gottes »Willen«. Hier haben wir die eigenartige Verbindung zwischen dem göttlichem und menschlichen Aspekt vor uns. Gott rüstet uns mit dem »guten Werk« aus. Gott wirkt in uns, »was vor ihm wohlgefällig ist«. Er tut das »durch Jesus Christus«. Dann vollbringen wir seinen Willen. Mit anderen Worten, er schenkt uns das Verlangen und gibt uns die Kraft dazu, und dann tun wir es, und er belohnt uns.
Das Gebet endet mit der Feststellung, dass Jesus Christus aller »Herrlichkeit … von Ewigkeit zu Ewigkeit« wert ist. Jauchzend singen heil’ge Chöre, seit das große Werk vollbracht. Dir, dem Lamme, sei gebracht Macht und Herrlichkeit und Ehre! Und wir stimmen freudig ein: Du bist würdig, du allein! Rudolf Brockhaus
13,22 Der Verfasser drängt nun seine Leser, die »Ermahnung« seines Briefes zu befolgen, d. h. die von Riten geprägte Religion aufzugeben und von ganzem Herzen an Christus festzuhalten. Er nennt diesen Brief kurz, und er ist es auch, wenn man bedenkt, wie viel mehr man über die levitische Ordnung und darüber hätte sagen können, wie sie ihre Erfüllung in Christus findet.
13,23 Die Erwähnung, »dass unser Bruder Timotheus freigelassen ist«, bestätigt viele in ihrer Ansicht, dass Paulus der Verfasser des Briefes ist. Zusätzlich kommt noch hinzu, dass der Verfasser eine Reise mit Timotheus plant, ein anderes Zeichen dafür, das möglicherweise auf Paulus hinweist. Doch wir können nicht sicher sein. Deshalb ist es am besten, die Frage offenzulassen.
13,24 Alle Leiter werden gegrüßt, und auch »alle Heiligen«. Wir sollten nicht die vielen Bekundungen christlicher Freundlichkeit in diesem Brief übersehen, und wir sollten sie heute nachahmen. Einige Gläubige »von Italien« waren beim Verfasser, und auch sie wollten ihre Brüder grüßen. Das kann bedeuten, dass der Brief von dort aus geschrieben wurde oder an Christen in Italien gerichtet war.
13,25 Es ist besonders angemessen, dass dieser Brief über den neuen Bund mit einer Bemerkung zum Thema Gnade endet: »Die Gnade sei mit euch allen.« Der neue Bund ist ein bedingungsloser Gnadenbund, der von Gottes unbegrenzter, unverdienter Zuwendung gegenüber unwürdigen Sündern kündet, die durch das Opferwerk des Herrn Jesus Christus erkauft wurde. »Amen« (Schl 2000).
1,1 Der Schreiber stellt sich als »Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus«, vor. Wenn der Autor gemäß unserer Überzeugung der Halbbruder des Herrn war, dann ist sein Leben auf wunderbare Weise verändert worden. Einst hat er nicht an den Herrn Jesus geglaubt (Joh 7,5). Es kann sein, dass auch er der Meinung war, dass Jesus verrückt geworden sei (Mk 3,21). Aber unser Herr säte geduldig den Samen des Wortes. Obwohl seine Lehre nicht geschätzt wurde, lehrte er die Grundsätze des Reiches Gottes. Und dann ging dieser Same im Leben des Jakobus auf. Eine große Veränderung war das Ergebnis. Aus dem Skeptiker wurde ein Knecht. Und er schämte sich nicht, dies auch zu sagen!
Indem er sich einen »Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus« nennt, stellt er ganz richtig Gott und den Herrn Jesus auf die gleiche Stufe. Er ehrt den Sohn genauso wie den Vater (Joh 5,23). Jakobus weiß, dass »niemand ... zwei Herren dienen« kann (Matth 6,24). Doch er spricht von sich selbst als dem Knecht Gottes und des Herrn Jesus. Das ist kein Widerspruch, weil Gott der Vater und Gott der Sohn stellungsgleich sind.
Der Brief ist an die »zwölf Stämme, die in der Zerstreuung sind«, gerichtet (Zerstreuung = gr. diaspora). Diese Menschen waren Juden von Geburt und gehörten somit zu den zwölf Stämmen Israels. Wegen der Sünde Israels waren diese Menschen aus ihrem Heimatland vertrieben und in den Ländern um das Mittelmeer zerstreut worden. Die erste Zerstreuung fand statt, als die zehn Stämme 721 v. Chr. in die Assyrische Gefangenschaft geführt wurden. Einige dieser Menschen kehrten in den Tagen von Esra und Nehemia in ihr Heimatland zurück, doch dies war nur ein Überrest. Zu Pfingsten waren fromme Juden aus allen Ländern der damals bekannten Welt in Jerusalem (Apg 2,4). Diese konnten »Juden aus der Zerstreuung« genannt werden. Aber später gab es auch noch eine Zerstreuung christlicher Juden. In Apostelgeschichte 8,1 lesen wir, dass die ersten Christen (die meisten davon jüdischer Abstammung) im Zuge der Verfolgung durch Saulus nach Judäa und Samaria sowie in außerisraelische Gebiete zerstreut wurden. Diese Zerstreuung wird noch einmal erwähnt, wenn wir lesen, dass Gläubige nach Phönizien, Zypern und Antiochia zerstreut wurden. Deshalb können die Menschen, an die Jakobus schrieb, zu jedem dieser drei Zeitpunkte in die Zerstreuung gelangt sein.
Weil alle wahren Gläubigen in dieser Welt Fremde und Pilger sind (Phil 3,20; 1. Petr 2,11), können wir diesen Brief auch auf uns beziehen, selbst wenn er nicht direkt an uns gerichtet ist.
Eine schwierigere Frage ist, ob Jakobus nichtchristliche Juden anspricht, Juden, die sich zu Christus bekehrt haben, oder sowohl gläubige als auch ungläubige Juden. In erster Linie scheint der Schreiber an wahre, wiedergeborene Gläubige zu schreiben (1,18). Doch es gibt Abschnitte, in denen er wohl auch Namenschristen oder sogar Unbekehrte anspricht. Dies ist einer der Hinweise auf eine frühe Datierung des Briefes, da die Spannungen zwischen Hebräerchristen und ungläubigen Juden noch nicht vollständig aufgebrochen waren.
1,2 In diesem Abschnitt behandelt Jakobus das Thema Versuchung. Er benutzt das Wort auf zweierlei Weise. In den Versen 2-12 könnte man die Versuchungen als von Gott zugedachte »Versuchungen« oder von Gott gesandte Probleme bezeichnen, womit die Echtheit unseres Glaubens geprüft und wir in das Ebenbild Christi verwandelt werden. In den Versen 13-17 wird dagegen das Thema der von Satan kommenden Versuchungen behandelt. Sie haben ihren Ursprung im Inneren des Menschen und führen zur Sünde. Das christliche Leben ist voller Probleme. Sie kommen ungebeten und unerwartet. Manchmal sind es einzelne Probleme, mit denen wir zu tun haben, mitunter aber kommen sie auch zuhauf. Sie kommen unausweichlich. Jakobus schreibt nicht: »Falls ihr in mancherlei Versuchungen geratet«, sondern: »Wenn ihr …« Wir können Schwierigkeiten nicht ausweichen. Die Frage lautet nur: »Wie gehen wir damit um?«
Es gibt mehrere mögliche Haltungen, die wir gegenüber diesen Erprobungen, Anfechtungen und Versuchungen des Lebens einnehmen können. Wir können uns gegen sie auflehnen (Hebr 12,5), indem wir eine Trotzhaltung einnehmen und uns dabei noch rühmen, dass wir uns aus eigener Kraft bis zum Sieg durchkämpfen werden. Auf der anderen Seite können wir unter dem Druck mutlos werden und sogar aufgeben (Hebr 12,5). Das ist reiner Fatalismus. Wir könnten infolgedessen sogar die Tatsache infrage stellen, dass der Herr für uns sorgt. Und drittens können wir murren und uns über unsere Probleme beklagen. Davor warnt uns jedoch Paulus in 1. Korinther 10,10. Eine vierte Möglichkeit besteht darin, sich dem Selbstmitleid zu überlassen, an niemand anders mehr zu denken, sich auf die eigene Lage zu konzentrieren und zu versuchen, bei anderen Mitleid zu erregen. Es gibt aber noch eine bessere Möglichkeit: Wir können durch die Schwierigkeiten und Probleme des Lebens geschult werden. Wir können im Grunde sagen: »Gott hat diese Anfechtung in meinem Leben erlaubt. Er hat sicher etwas Gutes mit mir vor. Ich weiß zwar nicht, was Gott damit bezweckt, aber ich will versuchen, es hera uszufinden. Ich möchte, dass sich seine Ziele in meinem Leben erfüllen.« Da rät Jakobus: »Achtet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen geratet.« Lehnt euch nicht auf! Lasst euch nicht gehen! Freut euch! Diese Probleme sind keine Feinde, die darauf abzielen, euch zugrunde zu richten. Sie sind Freunde, die euch helfen wollen, eine christliche Wesensart zu entw ickeln. Gott versucht, in jedem seiner Kinder Christusähnlichkeit hervorzubringen. Dieser Vorgang beinhaltet notwendigerweise Leid, Enttäuschung und Verwirrung. Die Frucht des Geistes kann nicht nur durch Sonnenschein hervorgebracht werden, es muss auch Wolken und Regen geben. Versuchung ist niemals angenehm, sie ist schwierig zu ertragen, und wir mögen sie nicht. Aber hinterher bringt sie »denen, die durch sie geübt sind, die friedsame Frucht der Gerechtigkeit« (Hebr 12,11). Wie oft hören wir Christen sagen, die gerade eine große Krise überstanden haben: »Es war eine sehr schwere Zeit, aber ich möchte sie gegen nichts in der Welt eintauschen.«
1,3 Jakobus spricht von der »Bewährung eures Glaubens«. Er stellt den Glauben als ein Edelmetall dar, das vom Prüfer (Gott) auf Echtheit hin untersucht wird. Das Metall wird dem Feuer der Verfolgung, der Krankheit, des Leidens und der Schmerzen unterworfen. Ohne Probleme würden wir uns nie im Ausharren üben. Sogar Weltmenschen erkennen, dass Probleme den Charakter stärken. Charles Kettering, ein bekannter Industrieller, sagte einst: »Probleme sind der Preis des Fortschritts. Bringen Sie mir bitte nur Probleme. Gute Nachrichten schwächen mich.«
1,4 »Das Ausharren aber soll ein vollkommenes Werk haben«, sagt Jakobus. Wenn Probleme kommen, dann verzweifeln wir manchmal und verwenden krampfhaft Mittel, um die Versuchung abzukürzen. Ohne den Herrn zu befragen, was er uns durch diese Versuchung lehren will, rasen wir etwa zum Arzt, schlucken riesige Mengen Medikamente, um die Dauer der Versuchung zu verkürzen. Indem wir das tun, kann es sein, dass wir Gottes Pläne mit unserem Leben durchkreuzen. Und es ist möglich, dass wir in Zukunft eine noch längere Versuchung ertragen müssen, damit er mit uns zum Ziel kommt. Wir sollten nicht die Abkürzung wählen, weil wir sonst das Ausharren nie lernen. Indem wir mit Gott zusammenarbeiten, werden wir zu reifen, wohlgeformten christlichen Persönlichkeiten, die keinen Mangel an geistlichen Segnungen haben.
Wir sollten niemals niedergeschlagen oder mutlos werden, wenn wir Versuchungen durchleben müssen. Es gibt kein Problem, das für unseren Vater zu groß wäre. Solche Probleme werden uns nicht einfach genommen. Wir müssen lernen, sie anzunehmen und zu glauben, dass seine Gnade genügt. Paulus bat den Herrn dreimal, ihn von einem körperlichen Leiden zu befreien. Der Herr befreite ihn nicht davon, gab ihm aber die Gnade, damit zu leben (2. Kor 12,8-10). Wenn wir im Leben Problemen gegenüberstehen, die Gott offensichtlich nicht beseitigen will, sollten wir uns seinem Willen unterwerfen. Eine Liederdichterin verfasste einst folgende Zeilen: Stille, mein Wille! Dein Jesus hilft siegen;
trage geduldig das Leiden, die Not; Gott ist’s, der alles zum Besten will fügen,
der dir getreu bleibt in Schmerzen und Tod.
Stille, mein Wille! Dein Jesus wird machen
glücklichen Ausgang bedenklicher Sachen.
Catharina Amalia Dorothea von Schlegel Wir haben Frieden, wenn wir uns dem Willen Gottes unterordnen. Einige Probleme unseres Lebens werden wieder weggenommen, wenn wir dadurch unsere Lektion gelernt haben. Sobald der Schmelzer sein Spiegelbild im geschmolzenen Metall erkennen kann, nimmt er das Feuer weg. Den meisten von uns fehlt die Weisheit, die Schwierigkeiten unseres Lebens von Gottes Standpunkt aus zu sehen. Wir sind kurzsichtig und beschäftigen uns nur mit der gegenwärtigen Unannehmlichkeit. Wir vergessen, dass es Gottes Ziel ist, uns durch Druck neue Dimensionen zu erschließen (Ps 4,1; nach Darbys englischer Übersetzung).
1,5 Wir müssen nicht mit unserer eigenen Weisheit den Schwierigkeiten unseres Lebens entgegentreten. Wenn uns in der Zeit der Versuchung der geistliche Durchblick fehlt, so sollten wir zu Gott gehen und ihm all unsere Unwissenheit und Verwirrung gestehen. Alle, die sich so geübt haben, Gottes Ziel in den Versuchungen zu erkennen, werden »willig« belohnt werden. Auch brauchen sie nicht fürchten, dass Gott ihnen zürnen wird; es gefällt ihm, wenn wir uns gerne belehren lassen. Uns allen fehlt Weisheit. Die Bibel gibt uns nicht präzise Antworten auf die unzählbaren Probleme, die sich im Leben ergeben. Sie löst nicht wortreich die Probleme, sondern gibt uns allgemeine Hinweise. Wir müssen diese Prinzipien auf die Probleme anwenden, denen wir Tag für Tag begegnen. Dafür brauchen wir Weisheit. Geistliche Weisheit ist die praktische Anwendung der Lehren unseres Herrn auf alltägliche Situationen.
1,6-8 Wir müssen Gott »im Glauben« nahen, »ohne zu zweifeln«. Wir müssen glauben, dass er uns liebt und für uns sorgt und bei ihm nichts unmöglich ist. Wenn wir an seiner Güte und Macht zweifeln, dann werden wir in Zeiten der Not nicht standfest sein. Eben haben wir uns vielleicht noch ruhig auf seine Verheißungen gestützt, aber schon im nächsten Augenblick haben wir das Gefühl, dass Gott vergessen hat, gut zu uns zu sein. Wir werden wie die Brandung des Meeres sein, uns hoch erheben und dann wieder in Täler hinabfallen – beladen und hin und hergetrieben. Gott wird durch solchen Glauben nicht geehrt, der ständig zwischen Optimismus und Pessimismus hin und her schwankt. Solchen unentschlossenen und unsicheren Menschen wird er keine göttlichen Einsichten geben (V. 7.8). In den Versen 5-8 lesen wir, dass Gott die Quelle der Weisheit ist. Wir können sie durch Gebet erlangen, wobei sie für jeden zugänglich ist. Gott wird sie willig und ohne Vorwurf geben, und die wesentliche Bedingung dabei besteht dari n, dass wir »im Glauben« darum bitten, »ohne zu zweifeln«.
1,9 Auf den ersten Blick scheinen die Verse 9-11 ein völlig neues Thema anzuschneiden oder doch zumindest einen Einschub darzustellen. Jakobus führt aber hier dennoch das Thema der Versuchung fort, indem er ein bestimmtes Beispiel gibt. Ob jemand arm oder reich ist, ist belanglos: Er kann bleibenden geistlichen Nutzen aus den Geschehnissen und Krisen des Lebens ziehen. Wenn sich zum Beispiel ein »niedriger« Bruder unzufrieden und entmutigt fühlt, kann er sich doch immer darüber freuen, dass er ein Erbe Gottes und ein Miterbe Christi ist. Er kann in der Wahrheit Trost finden, dass alles ihm gehört, er Christus gehört und Christus Gott gehört. Der »niedrige« Bruder hat sicherlich keinen Einfluss auf seine bescheidenen Umstände. Es ist nicht anzunehmen, dass er faul oder zu sorglos ist. Aber Gott fand es richtig, ihn in einer niedrigen Einkommensklasse leben zu lassen, und seitdem musste er dort bleiben. Vielleicht hätte er Jesus nie angenommen, wenn er reich gewesen wäre. Weil er jetzt aber in Christus ist, ist er mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt gesegnet (Eph 1,3). Was soll er nun tun? Soll er sich gegen sein Leben auflehnen? Sollte er bitter und neidisch werden? Nein, vielmehr sollte er die Umstände, worauf er keinen Einfluss hat, von Gott annehmen und sich an seinen geistlichen Segnungen freuen. Zu viele Christen gehen durchs Leben und lehnen sich gegen ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Größe und sogar gegen ihr Leben selbst auf. Mädchen mit einer Vorliebe für Fußball wären lieber als Jungen geboren. Junge Menschen wünschen sich, älter zu sein, die Alten wollen lieber jung sein. Kleinere Menschen beneiden diejenigen, die sie teilweise beträchtlich überragen, während diese wiederum es nicht mögen, aufgrund ihrer Körpergröße immer aufzufallen. Und manche sagen sogar: »Ich wäre lieber tot!« All das ist so absurd! Die Haltung des Christen besteht darin, die Dinge, die er nicht beeinflussen kann, von Gott so anzunehmen, wie er sie gibt. Sie sind Gottes Wille für uns und wir sollten zu seiner Ehre und zum Segen anderer das Beste daraus machen. Wir sollten mit dem Apostel Paulus sagen: »Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin« (1. Kor 15,10). Wenn wir über unsere Begrenzungen hinwegsehen können und uns selbst im Dienst für andere aufopfern, werden wir erkennen, dass geistliche Menschen uns so lieben, wie wir sind, und nicht etwa wegen unseres Aussehens.
1,10.11 Als Nächstes wendet sich Jakobus »den Reichen« zu. Aber seltsamerweise sagt er nicht: »Der Reiche soll sich an seinen Reichtümern freuen.« Stattdessen sagt er, dass der Reiche sich freuen kann, dass er erniedrigt worden ist. Er kann mit Jeremia 9,22.23 sagen: So spricht der Herr: Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, und der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums; sondern wer sich rühmt, rühme sich dessen: Einsicht zu haben und mich zu erkennen, dass ich der Herr bin, der Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf der Erde; denn daran habe ich Gefallen, spricht der Herr. Es kann sein, dass der Reiche erst richtigen Grund zur Freude findet, wenn er einmal seiner materiellen Güter beraubt wird. Vielleicht bringt ihn erst ein Geschäftsverlust zum Herrn. Oder wenn er schon Christ ist, dann kann er »den Raub seiner Güter mit Freuden aufnehmen«, da er weiß, dass er im Himmel »einen besseren und bleibenden Besitz« hat (Hebr 10,34). Irdische Reichtümer vergehen, wie »des Grases Blume« (Jes 40,6.7). Wenn ein Mensch nichts als materiellen Reichtum hat, dann enden alle seine Pläne im Grab. Jakobus nimmt nun die Vergänglichkeit des Grases als Bild für das vergängliche Leben eines Reichen und den begrenzten Wert des Besitzes. Er wird »in seinen Wegen dahinschwinden«. Es geht hier darum, dass geistlichen Werten weder die glühend heiße Sonne noch der sengende Wind etwas anhaben können. Jede Versuchung, die unsere Liebe vom Vergänglichen abwendet und auf das Himmlische richtet, stellt sich letztendlich doch als Segen heraus. So demütigt die gleiche Liebe, die den Armen erhöht, den Reichen. Beides ist ein Grund zur Freude.
1,12 Zum Abschluss seiner Betrachtung zum Thema Versuchung lässt Jakobus eine Seligpreisung für denjenigen Menschen folgen, der unter allen Anfechtungen standhaft bleibt. Wenn solch ein Mensch die Prüfung überstanden hat oder »bewährt ist, wird er den Siegeskranz des Lebens empfangen«. Mit dem entsprechenden Urtextwort (»Krone« in  einigen  Übersetzungen  [z. B.  Elb  und Elb 2003]) ist nicht das Schmuckstück des Königs, sondern der Kranz des Siegers gemeint, den wir am Richterstuhl Christi empfangen werden. Es geht hier natürlich nicht darum, dass das ewige Leben die Belohnung für die Bewährung in der Versuchung ist. Vielmehr werden diejenigen, die sie in Festigkeit ertragen haben, für dieses Überwinderleben belohnt werden. Sie werden das ewige Leben im Himmel noch besser genießen können. Der Becher jedes Einzelnen wird im Himmel gefüllt sein, aber die Betreffenden werden verschieden große Becher haben – der Ausdruck dafür, dass sie sich in unterschiedlichem Maße über den Himmel freuen werden. Das ist wohl mit dem Ausdruck »Siegeskranz des Lebens« gemeint, er bezieht sich auf eine größere Freude an der Herrlichkeit des Himmels. Nun sollten wir diesen Abschnitt über die Versuchungen in unserem Leben wirksam werden lassen. Wie reagieren wir, wenn wir verschiedene Anfechtungen in unserem Leben erdulden müssen? Beklagen wir uns bitter über die uns in unserem Leben zugedachten Schläge, oder freuen wir uns und danken dem Herrn dafür? Machen wir unsere Anfechtungen bekannt, oder tragen wir sie im Stillen? Leben wir in der Zukunft, indem wir erwarten, dass sich unsere Umstände bessern werden, oder leben wir in der Gegenwart und versuchen, die Hand Gottes in allem zu sehen, das uns begegnet? Gefallen wir uns in Selbstmitleid und suchen bei anderen Mitgefühl, oder ertränken wir den alten Menschen in einem Leben des Dienstes für andere?
1,13 Nun spricht Jakobus das Thema der von Satan kommenden Versuchungen an (V. 13-17). So, wie von Gott gesandte Versuchungen dazu gedacht sind, das Beste in uns zum Vorschein zu bringen, so zielen Versuchungen satanischen Ursprungs darauf ab, das Schlechteste in uns ans Licht zu bringen. Wenn wir zur Sünde versucht werden, dann kommt die Versuchung nicht von Gott. Gott prüft oder versucht Menschen, soweit ihr Glaube betroffen ist, aber er versucht nicht einen Menschen, irgendeine Form der Sünde zu begehen. Gott hat mit dem Bösen nichts zu tun, und er will nie zur Sünde verleiten.
1,14 Der Mensch ist nur zu schnell bereit, die Verantwortung für seine Sünde auf andere abzuwälzen. Wenn er Gott nicht dafür verantwortlich machen kann, dann sucht er einen Ansatz der modernen Psychologie und sagt, dass Sünde eine Krankheit sei. Auf diese Weise hofft er, dem Gericht zu entgehen. Aber die Sünde ist keine Krankheit, sondern eine moralische Verfehlung, wofür der Mensch einmal Rechenschaft ablegen muss. Manche versuchen sogar, unbelebte Materie für die Sünde verantwortlich zu machen. Aber das Materielle an sich ist nicht sündig. Die Sünde hat dort nicht ihren Ursprung. Jakobus sagt uns, wo der Hase im Pfeffer liegt: »Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird.« Die Sünde kommt von innen, und zwar von unserer alten, bösen, gefallenen und unheiligen Natur. Jesus sagte: »Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken: Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugnisse, Lästerungen« (Matth 15,19).
Das Wort, das Jakobus in Vers 14 für »Begierde«1 benutzt, könnte jede Form der Lust bezeichnen, ganz gleich, ob sie gut oder böse ist. Aber mit wenigen Ausnahmen wird es im NT benutzt, um böse Lüste zu bezeichnen, und das ist im vorliegenden Vers ganz bestimmt der Fall. Die Lust wird hier als böse Frau dargestellt, die ihre Reize zur Schau stellt und ihre Opfer umgarnt. Jeder von uns wird versucht. Wir haben schändliche Lüste und unreine Begierden in uns, die uns zur Sünde drängen wollen. Sind wir deshalb hilflose Opfer, wenn wir von unserer »eigenen Lust fortgezogen und gelockt« werden? Nein, denn wir können alle Gedanken an Sünde aus unserem Geist verbannen und uns auf Themen konzentrieren, die rein und heilig sind (Phil 4,8). Auch in einem Augenblick intensiver Verführung können wir den Herrn anrufen, denn wir wissen: »Ein fester Turm ist der Name des Herrn; zu ihm läuft der Gerechte und ist in Sicherheit« (Spr 18,10).
1,15 Wenn das so ist, warum sündigen wir dann? Hier wird darauf geantwortet: »Danach, wenn die Begierde empfangen hat, bringt sie Sünde hervor.« Statt den bösen Gedanken zu verjagen, fördern, hegen und genießen wir ihn. Dieser Akt der Untätigkeit wird mit dem sexuellen Verkehr verglichen. Die Begierde empfängt, und ein schreckliches Kind namens Sünde wird geboren. Das soll heißen, dass wir eine verbotene Handlung schließlich begehen werden, wenn wir nur lange genug über sie nachsinnen. Diese ganze Vorgang (die Begierde empfängt und bringt Sünde hervor) wird in der Geschichte von David und Batseba verdeutlicht (2. Sam 11,1-27). »Die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod«, sagt Jakobus. Die Sünde ist nicht unfruchtbar oder steril, sie bringt ihre eigene Brut hervor. Die Aussage, dass Sünde den Tod hervorbringt, kann auf verschiedene Weise verstanden werden. Als Erstes brachte Adam durch seine Sünde den leiblichen Tod über sich und seine Nachkommenschaft (1. Mose 2,17). Aber die Sünde führt auch zum ewigen, geistlichen Tod – zur endgültigen Trennung von Gott und seinen Segnungen (Röm 6,23a). In gewissem Sinne bringt die Sünde auch für den Gläubigen den Tod. In 1. Timotheus 5,6 lesen wir etwa, dass eine gläubige Witwe, die ihrem Vergnügen lebt, lebendig tot ist. Das bedeutet, dass sie ihr Leben verschwendet und das Ziel verfehlt, wozu Gott sie errettet hat. Wenn man nicht mehr in der Gemeinschaft mit Gott lebt, so bedeutet das, dass man als Christ lebendig tot ist.
1,16.17 Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die in Sünde gefallen sind, Gott dafür verantwortlich machen, statt die Schuld bei sich selbst zu suchen. Sie sagen letztlich zu ihrem Schöpfer: »Warum hast du mich so gemacht?« Aber das ist eine Form des Selbstbetrugs. Nur gute Gaben kommen von Gott, denn er ist die Ursache für »jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk«. Jakobus beschreibt Gott als »den Vater der Lichter«. In der Bibel bedeutet das Wort Vater manchmal »Schöpfer« oder »Ursache« (s. Hiob 38,28). Deshalb ist Gott der Schöpfer oder der Ursprung des Lichts. Was bedeutet hier »Lichter«? Sicherlich sind damit auch die Himmelskörper gemeint – Sonne, Mond und Sterne  (1. Mose  1,14-18;  Ps  136,7).  Aber Gott ist auch die Quelle allen geistlichen Lichts. Deshalb sollen wir ihn für den Ursprung jeder Form des Lichtes halten, die es in der Welt gibt. »… bei dem keine Veränderung ist noch eines Wechsels Schatten.« Gott ist nicht wie die Himmelskörper, die er erschaffen hat. Sie verändern sich ständig – er jedoch nicht. Vielleicht denkt Jakobus nicht nur an die vergängliche Strahlungskraft von Sonne und Sternen, sondern auch an ihre wechselnde Wirkung auf die Erde, die durch die Erdrotation verursacht wird. Die Sonne, der Mond und die Sterne verändern sich für uns unaufhörlich. So könnte der Ausdruck »Wechsel der Schatten« auch »durch Wechsel [der Lichtverhältnisse] entstehender Schatten« übersetzt werden. Dies könnte sich auf die Schatten beziehen, die durch die Umdrehung der Erde um die Sonne entstehen, oder auf Sonnen- und Mondfinsternisse. Eine Sonnenfinsternis entsteht z. B., wenn der Schatten des Mondes auf die Erde fällt. Bei Gott ist es ganz anders, er verändert sich nicht, auch wirft er keine Schatten, weil sich – um es einmal so auszudrücken – seine Lichtverhältnisse nicht ändern. Und seine Gaben sind so vollkommen wie er selbst. Deshalb ist es undenkbar, dass er je einen Menschen zur Sünde verführen könnte. Die Versuchung zum Bösen hat ihren Ursprung in der bösen Natur des Menschen.
Wir sollten unseren Glauben an dem Thema der von Satan kommenden Versuchungen erproben. Fördern wir böse Gedanken, die in uns aufkommen, oder vertreiben wir sie schnell? Behaupten wir, wenn wir gesündigt haben, dass wir nicht anders konnten? Schieben wir Gott die Schuld zu, wenn wir zum Bösen versucht werden?
III. Das Wort Gottes (1,18-27)
1,18 Jakobus hat von Gott als dem Vater der Lichter gesprochen. Nun erinnert er uns daran, dass er auch unser Vater ist und uns eine einzigartige Rolle in seiner wunderbaren Schöpfung zugedacht hat. Wir können diese Rolle erfüllen, wenn wir dem Wort der Wahrheit gehorchen (V. 19-27).
Dieser Abschnitt beschreibt die Aufgabe, die das Wort Gottes bei der Wiedergeburt an uns erfüllt, wenn es vom Heiligen Geist auf uns angewendet wird. Uns wird gesagt: »Nach seinem Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit geboren, damit wir gewissermaßen eine Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien.« Hier sagt uns Gott, was ihn dazu veranlasst hat, uns zu erretten. Er war dazu nicht durch irgendein Verdienst unsererseits gezwungen. Er rettete uns »nach seinem Willen«. Wir haben seine Liebe weder verdient, erkauft noch gesucht. Von seiner Seite aus geschah die Errettung aus freien Stücken. Das sollte uns zur Anbetung führen! »Er hat uns geboren«, das bezieht sich auf die Wiedergeburt. Durch diese geistliche Geburt werden wir zu seinen Kindern – eine Beziehung, die nie wieder aufgelöst werden kann, da man eine Geburt nie ungeschehen machen kann. »Durch das Wort der Wahrheit« – die Bibel ist das Mittel, wodurch die Wiedergeburt verursacht wird. In jedem Fall einer echten Bekehrung ist die Schrift beteiligt, ob in mündlicher oder schriftlicher Form. Ohne die Bibel würden wir den Heilsweg gar nicht kennen. Wir würden noch nicht einmal wissen, dass es überhaupt Rettung gibt! »Damit wir gewissermaßen eine Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien« – es gibt drei wichtige Gedanken im Zusammenhang mit dem Wort »Erstlingsfrucht«. Zunächst war die Erstlingsfrucht einer Ernte die erste Garbe des reifen Korns. Die Christen, denen Jakobus geschrieben hat, waren unter den ersten Gläubigen in der christlichen Haushaltung. Natürlich sind alle Gläubigen »gewissermaßen eine Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe«, aber in erster Linie bezieht sich Jakobus auf die Judenchristen, an die er schrieb. Zweitens wurde die Erstlingsfrucht Gott als Dank für seine Freigebigkeit und als Anerkennung der Tatsache geopfert, dass alles von ihm kommt. Deshalb gehörte sie ihm. So sollten sich alle Gläubigen Gott als lebendige Opfer darbringen (Röm 12,1.2). Drittens war die Erstlingsfrucht ein Vorbote der vollen Ernte, die noch kommen sollte. Jakobus verglich seine Leser mit der ersten Korngarbe in der Ernte Christi. Sie würde durch die Jahrhunderte hindurch von vielen anderen eingebracht werden, aber sie wurden als Vorbilder des Glaubens herausgestellt, um die Frucht der neuen Schöpfung zu zeigen. Letztendlich wird der Herr die ganze Erde mit jenen bevölkern, die an ihre Stelle getreten sind (Röm 8,19-23). Die volle Ernte wird kommen, wenn der Herr Jesus zurückkehrt, um über die Erde zu herrschen. In der Zwischenzeit sollten die Christen ihm gegenüber den gleichen Gehorsam erkennen lassen, den ihm während des Tausendjährigen Reiches die ganze Welt entgegenbringen wird. Und obwohl sich dieser Abschnitt in erster Linie auf die Christen des 1. Jahrhunderts bezieht, lässt er sich auf jeden von uns anwenden, der den Namen des Herrn Jesus Christus ehrt.
1,19a Der Rest dieses Kapitels gibt uns praktische Anweisungen, wie wir die Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe sein können. Es zeigt uns die praktische Gerechtigkeit, die die Menschen kennzeichnen sollte, die durch das Wort der Wahrheit wiedergeboren worden sind. Wir wissen, dass wir durch das Wort gezeugt worden sind (vgl. Elb; Anm. d. Übers.), damit wir die Wahrheit Gottes verwirklichen. »Daher«2  (vgl.  Elb  und  Elb 2003) sollten wir nun unserer Verantwortung nachkommen.
Wir sollten »schnell zum Hören« sein. Das ist eine ungewöhnliche Aufforderung, die fast eine bisschen humorvoll klingt: »Beeilt euch und hört zu!« Sie bedeutet, dass wir bereit sein sollten, auf das Wort Gottes und auch auf göttlichen Rat sowie auf göttliche Ermahnung zu hören. Wir sollten uns vom Geist belehren lassen. Und wir sollten »langsam zum Reden« sein. Es ist erstaunlich, wie viel uns Jakobus zum Thema Reden zu sagen hat. Er fordert uns auf, in unseren Unterhaltungen vorsichtig zu sein. Sogar die Natur selbst lehrt uns das. Epiktet schrieb vor langer Zeit: »Die Natur hat dem Menschen eine Zunge, aber zwei Ohren gegeben, damit wir von anderen doppelt so viel hören, wie wir reden.« Salomo wäre von Herzen mit Jakobus einverstanden gewesen. Er sagte einmal: »Wer seinen Mund behütet, bewahrt sein Leben; wer seine Lippen aufreißt, dem droht Verderben« (Spr 13,3). Und er sagte auch: »Wo viele Worte sind, da geht es ohne Sünde nicht ab; wer aber seine Lippen im Zaum hält,  der  ist  klug«  (Spr  10,19;  Schl 2000). Schwätzer werden wahrscheinlich irgendwann in Sünde fallen.
1,19b.20 Wir sollten »langsam zum Zorn« sein. Ein jähzorniger Mensch »wirkt nicht … die Gerechtigkeit«, die Gott von seinen Kindern erwartet. Wer sich im Zorn selbst vergisst, vermittelt den Menschen einen falschen Eindruck vom christlichen Glauben. Es stimmt auch heute noch: »Besser ein Langmütiger als ein Held, und besser, wer seinen Geist beherrscht, als wer eine Stadt erobert« (Spr 16,32).
1,21 Eine andere Weise, wie wir uns als Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe zeigen können, besteht darin, »alle Unsauberkeit und all die viele Schlechtigkeit« abzulegen. Diese Laster werden mit befleckter Kleidung verglichen, die ein für alle Mal abgelegt werden muss. Zur Unsauberkeit gehört jede Art der Unreinheit, ob sie geistlicher, geistiger oder leiblicher Art ist. Der Ausdruck »alles Überfließen von Schlechtigkeit« (Elb) kann sich auf solche Laster beziehen, die noch aus der Zeit vor unserer Bekehrung stammen. Er kann sich auch auf Sünden beziehen, die von unserem Leben auf das Leben anderer »überfließen«. Aber damit kann auch das reichlich vorhandene Böse als solches gemeint sein. Demzufolge beschreibt Jakobus hier nicht so sehr ein Übermaß an Sünden, sondern die abgrundtiefe Bosheit der Sünde selbst. Die allgemeine Bedeutung liegt auf der Hand. Um die Wahrheit des Wortes Gottes empfangen zu können, müssen wir moralisch rein sein.
Wenn wir göttliche Wahrheiten empfangen wollen, wird an uns noch eine weitere Anforderung gestellt: Wir müssen sanftmütig sein. Es ist viel zu leicht möglich, dass wir die Bibel lesen, ohne sie zu uns sprechen zu lassen. Wir können sie rein intellektuell studieren, ohne von ihr auch nur im Geringsten berührt zu sein. Unser Stolz, unsere Hartherzigkeit und unsere Sünde machen es uns unmöglich, ihre Lehren anzunehmen und in die Tat umzusetzen. Nur diejenigen, die mit einer demütigen, zum Gehorsam bereiten Gesinnung an die Bibel herangehen, können erwarten, den größtmöglichen Gewinn aus der Bibel zu ziehen. »Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg« (Ps 25,9). »Aber auf den will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist und der da zittert vor meinem Wort« (Jes 66,2).
Jakobus spricht von der Schrift als »dem eingepflanzten Wort, … das eure Seelen zu erretten vermag«. Es geht hier darum, dass das Wort ein heiliges Guthaben im Leben des Christen wird, sobald er wiedergeboren wird. Eine Randbemerkung der englischen RV liest »das eingeborene Wort«. Dieses Wort ist imstande, »eure Seelen zu erretten«. Die Bibel ist das Werkzeug, das Gott bei der Wiedergeburt verwendet. Er benutzt es, um den Menschen nicht nur von der Strafe, sondern auch von der Macht der Sünde zu erlösen. Er benutzt es nicht nur, um die ewige Verdammnis von uns abzuwenden, sondern auch dazu, um uns vor Schaden in diesem Leben3 zu bewahren. Zweifellos spricht Jakobus in Vers 21 von diesem gegenwärtigen, fortwährend bestehenden Aspekt der Errettung.
1,22 Es ist nicht ausreichend, das eingepflanzte Wort nur zu empfangen: Wir müssen ihm auch gehorchen. Es ist keine Tugend, die Bibel zu besitzen oder sie als wertvolles Buch der Weltliteratur zu lesen. Wichtig ist ein tiefes Verlangen, Gott zu uns sprechen zu hören. Wir müssen gewillt sein, ohne Hinterfragen zu tun, was immer er uns sagen mag. Wir müssen die Bibel in Taten übersetzen. Das Wort muss in unserem Leben Fleisch werden. Es sollte niemals einen Zeitpunkt geben, an dem wir an die Bibel herangehen, ohne ihr zu erlauben, unser Leben zum Besseren zu verändern. Wenn wir große Liebe zum Wort Gottes bekunden oder uns sogar als eifrige Bibelleser bezeichnen, dann frönen wir einer Form des Selbstbetrugs, es sei denn, unser wachsendes Bibelwissen lässt uns in zunehmendem Maße dem Herrn Jesus ähnlicher werden. Es kann uns zum Fallstrick statt zum Segen werden, wenn wir immer mehr intellektuelles Wissen über die Bibel ansammeln, ohne ihr zu gehorchen. Wenn wir uns immer genauer informieren, was wir zu tun haben, aber es nicht tun, werden wir depressiv, frustriert und gefühllos. »Wer vom Wort nur beeindruckt ist, ohne ihm Ausdruck zu verleihen, gerät in den Zustand des Niedergedrücktseins.« Auch haben wir durch mehr Wissen mehr Verantwortung vor Gott. Am besten ist es, wenn wir das Wort lesen und sofort gehorchen.
1,23.24 Jeder, der das Wort hört und sein Verhalten nicht ändert, »gleicht einem Mann«, der jeden Morgen einen flüchtigen Blick in den Spiegel wirft und »sogleich vergessen hat«, was er gesehen hat. Er zieht keinen Nutzen aus diesem Spiegel und dem Blick, den er hineinwirft. Natürlich gibt es viele Äußerlichkeiten unserer Erscheinung, die wir nicht ändern können. Aber wir sollten durch sie zur Demut geführt werden. Doch wenn uns der Spiegel sagt: »Wasch dich«, »rasier dich« oder »kämm dich« oder »mach dir die Haare«, dann sollten wir zumindest tun, was uns gesagt wird. Anderenfalls hat der Spiegel für uns keinerlei praktischen Nutzen. Es ist leicht, die Bibel oberflächlich oder aus Pflichtbewusstsein zu lesen, ohne vom Gelesenen beeinflusst zu werden. Wir sehen, wie wir sein sollten, aber wir vergessen das ganz schnell wieder und leben, als ob wir schon vollkommen wären. Diese Art der Selbstzufriedenheit verhindert geistlichen Fortschritt.
1,25 Im Gegensatz dazu steht der Mensch, der in das Wort Gottes hineinschaut und es dann gewohnheitsmäßig in die Praxis umsetzt. Die Tatsache, dass er über das Gelesene nachsinnt und nachdenkt, hat in seinem Leben ganz praktische Auswirkungen. Für ihn ist die Bibel ein »vollkommenes Gesetz der Freiheit«. Ihre Vorschriften sind für ihn keine Last. Sie sagt ihm nur, was seine neue Natur gerne tut. Wenn er gehorcht, findet er die wahre Freiheit, Freiheit von menschlichen Überlieferungen und fleischlichen Überlegungen. Die Wahrheit macht ihn frei. Er ist ein Mensch, der wirklich aus der Bibel Gewinn zieht. Er vergisst nicht, was er gelesen hat. Er ist bestrebt, es in seinem alltäglichen Leben umzusetzen. Sein einfacher, kindlicher Gehorsam schenkt seiner Seele unbezahlbare Segnungen. Ein solcher Mensch »wird in seinem Tun glückselig sein«.
1,26.27 Hier werden nun »vergeblicher Gottesdienst« und »reiner und unbefleckter Gottesdienst« einander gegenübergestellt. »Gottesdienst« bezieht sich hier auf äußere Verhaltensweisen, die sich auf den Glauben gründen. Gemeint sind hier äußere Formen, nicht die Gesinnung, in der etwas getan wird. Es geht mehr um die Äußerungen des Glaubens in Gottesdienst und Anbetung als um die Lehrsätze, die man glaubt.
»Wenn jemand meint, er diene Gott«, und kann seine Zunge nicht zügeln, »dessen Gottesdienst ist vergeblich«. Er kann alle möglichen religiösen Zeremonien abhalten und Gesetze beachten, die ihn sehr fromm erscheinen lassen. Aber er betrügt sich selbst. Gott will keine Äußerlichkeiten, er ist an einem Leben praktischer Gottesfurcht interessiert. Die ungezügelte Zunge ist nur ein Beispiel für vergeblichen Gottesdienst. Jedes Verhalten, das mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar ist, erweist sich als wertlos. Man erzählt eine Geschichte von einem Händler, der ein frommer Heuchler war. Er lebte in einer Wohnung über seinem Geschäft. Jeden Morgen rief er seinen Verkäufer zu sich: »John!«
»Ja, Herr X.«
»Haben Sie die Milch verdünnt?« »Ja, Herr X.«
»Haben Sie die Butter gefärbt?« »Ja, Herr X.«
»Haben Sie den Kaffee mit Zichorie (ein Kaffeezusatz; Anm. d. Übers.) gestreckt?«
»Ja, Herr X.«
»Sehr gut. Dann kommen Sie bitte zur Morgenandacht herauf!«
Jakobus sagt uns, dass solcher Gottesdienst »vergeblich« ist. Gott will von uns praktische Gottesfurcht, die an anderen ein mitfühlendes Interesse entwickelt und das eigene Leben rein erhält. Als Beispiele für den »reinen und unbefleckten Gottesdienst« nennt Jakobus diejenigen, die bedürftige Waisen und Witwen besuchen und »sich selbst von der Welt unbefleckt … erhalten«.
Mit anderen Worten, die praktische Umsetzung der Wiedergeburt geschieht durch »barmherzige Taten und Wandel in Absonderung«. Guy King beschreibt diese Tugenden als praktische Liebe und praktische Heiligung.
Wir sollten unseren eigenen Glauben mit Hilfe der folgenden Fragen prüfen: Lese ich die Bibel mit dem demütigen Verlangen, von Gott zurechtgewiesen, belehrt und verändert zu werden? Achte ich darauf, meine Zunge zu zügeln? Versuche ich, meine Launen zu rechtfertigen oder möchte ich Sieg über sie haben? Wie reagiere ich, wenn jemand mir einen schlüpfrigen Witz erzählen will? Äußert sich mein Glaube in barmherzigen Taten gegenüber denen, die mir nichts zurückgeben können?
IV. Verurteilung der Parteilichkeit (2,1-13)
2,1 Die erste Hälfte von Kapitel 2 prangert die Praxis an, bestimmten Menschen Ehre zu erweisen. Bevorzugung Einzelner ist dem Beispiel des Herrn und den Lehren des NT völlig fremd. Im Bereich des christlichen Glaubens ist kein Platz für Überheblichkeit oder Diskriminierungen.
Als Erstes wird diese Praxis ausdrücklich verboten. Man beachte, dass die erste Ermahnung an Gläubige gerichtet ist. Das wird durch die Anrede »meine Brüder« ausgedrückt. Der Ausdruck »Glauben Jesu Christi« bezieht sich auf den christlichen Glauben. Es geht nicht um Jesu Vertrauen oder seine Abhängigkeit von Gott, sondern eher um die Gesamtheit der Wahrheit, die er uns gegeben hat. Wenn wir all diese Gedanken zusammenfassen, dann merken wir, dass Jakobus im Grunde gesagt hat: »Meine Brüder, wenn ihr euren Glauben praktiziert, dann ohne Ansehen der Person.« Arroganz und Klassenunterschiede vertragen sich auf keinerlei Weise mit wahrem christlichen Glauben. Wer sich menschlich Hochstehenden in duckmäuserischer Ges innung unterwirft, hat in der Gegenwart des Herrn der Herrlichkeit keinen Platz. Wer andere wegen ihrer Geburt, ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer Armut verachtet, der verleugnet praktisch den Glauben. Dieses Gebot widerspricht nicht anderen Bibelstellen, wo die Gläubigen gelehrt werden, ihre Obrigkeiten, Vorgesetzten, Ältesten und Eltern zu ehren. Es gibt gewisse göttlich angeordnete Beziehungen, die wir anerkennen müssen (Röm 13,7). In diesem Abschnitt geht es jedoch darum, Menschen besondere Ehren zu erzeigen, weil sie sich teure Kleidung oder andere Statussymbole leisten können.
2,2-4 Dies wird durch das anschauliche Beispiel unterstrichen, das Jakobus in den Versen 2-4 anführt. Guy King hat diesen Abschnitt sehr gut mit »der kurzsichtige Platzanweiser« überschrieben. Die kleine Szene spielt in der örtlichen christlichen »Versammlung« (vgl. z. B. LU 1984 und  Schl 2000).4 Ein vornehm aussehender Herr in modischer Kleidung und mit teuren Goldringen an den Fingern ist soeben angekommen. Der Platzanweiser verbeugt sich, kehrt seine ganze Unterwürfigkeit heraus und geleitet dann den angesehenen Besucher an einen besonderen Platz in der ersten Reihe. Als der Platzanweiser zur Tür zurückkommt, sieht er, dass ein weiterer Besucher angekommen ist. Diesmal ist es ein armer Mann in bescheidener Kleidung. (Der Ausdruck »unsauberes Kleid« muss nicht unbedingt heißen, dass die Kleidung des Mannes dringend eine Wäsche benötigt hätte. Er ist vielmehr seinen bescheidenen Lebensumständen entsprechend ärmlich gekleidet.) Diesmal versucht der Platzanweiser geschickt, der Gemeinde diesen Anblick zu ersparen, indem er den Besucher bittet, hinten im Raum zu stehen oder sich neben seinem eigenen Platz auf den Boden zu setzen. Es scheint unglaublich, dass es Leute gibt, die so handeln. Wir würden uns wünschen, dass diese Geschichte überzogen ist, aber wenn wir in unser eigenes Herz schauen, dann sehen wir, dass wir nur zu oft diese künstlichen Klassenunterschiede unter uns selbst machen und so zu »Richtern mit bösen Gedanken« werden.
Das schlimmste Beispiel in der heutigen Gemeinde ist wahrscheinlich die Diskriminierung, die Menschen anderer Nationalität und Hautfarbe erleiden müssen. Schwarze Gläubige sind aus den Gemeinden verbannt worden, oder zumindest wurde ihnen deutlich gemacht, dass sie nicht willkommen sind. Bekehrte Juden sind nicht immer von Herzen aufgenommen worden. Orientalische Christen haben die verschiedensten Arten der Diskriminierung erfahren. Zugegebenermaßen bestehen auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Einheimischen und Ausländern große soziale Probleme. Aber ein Christ muss den göttlichen Prinzipien treu bleiben. Seine Pflicht ist es, der Wahrheit, dass alle Gläubigen in Christus eins sind, praktischen Ausdruck zu verleihen.
2,5.6a Parteilichkeit verträgt sich nicht mit dem christlichen Glauben. Jakobus zeigt das in den Versen 5-13. Er gibt vier wichtige Gründe dafür an, warum es für einen Gläubigen lächerlich ist, die Reichen zu bevorzugen und auf die Armen herabzusehen.
Als Erstes bedeutet es, dass wir einen Menschen entehren, dem Gott Ehre geg eben hat. »Gott hat die vor der Welt Armen auserwählt, reich im Glauben und Erben des Reiches zu sein, das er denen verheißen hat, die ihn lieben.« Gott erwählt vor allem Arme – Erwählte, die seine Elite, seine Erben und seine Geliebten sind. Immer wieder lesen wir in der Bibel, dass es gerade die Armen und nicht die Reichen sind, die zum Banner Christi strömen. Unser Herr selbst hat gesagt: »Armen wird gute Botschaft verkündigt« (Matth 11,5). Es waren die einfachen Leute, die ihn gerne hörten, nicht die Reichen oder die Aristokraten (Mk 12,37). Reiche sind im Allgemeinen arm im Glauben, weil sie auf ihren Besitz statt auf den Herrn vertrauen. Andererseits sind die Armen von Gott erwählt, »reich im Glauben« zu sein. Wenn wir die Bewohner des Reiches Gottes betrachten, dann würden genauere Nachforschungen ergeben, dass die meisten von ihnen im Leben arm gewesen sind. Im Reich Gottes werden sie jedoch Stellungen innehaben, die mit Reichtum und Herrlichkeit verbunden sind. Wie töricht und gefährlich ist es doch, diejenigen verächtlich zu behandeln, die eines Tages im Reich uns eres Herrn und Heilands erhöht werden.
2,6b Aus einem zweiten Grund ist es töricht, den Reichen Ehre zu erweisen, weil nämlich die Reichen als gesellschaftliche Gruppe normalerweise diejenigen waren, die das Volk Gottes unterdrückt haben. Die Argumentation scheint an dieser Stelle etwas verzwickt und sogar verwirrend zu sein. Der Reiche, von dem wir vorhin hörten, war zweifellos gläubig. Das bedeutet nicht, dass die Reichen in Vers 6 auch Gläubige sind. Jakobus will einfach nur sagen: »Warum solltet ihr Menschen Ehre erweisen, nur weil sie reich sind? Wenn ihr das tut, dann ehrt ihr diejenigen, die immer die Ersten waren, die euch herumgestoßen und vor die Gerichte gezogen haben.« Calvin fasste die Argumentation treffend zusammen: »Weshalb solltet ihr eure Henker ehren?«
2,7 Aus einem dritten Grund ist es töricht, Partei für die Reichen zu ergreifen, weil sie es nämlich gewohnt sind, böse Schimpfworte zu gebrauchen und den Namen Christi im gleichen Atemzug zu nennen. Dies ist »der gute Name, nach dem« die Gläubigen »genannt sind« (LU 1912)  –  Christen  bzw.  Nachfolger Christi. Zwar haben die Reichen kein Monopol auf Rebellion gegen den Herrn, doch es stimmt, dass die Aktionen derjenigen, die arme Gläubige verfolgen, oft mit den schlimmsten Beschimpfungen Christi einhergehen. Wieso sollten deshalb Gläubige jemandem Vorrechte einräumen, nur weil er reich ist? Die Charakterzüge, die normalerweise mit Reichtum einhergehen, gereichen dem Herrn Jesus gewöhnlich nicht zur Ehre. In dem hier befindlichen Ausdruck (»der gute Name, der über euch ausgerufen worden ist«) sehen einige Ausleger einen Hinweis auf die christliche Taufe. Gläubige werden auf den Namen des Herrn Jesus getauft. Und gerade diesen Namen lästern die Reichen häufig.
2,8 Das vierte Argument des Jakobus lautet, dass Ehrbekundungen gegenüber Reichen dem Gesetz widersprechen: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Dieses Gesetz wird das »königliche Gesetz« genannt, weil es dem König gehört und auch König aller Gesetze ist. Vielleicht versuchte der Platzanweiser seine Haltung gegenüber dem Reichen dadurch zu rechtfertigen, dass er sagte, dass er nur versuchte, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben. Aber das entschuldigt nicht sein Verhalten gegenüber dem Armen. Wenn wir wirklich unseren Nächsten wie uns selbst liebten, dann würden wir jeden Einzelnen so behandeln, wie wir behandelt werden möchten. Sicherlich würden wir es nicht schätzen, wenn wir verachtet würden, nur weil wir arm sind. Deshalb sollten wir andere nicht einfach aus diesem Grund verachten.
Von allen Lehren der Bibel ist dies wohl die revolutionärste: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Man sollte darüber nachdenken, was das heißt! Es bedeutet, dass wir für andere so sorgen sollten, wie wir uns um selbst kümmern. Wir sollten gewillt sein, unseren Besitz mit denen zu teilen, die nicht so bevorzugt sind wie wir. Und außerdem sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass sie die Möglichkeit haben, unseren hochgelobten Heiland kennenzulernen. Zu oft basieren unsere Entscheidungen darauf, wie unser Handeln uns selbst beeinflusst. Immer steht dabei das Ich in der Mitte. Wir schmeicheln den Reichen, weil wir hoffen, belohnt zu werden – ganz gleich, ob das ideell oder materiell geschieht. Wir vernachlässigen die Armen, weil wir keine Aussichten haben, durch sie auf solche Weise belohnt zu werden. Das »königliche Gesetz« verbietet solche selbstsüchtige Ausbeutung anderer. Es lehrt uns, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Und vielleicht fragen wir: »Wer ist denn mein Nächster?« Dann erfahren wir aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37), dass unser Nächster jeder ist, der in einer Notlage ist, wori n wir helfen können.
2,9 »Ansehen der Person« ist eine Verletzung des größten Gebotes. Es ist sowohl Sünde als auch Übertretung. Sünde bedeutet, dass wir nicht mit dem Willen Gottes übereinstimmen, dass wir seine Maßstäbe nicht erfüllen. Übertretung ist das Verletzen eines bekannten Gesetzes. Gewisse Handlungen sind sündig, weil sie von Grund auf falsch sind, aber sie werden zu Übertretungen, wenn es ein bestimmtes Gesetz gibt, das sie verbietet. »Ansehen der Person« ist sündig, weil diese Handlungsweise an sich verkehrt ist. Aber sie ist auch eine Übertretung, weil sie ein bestimmtes Gesetz verletzt.
2,10 Wenn man ein Gebot bricht, dann heißt das, dass man »aller Gebote schuldig« wird. Das Gesetz ist wie eine Kette mit zehn Gliedern. Wer ein Glied zerbricht, macht die Kette wertlos. Gott erlaubt uns nicht, nur die Gebote zu halten, die uns passen, andere dagegen zu brechen.
2,11 Derselbe Gott, der Ehebruch verboten hat, untersagte auch Mord. Es kann sein, dass ein Mensch zwar nicht des Ehebruchs schuldig wird, aber einen Mord begeht. Ist er »ein Gesetzesübertreter geworden«? Selbstverständlich! Der Geist des Gesetzes sagt, dass wir uns eren Nächsten wie uns selbst lieben sollen. Ehebruch verstößt sicherlich dag egen, aber Mord genauso. Und das Gleiche gilt für Überheblichkeit und Diskriminierung. Wenn wir eine dieser Sünden begehen, dann haben wir das Gesetz nicht erfüllt.
Exkurs zu den Zehn Geboten
Nun müssen wir unsere Textbetrachtung unterbrechen, um über ein Grundproblem nachzudenken, das sich an dieser Stelle aus der Argumentation des Jakobus ergibt. Es lautet: »Stehen Christen unter dem Gesetz oder nicht?« Es scheint so zu sein, dass Jakobus den christlichen Gläubigen hier die Zehn Gebote nahelegt. Er bezieht sich insbesondere auf das sechste und siebte Gebot, die Mord und Ehebruch verbieten. Auch fasst er die letzten fünf Gebote zusagen, indem er sagt: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Doch wenn man den Gläubigen unter das Gesetz als Lebensregel stellt, dann widerspricht das anderen Abschnitten des NT. Dazu gehören etwa Römer 6,14 (»Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade«); Römer 7,6 (»Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht«) und Römer 7,4 (»So seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus«; s. a. Gal 2,19; 3,13.24.25; 1. Tim 1,8.9; Hebr 7,19). Die Tatsache, dass Christen nicht unter den Zehn Geboten stehen, wird in 2. Korinther 3,7-11 ausdrücklich erwähnt.
Warum drängt dann Jakobus das Gesetz den Gläubigen in unserem Zeitalter der Gnade auf? Erstens stehen die Christen nicht unter dem Gesetz als Lebensregel. Christus, der nicht unter dem Gesetz steht, verkörpert das Vorbild für den Christen. Wo es ein Gesetz gibt, muss es auch Strafe geben. Die Strafe für das Brechen des Gesetzes ist der Tod. Christus starb, um die Strafe für das gebrochene Gesetz zu begleichen. Aber einige Prinzipien des Gesetzes sind von bleibendem Wert. Diese Vorschriften beziehen sich auf alle Menschen aller Zeitalter. Götzendienst, Ehebruch, Mord und Diebstahl sind von Grund auf verkehrt. Sie sind für Gläubige wie Ungläubige verboten. Außerdem werden neun der Zehn Gebote in den Briefen wiederholt. Das einzige Gebot, das nicht wiederholt wird, betrifft die Sabbatheiligung. Nirgends wird den Christen gesagt, dass sie den Sabbat oder den siebten Tag der Woche halten sollen, denn dies ist ein Zeremonialgesetz, kein Moralgesetz. Es war nicht an sich falsch, wenn ein Jude am siebten Tag gearbeitet hat. Es war nur deshalb falsch, weil Gott diesen Tag geheiligt hatte. Schließlich sollte noch gesagt werden, dass die neun Gebote, die in den Briefen wiederholt werden, nicht als Gesetz gegeben worden sind, sondern als Unterweisung in der Gerechtigkeit für Gottes Volk. Mit anderen Worten: Gott sagt nicht zum Christen: »Ich verurteile dich zum Tode, wenn du stiehlst.« Oder etwa: »Wenn du etwas Sündhaftes tust, wirst du deine Errettung verlieren.« Er sagt stattdessen: »Ich habe dich durch meine Gnade gerettet. Nun möchte ich, dass du aus Liebe zu mir ein heiliges Leben führst. Wenn du wissen willst, was ich von dir erwarte, dann wirst du es im gesamten NT finden. Du siehst, dass dort neun der Zehn Gebote wiederholt werden. Aber du findest darüber hinaus die Lehren des Herrn Jesus, die dir einen wesentlich höheren Verhaltensmaßstab geben, als das Gesetz ihn verlangte.« Deshalb stellt Jakobus hier nicht die Gläubigen unter das Gesetz und sein Verdammungsurteil. Er will nicht sagen: »Wenn ihr Menschen Ehre erweist, dann brecht ihr das Gesetz und seid deshalb zum Tode verurteilt.«
2,12 Jakobus will Folgendes sagen: »Als Gläubige lebt ihr nun nicht länger unter der Knechtschaft des Gesetzes, sondern unter dem Gesetz der Freiheit – Freiheit, das Richtige zu tun. Das Gesetz des Mose verlangte von euch, euren Nächsten zu lieben, gab aber nicht die Kraft dazu und verurteilte euch darüber hinaus noch, wenn ihr dabei versagt habt. Unter der Gnade wird euch die Kraft gegeben, euren Nächsten zu lieben. Darüber hinaus werdet ihr belohnt, wenn ihr es tut. Ihr haltet euch nicht an das Gesetz, um gerettet zu werden, weil ihr schon erlöst seid. Ihr haltet euch nicht daran, weil ihr Strafe fürchten müsstet, sondern aus Liebe zu ihm, der für euch starb und auferstand. Wenn ihr einst vor dem Richterstuhl Christi steht, werdet ihr belohnt werden oder Verlust erleiden – je nachdem, wie ihr euch nach diesem Maßstab verhalten habt. Es geht nicht um die Erlösung, sondern um Lohn.« Der Ausdruck »Redet so und handelt so« bezieht sich auf Worte und Taten. Das Zeugnis sollte mit dem Leben übereinstimmen. Gläubige sollten in Wort und Tat Voreingenommenheit vermeiden. Solche Verletzungen des Gesetzes der Freiheit werden vor dem Richterstuhl Christi gerichtet werden.
2,13 Vers 13 muss im Licht des Zusammenhangs verstanden werden. Jakobus spricht zu Gläubigen. Es geht hier nicht um die Frage der ewigen Verdammnis, diese Strafe wurde ein für alle Mal von Christus am Kreuz von Golgatha beglichen. Hier geht es um die Frage, wie Gott mit uns als seinen Kindern in dieser Welt handelt. Wenn wir anderen keine Barmherzigkeit erweisen, stehen wir nicht in der Gemeinschaft mit Gott und müssen erwarten, die Konsequenzen derjenigen zu ertragen, die ein Leben als Zurückgefallene führen.
Der Satz »Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht« kann bedeuten, dass Gott uns lieber Barmherzigkeit erweisen würde, als uns zurechtzuweisen (Micha 7,18); das Gericht ist ein »ihm fremdes Werk«. Außerdem kann es bedeuten, dass wir uns angesichts des Gerichtes freuen dürfen, wenn wir anderen Barmherzigkeit erwiesen haben. Wenn wir sie aber denen nicht erwiesen haben, die wir gerechterweise verurteilen könnten, wird auch uns keine Gnade erzeigt. Oder es könnte bedeuten, dass Barmherzigkeit in dem Sinne über das Gericht triumphiert, dass sie immer größer als das Gericht ist. Der Grundgedanke scheint hier in Folgendem zu bestehen: Wenn wir anderen Barmherzigkeit erweisen, tritt Barmherzigkeit an die Stelle des Gerichts, das anderenfalls über uns kommen würde.
Wir sollten uns fragen, wie es bei uns mit diesem wichtigen Thema der Parteilichkeit steht. Erweisen wir Angehörigen der eigenen Volksgruppe mehr Freundlichkeit als Ausländern? Lieben wir die Jungen mehr als die Alten? Kommen wir gut aussehenden Menschen mehr entgegen als denen, deren Äußeres in unseren Augen unansehnlich oder hässlich ist? Ist es uns wichtiger, bekannte Persönlichkeiten kennenzulernen, als die weniger bekannten? Meiden wir Menschen mit körperlichen Gebrechen und suchen nur die Gemeinschaft mit Starken und Gesunden? Ziehen wir die Reichen den Armen vor? Zeigen wir »Fremden« die kalte Schulter, denen, die unsere Sprache nur mit Akzent sprechen können? Wenn wir diese Fragen beantworten, sollten wir daran denken: So, wie wir mit denjenigen Gläubigen umgehen, die alles andere als liebenswürdig sind, behandeln wir auch unseren Heiland (Matth 25,40). V. Glaube und Werke (2,14-26)
2,14 Diese Verse sind wahrscheinlich die umstrittensten im ganzen Jakobusbrief. Sogar solche Größen der Kirchengeschichte wie Martin Luther dachten, hier einen unlösbaren Konflikt zwischen der Rechtfertigungslehre aus Werken bei Jakobus und der Rechtfertigungslehre durch Glauben bei Paulus sehen zu müssen. Diese Verse werden oft missbraucht, um die Irrlehre zu unterstützen, dass wir durch Glauben und Werke errettet werden. Diese Irrlehre ist unter dem Namen »Synergismus« bekannt. Mit anderen Worten: Wir müssen unserem Herrn Jesus als Retter vertrauen, aber das reicht nicht. Wir müssen zu seinem Erlösungswerk noch unsere eigenen Taten der Barmherzigkeit und Frömmigkeit hinzufügen.
Man könnte über diesen Abschnitt wirklich die Überschrift »Gerechtigkeit durch Werke« setzen, weil wir in gewissem Sinne tatsächlich durch Werke gerechtfertigt werden. Um die gesamte Wahrheit über die Rechtfertigung erfassen zu können, sollten wir jedoch sechs Aspekte der Rechtfertigung verstehen. Wir sind aus Gnade gerechtfertigt (Röm 3,24). Das bedeutet nichts anderes, als dass wir es nicht verdient haben, gerechtfertigt zu werden, sondern eher das Gegenteil verdient hätten. Wir sind aus Glauben gerechtfertigt worden (Röm 5,1). Der Glaube ist die Reaktion auf Gottes Gnade. Durch den Glauben nehmen wir das Geschenk an. Glaube ist das in uns, was annimmt, was Gott für uns getan hat. Wir sind durch das Blut gerechtfertigt (Röm 5,9). Hier ist das Blut der Preis, der gezahlt werden musste, damit unsere Rechtfertigung erreicht werden konnte. Die Sündenschuld wurde durch das kostbare Blut Christi beglichen, sodass Gott jetzt gottlose Sünder rechtfertigen kann, weil sein Zorn völlig gestillt worden ist. Wir werden durch Gott gerechtfertigt (Röm 8,33). Die Wahrheit dieses Verses besteht darin, dass es Gott ist, der rechtfertigt. Wir sind durch die Macht der Auferstehung Christi gerechtfertigt (Röm 4,25). Unsere Rechtfertigung ist also mit jener Macht verbunden, die Christus aus den Toten auferweckt hat. Seine Auferstehung beweist, dass Gott am Werk Christi Wohlgefallen gefunden hat. Und wir werden durch Werke gerechtfertigt (Jak 2,24). Werke sind der äußere Beweis der Echtheit unseres Glaubens. Sie drücken nach außen hin aus, was sonst unsichtbar bliebe. Daher erkennen wir, dass ein bestimmter Mensch aus Gnade, aus Glauben, durch das Blut, durch Gott, durch die Auferstehungsmacht Christi und durch Werke gerechtfertigt ist. Doch dies stellt keinen Widerspruch dar. Diese Aussagen zeigen lediglich verschiedene Aspekte der gleichen Wahrheit. Gnade ist die Grundlage, worauf Gott rechtfertigt, Glaube ist das Mittel, wodurch der Mensch die Rechtfertigung annimmt, das Blut ist der Preis, den unser Heiland dafür zahlen musste, Gott ist der Handelnde bei der Rechtfertigung, die Auferstehungsmacht Christi ist der Beweis der Rechtfertigung, und Werke sind ihr Ergebnis.
Jakobus besteht darauf, dass ein Glaube, der sich nicht in Werken auswirkt, nicht erretten kann. Es gibt zwei Schlüssel, die in erheblichem Maße helfen, diesen Vers zu verstehen. Erstens sagt Jakobus nicht: »Was nützt es, … obwohl ein Mensch Glauben hat.« Vielmehr sagt er: »Was nützt es, … wenn jemand sagt, er habe Glauben.« Mit anderen Worten: Es geht hier nicht um einen, der wirklich Glauben hat und doch nicht gerettet ist. Jakobus beschreibt denjenigen, der lediglich ein äußerliches Glaubensbekenntnis ablegt. Er sagt, dass er Glauben habe, aber in seinem Leben weist nichts außer seiner Behauptung darauf hin. Der zweite hilfreiche Schlüssel zu diesem Vers findet sich in der Übersetzung »Hoffnung für alle«: »Kann ihn ein solcher5 Glaube … retten?« (vgl. auch »dieser Glaube« in der Konkordanten Übersetzung und in Schl 2000; Anm.  d.  Übers.).  Mit  anderen Worten: »Kann ihn diese Art von Glauben retten?« Wenn wir fragen, welche Art von Glauben Jakobus meint, dann finden wir die Antwort im ersten Teil des Verses. Er spricht über einen Glauben, der nur aus Worten besteht, sich aber nicht in Werken beweist. Solch ein Glaube ist wertlos. Er ist »heiße Luft«, weiter nichts.
2,15.16 Nun wird gezeigt, wie vergeblich Worte ohne Taten sind. Wir lernen zwei Menschen kennen. Der eine hat weder genug zu essen noch anzuziehen. Der andere hat beides, ist aber nicht bereit zu teilen. Er gibt aber mit Worten Großzügigkeit vor und sagt zu seinem armen Bruder: »Geh und zieh dir etwas an und gönne dir eine gute Mahlzeit.« Aber er hebt noch nicht einmal den kleinen Finger, um etwas dafür zu tun. Was nützen solche Worte? Sie sind ausgesprochen wertlos! Sie stillen weder Hunger, noch sorgen sie dafür, dass sich der Betreffende aufwärmen kann.
2,17 »So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.« Ein Glaube ohne Werke ist überhaupt kein Glaube. Er ist bloßes Gerede. Jakobus sagt hier jedoch nicht, dass wir durch Glauben und Werke gerettet werden. Wenn wir das meinen, dann verunehren wir das vollkommene Werk des Herrn Jesus Christus am Kreuz. Wenn wir durch Glauben und Werke erlöst würden, gäbe es zwei Retter: Jesus und uns selbst. Aber das NT stellt sehr deutlich heraus, dass Christus der eine und einzige Retter ist. Jakobus will hier betonen, dass wir nicht durch einen Glauben gerettet werden, der nur aus Worten besteht, sondern durch einen solchen Glauben, der sich in guten Werken auswirkt. Mit anderen Worten, die Werke sind nicht die Wurzel der Errettung, sondern ihre Frucht, sie sind nicht Ursache, sondern Wirkung. Calvin hat das so ausgedrückt: »Wir werden durch Glauben allein gerettet, aber nicht durch einen Glauben, der allein ist.«
2,18 Wahrer Glaube und gute Werke sind untrennbar miteinander verbunden. Jakobus zeigt uns dies, indem er uns einen kleinen Abschnitt einer Unterhaltung zweier Männer wiedergibt. Der erste Mann, der wirklich gerettet ist, ist der Sprecher. Der zweite Mann behauptet, gläubig zu sein, aber er zeigt diesen Glauben nicht durch gute Werke. Der Erste fordert nun den anderen durch einen Anspruch heraus, den dieser nicht erfüllen kann. Wir könnten die Unterhaltung etwa so wiedergeben: »Ja«, sagt der erste Mann richtig und zu Recht, »du magst sagen, dass du Glauben hast. Du kannst jedoch keine Werke vorweisen, die das zeigen. Ich behaupte, dass Glaube durch gute Werke bestätigt wird. Beweise mir, dass du Glauben ohne gute Werke hast. Das gelingt dir nicht. Glaube ist unsichtbar. Du kannst anderen deinen Glauben nur durch ein entsprechendes Leben beweisen. Ich werde dir aus meinen Werken den Glauben zeigen.« Der Schlüssel zu diesem Vers ist das Wort »zeigen«. Niemand kann Glauben ohne Werke »zeigen« bzw. unter Beweis stellen.
2,19.20 Die Diskussion wird fortgeführt. Immer noch spricht der erste Mann. Der Glaube, den jemand für sich bea nsprucht, ist manchmal nicht mehr als rein intellektuelle Zustimmung zu einer wohlbekannten Tatsache. Solche intellektuelle Zustimmung verlangt von dem betreffenden Menschen keine besondere Hingabe und verändert auch sein Leben nicht. Es reicht nicht aus, an die Existenz Gottes zu glauben. Natürlich ist das die Grundlage, aber es reicht nicht. »Auch die Dämonen glauben« an diese Tatsache, aber sie geben sich Gott nicht hin. Das ist kein rettender Glaube. Wenn ein Mensch wirklich an den Herrn glaubt, dann muss er sich mit Seele, Geist und Leib dafür einsetzen. Dieser Einsatz zeigt sich in einem veränderten Leben. Glaube ohne Werke ist reiner Kopfglaube und deshalb ein »toter«6 (Elb) Glaube.
2,21 Nun werden zwei Beispiele für tätigen Glauben genannt. Sie sind dem AT entnommen. Sie betreffen Abraham, einen Juden, und Rahab, eine Heidin. Abraham ist »aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak seinen Sohn, auf den Opferaltar legte«. Um diese Wahrheit in ihrem Zusammenhang recht erfassen zu können, sollten wir 1. Mose 15,6 aufschlagen. Da lesen wir, dass Abraham dem Herrn glaubte, und dass ihm dies als Gerechtigkeit angerechnet wurde. Hier wurde Abraham durch Glauben gerechtfertigt. Erst in 1. Mose 22 sehen wir, wie Abraham seinen Sohn opfert. Zu diesem Zeitpunkt wurde er »aus Werken gerechtfertigt«. Sobald Abraham an den Herrn glaubte, war er in Gottes Augen gerecht. Aber dann, sieben Kapitel weiter, stellt Gott Abrahams Glauben auf die Probe. Abraham zeigte durch seine Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, dass sein Glaube echt war. Sein Gehorsam ließ erkennen, dass sein Glaube nicht bloßer Kopfglaube blieb, sondern in der Hingabe des Herzens bestand.
Manchmal ist beanstandet worden, dass niemand anders zugegen war, als Abraham Isaak geopfert hat. Deshalb sei niemand dort gewesen, dem gegenüber er die Echtheit seines Glaubens hätte zeigen können. Aber die beiden jungen Männer, die Abraham begleitet hatten, waren nicht weit und warteten, dass Abraham und Isaak von dem Berg zurückkehrten. Außerdem war Isaak da. Und überdies ist die Bereitschaft Abrahams, im Gehorsam gegenüber Gottes Auftrag seinen Sohn zu opfern, in der Bibel aufgezeichnet worden. Daher wurde die Echtheit seines Glaubens allen folgenden Generationen gezeigt.
2,22.23 Es wird nun deutlich, dass der Glaube Abrahams Ursache für sein Handeln war, und so wurde »der Glaube aus den Werken vollendet«. Echter Glaube und Werke lassen sich nicht voneinander trennen. Der Glaube ist die Ursache für die Werke, während die Werke den Glauben beweisen. In der Opferung Isaaks sehen wir einen praktischen Erweis des Glaubens Abrahams. Es war die praktische Erfüllung der Schrift, die sagte, dass Abraham durch den Glauben gerechtfertigt worden ist. Seine guten Werke kennzeichneten ihn als »Freund Gottes«.
2,24 Wir schließen nun daraus, »dass ein Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht aus Glauben allein«. Es sei nochmals gesagt: Das bedeutet nicht, dass Abraham aus Glauben und Werken gerechtfertigt wurde. Vor Gott wurde er durch den Glauben gerechtfertigt, durch die Werke vor den Menschen. Gott rechtfertigte ihn, als er glaubte. Doch die Menschen sagen: »Beweise mir die Echtheit deines Glaubens.« Und das kann nur durch gute Werke geschehen.
2,25 Das zweite Beispiel aus dem AT ist »Rahab, die Hure«. Sie wurde ganz sicher nicht durch ihren hervorragenden Charakter gerettet (sie war eine Prostituierte!). Aber sie wurde »aus Werken« gerechtfertigt, da sie die Boten (oder Kundschafter) aufnahm und auf einem anderen Weg hinausließ. Rahab war eine Kanaaniterin, die in der Stadt Jericho lebte. Sie hatte gehört, dass sich ein siegreiches Heer der Stadt näherte und bisher kein Widerstand gegen diese Streitmacht erfolgreich gewesen war. Sie schloss daraus, dass der Gott der Hebräer der wahre Gott ist. Sie beschloss, mit diesem Gott in Verbindung zu treten, was auch immer es kosten mochte. Als die Kundschafter in die Stadt kamen, wurden sie von ihr beherbergt. Indem sie das tat, bewies sie die Echtheit ihres Glaubens an den wahren und lebendigen Gott. Sie wurde nicht dadurch gerettet, dass sie die Kundschafter verbarg, sondern ihre Gastfreundschaft bewies, dass sie eine echte Gläubige war.
Einige Menschen missbrauchen diesen Abschnitt, um zu beweisen, dass die Errettung zum Teil von guten Werken abhängt. Doch was verstehen sie unter guten Werken? Spenden für wohltätige Zwecke, Schulden bezahlen, immer die Wahrheit sagen und regelmäßig zur Kirche gehen! Waren das die guten Werke von Abraham oder Rahab? Ganz sicher nicht! In Abrahams Fall hieß es, dass er bereit war, seinen Sohn zu töten! Im Falle Rahabs war es sogar Verrat! Wenn man diese Verhaltensweisen ohne den Glauben sieht, dann sind sie eher schlecht als gut. »Nimm den Glauben weg, und diese Taten wären nicht nur unmoralisch und hartherzig, sondern sogar sündig«, sagt Mackintosh so treffend. »Dieser Abschnitt bezieht sich auf Lebenswerke, nicht auf Gesetzeswerke. Wenn man von Abrahams und Rahabs Taten den Glauben wegnimmt, so sind es böse Werke. Aber wenn man sie als Glaubensfrucht sieht, so sind es Lebenswerke.« Deshalb haben wir es hier nicht mit einem Abschnitt zu tun, der uns die Rettung durch gute Werke lehrt. Es würde denjenigen, der solches behauptet, in die Situation versetzen, dass er Rettung durch beabsichtigten Mord und Verrat predigt!
2,26 Jakobus schließt diesen Abschnitt mit der Aussage: »Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.« Hiermit wird das Thema sehr schön zusammengefasst. Jakobus vergleicht den Glauben mit den menschlichen Leib und ordnet dabei die Werke dem Geist zu. Der Leib ist ohne den Geist leblos und nutzlos. Deshalb »ist auch der Glaube ohne Werke tot«, er nützt nichts, er ist wertlos. Offensichtlich handelt es sich um einen falschen, nicht um den wahren, rettenden Glauben. Zusammenfassend ist demnach zu sagen, dass Jakobus unseren Glauben daran misst, wie wir auf folgende Fragen antworten: »Bin ich wie Abraham bereit, das Liebste in meinem Leben Gott hinzugeben? Bin ich wie Rahab gewillt, zum Verräter der Welt zu werden, um Christus treu zu bleiben?«
VI. Die Zunge: Gebrauch und Missbrauch (3,1-12)
3,1 Die ersten zwölf Verse von Kapitel 3 behandeln das Thema Zunge (es wird auch in 1,19.26; 2,12; 4,11 und 5,12 erwähnt): Ganz im Sinne der Ärzte, die früher die Zunge des Patienten untersuchten, um die Diagnose zu unterstützen, prüft Jakobus die geistliche Gesundheit eines Menschen an seinem Reden. Selbsterkenntnis beginnt bei den Zungensünden. Jakobus würde dem modernen Ausspruch zustimmen: »Achte auf deine Zunge. Sie ist so nass und glitschig, dass du leicht ausrutschen kannst!« Das Thema wird mit einer Warnung eingeleitet, nicht zu schnell ein Lehrer des Wortes Gottes sein zu wollen. Obwohl hier die Zunge nicht ausdrücklich genannt ist, ist der dahinterstehende Gedanke offensichtlich: Wer seine Zunge zum Lehren gebraucht, hat eine größere Verantwortung vor Gott und den Menschen. Die Worte »werdet nicht viele Lehrer« könnte man so umschreiben: »Drängt euch nicht in ungehöriger Weise danach, Lehrer zu werden.« Das sollte man jedoch nicht als Verbot für solche auslegen, die von Gott wirklich zum Lehren berufen sind. Es geht um die Warnung vor zu leichtfertiger Übernahme eines solchen Dienstes. Wer das Wort der Wahrheit lehrt, wird strenger beurteilt werden, wenn er sich nicht an das hält, was er lehrt.
Mit der biblischen Lehre ist eine große Verantwortung verbunden. Der Lehrer muss darauf vorbereitet sein, darauf zu hören, was er im Wort erkennt. Er kann nicht hoffen, andere über das hinausführen zu können, was er selbst praktisch umsetzt. Das Ausmaß seines Einflusses ergibt sich aus seinem eigenen Fortschritt im Glauben. Der Lehrer prägt andere durch sein Vorbild; seine Schüler werden ihm ähnlich sein. Wenn er die offenkundige Bedeutung der Schrift verwässert oder wegerklärt, dann verhindert er das geistliche Wachstum seiner Schüler. Wenn er irgendeine Form der Sünde billigt, dann fördert er ein ungeheiligtes Leben. Kein anderes Buch stellt an seine Leser solche hohen Ansprüche wie das NT. Es ruft zur totalen Hingabe an Jesus Christus auf. Es betont, dass Jesus in jedem Augenblick des Lebens eines Gläubigen der Herr sein muss. Es ist eine ernst zu nehmende Angelegenheit, aus solch einem Buch zu lehren!
3,2 Jakobus kommt nun vom Lehrdienst im Besonderen auf das allgemeinere Gebiet des Redens zu sprechen. Wir alle neigen dazu, oft zu straucheln, aber wenn jemand imstande ist, seine Zunge zu beherrschen, dann ist der Charakter dieses Menschen ausgewogen und von Selbstdisziplin gekennzeichnet. Wenn jemand seine Rede unter Kontrolle hat, wird es ihm auch nicht schwerfallen, sich auf anderen Lebensgebieten unter Kontrolle zu halten. Natürlich ist der Herr Jesus Christus der Einzige, der dies jemals vollkommen erfüllt hat, aber auf gewisse Weise kann jeder von uns »vollkommen« werden, das heißt reif, vollständig und in jeder Beziehung selbstbeherrscht.
3,3 Es werden nun fünf Bilder für das Reden oder die Zunge benutzt. Das erste umfasst den Zaum. Das Zaumzeug besteht aus Lederriemen, die am Kopf des Pferdes befestigt sind und »die Gebisse« (Elb) festhalten. Am Gebissstück sind die Zügel befestigt. Obwohl das Gebissstück ein sehr kleines Metallstück ist, kann ein Mensch das gesamte Pferd lenken, wenn er dieses Metallstück unter Kontrolle hat. Ebenso kann die Zunge das Leben lenken – entweder zum Guten oder zum Schlechten hin.
3,4 Das zweite Bild stellt uns ein Steuerruder vor. Im Vergleich zum Schiff als solchen ist es »sehr klein«. Es wiegt nur einen winzigen Bruchteil des gesamten Schiffsgewichts.  So  wog  z. B.  das  Schiff »Queen Elizabeth« 83 673 Bruttoregistertonnen. Das Ruder des Schiffes wog jedoch nur 140 Tonnen – weniger als zwei Tausendstel des Gesamtgewichts. Doch wenn das Ruder bewegt wird, dann bestimmt es die Richtung des gesamten Schiffes. Es scheint unglaublich, dass ein Mensch ein so großes Schiff mit einer vergleichsweise so winzigen Vorrichtung lenken kann, doch genau dies geschieht. So sollten wir die Macht der Zunge nicht wegen ihrer »Größe« unterschätzen. Obwohl sie ein relativ kleines Glied des Körpers und auch noch verhältnismäßig gut verborgen ist, kann sie sich doch großer Errungenschaften rühmen, und zwar positiver und negativer.
3,5.6 Das dritte Bild für die Zunge betrifft das Feuer. Ein unachtsam weggeworfenes Streichholz kann ein Buschfeuer entzünden. Das wiederum kann »einen großen Wald« anzünden und nichts als Asche zurücklassen. Welche Möglichkeiten der Zerstörung stecken deshalb in einem einzigen kleinen Streichholz! Eine der größten Katastrophen der USamerikanischen Geschichte war der Brand von Chicago im Jahr 1871. Die Überlieferung berichtet, dass er durch eine Laterne verursacht wurde, die von Frau O’Learys Kuh umgestoßen wurde. Ganz gleich, ob diese Geschichte stimmt, das Feuer wütete drei Tage auf einem Gebiet von mehreren Quadratkilometern in der Stadt. In ihm starben 250 Bewohner, 100 000 wurden obdachlos. Der Brand vernichtete Immobilien samt deren Innenausstattung im Wert von 175 Millionen Dollar. Die Zunge ist wie ein kleines brennendes Streichholz oder eine umgeworfene Laterne. Ihre Möglichkeiten zur Schlechtigkeit sind fast unbegrenzt. Jakobus nennt sie eine »Welt der Ungerechtigkeit … unter unseren Gliedern«. Das Wort Welt wird hier verwendet, um die Größe auszudrücken. Wir verwenden das Wort heute manchmal auch noch so, wie etwa in dem Ausdruck: »eine Welt von Leid«. Wir meinen damit, dass es sehr viel Leid gibt. Die Zunge birgt in sich, obwohl sie so klein ist, ungeheuer große Möglichkeiten, das Böse zu wirken.
Die Art und Weise, in der sich die Flamme eines bösen Geredes verbreitet, wird durch ein Gespräch zweier Frauen in Brooklyn verdeutlicht. Die eine sagt: »Tilly hat mir gesagt, dass du ihr das Geheimnis erzählt hast, wo ich dich doch bat, es ihr nicht zu sagen.« Die andere antwortet: »Sie ist doch unmöglich. Ich habe Tilly ausdrücklich gesagt, sie soll dir nicht sagen, dass ich es ihr erzählt habe.« Da antwortet die erste: »Nun, ich habe Tilly gesagt, dass ich dir nicht sagen würde, dass sie es mir gesagt hat. Deshalb sage ihr nicht, dass ich dir das weitergesagt habe.« Die Zunge kann »den ganzen Leib beflecken«. Ein Mensch kann seine gesamte Persönlichkeit ins Verderben reißen, wenn er mit seiner Zunge verleumdet, schimpft, lügt, lästert und flucht. Chappel schreibt:
Der ewige Nörgler verletzt sich selbst … Die »Dreckschleuder« kann sich nicht an ihrem schönsten Zeitvertreib freuen, ohne nicht einen Teil des Drecks im Herzen und in den Händen zu behalten. Wie oft hatten wir nach solch einer Erfahrung das Gefühl der Unreinheit! Und doch war das nicht unsere Absicht. Wir hatten vergeblich gehofft, dass wir und unsere Reinheit in den Augen anderer besser dastehen, wenn wir andere mit Dreck bewerfen. Wir sind töricht genug zu meinen, dass wir uns selbst aufbauen könnten, wenn wir andere hinunterziehen. Wir sind blind genug uns einzubilden, dass wir die Fundamente unseres eigenen Hauses stärken könnten, wenn wir unter die Grundmauern des Nachbarhauses Dynamit legen. Aber diese Rechnung geht niemals auf. Wir mögen mit unserem Versuch, andere zu verletzen, Erfolg haben, aber wir werden immer uns selbst den tiefer gehenden Schaden zufügen.7 Die Zunge »entzündet den Lauf (oder das Rad) des Daseins«. Dieses »Rad« wird bei der Geburt in Gang gesetzt. Es beschreibt die gesamte Bandbreite menschlicher Aktivitäten. Eine böse Zunge verunreinigt nicht nur das persönliche Leben eines Menschen, sondern vergiftet auch all seine Handlungen. Sie beeinflusst »die gesamte Bosheit im gesamten Menschen für das gesamte Leben«. Eine böse Zunge wird »von der Hölle entzündet«. Alle böse Rede hat dort ihre Ursache. Sie ist ihrem Wesen nach zutiefst Ausdruck höllischer Wirklichkeit. Das Wort, das hier für Hölle benutzt wird, lautet gehenna. Außer in diesem Vers wird das entsprechende Wort im NT nur noch vom Herrn Jesus benutzt.
3,7 Das vierte Bild für die Zunge verwendet das Beispiel eines wilden, unzähmbaren Tieres. Alle Arten von Säugetieren, Vögeln, Schlangen und Seetieren können gezähmt werden. Dass es gezähmte Elefanten, Löwen, Tiger, Raubvögel, Schlangen, Delfine und sogar Fische gibt, ist heute durchaus normal. Plinius listet unter den Tieren, die zu seiner Zeit vom Menschen schon gezähmt wurden folgende auf: Elefanten, Löwen und Tiger bei den Säugetieren, den Adler bei den Vögeln, Nattern und andere Schlangen, Krokodile und Fische unter den Wassertieren. Wenn man sagt, dass der Mensch jedoch noch lange nicht jede Tierart gezähmt habe, so hat man das Argument von Jakobus hier nicht verstanden. Es gibt nämlich keinen Grund zu der Annahme, dass nicht jede Tierart vom Menschen gezähmt werden kann, wenn er genügend Zeit und Ausdauer investiert. Robert G. Lee drückt das sehr ausführlich aus:
Was hat der Mensch mit den großen Elefanten gemacht? Er ist in ihre Reviere im Dschungel eingedrungen, hat sie gefangen und sie gelehrt – und zwar sehr viele von ihnen. Sie mussten Holz tragen, schwer beladene Wagen schieben und viele andere Arten von Arbeit verrichten. Was hat der Mensch mit vielen grünäugigen Bengaltigern gemacht? Er hat sie gefangen, sie gelehrt und sie zu seinen Spielgefährten gemacht. Was hat er mit den wilden, starken afrikanischen Löwen getan? Er hat viele von ihnen gefangen und ihnen beigebracht, durch Feuerreifen zu springen, auf Pferden zu reiten, auf hohen Hockern zu sitzen, Fleisch trotz Hunger nicht anzutasten, sich zu legen, wieder aufzustehen, zu laufen und zu brüllen. Das alles geschah, wenn Menschen es befahlen oder wenn die Peitsche knallte. Ja, ich sah vor vielen Jahren in einem Zirkus einen Löwen, der sein riesiges, gefährliches Maul aufsperrte, während sein Dompteur seinen Kopf länger als eine Minute in dieses Maul legte, ohne, dass ihm das Geringste geschah. Was hat der Mensch mit der mächtigen Boa constrictor gemacht? Und mit der Pythonschlange? Man braucht nur in den Zirkus zu gehen. Dort winden sich Frauen, deren Zierlichkeit der Zartheit von Blumen gleicht, diese furchterregenden Tiere ohne Scheu um den Körper. Man gehe in eine Tierschau, um zu sehen, wie der Mensch aus dem Leopard und dem blutdürstigen Jaguar harmlose Kreaturen gemacht hat, die scheinbar niemandem ein Haar krümmen. Man gehe in ein Varieté, um dressierte Flöhe zu sehen. Dort kann man den hungrigen Schakal sehen, der neben einem Lamm liegt. Außerdem sieht man dort die im Nest des Adlers nistende Taube und den Wolf, der mit dem Hasen spielt.8
3,8 Doch der Erfolg des Menschen bei wilden Tieren hat sich nie auf den Bereich seiner eigenen Zunge ausgedehnt. Wenn wir ehrlich sind, werden wir zugeben müssen, dass das auch für unser eigenes Leben gilt. Wegen des Sündenfalls haben wir die Herrschaft über dieses kleine Organ verloren. Die menschliche Natur hat weder die Fähigkeit noch die Kraft, dieses winzige Glied zu zügeln. Nur Gott selbst kann es unter Kontrolle bringen. Als Nächstes bezeichnet Jakobus die Zunge als »unstetes Übel«. Weil er diesen Ausdruck mit den Worten »voll tödlichen Giftes« ergänzt, denken wir, dass Jakobus die rastlose Schlange vor Augen hat, die gefährlich und giftig ist. Bei manchen Schlangen können schon ein oder zwei Tropfen Gift tödlich sein. So kann auch die Zunge Menschen vergiften und Charaktere verderben. Wir alle wissen, wie leicht es ist, über andere Menschen Klatsch zu verbreiten. Wie oft haben wir uns als Dreckschleudern betätigt, um jemandem etwas »heimzuzahlen«. Und wie oft haben wir andere herabgesetzt, sie kritisiert und erniedrigt. Wer kann den Schaden ermessen, der dadurch entstanden ist? Wer kann die Tränen zählen, die geflossen sind, wer die Herzen, die gebrochen wurden, wer die in den Schmutz gezogenen Namen? Und wer kann das Leid ermessen, das wir damit in unser eigenes Leben und in unsere Familie getragen haben? Denken wir an die innere Bitterkeit, die Scham, die uns bevorsteht, wenn wir uns entschuldigen müssen, und die schlechten Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Eltern, die immer kritisch von ihren Mitgläubigen sprachen, haben mit ansehen müssen, wie ihre Kinder dieselbe kritische Haltung eingenommen und sich aus der christlichen Gemeinschaft zurückgezogen haben. Wir müssen für den undisziplinierten Umgang mit unserer Zunge teuer bezahlen.
Was ist die Lösung? Wir sollten jeden Tag beten, dass uns der Herr vor Klatsch und Tratsch, vor Richtgeist und vor lieblosem Gerede bewahrt. Wir sollten von anderen nicht schlecht sprechen, denn die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden (1. Petr 4,8). Wenn wir gegen jemanden etwas haben, dann sollten wir direkt zu ihm hingehen, mit ihm in Liebe darüber sprechen und gemeinsam darüber beten (Matth 18,15; Lk 17,3). Wir sollten versuchen, Christus in unseren Geschwistern zu sehen, statt kleine Fehler vor unseren Augen aufzublähen. Wenn wir anfangen, etwas Liebloses oder Ungünstiges über jemanden zu erzählen, dann sollten wir den Mut haben, uns mitten im Satz zu unterbrechen. Wir sollten dann erklären, dass es niemandem zur Erbauung diene, wenn man fortfährt. Es gibt Dinge, die besser ungesagt bleiben.
3,9.10 Es ist inkonsequent, wenn wir die Zunge sowohl zum Guten als auch zum Bösen benutzen. Es ist eigentlich höchst unnatürlich, denn es gibt in der Natur nichts Ähnliches. In einem Moment kann ein Mensch »den Herrn und Vater« preisen, im nächsten Augenblick »fluchen wir den Menschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen worden sind«. Wie unpassend, dass dieselbe Quelle einander Entgegengesetztes hervorbringen kann! So etwas sollte nicht geschehen. Die Zunge, die den Herrn preist, sollte den Menschen helfen, statt sie zu verletzen. All unser Reden sollte einer dreifachen Prüfung unterzogen werden: Ist es wahr? Ist es liebevoll? Ist es notwendig? Wir sollten ständig den Herrn bitten, dass er eine Wache vor unseren Mund stellt (Ps 141,3). Außerdem sollten wir darum beten, dass die Reden unseres Mundes und das Sinnen unseres Herzen wohlgefällig vor demjenigen ist, der unser Fels und Erlöser ist (Ps 19,15). Wir sollten uns stets daran erinnern, dass zu dem Leib in Römer 12,1 auch unsere Zunge gehört.
3,11 Keine Quelle gibt gleichzeitig süßes, trinkbares Wasser und bitteres, ungenießbares Wasser. Dasselbe sollte für unsere Zunge gelten. Sie sollte nur Gutes hervorbringen.
3,12 So wie eine Quelle von Erfrischung kündet, so spricht die Frucht des Feigenbaums von Nahrung. Ein Feigenbaum kann keine Oliven hervorbringen, ebenso unmöglich ist es, dass ein Weinstock Feigen trägt. In der Natur kann jeder Baum nur eine Art von Früchten hervorbringen. Wie kommt es dann, dass die Zunge zweierlei Früchte hervorbringen kann – nämlich gute und schlechte? Keine Quelle kann gleichzeitig Salzund Süßwasser geben. Sie gibt entweder das eine oder das andere. Diese Lehren, die wir aus der Natur ziehen können, sollen uns daran erinnern, dass unser Reden immer dem Guten dienen sollte. So prüft uns Jakobus hinsichtlich unserer Rede. Ehe wir diesen Abschnitt verlassen, sollten wir uns folgenden Fragen stellen: Lehre ich andere Menschen Verhaltensweisen, die ich selbst nicht befolge? Kritisiere ich andere hinter ihrem Rücken? Ist das, was ich rede, immer rein, erbauend und liebevoll? Verwende ich Hüllwörter, die im Grunde Flüche sind (wie »o Gott«, »Jesses«, »Herrje«, »um Himmels willen«, »mein Güte« und »verdammt«)? Rede ich nach einer ernsthaften Predigt über Fußball und anderes Unwichtige? Gebrauche ich »spaßhaft« Bibelzitate? Wenn ich eine Geschichte erzähle, übertreibe ich dann, um Menschen mehr zu beeindrucken? Sage ich immer die Wahrheit, auch wenn das bedeutet, mein Gesicht, Freunde oder Geld zu verlieren?
VII. Wahre und falsche Weisheit (3,13-18) Jakobus spricht nun über den Unterschied zwischen wahrer und falscher Weisheit. Wenn er über Weisheit spricht, denkt er weniger an das Wissen eines Menschen, sondern an die Art und Weise, wie er sein alltägliches Leben führt. Es geht nicht um Wissen an sich, sondern um die richtige Anwendung dieses Wissens. Wir haben hier das Porträt eines wahrhaft weisen Menschen. Im Grunde ist dieser Mensch der Herr Jesus Christus, denn er ist die fleischgewordene Weisheit (Matth 11,19; 1. Kor  1,30).  Aber  es  trifft  auch  auf  einen weisen Menschen zu, in dem sich das Leben Christi auswirkt und in dem die Frucht des Geistes sichtbar wird (Gal 5,22.23).
Wir finden hier aber auch das Porträt des Weltklugen. Er handelt nach den Grundsätzen der Welt. Er verkörpert alle Eigenschaften, die die Menschen hoch achten. Sein Verhalten zeigt, dass er kein Leben aus Gott in sich hat.
3,13 Wenn ein Mensch »weise und verständig« ist, dann wird er das durch seinen »guten Wandel« zeigen, gepaart mit einem demütigen Geist, der aus der Weisheit resultiert. Der Herr Jesus, die Verkörperung echter Weisheit, war weder stolz noch arrogant, er war sanftmütig und von Herzen demütig (Matth 11,29). Deshalb werden alle, die wirklich weise sind, sich durch echte Demut auszeichnen.
3,14 Der Weltkluge wird durch »bitteren Neid« und Selbstsucht im Herzen charakterisiert. Sein Streben gilt ausschließlich seinen eigenen Interessen. Er beneidet jeden, der mit ihm das gleiche Ziel erreichen will und behandelt ihn entsprechend lieblos. Er ist auf seine Weisheit stolz, die ihm Erfolg gebracht hat. Aber Jakobus sagt, dass das gar keine Weisheit ist. Solcher Hochmut ist leer. Es handelt sich um die praktische Leugnung der Wahrheit, dass jemand, der wirklich weise ist, zugleich wahrhaft demütig ist.
3,15 Sogar im christlichen Dienst ist es möglich, andere Mitarbeiter in einer Gesinnung zu beneiden, die von Bitterkeit geprägt ist, und für sich selbst eine hervorragende Stellung einnehmen zu wollen. Die Gemeinde steht immer in der Gefahr, dass den im negativen Sinne weltklugen Menschen Leitungsaufgaben gegeben werden. Wir müssen uns immer wieder davor hüten zuzulassen, dass weltliche Prinzipien in geistlichen Angelegenheiten für uns maßgebend werden. Jakobus nennt diese falsche Weisheit »irdisch, sinnlich, teuflisch«. Diese drei Adjektive sind absichtlich in absteigender Reihenfolge angeordnet. Irdisch bedeutet, dass die Weisheit nicht himmlischen Ursprungs ist, sondern von dieser Erde stammt. Sinnlich bedeutet, dass sie nicht Frucht des Heiligen Geistes ist, sondern der niedrigen Natur des Menschen entspringt. Teuflisch bedeutet, dass sie zu Handlungen Zuflucht nimmt, die eher der Vorgehensweise Satans als dem Verhalten von Menschen entspringen.
3,16 Wann immer wir »Neid und Eigennutz« vorfinden, werden wir auch »Zerrüttung«, Unfrieden und jede andere Form des Bösen finden. Wie sehr trifft dies zu! Man denke nur an all die Unruhe, Hetze und Erbitterung in der heutigen Welt – nur weil die Menschen die wahre Weisheit verachten und nach ihrer eingebildeten Klugheit handeln!
3,17 »Die Weisheit«, die von Gott kommt, »aber ist erstens rein«. Sie ist im Denken, in Worten und Taten »rein«. In Leib und Geist, in Lehre und praktischer Anwendung, in Glaube und Ethik ist sie unbefleckt. Sie ist auch »friedsam«. Das bedeutet ganz einfach, dass ein weiser Mensch den Frieden liebt und alles in seiner Macht Stehende tun wird, um den Frieden zu erhalten, soweit es seine Reinheit nicht beeinflusst. Dies wird in der kleinen Geschichte verdeutlicht, die Luther einmal erzählt hat. Zwei Ziegenböcke trafen sich auf einer engen Brücke, die über ein tiefes Gewässer führte. Sie konnten nicht zurückgehen, aber sie wagten auch nicht, miteinander zu kämpfen. Nach einem kurzen Wortgefecht legte sich einer von ihnen hin, damit der andere über ihn klettern konnte. So gab es keine Probleme. »Die Moral lautet«, so würde Luther sagen, »ganz einfach: Sei zufrieden, wenn man auf dir um des Friedens willen herumtrampelt. Auf dir als Mensch natürlich, nicht auf deinem Gewissen.« Wahre Weisheit ist »gütig«. Sie kann verzichten, statt zu herrschen, sie ist höflich, nicht grob. Ein weiser Mensch ist auch immer ein höflicher Mensch. A. B. Simpson sagte: »Die grobe und sarkastische Art, die scharfe Zurechtweisung, das lieblose Abschneiden des Wortes – all das hat nicht im Geringsten mit der sanften Lehre des Trösters zu tun.«
Die nächste Eigenschaft ist »der Wille zu Zugeständnissen«. Das bedeutet, versöhnlich und zugänglich zu sein, offen für vernünftige Argumente und bereit zu sein, eine Meinung aufzugeben, wenn sie sich als falsch erwiesen hat. Das ist das Gegenteil von Starrsinn und Hartnäckigkeit. Weisheit von oben ist »voll Barmherzigkeit und guter Früchte«. Sie ist voll Barmherzigkeit gegenüber denen, die in die Irre gehen. Sie bemüht sich, ihnen zu helfen, auf den rechten Weg zurückzufinden. Sie ist mitfühlend und freundlich. Sie ist nicht nachtragend, sondern reagiert auf Unhöflichkeit stattdessen mit Wohlwollen.  Sie  ist  »unparteiisch«,  d. h. sie zieht niemanden vor und begünstigt keinen. Sie ist im Umgang mit anderen immer unparteiisch. Und schließlich ist wahre Weisheit immer »ungeheuchelt«. Sie ist offen und ehrlich. Sie versucht nicht, etwas anderes darzustellen, als sie ist.
Nun sollten wir alle diese Eigenschaften zusammensetzen, um uns ein Bild von zwei Menschen zu machen – von dem, der wirklich weise ist, und dem, der einer falschen Weisheit nachläuft. Der wirklich weise Mensch ist demütig. Er schätzt andere immer höher als sich selbst. Er gibt sich nicht großspurig, sondern hilft anderen, sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Er verhält sich nicht wie alle anderen in seinem Umfeld, er stammt aus einer anderen Welt. Er lebt nicht für den Leib, sondern für den Geist. Mit seinen Worten und Taten weist er immer auf den Herrn Jesus hin. Sein Leben ist in moralischer und geistlicher Hinsicht rein. Außerdem ist er auch friedfertig. Er lässt Beleidigungen und falsche Anschuldigungen über sich ergehen, statt sich zu wehren oder selbst zu rechtfertigen. Er ist freundlich, höflich, taktvoll und hat ein mitfühlendes Herz. Man kann gut mit ihm reden, er versucht immer, den Standpunkt des anderen zu akzeptieren. Er ist nicht rachsüchtig, sondern immer bereit, denen zu vergeben, die ihm Unrecht tun. Und nicht nur das, er ist anderen gegenüber immer freundlich, insbesondere gegenüber denen, die Freundlichkeit am wenigsten verdienen. So verhält er sich allen gegenüber, ob reich oder arm, und die Großen stehen bei ihm nicht über den einfachen Leuten. Und schließlich ist er kein Heuchler. Er sagt nicht das eine, wenn er etwas anderes meint. Man wird ihn nie schmeicheln hören. Er redet immer die Wahrheit und trägt keine Maske.
Der Weltkluge dagegen ist ganz anders. Sein Herz ist von Neid und Zwietracht erfüllt. In seinem Bestreben, sich zu bereichern, wird er gegenüber jedem Konkurrenten intolerant. Sein Verhalten ist alles andere als edel, es erhebt sich nie über diese Erde. Er lebt, um seine natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen – wie es auch die Tiere tun. Und seine Methoden sind grausam, hinterhältig und teuflischer Art. Hinter einer schnörkellosen Fassade, seinem äußeren Erscheinungsbild, verbirgt sich ein Leben voller Unmoral. Sein Gedankenleben ist unrein, seine Maßstäbe sind angepasst, seine Sprache ist verdorben. Er streitet mit allen, die nicht genau seiner Meinung sind oder ihm irgendwie in die Quere kommen. Zu Hause, bei der Arbeit und in der Freizeit ist er immer streitsüchtig. Er ist schroff und anmaßend, grob, unanständig und unverschämt. Er ist nicht leicht zugänglich, er hält jeden auf Distanz. Ihn ruhig von einer Sache zu überzeugen, ist fast unmöglich. Er hat zu allem eine Meinung und gibt keine seiner Überzeugungen auf. Wenn er sieht, dass sich jemand im Unrecht befindet, dann zeigt er keine Gnade. Er beschimpft ihn, ist unfreundlich und gemein zu ihm. Er schätzt Leute nur nach dem Nutzen ein, die sie für ihn haben könnten. Wenn er einen Menschen nicht länger »gebrauchen« kann, dann verliert er das Interesse an ihm. Damit ist natürlich gemeint, dass er keine Hoffnung mehr hat, irgendwie von ihm zu profitieren. Und schließlich ist er unehrlich, heuchlerisch und doppelzüngig. Man kann ihm nie trauen, weder seinen Worten noch seinen Taten.
3,18 Jakobus schließt sein Kapitel mit den Worten: »Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird in Frieden denen gesät, die Frieden stiften.« Dieser Vers ist ein Bindeglied zwischen dem soeben behandelten und dem folgenden Thema. Wir haben gerade erfahren, dass wahre Weisheit friedliebend ist. Im nächsten Kapitel wird ein Konflikt unter Gläubigen angesprochen. Hier werden wir daran erinnert, dass das Leben in gewisser Beziehung der Bestellung eines Feldes gleicht. Wir haben den Bauern (den weisen Mann, der Frieden stiftet), das Klima (den Frieden) und die Ernte (die Gerechtigkeit). Der Bauer möchte eine Ernte der Gerechtigkeit einfahren. Kann dies in einem von Streitsucht und Zank geprägten Klima geschehen? Nein, die Saat muss unter friedlichen Bedingungen gesät werden. Sie muss von friedliebenden Menschen gesät werden. Sie werden eine Ernte der Rechtschaffenheit für ihr eigenes und das Leben anderer ernten, denen sie dienen. Wieder hat Jakobus unseren Glauben auf die Probe gestellt, diesmal in Bezug auf die Weisheit, die wir in unserem alltäglichen Leben erkennen lassen. Wir müssen uns selbst fragen: »Respektiere ich die stolzen Weltmenschen mehr als den demütigen Gläubigen im Herrn? Diene ich dem Herrn, ohne darauf zu achten, wer den Lohn dafür erhält? Oder verwende ich manchmal fragwürdige Mittel, um einem guten Zweck zu dienen? Mache ich mich der Schmeichelei schuldig, um auf andere Menschen Einfluss auszuüben? Bin ich in meinem Herzen neidisch oder nachtragend? Verlege ich mich auf sarkastische und lieblose Bemerkungen? Sind meine Gedanken, Worte und Taten rein?«
VIII. Begierde: Ursachen und Hilfe (Kap. 4)
4,1.2a Jakobus hat dargestellt, dass der weise Mensch gleichzeitig friedliebend ist. Nun erinnert er sich an tragische Auseinandersetzungen, die es oft innerhalb des Volkes Gottes gibt. Was ist die Ursache all dessen? Warum gibt es so viele zerrüttete Familien und so viele Gemeinden, die durch Spaltung entzweit sind? Wieso gibt es solch bitteren Streit zwischen christlichen Mitarbeitern im Heimatdienst und den Missionaren im Ausland? Das hat seinen Grund darin, dass wir immer wieder versuchen, unsere Gier nach Vergnügen und Besitz zu befriedigen und andere immer zu übertreffen. Es ist eine traurige Tatsache, dass es »Kriege und Streitigkeiten« unter Christen gibt. Die Auffassung, dieser Abschnitt beziehe sich nicht auf Gläubige, ist unrealistisch und beraubt uns seines ganzen Wertes für unser persönliches Leben. Was ist die Ursache all dieser Kämpfe? Sie entstehen aus den starken »Lüsten« in uns, die immer darum kämpfen, befriedigt zu werden. Da gibt es die Lust, materiellen Reichtum anzusammeln. Da ist das Streben nach Ansehen. Begierde regt uns immer an, den körperlichen Bedürfnissen nachzugeben. Diese Mächte sind in uns am Werk. Wir sind nie zufrieden. Stets wollen wir mehr. Und doch werden wir immer wieder in unserem Streben enttäuscht, das zu bekommen, was wir wollen. Die unerfüllte Sehnsucht wird so stark, dass wir diejenigen tyrannisieren, die scheinbar unser Weiterkommen behindern wollen. Jakobus sagt: »Ihr tötet.« Er verwendet das Wort im übert ragenen Sinne. Natürlich morden wir nicht wörtlich, aber in dem Zorn, der Eifersucht und der Grausamkeit, die wir hervorbringen, ist der Mord bereits im Ansatz vorhanden.
4,2b.3 Wir »neiden und können nichts erlangen«. Wir wollen immer mehr und Besseres als andere haben. Und in diesem Streben merken wir, dass wir streiten und einander verschlingen.
Peter und Ute haben gerade geheiratet. Peter hat eine gute Arbeitsstelle mit einem bescheidenen Gehalt. Ute möchte ein Haus, das so groß ist wie dasjenige der anderen in der Gemeinde. Peter möchte ein neues, schnelles Auto. Ute möchte eine schöne, moderne Wohnungseinrichtung. Davon müssen sie aber einiges auf Raten kaufen. Peters Gehalt reicht kaum, um diese Forderungen zu erfüllen. Dann kommt ein Baby, was weitere Ausgaben mit sich bringt und das Familienbudget arg strapaziert. Als Ute mehr Haushaltsgeld fordert, wird Peter ungehalten und reizbar. Ute wehrt sich mit Tränen. Und schon ist das Haus voller Streit. Der Materialismus beginnt, eine Familie zu zerstören.
Andererseits kann es sein, dass Ute eifersüchtig ist, denn Hans und Eva haben in der Gemeinde eine sehr viel höhere Stellung als sie und Peter. Bald schon greift sie Eva mit unfairen Bemerkungen an. Als sich der Streit zwischen beiden ausdehnt, werden auch Peter und Hans in den Streit hineingezogen. Dann nehmen die anderen Christen Partei, und schon ist die Gemeinde geteilt – weil ein Glied mehr Ansehen haben wollte. Wir sehen hier also die Ursache von Zank und Streit unter Gläubigen. Sie entstehen, wenn man immer mehr haben will und auf andere neidisch wird. »Wir müssen mit den Nachbarn gleichziehen« ist eine freundliche Beschreibung für diesen Zustand, wir sollten ihn genauer Habsucht, Begierde und Neid nennen. Diese Wünsche werden so stark, dass Menschen fast alles tun, um sie zu befriedigen. Nur langsam lernen sie, dass man auf diese Weise keine wahre Freude findet, sondern nur dann, wenn man sich mit Nahrung und Kleidung begnügt (1. Tim 6,8). Der richtige Ansatz zur Lösung des Problems ist das Gebet. »Streitet nicht, kämpft nicht. Betet lieber!« sagt Jakobus. »Ihr habt nichts, weil ihr nicht bittet.« Statt Gott all diese Dinge im Gebet zu bringen, versuchen wir, alles aus eigener Kraft zu erlangen. Wenn wir etwas haben möchten, das wir nicht besitzen, sollten wir Gott darum bitten. Wenn wir aber gebetet haben und Gott das Gebet nicht erhört, was ist dann? Dann bedeutet dies, dass unsere Motive bei dieser Bitte nicht rein waren. Wir wollten diesen Besitz nicht zur Ehre Gottes oder mit dem Ziel erlangen, unseren Mitmenschen etwas Gutes zu tun. Wir wollten ihn, um uns selbstsüchtig zu befriedigen. Wir strebten danach, um unsere natürlichen Wünsche zu erfüllen. Gott hat nirgendwo verheißen, solche Gebete zu erhören. Welch eine gründliche Lektion in Psychol ogie enthalten diese ersten drei Verse! Wie viele böse Konflikte und wie viel Unruhe könnten vermieden werden, wenn die Menschen mit dem, was Gott ihnen gegeben hat, zufrieden wären! Welch ein Friede würde entstehen, wenn wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben würden und mehr am Teilen als am Erwerb interessiert wären! Wie viele Streitigkeiten würden aufhören, wenn wir dem Gebot des Heilands folgten, alles Entbehrliche aufzugeben, statt anzusammeln! Er gebot uns, unsere Schätze im Himmel und nicht auf Erden aufzuhäufen.
4,4 Jakobus verurteilt die ungewöhnliche Liebe zum Materiellen als geistlichen Ehebruch.9 Gott möchte, dass wir ihn als Erstes und vor allem anderen lieben. Wenn wir die vergänglichen Reichtümer dieser Welt lieben, dann sind wir ihm untreu.
Begierde ist eine Form von Götzendienst. Begehren bedeutet, dass wir nach Dingen trachten, die Gott nicht für uns bestimmt hat. Das bedeutet, dass wir in unseren Herzen Götzenbilder errichtet haben. Wir werten materiellen Besitz höher als Gottes Willen. Deshalb ist Begierde Götzendienst, und Götzendienst ist geistliche Untreue gegenüber dem Herrn. Auch Weltlichkeit ist »Feindschaft gegen Gott«. Mit Welt ist hier weder unser Planeten Erde, worauf wir leben, noch die materielle Welt an sich gemeint. Welt ist vielmehr das System, das der Mensch sich selbst aufgebaut hat, um die Begierde der Augen, die Begierde des Fleisches und den Hochmut des Lebens zu befriedigen. In diesem System ist weder für Gott noch für seinen Sohn Platz. Es kann sich hier um die Welt der Kunst, der Kultur, der Bildung, der Wissenschaft oder sogar der Religion handeln. Aber immer ist ein Bereich gemeint, worin der Name Christi unerwünscht oder sogar verboten ist, es sei denn, er wird als leere Formel missbraucht. Kurz gesagt, es handelt sich um die menschliche Welt, die sich außerhalb der wahren Gemeinde befindet. »Freundschaft« mit diesem System zu haben, bedeutet »Feindschaft gegen Gott«. Es war genau diese Welt, die den Herrn des Lebens und der Herrlichkeit gekreuzigt hat. Und es war sogar die religiöse Welt, die bei seiner Ermordung die Hauptrolle spielte. Wie undenkbar, dass Gläubige je wünschen können, mit der Welt Arm in Arm zu gehen, die ihren Retter ermordet hat!
4,5 Vers 5 ist einer der schwierigsten Verse dieses Briefes: »Oder meint ihr, die Schrift rede umsonst? Ein eifersüchtiges Verlangen hat der Geist, der in uns wohnt« (Schl 2000)
Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass Jakobus scheinbar aus dem AT zitiert, sich diese Wort aber nirgendwo im AT finden, noch nicht einmal in den Apokryphen. Es gibt dafür zwei mögliche Erklärungen. Erstens finden sich zwar die genauen Worte nicht so im AT wieder, aber Jakobus könnte eine allgemeine Lehre der Schrift zitiert haben. Die zweite Lösung ergibt sich aus der unrevidierten Elberfelder Übersetzung. Sie teilt diesen Vers in zwei Fragen auf: »Oder meinet ihr, dass die Schrift vergeblich rede? Begehrt der Geist, der in uns wohnt, mit Neid?« Hier liegt der Gedanke zugrunde, dass die Bibel bei der Verurteilung des weltlichen, von Neid geprägten Geistes keine Worte verschwendet. Die zweite Schwierigkeit von Vers 5 betrifft die Bedeutung des zweiten Versteils. Die Frage besteht darin, ob der Geist der Heilige Geist oder der Geist eifersüchtigen Begehrens ist.10 Sollte die erste Möglichkeit gemeint sein, dann wird hier ausgesagt, dass der Heilige Geist, den Gott in uns wohnen lässt, nicht die Ursache der Lust und Eifersucht ist, die Streitigkeit verursacht. Vielmehr »begehrt« der Geist mit Eifersucht unsere ganze Hingabe an Christus. Wenn jedoch die zweite Bedeutung zutrifft, dann ist mit diesem Vers Folgendes gemeint: Der Geist, der in uns wohnt (d. h. der Geist des eifersüchtigen Begehrens) ist die Ursache all unserer Untreue gegenüber Gott.
4,6 »Er gibt aber größere Gnade.« In den ersten fünf Versen sahen wir, wie böse die alte Natur des Gläubigen sein kann. Nun lernen wir, dass wir nicht mit eigener Kraft mit den Lüsten des Fleisches kämpfen müssen. Dank sei Gott, »er gibt größere Gnade« oder Kraft, wann immer wie sie brauchen (Hebr 4,16). Er hat versprochen: »Wie deine Tage so deine Kraft!« (5. Mose 33,25). Er gibt dir mehr Gnade, wenn Sorgen sich mehren,
er schenkt dir mehr Kraft, wenn die Arbeit dich drängt;
vermehrt sich der Kummer, mehrt sich sein Erbarmen,
mit härterer Prüfung mehr Frieden er schenkt.
Annie Johnson Flint,
deutscher Nachdichter unbekannt Um zu beweisen, dass Gott seine Gnade entsprechend dem Bedarf jedes Einzelnen gibt, zitiert Jakobus Sprüche 3,34. Dabei kommt noch der Gedanke hinzu, dass die Gnade den »Demütigen« und nicht den »Hochmütigen« gegeben wird. »Gott widersteht den Hochmütigen«, doch einem gebrochenen Geist kann er nicht widerstehen.
4,7 In den Versen 7-10 finden wir sechs Schritte, die getan werden müssen, wenn wir wirklich umkehren. Jakobus hat über die Sünden der Heiligen geweint. Seine Worte haben unsere Herzen wie Pfeile der Überführung getroffen. Sie sind wie Blitze vom Thron Gottes in unsere Herzen gefahren. Wir erkennen, dass Gott zu uns geredet hat. Unsere Herzen haben sich unter dem Einfluss seines Wortes gebeugt. Aber nun lautet die Frage: »Was sollen wir tun?«
Als Erstes sollten wir uns »Gott unterwerfen«. Das bedeutet, dass wir ihm wieder untertan sind – bereit, auf ihn zu hören und ihm zu gehorchen. Wir müssen zerknirscht und für Gottes Reden empfänglich sein, statt stolz und halsstarrig zu bleiben. Dann müssen wir »dem Teufel widerstehen«. Das tun wir, indem wir vor seinen Einflüsterungen und Versuchungen Ohren und Herzen verschließen. Auch wenn wir die Schrift als Schwert des Geistes benutzen, um ihn abzuwehren, dann widerstehen wir ihm. Wenn wir ihm widerstehen, »wird er von uns fliehen«.
4,8 Als Nächstes sollen wir uns »Gott nahen«. Das tun wir im Gebet. Wir müssen als zu allem entschlossene, gläubige Beter vor ihn kommen und ihm alles sagen, was wir auf dem Herzen haben. Wenn wir uns ihm so nähern, werden wir feststellen, dass er sich ebenfalls uns naht. Wir dachten, er sei wegen unserer Fleischlichkeit und Weltlichkeit weit weg von uns, aber wenn wir uns ihm nähern, vergibt er uns und setzt uns wieder in unsere alte Stellung ein. Der vierte Schritt ist: »Säubert die Hände, ihr Sünder, und reinigt die Herzen, ihr Wankelmütigen!« Die Hände künden von unseren Taten, während das Herz für unsere Motive und Wünsche steht. Wir reinigen unsere Hände und Herzen, indem wir unsere Sünden bekennen und uns davon abkehren, von den äußeren wie den inneren. Als Sünder müssen wir immer wieder böse Taten bekennen, als »Wankelm ütige« müssen wir immer wieder unsere falschen, zwiespältigen Motive bekennen.
4,9 Unser Bekenntnis sollte von großem Leid angesichts unserer Sünden begleitet sein. »Fühlt euer Elend und trauert und weint; euer Lachen verwandle sich in Traurigkeit und eure Freude in Niedergeschlagenheit.« Wenn Gott uns überführt, dann ist keine Zeit für Leichtfertigkeit. Das ist eine Zeit der Beugung vor ihm sowie eine Zeit der Trauer über unsere Sündhaftigkeit, Kraftlosigkeit, Kälte und Fruchtlosigkeit. Wir sollten uns demütigen und über unseren Materialismus, unsere Weltlichkeit und Oberflächlichkeit weinen. Sowohl äußerlich als auch innerlich sollten wir die Früchte einer Gott wohlgefälligen Buße zeigen.
4,10 Und schließlich sollten wir uns »vor dem Herrn demütigen«. Wenn wir aufrichtig unseren Platz im Staub zu seinen Füßen einnehmen, wird er uns zu seiner Zeit erhöhen.
So sollten wir also reagieren, wenn der Herr uns zeigt, wie wir sind. Das ist jedoch viel zu oft nicht der Fall. Manchmal sind wir zum Beispiel in einer Versammlung, und Gott spricht sehr deutlich zu unserem Herzen. Für den Augenblick sind wir aufgewühlt und voller guter Vorsätze. Aber wenn der Abend vorbei ist, reden wir angeregt und leichten Herzens über das Wetter. Die ganze, von Hingabe geprägte Atmosphäre ist dahin, die Kraft verschwendet und der Geist Gottes wird betrübt.
4,11.12 Die nächste Sünde, die Jakobus nennt, ist die Kritiksucht oder das üble Reden gegen den Bruder. Jemand hat einmal vorgeschlagen, dass man sich drei Fragen stellen solle, ehe man sich hinreißen lässt, einen Bruder zu kritisieren: Ist es gut für meinen Bruder? Ist es gut für mich selbst? Geschieht es zur Ehre Gottes?
Das königliche Gesetz der Liebe sagt uns, dass wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben sollen. »Schlecht« von einem Bruder zu reden oder über seine Motive zu urteilen, bedeutet deshalb, gegen dieses Gesetz zu sprechen und es als wertlos zu verurteilen. Wenn wir das Gesetz absichtlich übertreten, so behandeln wir es respektlos und verächtlich. Wir könnten auch gleich sagen, dass das Gesetz schlecht sei und man ihm nicht gehorchen müsse. »Wer den Gehorsam verweigert, sagt damit im Grunde, dass dieses Gesetz nicht existieren solle.« Das versetzt den, der schlecht von einem Bruder redet, in die seltsame Lage, ein Richter zu sein. Eigentlich ist er einer, der dem Gericht untersteht. Er stellt sich selbst über das Gesetz, statt ihm untertan zu sein. Aber nur Gott steht über dem Gesetz, er ist derjenige, der es gegeben hat und danach richtet. Wer kann dann die Dreistigkeit besitzen, den Platz Gottes einzunehmen und »den Nächsten11 zu richten«?
4,13 Die nächste Sünde, die Jakobus anspricht, ist selbstherrliches, stolzes Planen ohne Abhängigkeit von Gott (V. 13-16).  Er  beschreibt  hier  einen  Geschäftsmann, der seine Zukunft schon genau geplant hat. Man beachte, wie detailliert der Plan ist. Er plante die Zeit (»heute oder morgen«), rechnete mit den beteiligten Personen (»wir«) und nahm den Ort (»die und die Stadt«), die Dauer (»ein Jahr«), das Vorhaben (»Handel treiben«) und das erwünschte Ergebnis vorweg (»Gewinn machen«). Was fehlt in dem Bild? Er bezieht nicht ein einziges Mal Gott in sein Geschäft ein. Im Leben ist es immer wieder nötig, Pläne für die Zukunft zu schmieden, aber wenn wir das eigenwillig tun, so ist das Sünde. Man beachte zum Beispiel Luzifers Ausdruck »ich will« in Jesaja 14,13.14: »Und du, du sagtest in deinem Herzen: ›Zum Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über den Sternen Gottes meinen Thron aufrichten und mich niedersetzen auf den Versammlungsberg im äußersten Norden. Ich will hinaufsteigen auf Wolkenhöhen, dem Höchsten mich gleich machen.‹«
4,14 Es ist falsch zu planen, als ob der morgige Tag schon sicher wäre. »Sage nicht … morgen« (Spr 3,28). Wir wissen nicht, was morgen kommt. Unser Leben ist so zerbrechlich und so wenig vorhersagbar wie »ein Dampf«.
4,15 Gott sollte bei all unseren Plänen um Rat gefragt werden, und sie sollten nach seinem Willen gefasst werden. Wir sollten in der Erkenntnis handeln und reden, dass unsere Bestimmung in seiner Hand liegt. Wir sollten sagen: »Wenn der Herr will, werden wir sowohl leben als auch dieses oder jenes tun.« So sagt Paulus in der Apostelgeschichte 18,21: »Ich werde, wenn Gott will, wieder zu euch zurückkehren.« In 1. Korinther 4,19 schreibt er: »Ich werde aber bald zu euch kommen, wenn der Herr will.« Manche Christen gebrauchen das Kürzel »D. V.« Es geht auf die lateinischen Worte Deo volente zurück, die »so Gott will« bedeuten.
4,16 »Nun aber rühmt ihr euch in euren Großtuereien«, schreibt Jakobus. Die Christen rühmten sich ihrer stolzen Zukunftspläne. Sie waren in ihrer Überzeugung, dass nichts schiefgehen könne, sehr arrogant. Sie handelten, als ob sie ihr Schicksal selbst in der Hand hätten. »Alles solches Rühmen ist böse«, weil es Gott außen vor lässt.
4,17 »Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde.« In diesem Zusammenhang bedeutet »Gutes tun«, Gott in jeden Augenblick und Bereich unseres Lebens einzubeziehen und jederzeit in der Abhängigkeit von ihm zu leben. Wenn wir wissen, dass das so sein sollte, und uns nicht danach richten, dann ist das eindeutig Sünde. Natürlich lässt sich dieser Vers auch in einem weiteren Sinne anwenden. In jeder Lebenssituation und jedem Lebensbereich macht uns die Möglichkeit zum Gutestun verantwortlich, danach zu handeln. Wenn wir wissen, was richtig ist, dann haben wir die Verpflichtung, demgemäß zu leben. Wenn wir das nicht tun, so sündigen wir – gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen uns selbst. In Kapitel 4 hat uns Jakobus in Bezug auf Begierde und Konflikte, auf üble Nachrede und auf Planung ohne den Herrn geprüft. Wir sollten uns deshalb die folgenden Fragen stellen: »Strebe ich nur danach, immer mehr zu haben, oder bin ich zufrieden mit dem, was ich besitze? Beneide ich Menschen, die mehr als ich haben? Bete ich, ehe ich etwas kaufe? Wenn Gott zu mir spricht, gehorche oder widerstehe ich dann? Rede ich gegen meine Geschwister? Fasse ich Pläne, ohne den Herrn vorher um Rat zu fragen?« IX. Die Reichen und ihre künftige Reue (5,1-6)
5,1 Dieses Kapitel erforscht in außerordentlicher Weise unser Gewissen. In diesem durchdringenden Appell entlarvt Jakobus die Sünden der Reichen. Die Worte sind wie Hammerschläge, hart und schonungslos. Die Entlarvung ist so durchgreifend, dass über diese Verse nur selten gepredigt wird.
Wir sehen hier Jakobus in der Rolle eines Propheten, der soziale Gerechtigkeit anmahnt. Er prangert die Reichen an, die versagt haben, ihr Geld zur Linderung menschlicher Nöte zu verwenden. Er verurteilt diejenigen, die durch die Ausbeutung ihrer Arbeiter reich geworden sind. Er tadelt sie, weil sie ihren Reichtum verwendet haben, um sich der Hemmungsund Maßlosigkeit hinzugeben. Schließlich zeigt er die Reichen als arrogante Unterdrücker der Gerechten. Als Erstes ermahnt er die Reichen, über die »Drangsale« zu weinen und zu heulen, die sie bald erleben würden. Schon bald würden sie Gott begegnen. Dann würden sie Scham und Reue empfinden. Sie würden sehen, dass sie untreue Verwalter gewesen sind. Sie würden über all ihre verlorenen Möglichkeiten weinen. Sie würden über ihre Begierde und Selbstsucht trauern. Sie würden davon überführt werden, dass sie ihren Arbeitern ungerechte Arbeitsbedingungen zugemutet haben. Sie würden die Sünde erkennen, dass sie ihre Sicherheit im materiellen Reichtum statt im Herrn gesucht haben. Und sie würden heiße Tränen über die Art vergießen, wie sie bis zum Übermaß im Luxus geschwelgt haben. Jakobus erwähnt die vier Hauptsünden der Reichen. Die erste Sünde besteht darin, Reichtum aufzuhäufen.
5,2 »All euer Reichtum ist verdorben«, sagt Jakobus, »eure Berge von Kleidern sind von Motten zerfressen, das Gold und Silber ist verrostet. Ja, gerade dieser Rost ist der Beweis dafür, dass ihr in gottloser Gesinnung Schätze aufgehäuft habt. Ihr werdet davor zurückweichen, als ob sie glühend heiß wären« (nach der engl. Übertragung von J. B. Phillips). Die Bibel sagt nirgendwo, dass es eine Sünde ist, reich zu sein. Es kann zum Beispiel geschehen, dass jemand über Nacht ein Vermögen erbt, und sicherlich hat er keine Sünde begangen, indem er so reich geworden ist. Aber die Bibel lehrt, dass es falsch ist, Reichtum aufzuhäufen. Der Herr Jesus verbot ausdrücklich die Anhäufung von Reichtum. Er sagte: »Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde, wo Motte und Rost zerstören und wo Diebe durchgraben und stehlen; sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost zerstören und wo Diebe nicht durchgraben noch stehlen; denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein« (Matth 6,19-21).
Jakobus spricht von vier Arten des Besitzes: allgemeiner materieller Reichtum, Kleider, Gold und Silber. In biblischer Zeit bestand Vermögen meist aus Getreide, Öl und anderen Erzeugnissen: Kleidung, Gold und Silber. Vielleicht meinte Jakobus, als er sagte: »Euer Reichtum ist verfault«, dass das Getreide wurmstichig und das Öl ranzig geworden ist. Es geht darum, dass diese Güter so lange aufgehäuft worden sind, dass sie nun verdorben sind. Sie hätten zu anderer Zeit dazu dienen können, die Hungrigen zu sättigen, aber nun sind sie wertlos geworden. »Eure Kleider sind von Motten zerfressen worden«, sagt er. Das passiert nur bei Kleidung, die nicht getragen wird. Aber wenn der Schrank so mit Kleidern vollgestopft ist, dass sie kaum noch gebraucht werden, dann werden sie gewiss von Motten befallen werden. Für Jakobus ist es eine Sünde, Kleidung so aufzuhäufen, während andere Menschen sie dringend nötig hätten.
5,3 »Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird zum Zeugnis sein gegen euch und euer Fleisch fressen wie Feuer«, fährt er fort. Gold und Silber rosten normalerweise nicht, aber sie werden matt und stumpf, und bei schlechten Lagerbedingungen bzw. unter Einwirkung bestimmter Chemikalien werden beide Edelmetalle angegriffen. Statt ihr Geld arbeiten zu lassen, die Hungrigen zu speisen, die Armen zu kleiden, für die Kranken Medizin zu kaufen und das Evangelium zu verbreiten, sparten sie ihr Geld für »schlechte Tage« auf. Damit ist niemandem geholfen, und schließlich verdirbt der Reichtum.
Rost ist hier ein Bild für Missbrauch und Vergänglichkeit. Er wird gegen die Reichen Zeugnis ablegen. Wenn das für die Reichen zu Jakobus’ Zeiten galt, wie viel mehr wird es dann für die Gläubigen unserer Tage gelten? Wie werden wir verurteilt werden, wenn wir die Mittel besessen haben, das Evangelium zu verbreiten, und sie nicht dazu eingesetzt haben? Was wird sein, wenn wir materiellen Reichtum aufgehäuft haben, während er doch viel besser für die Errettung verlorener Seelen hätte benutzt werden können? Der Ausdruck »der Rost … wird euer Fleisch fressen wie Feuer« bedeutet Folgendes: Die Tatsache, dass die Reichen ihren Reichtum nicht zum Nutzen anderer verwendet haben, wird sie zu schlimmsten Leiden und tiefer Reue führen. Wenn ihnen schließlich die Augen für die Grausamkeit ihrer Selbstsucht und ihrer Habgier aufgehen (teurer Schmuck, elegante Kleidung, luxuriöse Häuser und Wohnungen, teure Autos), dann wird dies eine schlimme, schmerzliche Erfahrung sein.
5,4 Die zweite Sünde, die Jakobus angreift, ist die Erlangung von Reichtum, indem man die Arbeiter nicht ordentlich bezahlt. Die »Arbeiter, die die Felder geschnitten haben«, wurden ihres rechtmäßigen Lohnes beraubt. Obwohl die Arbeiter vielleicht dagegen protestiert haben, waren sie doch recht hilflos, wenn sie Ausgleich verlangten. Sie hatten auf Erden niemanden, der ihre Sache ordentlich vertrat. Doch ihre Rufe wurden vom »Herrn Zebaoth« (dem Herrn der Heerscharen) gehört. Der die Heere des Himmels befehligt, ist auch fähig, den zahllosen Unterdrückten auf Erden zu helfen. Der allmächtige Herr und Gott wird ihnen helfen und sie rächen. So verurteilt die Bibel nicht nur das Aufhäufen von Geld, sondern auch das Geldverdienen mit unlauteren Mitteln. Zu der Sünde, den Arbeitern nicht genügend Lohn zu zahlen, hätte Jakobus auch noch falsche Steuererklärungen, falsche Gewichte oder Maßeinheiten, Bestechung von Bea mten und obrigkeitlichen Vertretern, lügnerische Werbung und falsche Kostenaufstellungen nennen können.
5,5 Als Nächstes prangert Jakobus das luxuriöse Leben der Reichen an. Teurer Schmuck, elegante Kleidung, erlesenste Speisen und luxuriöse Häuser – wie konnten sie nur all ihren Reichtum für sich selbst verschwenden, wo doch viele Menschen schwere Not leiden müssen? Oder, um es in unsere Zeit zu übertragen, wie können wir den Überfluss und den Luxus der Kirche bzw. Gemeinde im Allgemeinen und der einzelnen Christen im Besonderen rechtfertigen? Wir leben in einer Welt, in der täglich Tausende den Hungertod sterben. Ein Großteil der Weltbevölkerung hat nie etwas von unserem Herrn Jesus Christus gehört. Wie können wir in einer solchen Welt Sportwagen, komfortable Limousinen und teure Jachten rechtfertigen? Wie können wir das Geld des Herrn in teuren Hotels, Gourmet-Restaurants und bei allen anderen Formen eines genussbetonten Lebens verprassen? Die eindeutige Lehre der Schrift, die schreiende Not der Welt, das Beispiel des Herrn und die einfache Regung des Mitgefühls sagen uns, dass es falsch ist, in Komfort, Luxus und Wohlergehen zu leben, solange es nur einen einzigen Menschen auf der Welt gibt, der das Evangelium noch nicht gehört hat. Wer »in Üppigkeit lebt« und in ungezügeltem Luxus schwelgt, wird mit denen verglichen, die ihre »Herzen mästen an einem Schlachttag« – wie Tiere, die sich selbst für ihre Schlachtung fett fressen, oder wie Soldaten, die ihre Zeit beim Spiel verbringen, während andere um sie herum zugrunde gehen.
5,6 Die letzte Anklage gegen die Reichen lautet, dass sie den Gerechten »verurteilt« und »getötet« haben, und dieser Gerechte »widersteht« ihnen »nicht«. Einige sind der Auffassung, dass dieser »Gerechte« der Herr Jesus ist. Doch sein Tod wurde eher von den religiösen Eiferern als von den Reichen geplant. Es ist wahrscheinlich richtiger, wenn man annimmt, dass »der Gerechte« hier für die unschuldigen Menschen im Allgemeinen steht. Jakobus denkt an die harte, hochmütige Art und Weise, womit die Reichen ihre Untergebenen meist behandelt haben. Sie haben sie durch falsche Anschuldigungen, Drohungen und böse Worte verurteilt. Sie haben sie getötet, vielleicht nicht direkt, aber gewiss dadurch, dass sie ihnen zu viel Arbeit für zu wenig Geld abverlangt haben. Die Unschuldigen haben sich dabei nicht gewehrt und keinen Widerstand geleistet, weil Protest noch mehr Brutalität über sie gebracht oder sie ihre Arbeit gekostet hätte. X. Ermahnung zum Ausharren (5,7-12)
5,7 Jakobus wendet sich nun an die Gläubigen, die unterdrückt werden, und ermahnt sie zur Geduld. Das Motiv für die Geduld ist die »Ankunft des Herrn«. Das kann sich entweder auf die Entrückung oder auf die Wiederkunft Christi in Macht und Herrlichkeit beziehen. Beide werden im NT als Anlass zum geduldigen Ausharren genannt.
Der Bauer zeigt uns die Notwendigkeit der Geduld. Er kann nicht bereits an dem Tag, da er ausgesät hat, die Ernte einbringen. Er muss vielmehr lange warten. Erst kommt der Frühregen, der die Saat keimen lässt. Gegen Ende der Wachstumszeit kommt der Spätregen, der nötig ist, um den Reifungsprozess bis zur Ernte zu ermöglichen. Einige sehen in diesem Hinweis auf »Früh- und Spätregen« eine Verheißung, dass die zu Beginn des Gemeindezeitalters zugeeigneten Segnungen des Pfingstfestes kurz vor der Wiederkunft Christi wiederaufleben werden, aber der allgemeine Tenor des NT ist eher, dass eine solche Hoffnung nicht in Erfüllung gehen wird. Dennoch verbietet dies uns nicht, nach einem treuen Rest Gläubiger Ausschau zu halten, deren Herzen für den Herrn und für die Weltevangelisation brennen. Kann man den wiederkommenden Heiland auf bessere Weise empfangen?
5,8 Die Ungerechtigkeit der Erde wird beendet, wenn der Herr wiederkommt. Deshalb sollten die Angehörigen seines Volkes wie der Bauer Geduld haben. Ihre Herzen sollten in der Gewissheit befestigt sein, dass der Herr wiederkommt.
5,9 In Zeiten von Verfolgung und Not ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Opfer der entsprechenden Umstände sich gegeneinander wenden. Es ist ein seltsamer Zug der menschlichen Natur, dass wir in Zeiten großen Drucks gegenüber denjenigen zornig werden, die wir am meisten lieben. Daher die Warnung: »Seufzt nicht gegeneinander, Brüder, damit ihr nicht gerichtet werdet.«12 Dieser Vers spricht zu Dienern des Herrn, die unter schwierigen Umständen zusammenarbeiten müssen. Wir sollten es nicht zulassen, dass sich gegenseitiger Groll aufbaut. Denn »siehe, der Richter steht vor der Tür«! Er weiß, was wir denken. Schon bald werden wir vor dem Richterstuhl Christi stehen, um Rechenschaft abzulegen. Wir sollten nicht richten, damit wir nicht gerichtet werden.
5,10 Hier werden nun die alttestamentlichen »Propheten« als »Vorbild des Leidens und der Geduld« erwähnt. Man beachte, dass das Leiden hier vor der Geduld steht. »Trübsal bewirkt Ausharren« (Röm 5,3). Wie schon vorher erwähnt, bedeutet »Geduld« im NT so viel wie innere Kraft oder Standhaftigkeit. Weil sie treu das Wort des Herrn verkündet hatten, wurden die Propheten erbarmungslos verfolgt. Doch sie hielten »standhaft aus, als sähen« sie »den Unsichtbaren« (Hebr 11,27.32-40).
5,11 Wir schauen mit größtem Respekt auf Propheten wie Jesaja, Jeremia und Daniel zurück. Wir ehren sie, weil sie ein Leben führten, das von Eifer und Hingabe an den Herrn geprägt war. In diesem Sinne preisen wir sie »glückselig«. Wir sind wie Gott der Meinung, dass sie recht hatten und die Welt sich im Irrtum befand. Bei alledem sollten wir auch daran denken, dass sie große Prüfungen und Leiden erdulden mussten. Wenn wir so glückselig sein wollen, dann ist es nur vernünftig zu schließen, dass wir gleichzeitig berufen sind, das Gleiche zu ertragen.
Hiob ist ein ausgezeichnetes Beispiel für Ausharren oder für Standhaftigkeit. Nur wenige haben wohl in der Geschichte so viel in so kurzer Zeit verloren wie Hiob. Und doch verfluchte er Gott niemals, noch wandte er sich von ihm ab. Schließlich wurde seine Ausdauer belohnt. Gott offenbarte sich ihm »voll innigen Mitgefühls und barmherzig«, wie er es immer tut.
Wenn wir nicht um »das Ende des Herrn« wüssten (das Ergebnis, das Gott mit seinem Handeln erzielen will), könnten wir versucht sein, die Bösen zu beneiden. Asaf wurde eifersüchtig, als er den Reichtum der Ungerechten sah (Ps 73,317). Je mehr er darüber nachdachte, desto aufgebrachter wurde er. Doch dann ging er in Gottes Heiligtum und verstand, welches Ende die Reichen nehmen würden. Angesichts dessen schwand all sein Neid. Auch David hat diese Erfahrung gemacht. In Psalm 17,15 beschreibt er die Bestimmung des Gläubigen in der zukünftigen Welt. Nach seiner Ansicht zahlt es sich für den Gläubigen aus, standhaft zu sein. Im Falle Hiobs, bestand das »Ende des Herrn« darin, dass Hiob doppelt so viel von Gott erstattet bekam, wie er verloren hatte (Hiob 42,10-15).
5,12 Ungeduld in Zeiten der Erprobung drückt sich manchmal auch darin aus, dass man ins Schimpfen verfällt. Es geht hier jedoch nicht in erster Linie um Schwören oder Fluchen. Auch geht es nicht um einen Eid vor Gericht. Was uns hier verboten wird, ist die Angewohnheit, in achtloser Weise den Namen des Herrn oder irgendeine Formel auszusprechen, um die Wahrheit des Gesagten zu unterstreichen. Der Christ hat es nicht nötig, bei irgendwem oder irgendetwas zu schwören, weder »bei dem Himmel noch bei der Erde«. Wer einen Christen kennt, sollte sicher sein können, dass sein »Ja« »Ja« bedeutet, und auch sein »Nein« wörtlich gemeint ist.
Diesen Abschnitt könnte man auch auf solche überflüssigen Ausdrücke wie »um Himmels (Gottes) willen«, »Gott sei’s geklagt« oder »Herrgottnochmal« und auf solche Zusammenziehungen wie »Herrje« (Herr Jesus) und Verniedlichungen wie »ach Gottchen« beziehen. »… damit ihr nicht unter ein Gericht« (oder in Heuchelei13) »fallt«, fügt Jakobus hinzu und denkt dabei wohl an das dritte Gebot: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht zu Nichtigem aussprechen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen zu Nichtigem ausspricht« (2. Mose 20,7). XI. Gebet und Krankenheilung (5,13-20)
5,13 Das Thema der Schlussverse des Briefes ist das Gebet. Das Wort erscheint siebenmal, sowohl in verbaler als auch in substantivischer Form.
In jeder Situation sollten wir zum Herrn im Gebet kommen. Wenn wir in Schwierigkeiten sind, sollten wir uns ihm mit ernstlichen Bitten nahen. In Zeiten der Freude sollten wir unsere Herzen zu ihm in Lob und Dank erheben. Er möchte in all unsere wechselnden Lebensumstände einbezogen werden. Wir sollten immer vor Augen behalten, dass Gott die Ursache aller Ereignisse unseres Lebens ist. Auf ihn geht alles Diesbezügliche zurück. Wir sollten uns nicht an das halten, was Rutherford »das wirre Gewoge und Wechselspiel zweiter Ursachen« nannte. Wenn wir zulassen, dass wir Opfer unserer Umstände werden, haben wir uns bereits als Unterlegene zu erkennen gegeben. Das gilt auch, wenn wir darauf warten, dass sich unsere Umstände ändern. Wir sollten in allem nur Gottes Hand erkennen. Dieser Abschnitt ist einer der umstrittensten Abschnitte des Briefes und vielleicht des gesamten NT. Er zeigt uns die Stellung der Heilung im Leben des Gläubigen heute.
Ehe wir die Verse im Einzelnen besprechen, sollten wir uns anschauen, was die gesamte Bibel über Krankheit und Heilung lehrt.
Exkurs zum Thema göttliche Heilung
1. Die Christen sind sich darüber einig, dass Krankheit, allgemein gesprochen, die Folge der Sünde in der Welt ist. Wäre die Sünde nicht in die Welt gekommen, gäbe es auch keine Krankheit.
2. Manchmal ist Krankheit eine direkte Folge von Sünde im Leben eines Menschen. In 1. Korinther 11,30 lesen wir von bestimmten Korinthern, die krank geworden waren, weil sie am Mahl des Herrn teilgenommen hatten, ohne die Sünde in ihrem Leben zu richten. Das bedeutet, dass sie diese vorher nicht bekannt und sich nicht davon abgekehrt hatten. 3. Nicht jede Krankheit ist jedoch eine direkte Auswirkung von Sünde im persönlichen Leben. Hiob war krank, und zwar trotz der Tatsache, dass er ein sehr gerechter Mensch war (Hiob 1,8). Auch der Blindgeborene litt nicht wegen selbst begangener Sünden (Joh 9,2.3). Epaphroditus wurde krank, als er sich unermüdlich für das Werk des Herrn einsetzte (Phil 2,30). Gajus war geistlich gesund, fühlte sich aber körperlich offens ichtlich nicht wohl (3. Joh 2).
4. Manchmal ist Krankheit die Folge satanischen Eingreifens. Es war Satan, der den Körper Hiobs mit Geschwüren überzog. Satan war auch derjenige, der die Frau in Lukas 13,10-17 in eine furchtbare Lage gebracht hatte, sodass sie zusammengekrümmt war und sich selbst nicht aufrichten konnte: »Diese aber, … die der Satan gebunden hat, siehe, achtzehn Jahre lang« (13,16). Paulus hatte irgendeine körperliche Schwäche, die von Satan verursacht wurde. Er nannte sie einen »Dorn für das Fleisch, einen Engel Satans«, der ihn »mit Fäusten« schlug (2. Kor 12,7). 5. Gott kann heilen und tut dies auch. In gewissem Sinne kommt jede Heilung von Gott. Einer der Namen Gottes im AT lautet Jahwe-Ropheka – »der Herr, der  dich  heilt«  (2. Mose  15,26).  Wir sollten Gott für jede Heilung die Ehre geben.
Anhand der Bibel wird deutlich, dass Gott verschiedene Mittel zur Heilung benutzt. Manchmal heilt er durch natürliche Körperfunktionen. Er hat in den menschlichen Leib außerordentlich große Wiederherstellungskräfte gelegt. Die Ärzte wissen, dass die meisten Beschwerden am nächsten Morgen besser sind. Manchmal benutzt Gott die Medizin zur Heilung. Paulus riet Timotheus zum Beispiel: »Gebrauche ein wenig Wein um deines Magens und deines häufigen Unwohlseins  willen«  (1. Tim  5,23).  Zuweilen heilt er durch »Befreiung von unterschwelligen Ängsten, von Bitterkeit, von übertriebener Beschäftigung mit dem eigenen Ich und von Schuld, die alle Krankheiten verursachen können«. Mitunter heilt er auch durch Chirurgen. Jesus lehrte ausdrücklich, dass die Kranken einen Arzt benötigen (Matth 9,12). Paulus sprach von Lukas als dem »geliebten Arzt« (Kol 4,14), was sicherlich die Notwendigkeit von Ärzten unter den Christen unterstreicht. Gott benutzt Ärzte zur Heilung. Ambroise Paré, ein berühmter französischer Chirurg (1510 – 1590), sagte einmal dazu: »Der Arzt verbindet die Wunde, und Gott heilt sie.«
6. Aber Gott heilt auch durch Wunder. Die Evangelien enthalten hierfür zahlreiche Beispiele. Es wäre falsch zu behaupten, dass Gott im Normalfall auf diese Weise heilt. Doch genauso falsch wäre es zu behaupten, dass er nie auf diese Weise heilt. In der Bibel gibt es keine Aussage, die uns von der Überzeugung abbringen könnte, dass Gott auch heute noch auf wunderbare Weise heilen kann.
7. Doch wir müssen auch verdeutlichen, dass die Heilung eines Menschen nicht immer Gottes Willen entspricht. Paulus ließ den kranken Trophimus in Milet zurück (2. Tim 4,20). Der Herr heilte Paulus nicht von seinem »Dorn für das Fleisch« (2. Kor 12,7-10). Wenn es immer Gottes Wille wäre, dass Menschen geheilt werden, dann würden einige niemals altern oder sterben! 8. Gott hat nicht verheißen, jeden zu heilen; deshalb können wir nie eine Heilung einfordern. In Philipper 2,27 wird von der Heilung als Gnade gesprochen, d. h. wir haben keinen Anspruch auf sie.
9. Es ist zwar in einem allgemeinen Sinne richtig, dass die Heilung zu den Folgen des Sühnetodes Christi gehört, doch es sind uns noch nicht alle Segnungen der erwirkten Sühnung zugänglich. So war zum Beispiel die Erlösung des Leibes Bestandteil des Werkes Christi für uns, doch wir werden diese Erlösung erst erlangen, wenn Christus für seine Gemeinde wiederkommt (Röm 8,23). Zu dieser Zeit werden wir auch vollständig und für immer von allen Krankheiten geheilt sein.
10. Es stimmt nicht, dass jemand, der nicht geheilt wird, unbedingt kleingläubig ist. Wenn das so wäre, dann hieße das, dass einige Menschen unbegrenzt leben würden, aber das gibt es nicht. Paulus, Trophimus und Gajus wurden nicht geheilt, obwohl ihr Glaube stark und fest war.
5,14.15 Wenn wir nun zu Jakobus 5 zurückkehren, sehen wir, wie diese Verse zu dem passen, was wir sonst in der Bibel zum Thema Heilung gefunden haben: Leidet jemand unter euch? Er bete. Ist jemand guten Mutes? Er singe Psalmen. Ist jemand krank unter euch? Er rufe die Ältesten der Gemeinde zu sich, und sie mögen über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten, und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden. Wenn dies die einzigen Verse der Bibel zum Thema Heilung wären, dann könnten wir annehmen, dass einem Christen die Heilung jeder Krankheit seines Lebens zugesprochen werden kann, wenn er die Bedingungen erfüllt, die diese Verse nennen. Dennoch haben wir schon von anderen Bibelstellen her gesehen, dass es nicht immer Gottes Willen entspricht, einen Menschen zu heilen. Deshalb sind wir zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass Jakobus nicht über jede Art von Krankheit spricht. Vielmehr erwähnt er nur eine bestimmte Art von Krankheit, das heißt, eine Krankheit, die sich aus bestimmten Umständen ergeben hat. Der Schlüssel zum Verständnis des Abschnitts sind die Worte: »Wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden.« In diesem Abschnitt ist Heilung mit Sündenvergebung verbunden.
Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der eine Sünde begangen hat, die vielleicht das äußere Zeugnis der Gemeinde beeinträchtigt hat. Kurz darauf wird er von einer Krankheit befallen. Er erkennt, dass diese Krankheit die direkte Folge seiner Sünde ist. Gott züchtigt ihn, damit er zur Gemeinschaft zurückfindet. Der Betroffene bereut und bekennt seine Sünde vor Gott. Aber weil die Sünde ebenso das öffentliche Zeugnis der Gemeinde betrifft, ruft er die Ältesten und legt auch vor ihnen ein offenes Bekenntnis ab. Sie beten über ihm und salben ihn »im Namen des Herrn« mit Öl. Dieses »Gebet des Glaubens« rettet den Kranken, »und der Herr wird ihn aufrichten«. Hier haben wir eine direkte Verheißung, dass der Herr heilen wird. Sie gilt für den Fall, dass die Krankheit die direkte Folge einer Sünde ist und der Betreffende diese Sünde in der beschriebenen Weise bekennt und sich davon abkehrt.
Einige werden sagen: »Woher wollen Sie wissen, dass dieser Mensch eine Sünde begangen hat und er durch die Krankheit zu Buße und Bekenntnis geführt worden ist?« Die Antwort lautet folgendermaßen: Der letzte Teil von Vers 15 spricht davon, dass seine Sünden vergeben werden. Und wir wissen, dass Sünden nur dann vergeben werden, wenn sie bekannt werden (1. Joh 1,9). Jemand anders mag einwenden: »Hier steht nicht, dass der Betreffende wirklich eine Sünde begangen hat. Es heißt: Wenn er Sünden begangen hat.« Das stimmt, aber der Gesamtzusammenhang behandelt das Sündenbekenntnis und die Wiederherstellung von Menschen, die durch Sünde außerhalb der Gemeinschaft stehen. Man beachte auch den auf unseren Abschnitt folgenden Vers: »Bekennt nun einander die Vergehungen und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.« In Vers 17 und 18 geht es dann um die Dürre, die Gott als Gerichtsmaßnahme über die Israeliten kommen ließ, weil sie gesündigt hatten. Sie wurden wieder in ihre ursprüngliche Stellung eingesetzt, als sie sich zum Herrn bekehrten und ihn als den wahren Gott anerkannten (1. Kön 18,39). Und die Verse 19 und 20 befassen sich eindeutig mit der Wiederherstellung eines Abtrünnigen, wie wir sehen werden. Der gesamte Zusammenhang von Jakob us 5,13-20 legt nahe, dass die Heilung, die hier von Gott verheißen wird, einem Menschen gilt, dessen Krankheit eine Folge der Sünde ist und der diese Sünde den Ältesten bekennt. Die Verantwortung der Ältesten besteht darin, über ihm zu beten und ihn zu salben. Einige deuten die Salbung als Verabreichung von Medikamenten, da im Altertum Öl als Heilmittel galt (Lk 10,34). Eine andere Ansicht lautet, dass hier die rituelle Verwendung von Öl gemeint ist. Diese Ansicht wird durch die Worte »im Namen des Herrn« bestätigt. Mit anderen Worten: Der Betreffende wurde nach Gottes Auftrag und im Gehorsam gegenüber seinem Wort gesalbt. Manchmal wurde Öl von den Aposteln bei Heilungswundern verwendet (Mk 6,13). Die Heilkraft lag dabei jedoch nicht im Öl, sondern das Öl war ein Sinnbild für den Heiligen Geist, der die Heilung ausführte (1. Kor 12,9). Einige mögen einwenden, dass die rituelle Verwendung von Öl nicht mit dem Gnadenzeitalter, das auf Riten und Zeremonien keinen Wert legt, in Einklang steht. Doch wir benutzen auch Brot und Wein als Symbole für Christi Leib und Blut und verwenden außerdem Wasser bei der Taufe. Viele Frauen ben utzen im Gottesdienst eine Kopfbedeckung als Zeichen ihrer Unterwerfung unter den Mann. Warum sollten wir dann den sinnbildlichen Gebrauch von Öl bea nstanden? Als Antwort auf »das Gebet des Glaubens« wird Gott den Betreffenden heilen. Es handelt sich um ein »Gebet des Glaubens«, weil es auf der Verheißung des Wortes Gottes beruht. Es geht hier nicht um die Frage, wie viel Glauben die Ältesten oder der Kranke haben. Die Ältesten können voller Zuversicht beten, weil Gott verheißen hat, den Kranken wiederherzustellen, wenn die erwähnten Bedingungen erfüllt sind.
Zusammenfassend sind wir der Ansicht, dass die Verse 14 und 15 sich auf einen Fall beziehen, in dem ein Mensch durch die direkte Auswirkung einer Sünde krank wird. Wenn er das erkennt und seine Sünden bereut, sollte er »die Ältesten der Gemeinde zu sich« rufen und ihnen gegenüber ein volles Schuldbekenntnis ablegen. Dann sollen sie »über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn«. Sie dürfen im Glauben für seine Genesung beten, weil Gott hier verspricht, diesen Menschen zu heilen.
5,16a »Bekennt nun einander die Vergehungen14 und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.« Wenn man diese Aussage oberflächlich liest, könnte der Eindruck geweckt werden, dass wir anderen Menschen alles über unsere geheimsten Sünden erzählen sollten. Darum geht es hier aber überhaupt nicht! In erster Linie meint Jakobus, dass wir, wenn wir einem Menschen gegenüber gesündigt haben, diesem die Sünde schnell bekennen sollen.
Und wir sollten auch »füreinander beten«. Statt Groll zu hegen und die Entwicklung daraus hervorgehender gegenseitiger Abneigungen zuzulassen, sollten wir die Gemeinschaft mit den anderen Gemeindegliedern durch Bekenntnis und Gebet aufrechterhalten.
Körperliche Heilung geht mit geistlicher Wiederherstellung einher. Man beachte, wie Jakobus Bekenntnis, Gebet und Heilung miteinander in Verbindung bringt. Hier wird der wichtige Zusammenhang zwischen dem Geistigen und dem Leiblichen aufgezeigt. Die Persönlichkeit des Menschen besteht aus drei Bereichen – dem Geist, der Seele und dem Leib (1. Thess 5,23). Was einen Bereich betrifft, wirkt sich auf den ganzen Menschen aus. Im AT war der Priester auch der Arzt. Er diagnostizierte z. B. Aussatz und erklärte den Betreffenden im entsprechenden Fall für geheilt. Indem so das Amt des Priesters und des Arztes in einer Person vereint waren, wies der Herr auf die enge Verbindung zwischen Geist und Leib hin.
Der Bereich der psychosomatischen Medizin erkennt diese Verbindung an und sucht nach persönlichen Problemen, die das körperliche Leiden verursacht haben könnten. Aber der modernen Medizin fehlt ein Mittel gegen Schuld. Befreiung von der Schuld, der Verunreinigung, der Macht und der Strafe der Sünde erhalten wir nur aufgrund des vergossenen Blutes Christi und durch ein Sündenbekenntnis vor Gott und den Menschen. Viel öfter, als wir es zugeben wollen, wird Krankheit durch Sünde verursacht – durch Sünde wie Völlerei, Sorgen, Zorn, mangelnde Vergebungsbereitschaft, Alkoholmissbrauch, Neid, Selbstsucht und Stolz. Sünde im Leben des Betreffenden bringt Krankheit und manchmal den Tod mit sich (1. Kor 11,30). Wir sollten Sünde bekennen und uns davon abkehren, sobald wir erkannt haben, dass sie in unserem Leben ist. Alle Sünden sollten wir vor Gott bekennen. Zusätzlich sollten wir alle Sünden, die andere Menschen betreffen, auch vor diesen bekennen. Das ist für unsere geistliche Gesundheit wichtig und für unsere körperliche Gesundheit nützlich.
5,16b-18 Denn das Gebet eines Menschen, der unbeirrt glaubt, hat große Kraft. Elia war ein Mensch wie wir, und doch erreichte er durch sein Gebet, dass es drei Jahre und sechs Monate nicht regnete. Dann betete er um Regen. Da regnete es, und alles Land wurde grün und brachte wieder seine Früchte. (GN)
Die Beschreibung dieses Ereignisses finden wir in 1. Könige 17,1 – 19,10. Ahab war zu dieser Zeit König in Israel. Durch seine Frau Isebel wurde er zum Anhänger Baals und verführte das Volk zu diesem schrecklichen Götzendienst. »Ahab fuhr fort, den Herrn, den Gott Israels, zum Zorn zu reizen, mehr als alle Könige von Israel, die vor ihm gewesen waren« (1. Kön 16,33). Die dreieinhalbjährige Dürre kam über Israel als direkte Antwort auf seine Sünde.
Dann kam es zu dem bekannten Geschehen auf dem Berg Karmel: Dort stand Elia den Baalspriestern gegenüber. Als Feuer vom Herrn herabfiel und das Brandopfer, den Altar und das Wasser verzehrte, war das Volk überzeugt und kehrte zum Herrn zurück. Elia betete noch einmal, und die Dürre hatte ein Ende. Das Beispiel Elias ist uns als Ermutigung gegeben, für diejenigen zu beten, die in Sünde gefallen sind und sich aus der Gemeinschaft mit Gott entfernt haben. »Viel vermag eines Gerechten Gebet in seiner Wirkung«, oder, wie jemand es einmal umschrieben hat: »Das Gebet eines Menschen, dessen Herz in der rechten Stellung vor Gott ist, bewirkt Wunder.« Damit wir nicht denken, dass Elia einer höheren Gattung als wir angehörte, erinnert Jakobus uns daran, dass »Elia ein Mensch … wie wir« war. Auch er litt wie alle anderen Menschen unter der Schwachheit des Fleisches.
5,19.20 In den vorhergehenden Versen haben wir gesehen, wie Gott die Ältesten einer Gemeinde für die Wiederherstellung eines in Sünde gefallenen Heiligen benutzt. Und wir haben gesehen, wie Elia zur (teilweisen und zeitweiligen) Wiederherstellung eines abtrünnigen Volkes gebraucht wurde. Nun werden wir ermahnt, auch selbst diesen weitreichenden Dienst an anderen zu tun. Vers 19 beschreibt einen christlichen Bruder, der »von der Wahrheit« abgeirrt ist. Das kann sich sowohl auf eine Lehre als auch auf das praktische Leben beziehen. Ein anderer Bruder macht diese Angelegenheit zu einem ernsthaften Anliegen: Im glaubensvollen Gebet wendet er sich diesbezüglich an Gott. Damit führt er den Abgeirrten liebevoll in die Gemeinschaft mit Gott und seinen Brüdern und Schwestern in Christus zurück. Welch eine Bedeutung hat dieser Dienst! Erstens wird er den Bruder davor »erretten«, dass er vorzeitig durch die strafende Hand Gottes stirbt. Zweitens wird er »eine Menge von Sünden bedecken«. Sie sind vor Gott vergeben und vergessen. Sie sind auch vor den Mitgläubigen vergeben und werden vor dem Blick der Welt verborgen. Wir brauchen diesen Dienst heutzutage dringend. In unserem Bestreben, die Verlorenen für das Evangelium zu gewinnen, haben wir vielleicht denjenigen Schafen Christi nicht genug Aufmerksamkeit entgegengebracht, die sich von der Herde entfernt haben. Und wieder hat Jakobus unser Gewissen auf verschiedenen Gebieten unseres christlichen Lebens angesprochen. Er hat uns  z. B.  gefragt:  »Häufst  du  dir  Reichtümer auf Erden auf? Sind deine Geschäftsmethoden immer ehrlich? Was ist zum Beispiel mit deiner Steuererklärung? Lebst du im Luxus oder aufopferungsvoll, damit andere den Herrn kennenlernen können? Wenn du gegen jemand anders gesündigt hast, bist du dann bereit, zu ihm zu gehen und um Vergebung zu bitten? Wenn du krank wirst, mit wem sprichst du zuerst – mit dem Arzt oder mit dem Herrn? Wenn du einen Bruder fallen siehst, kritisierst du ihn nur, oder versuchst du, ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen?«
So kommen wir nun zum Ende dieses kurzen, praktischen Briefes. Wir haben vom Glauben in der Erprobung gelesen. Wir haben gesehen, wie der Glaube durch das alltägliche Leben, durch Anfechtungen satanischen Ursprungs und durch Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes geprüft wird. Wir haben denjenigen gesehen, der von sich sagt, dass er Glauben habe. Er wurde aufgefordert, ihn zu zeigen, indem er von Parteilichkeit und Hochmut Abstand nimmt und ihn durch gute Werke unter Beweis stellt. Die Echtheit des Glaubens zeigt sich am Reden eines Menschen, denn der Gläubige lernt, seine Zunge der Herrschaft Christi zu übergeben. Wahrer Glaube wird von echter Weisheit begleitet. An die Stelle eines Lebens in Neid und Eifersucht tritt ein Leben in praktischer Gottesfurcht.
Der Glaube meidet die Kämpfe, Fehden und Eifersüchteleien, die aus Habsucht und weltlichem Gewinnstreben ntstehen. Er geht einer harten, kritiksüchtigen Gesinnung aus dem Weg. Er meidet das Selbstvertrauen, das Gott aus den Lebensplänen ausschließt. Der Glaube besteht die Prüfung durch seinen Umgang mit Geld. Statt Niedergeschlagenheit zeigt wahrer Glaube Freimut und Ausdauer angesichts der Wiederkunft des Herrn. Die Sprache des Glaubens ist durchweg ehrlich und braucht deshalb keine Schwurformeln, um die Ehrlichkeit zu betonen. Der Glaube wendet sich in allen Lebenslagen zuerst an Gott. In Krankheit sucht er zunächst nach geistlichen Ursachen. Durch Bekenntnis vor Gott und den Menschen, denen Unrecht geschehen ist, werden diese möglichen Ursachen beseitigt. Und schließlich streckt sich der Glaube in Liebe und Mitgefühl nach denen aus, die vom Weg abgekommen sind.
Ihr Glaube wird jeden Tag genauso geprüft wie der meine. Wie lautet das Urteil?
1,1 Der geliebte Fischer stellt sich selbst als »Petrus, Apostel Jesu Christi«, vor. Er war vom Herrn als einer der ursprünglichen Zwölf ausgesandt worden. Seine Berufung bestand darin, Herold einer herrlichen, umgestaltenden Botschaft zu sein. Indem er auf Gottes Ruf hörte, wurde er zum Menschenfischer. Alle Gläubigen sind aufgerufen, Christi Interessen hier auf Erden zu vertreten. Wir sollen Missionare sein, ob wir nun zu Hause oder im Ausland leben. Das ist der Hauptzweck der Jünger Jesu, alles andere ist untergeordnet. Der Brief ist gerichtet an die »Fremdlinge« oder Ausländer, die in »Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien« verstreut lebten. Wer waren diese Exilanten?
Petrus benutzt den Ausdruck »von der Zerstreuung«. Dies lässt uns zunächst darauf schließen, dass es sich um jüdische Gläubige handelte, weil Jakobus dasselbe Wort für die zwölf Stämme Israels verwendet (Jak 1,1). Auch in Johannes 7,35 beschreibt dieser Ausdruck Juden, die unter den Heiden zerstreut leben. Doch man kann durchaus annehmen, dass Petrus an diejenigen heidnischen Gläubigen schreibt, die durch Verfolgung in den angrenzenden Gebieten zerstreut worden waren. Dabei verwendet er viele der Namen, die einst auf Gottes irdisches Volk angewandt wurden, und bezeichnet damit diejenige Schar, die fortan alle Gläubigen vereint – die Gemeinde. Er nennt sie »auserwählt« (1,1), ein erwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum (2,9). Es gibt auch drei andere Hinweise darauf, dass er an Heiden schreibt. Er spricht von dem nichtigen Lebenswandel, den sie von ihren Vorvätern übernommen haben (1,14.18). Er beschreibt sie als solche, die einst »nicht ein Volk« waren (2,10). Und schließlich sagt er von ihnen, dass sie vorher wie Heiden gelebt haben. Deshalb nimmt man begründeterweise an, dass die Diaspora bzw. Zerstreuung, an die Petrus schreibt, die christliche Gemeinde umfasst. Dabei geht es um eine Zerstreuung, die größtenteils aus Menschen besteht, die vor ihrer Bekehrung Heiden waren. Wenn man nun einwenden will, dass Petrus in erster Linie ein Judenapostel war, so schloss das doch seinen Dienst unter Heiden nicht völlig aus. Umgekehrt hat Paulus, der Heidenapostel, auch Zeit im Dienst unter Juden verbracht.
1,2 Die Empfänger des Briefes werden durch vier Schritte bei ihrer Errettung näher gekennzeichnet, die alle drei Personen der Dreieinheit mit einbezieht. Zunächst einmal waren sie »auserwählt nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters«. Das bedeutet, dass Gott in der Ewigkeit vor aller Zeit diese Menschen dazu erwählte, zu ihm zu gehören. Die Lehre von der göttlichen Erwählung ist nicht immer populär, doch sie hat einen Vorteil – sie erlaubt es Gott, der souveräne Gott zu sein. Alle Versuche, diese Lehre den Menschen angenehm zu machen, führen dazu, dass an der Souveränität Gottes Abstriche gemacht werden. Jede Schwierigkeit, Gottes Erwählung mit der menschlichen Verantwortung zu vereinbaren, liegt im menschlichen Geist, nicht in Gottes Geist begründet. Die Bibel lehrt beides, und wir sollten beides glauben. Die Wahrheit liegt in beiden Aspekten, die uns extrem erscheinen mögen, nicht irgendwo dazwischen. Gottes Erwählung geschieht nach seiner »Vorkenntnis«. Einige verstehen die Bedeutung dessen folgendermaßen: Gott hat diejenigen erwählt, von denen er wusste, dass sie ihr Leben dem Heiland anvertrauen würden. Nach Meinung anderer wusste Gott sehr wohl, dass kein Sünder, wenn man ihn sich selbst überließe, dem Heiland vertrauen würde. Deshalb habe er in seiner Vorkenntnis bestimmte Menschen auserwählt, die die Trophäen seiner Gnade sein sollten. Während die Erwählung Gottes für uns immer ein Geheimnis bleiben wird, können wir doch sicher sein, dass sie auf keinen Fall ungerecht ist.
Der zweite Schritt bei der Errettung ist die »Heiligung des Geistes«. Dieser Aspekt der Heiligung findet vor der Bekehrung statt.1 Sie ist ein Dienst des Heiligen »Geistes«, wodurch er Menschen aussondert, damit sie Gott gehören (s. a. 2. Thess 2,13). Sie beinhaltet die logische Konsequenz der Erwählung durch Gott den Vater. In der Ewigkeit hat Gott Menschen vorherbestimmt und sie erwählt. In der Zeit wirkt der Heilige Geist, um diese Erwählung im Leben des betreffenden Menschen zu verwirklichen. Der dritte Schritt bei der Errettung der Seele umfasst die Reaktion des Sünders auf das Werk des Heiligen Geistes. Sie wird hier als »Gehorsam« gegenüber Jesus Christus beschrieben. Dies bedeutet, dass man dem Evangelium gehorcht, indem man angesichts seiner Sünden Buße tut und Christus als Heiland annimmt. Die Vorstellung, dass das Evangelium ein Sachverhalt ist, dem die Betreffenden gehorchen müssen, ist eine gängige Vorstellung des NT (s. Röm 2,8; 2. Thess 1,8). Schließlich haben wir noch die »Blutbesprengung Jesu Christi«. Wir dürfen dies nicht absolut wörtlich nehmen und darauf bestehen, dass jemand bei seiner Errettung wirklich mit dem Blut Christi besprengt wird. Es handelt sich hier um einen bildlichen Ausdruck. Er will aussagen, dass man, sobald man dem Evangelium gehorcht, all das empfängt, was uns durch das Vergießen des Blutes Christi auf Golgatha zugutekommt. Das Blut des Heilands wurde ein für alle Mal vor 2000 Jahren vergossen, und es wird nicht noch einmal vergossen werden. Doch wir erhalten Vergebung, Erlösung und all die anderen unzähligen Segnungen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass sein Blut fließt, sobald wir an ihn glauben. Nachdem Petrus die vier Schritte der geistlichen Wiedergeburt seiner Leser nachgezeichnet hat, wünscht er ihnen nun, dass »Gnade und Friede« ihnen »reichlicher zuteil« würden. Sie haben die Gnade Gottes schon bei ihrer Errettung erfahren und dadurch Frieden mit Gott erlangt. Doch jeden Tag brauchen sie »Gnade« oder Kraft, um ein christliches Leben zu führen, und »Frieden« inmitten einer friedlosen Gesellschaft. Das wünscht ihnen der Apostel hier in ganzer Fülle. James Denney sagte, dass »Gnade das erste und letzte Wort des Evangeliums ist; und Frieden – der Zustand vollkommener geistlicher Harmonie – ist das vollendete Werk der Gnade«. B. Seine Stellung als Glaubender (1,3-12)
1,3 In den Versen 3-12 erklärt Petrus die einzigartige Herrlichkeit unserer Errettung. Er beginnt, indem er zum Lobpreis des Urhebers unserer Erlösung aufruft – nämlich des »Gottes und Vaters unseres Herrn Jesus Christus«. Dieser Titel zeigt den Vater in einer zweifachen Beziehung zum Herrn Jesus. Der Name »Gott … unseres Herrn Jesus Christus« betont das Menschsein des Heilands. Der Name »Vater« unterstreicht die Göttlichkeit des Sohnes Gottes. Hier wird der ganze Name des Sohnes verwendet: »Herr« – der Eine, der das ausschließliche Recht besitzt, im Herzen und Leben des Menschen zu regieren. »Jesus« – der Eine, der sein Volk von seinen Sünden erlöst.
»Christus« – Gottes Gesalbter, der zur höchsten Stellung im Himmel erhöht worden ist.
Nur durch Gottes »große Barmherzigkeit« sind wir »zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten« wiedergeboren worden. Gott ist der Ursprung unseres Heils. Seine »große Barmherzigkeit« ist die Ursache. In der Wiedergeburt zeigt sich sein Wesen. Und in der lebendigen Hoffnung finden wir seinen gegenwärtige Lohn. »Die Auferstehung Jesu Christi« ist die gerechte Basis unserer Erlösung und auch die Grundlage unserer »lebendigen Hoffnung«.
Als Sünder hatten wir keine Hoffnung, die über das Grab hinausreichte. Es gab für uns nichts als die Tatsache, dass wir dem sicheren Gericht und dem furchtbaren Zorn entgegengingen. Als Teil der ersten Schöpfung standen wir unter der Todesstrafe. Doch im Erlösungswerk Christi fand Gott die gerechte Grundlage, worauf er gottlose Sünder erretten kann und dennoch gerecht bleibt. Christus hat die Strafe für unsere Sünden bezahlt. Gottes Zorn ist völlig gestillt worden. Die Ansprüche der Gerechtigkeit sind erfüllt worden, und nun kann Barmherzigkeit über die Menschen ausgegossen werden, die dem Evangelium gehorchen. In der Auferstehung Christi zeigte Gott, dass er am Opfertod seines Sohnes völliges Wohlgefallen gefunden hat. Die Auferstehung ist das »Amen« Gottes zum Ruf unseres Herrn: »Es ist vollbracht!« Auch ist die Auferstehung das Unterpfand dafür, dass alle, die in Christus sterben, aus den Toten auferweckt werden. Dies ist unsere »lebendige Hoffnung« – die Erwartung, in den Himmel aufgenommen zu werden, um dort für immer bei Christus und ihm gleich zu sein. F. B. Meyer nennt die »lebendige Hoffnung« das »Bindeglied zwischen unserer Gegenwart und der Zukunft«.
1,4 Die Verse 4 und 5 beschreiben diesen zukünftigen Aspekt des Heils. Wenn wir wiedergeboren werden, haben wir die sichere Hoffnung auf ein »Erbteil … in den Himmeln«. Das »Erbteil« beinhaltet alles, was der Gläubige auf ewig im Himmel genießen wird, und all dies wird uns durch Christus gegeben (Ps 16,5). Das Erbe ist »unvergänglich und unbefleckt und unverwelklich«:
1. »Unvergänglich« bedeutet, dass es niemals dem Verfall unterliegen, zerbrechen oder vergehen kann. Es ist gegen den Tod gesichert.
2. »Unbefleckt« bedeutet, dass das Erbe selbst in vollkommenem Zustand erhalten wird. Keine Trübung, keine Flecken können seine Reinheit beeinträchtigen. Es ist gegen die Sünde gesichert.
3. »Unverwelklich« bedeutet, dass sein Wert niemals abnimmt, auch nicht seine Herrlichkeit oder seine Schönheit. Es ist gegen die Zeit gesichert. Ein irdisches Erbe ist im besten Fall unsicher. Manchmal verliert ein Grundstück schnell an Wert, weil der Markt zusammenbricht. Manchmal werden Testamente erfolgreich von Menschen angefochten, die darin nicht erwähnt wurden. Zuweilen werden Menschen wegen rechtlicher Kleinigkeiten um das Erbe gebracht. Doch dieses göttliche Erbe ist keinen zeitlichen Veränderungen unterworfen, und es gibt keine juristischen Schlupflöcher, die dafür verantwortlich sind, dass der Gläubige sein Anrecht darauf verliert. Es wird für das Kind Gottes im Safe des Himmels aufbewahrt.
1,5 Das Erbe wird nicht nur für die Christen bewahrt, sondern die Gläubigen ihrerseits werden für dieses Erbe bewahrt. In diesem Leben kann ein Erbe sterben, ehe das Erbe verteilt worden ist. Doch dieselbe Gnade, die das himmlische Erbe bewahrt, bewahrt auch uns als Erben, damit wir es einst genießen können. Gottes Erwählung seines Volkes kann niemals vergeblich sein. Diejenigen, die in der ewigen Vergangenheit erwählt wurden, werden nun in der Zeit gerettet und für die Ewigkeit nach aller Zeit bewahrt. Der Gläubige ist in Christus ewig sicher. Aber es gibt nicht nur eine göttliche, sondern auch eine menschliche Seite bei der ewigen Sicherheit. Wir werden »in der Kraft Gottes« bewahrt – das ist die göttliche Seite, doch »durch Glauben« – das ist die menschliche Seite. Das bedeutet nicht, dass jemand nur so lange gerettet ist, wie er glaubt. Der wahre Glaube ist dauerhaft. Errettender Glaube zeichnet sich immer durch Beständigkeit aus. Das Kind Gottes wird von Gott durch »die Kraft Gottes … bewahrt … zur Errettung, die bereit ist, in der letzten Zeit geoffenbart zu werden«. Das bezieht sich auf die zukünftige Erlösung. Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es drei Zeitformen des Heils gibt: 1. Ein Christ wurde von der Strafe der Sünde in dem Augenblick errettet, in dem er sein Leben dem Heiland gab (Eph 2,8).
2. Er wird täglich von der Macht der Sünde errettet, indem er dem Heiland erlaubt, sein Leben in ihm zu führen (Röm 5,10).
3. Er wird von der Gegenwart der Sünde bei der Entrückung errettet werden (Hebr 9,28). Sein Leib wird verwandelt und verherrlicht werden und für immer von Sünde, Krankheit und Tod befreit sein. Diese Zukunftsform der Erlösung umfasst auch die Zeit, wenn die Heiligen mit Christus auf die Erde zurückkehren werden. Dann wird überall deutlich sein, dass sie Kinder Gottes sind (1. Joh 3,2).
1,6 Wegen dieser Hoffnung auf die Erlösung des Leibes und auf ein herrliches Erbe können Gläubige auch inmitten von »Versuchungen … frohlocken«. Die Christen, an die Petrus schrieb, litten wegen ihres Christuszeugnisses unter Verfolgung. Petrus erinnert sie an eines der schönsten Paradoxa des Christentums – Freude inmitten des Leids. Einerseits können sie wegen der Aussicht auf ein bewahrtes Erbe für ein bewahrtes Volk »frohl ocken«. Andererseits können sie Freude in dem Wissen finden, dass die »mancherlei Versuchungen« nur kurz dauern, während die Herrlichkeit ewig Bestand  haben  wird  (vgl.  2. Kor  4,17). Einst  kommentierte  J. H.  Jowett  die Freude inmitten von Leid, das durch ungezählte Versuchungen verursacht wird. Damals schrieb er: »Ich hätte nie erwartet, in einem solch öden Land einen derart reichlich sprudelnden Brunnen zu finden.«
1,7 Ein weiterer Trost für die leidenden Heiligen liegt in dem Wissen, dass ihr Leid weder zwecklos noch fruchtlos ist. Die Leiden der Gottlosen sind nur ein Vorgeschmack der Schmerzen der Hölle, die sie dann für immer ertragen müssen. Das gilt jedoch nicht für den Christen. Wenn ein Gotteskind in diesem Leben leidet, besteht eine der vielen heilsamen Absichten darin, die Echtheit seines »Glaubens« zu »erproben«. Petrus vergleicht unseren Glauben mit »Gold«. Von allen Substanzen, die der Mensch kennt, ist Gold diejenige, die am wenigsten vergänglich ist. Es kann großer Hitze ausgesetzt werden und scheint unzerstörbar zu sein. Doch die Wahrheit besteht darin, dass Gold dennoch »vergänglich« ist, wenn der entsprechende Gegenstand lange genug benutzt und einem gewissen Druck oder dem Feuer ausgesetzt worden ist. Wahrer »Glaube« ist unvergänglich. Der Gläubige mag schlimmen Erprobungen und Prüfungen ausgesetzt sein, doch statt seinen Glauben zu zerstören, werden sie zu Glaubensanstößen, aus denen der Betreffende gestärkt hervorgeht. Hiob hat an einem Tag wohl schlimmere Verluste erlitten als viele andere Menschen in der Geschichte dieser Welt, und doch war er in der Lage zu sagen: »Siehe, er wird mich töten, ich will auf ihn warten« (Hiob 13,15). Die drei Männer im babylonischen Feuerofen erlebten im wörtlichen Sinne, was es heißt, »durch Feuer erprobt« zu werden. Das Feuer hat ihren Glauben als echt erwiesen. Auch hat es die Fesseln verbrannt und sie befreit (Dan 3,12-30). Und während ihrer Feuerprobe im wahrsten Sinne des Wortes hatten sie Gemeinschaft mit einem, dessen Aussehen »dem eines Göttersohnes« glich. Die Echtheit des »Glaubens« kann nur »durch Feuer« erwiesen werden. Wenn die Bedingungen günstig sind, dann mag es einfach sein, ein Christ zu sein. Doch wenn das öffentliche Bekenntnis zu Christus Verfolgung und Leid mit sich bringt, dann werden sich die Namenschristen vom Glauben abkehren und sich in der Menge verlieren. Eine Glaubensrichtung, die uns nichts kostet, ist auch nichts wert. Ein Glaube, der sich weigert, die Kosten zu tragen, ist unecht. Es handelt sich dabei um ein Lippenbekenntnis, das Jakobus verurteilt. Wahrer »Glaube« führt zu »Lob und Herrlichkeit und Ehre«, wenn »Jesus Christus« offenbart werden wird. Dies bedeutet einfach, dass Gott jeden Glauben belohnen wird, der sich in der Prüfung bewährt hat. Er wird diejenigen loben, die sich trotz Anfechtung freuen. »Ehre und Herrlichkeit« wird er denjenigen Gläubigen zueignen, die versucht wurden und litten, aber die ihre Drangsale als Zeichen dafür annahmen, dass Gott ihr Vertrauen erproben wollte. Dies wird dann offenbar werden, wenn Jesus Christus auf die Erde kommt, um als König der Könige und Herr der Herren zu regieren, und all diejenigen, die die Welt verworfen hat, als wahre Söhne Gottes erwiesen werden. Wenn wir in der Schrift forschen, dann erfahren wir, dass der Lohn am Richterstuhl Christi, nach der Entrückung im Himmel vergeben werden wird. Doch öffentlich wird sich dieser Lohn erst zeigen, wenn Christus zum zweiten Mal auf die Erde kommt.
1,8 Petrus erörtert nun unser gegenwärtiges Heil, an dem wir uns erfreuen – an Christus, den wir im Glauben angenommen haben. Obwohl wir ihn nie mit unseren Augen »gesehen« haben, »lieben« wir ihn doch.2 »Obgleich« wir »ihn jetzt nicht« sehen, glauben wir trotzdem an ihn. So wird uns die Glückseligkeit geschenkt, die der Herr Jesus gegenüber Thomas erwähnt: »Glückselig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!« (Joh 20,29).
William Lincoln schreibt: Die Menschen reden von Liebe, doch das echte Anzeichen der Liebe zu Gott und Christus ist es, wenn sie in der Versuchung sagt: »Ich will, dass Gott mir weiterhin wohlwollend und freundlich zugewandt bleibt, Deshalb möchte ich lieber leiden, als ihn zu betrüben«. Die Liebe begnügt sich mit Brotkrumen und damit, dass sich Gottes freundliches Angesicht über uns erhebt. Sie verzichtet darauf, eine bessere Position und Beliebtheit in der Welt ohne diese freundliche Angesicht zu erlangen. Solche Prüfungen müssen über alle wahren Kinder Gottes kommen, denn sie trennen die Spreu vom Weizen. Das Gold kommt geprüft aus dem Feuer und ist von seinen Verunreinigungen befreit.3 Wenn wir an Jesus glauben, freuen wir uns »mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude«. Durch den Glauben mit ihm verbunden zu sein, bedeutet, dass wir ununterbrochenen und ewigen Kontakt mit der Quelle aller reinen »Freude« haben. Die Freude des Christen hängt nicht von irdischen Umständen ab, sondern vom auferstandenen, erhöhten Christus zur Rechten Gottes. Es ist genauso schwer, einen Heiligen seiner Freude zu berauben, wie Christus von seinem Ehrenplatz zu stürzen. Die beiden gehören zusammen.
1,9 Als Nächstes behandelt Petrus die gegenwärtigen Ergebnisse des Glaubens – die »Errettung« der Seele. Die Errettung des Leibes liegt noch in der Zukunft. Sie wird stattfinden, wenn Christus für seine Heiligen kommt. Doch sobald wir Christus im Glauben vertrauen, erhalten wir die »Errettung der Seelen«. Das Wort bezieht sich hier auf den immateriellen Teil des Menschen, auf sein Wesen, das stofflich nicht fassbar ist. Es geht um die Seele, die bei Eintritt des Todes vom Leib getrennt wird. In diesem Abschnitt gehört dazu auch der Geist, wodurch wir Verbindung zu Gott haben. Die Seele wird bei der Wiedergeburt errettet.
1,10 »Diese Errettung« war das Thema vieler alttestamentlicher »Propheten«. Als diejenigen, die in Gottes Namen redeten, prophezeiten sie die unverdiente Güte, die wir empfangen sollten. Doch sie verstanden nicht ganz, was sie schrieben (s. Dan 12,8).
1,11 Ganz offensichtlich verstanden sie Folgendes nicht: 1. Die Identität der Person, die als Messias kommen würde. 2. Die »Zeit« seines Kommens. Sie wurden vom Geist Gottes inspiriert, um »die Leiden« des Messias und »die Herrlichkeiten danach« vorherzusagen. Doch sie verstanden nicht, dass diese beiden Vorgänge mindestens 2000 Jahre auseinanderliegen würden. Wie man es oft darg estellt hat, sahen sie zwei Bergspitzen: 1. Golgatha, wo Jesus gelitten hat, und 2. den Ölberg, auf dem er in Herrlichkeit wiederkehren wird. Doch sie konnten nicht das Tal dazwischen sehen. Ihnen blieb das gegenwärtige Zeitalter der Gnade, worin wir uns befinden, verborgen.
1,12 »Ihnen« offenbarte der Geist Gottes, dass sie Generationen dienten, die noch nicht geboren waren. Während die prophetischen Worte auch für ihre eigene Generation eine Bedeutung hatten, waren sie sich bewusst, dass sich die Gesamtbedeutung nicht in den Ereignissen ihrer Tage erschöpfte.
Diese Feststellung wirft natürlich neue Fragen auf: Kannten etwa die Propheten des AT die Wahrheit der Rechtfertigung aus Glauben nicht? Welchen Aspekt hinsichtlich unserer Errettung verstanden sie nicht? In welchem Sinne haben sie eher uns als »sich selbst« gedient? William Lincoln sagt:
Die Fülle der Gnade Gottes konnte erst erscheinen, als Christus gekommen war. Gott konnte Sünder erretten und sie in den Himmel aufnehmen. Er tat es auch, wie etwa im Falle von Henoch. Doch die Einheit mit Christus und alles, was diese Einheit beinhaltet, konnten Menschen erst erfahren, nachdem Christus gestorben und wiederauferstanden war. Wie sehr gefällt es Gott doch, seinen Sohn mit Ehre zu überhäufen!4 Was den Propheten noch verhüllt war, wurde nun geklärt. Der Heilige Geist kam zu Pfingsten vom Himmel hera b. Er bevollmächtigte die Apostel, die Gute Nachricht zu predigen, dass Jesus von Nazareth der vorhergesagte Messias war. Er war für die Sünden der Menschen gestorben, war begraben und am dritten Tag auferweckt worden. Die Apostel verkündeten, dass die Erlösung uns als Geschenk durch den Glauben an Christus ang eboten wird. Sie erklärten, dass es Gottes Absicht ist, sich in diesem Zeita lter aus den Nationen ein Volk für seinen Namen zu sammeln, und dass der Herr Jesus eines Tages auf die Erde wiederkehren wird, um das Zepter der allumfassenden Herrschaft zu ergreifen. Die großen Vorrechte der Gläubigen dieses Zeitalters sieht man nicht nur daran, dass sie all das klar verstehen, was den Propheten verborgen blieb, sondern auch in der Tatsache, dass »Engel« in diese Wahrheiten der Erlösung »hineinzuschauen begehren«. »Engel« haben sowohl im NT als auch im AT große Bedeutung. Sie werden im Zusammenhang mit der Geburt Christi, bei seiner Versuchung, seinem Kampf in Gethsemane und bei seiner Auferstehung erwähnt. Aber soweit wir wissen, gibt es für gefallene Engel keine Erlösung. Christus kam nicht, um für Engel zu sterben, sondern für die Nachkommen Abrahams (Hebr 2,16). Die Gemeinde ist für die Engel eine anschauliche Lektion, die die große Weisheit Gottes darstellt (Eph 3,10). Doch sie kennen nicht die Freude, die unsere Errettung mit sich bringt.
C. Das Verhalten des Gläubigen im Lichte seiner Stellung (1,13-2,3)
1,13 Von hier an finden wir einen anderen Schwerpunkt in den Ausführungen. Petrus hat die Herrlichkeit unserer Erlösung beschrieben. An diesem Punkt beginnt er mit einer Folge von Ermahnungen, die auf dem Vorhergehenden beruhen. Jowett sagt: »Die Ermahnungen hier basieren auf dem Evangelium, das er in der Einleitung beschrieben hat … Durch die überragenden Tatsachen werden geistliche Impulse gegeben. Die Triebkraft für den Dienst hat ihren Ursprung im Kern des Evangeliums.«5
Zunächst ermahnt Petrus die Heiligen, eine umgürtete »Gesinnung« zu haben. Das Umgürten der »Gesinnung« ist ein interessantes Bild. Im Orient trugen Menschen lange, wallende Gewänder. Wenn sie schnell gehen oder möglichst nicht behindert werden wollten, dann gürteten sie ihr Gewand mit einem Gürtel um die Taille (s. 2. Mose 12,11). Auf diese Weise gürteten sie ihre Lenden. Doch was bedeutet es, wenn Petrus sagt: »Umgürtet die Lenden eurer Gesinnung«? Wenn die Heiligen in eine feindliche Welt hinausgingen, sollten sie Furcht und Verwirrung meiden. In Verfolgungszeiten gibt es immer die Tendenz, sich erschüttern und verwirren zu lassen. Eine umgürtete Gesinnung zeichnet sich dadurch aus, dass der Betreffende stark, gelassen, beherrscht, besonnen und handlungsbereit ist. Sie lässt sich nicht von menschlicher Angst vor Verfolgung ablenken. Dieser Zustand einer festen Gesinnung wird noch weiter ermutigt durch die Worte »seid nüchtern«. Damit ist Selbstbeherrschung statt Hysterie gemeint. Ein »nüchtern« Gesinnter ist gefestigt und ruhig.
Als Nächstes werden die Heiligen ermahnt, hoffnungs- und erwartungsvoll zu sein: »Hofft völlig auf die Gnade, die euch gebracht wird bei der Offenbarung Jesu Christi.« Die Bekräftigung der Wiederkehr Christi wird hier als zwingendes Motiv dafür dargestellt, dass man in den Stürmen und Versuchungen des Lebens ausharren soll. Unter der »Offenbarung Jesu Christi« wird allgemein seine Wiederkunft auf die Erde verstanden, wenn er in Herrlichkeit offenbart wird. Doch es könnte sich auch auf die Entrückung beziehen, wenn Christus für seine Heiligen wiederkommt.
1,14 In den Versen 14 bis 16 ist das Thema die gehorsame Gesinnung. »Kinder des Gehorsams« sollten sich nicht den Sünden hingeben, die für sie in ihrem früheren Leben typisch waren. Jetzt, da sie Christen sind, sollten sie ihr Leben entsprechend dem Einen gestalten, dessen Namen sie tragen. Wenn sie sich der gottlosen Welt anpassen, dann leugnen sie ihre himmlische Herkunft. Was sie in den Tagen ihrer »früheren Unwissenheit« getan haben, sollte nun, da sie vom Heiligen Geist erleuchtet sind, hinweggetan werden. Mit »Begierden« sind die Sünden gemeint, die sie begingen, als sie Gott noch nicht kannten.
1,15 Statt die gottlose Welt mit ihren Moden und Maschen nachzuahmen, sollte in unserem Leben die heilige Wesensart dessen wiederzufinden sein, der uns berufen hat. Gottesfürchtig zu sein, heißt, Gott ähnlich zu sein. Gott ist auf jede Weise heilig. Wenn wir ihm ähnlich werden sollen, dann müssen wir in allem, was wir tun oder sagen, heilig sein. In diesem Leben werden wir niemals so heilig werden, wie er es ist, doch wir sollten »heilig« sein, weil er heilig ist.
1,16 Petrus bezieht sich auf das AT, um zu beweisen, dass Gott von seinem Volk eine ihm ähnliche Haltung erwartet. In 3. Mose 11,44 sagt der Herr: »Seid heilig, denn ich bin heilig.« Christen bekommen durch den Geist, der in ihnen wohnt, die Kraft zu einem geheiligten Leben. Die Heiligen des AT hatten diese Hilfe und Segnung noch nicht. Doch weil wir mehr Vorrechte genießen, tragen wir auch eine höhere Verantwortung. Der Vers, den Petrus aus 3. Mose zitiert, erhält im NT eine ganz neue Bedeutungstiefe. Es geht hier um den Unterschied zwischen dem Äußeren und dem Inneren. Heiligkeit war im AT Gottes Ideal. Es wurde zu einer konkreten, alltäglichen Eigenschaft, als der Geist der Wahrheit kam.
1,17 Wir werden nicht nur zur Heiligung ermahnt, sondern auch dazu, ehrerbietig gegenüber Gott zu sein. Dies bedeutet, eine von Ehrerbietung geprägte »Furcht« Gottes und ein tiefes Verständnis dafür zu haben, wer Gott ist. Damit ist besonders die Erkenntnis gemeint, dass der Eine, den wir als »Vater« ansprechen, derselbe ist, der seine Kinder ohne Voreingenommenheit »nach« ihren Werken »richtet«. Wenn wir das Ausmaß seines Wissens und die Korrektheit seiner Richtersprüche erkennen, dann sollten wir mit einer gesunden Furcht davor leben, ihm zu missfallen. Der »Vater … richtet« die Seinen in diesem Leben, das Gericht über die Sünder dagegen hat er dem Herrn Jesus übertragen (Joh 5,22). Lincoln schreibt: »Er sieht uns zu, bemerkt alles. Es geht darum, ob wir reine Motive, einen verständigen Geist und ein Herzensverlangen haben, ihm zu gefallen.«6
Wir sollen die »Zeit« unserer »Fremdlingschaft« hier auf Erden »in Furcht« wandeln. Christen sind auf dieser Welt nicht zu Hause. Wir leben in einem fremden Land, gewissermaßen im Exil. Unsere Heimat ist und bleibt der Himmel. Wir sollten uns hier nicht niederlassen, als ob dies unser ständiger Aufenthaltsort wäre. Auch sollten wir nicht das Verhalten der auf Erden beheimateten Menschen nachahmen. Wir sollten uns immer an unsere himmlische Bestimmung erinnern und uns als Bürger des Himmels verhalten.
1,18 Vor ihrer Bekehrung unterschieden sich Gläubige nicht vom Rest der Welt. Ihr Reden und ihr Wandel waren so inhaltslos und so nichtig, wie dies bei allen Menschen um sie her der Fall war. Die Zeit, als sie noch unbekehrt waren, wird hier beschrieben als »eitler, von den Vätern überlieferter Wandel«. Doch dann sind sie durch einen großen Loskauf von diesem sinnlosen Dasein befreit worden. Sie sind von der Sklaverei der Weltförmigkeit durch eine unendlich große Lösegeldsumme erkauft worden. Sind diese Gefangenen etwa mit »Silber und Gold« erkauft worden (vgl. 2. Mose 30,15)?
1,19 Nein, sondern »mit dem kostbaren Blut Christi« – wie das Blut eines vollkommenen, makellosen »Lammes«. Christus ist ein »Lamm ohne Fehler oder Flecken«, d. h. er ist in jeder Beziehung vollkommen, äußerlich und innerlich. Wenn ein Gläubiger je versucht sein sollte, sich wieder weltlichen Gelüsten, Genüssen und Vergnügungen zuzuwenden, weltliche Gewohnheiten und Verhaltensweisen erneut anzunehmen und sich der Welt in ihrem falschen Lebensstil anzupassen, dann sollte er sich daran eri nnern, dass Christus sein »Blut« vergossen hat, um ihn von dieser Art der Lebensführung zu befreien. Wenn wir in die Welt zurückkehren wollen, dann gehen wir zurück über die große Kluft. Die Brücke über diese Kluft hat Jesus teuer erkauft. Ja, noch schlimmer – es wäre ausgesprochene Untreue gegenüber dem Heiland.
»Wir sollten von der Größe des Opfers auf die Größe der Sünde zurückschließen. Dann sollten wir uns entschließen, nichts mehr mit dem zu tun haben zu wollen, das das Leben des Sohnes Gottes gekostet hat.«
1,20 Das Werk Christi war keine spätere Verlegenheitslösung Gottes. Der Erlöser war schon »vor Grundlegung der Welt« dazu bestimmt, für uns zu sterben.  »Aber  am  Ende  der  Zeiten«,  d. h. am Ende des Gesetzeszeitalters, kam er vom Himmel, um uns von unserem früheren Lebenswandel zu erretten. Lincoln kommentiert: »In diesen letzten Zeiten – wurde am Kreuz Christi im Grunde die Geschichte moralischer Erneuerungsversuche durch die Welt beendet. Sie hat sich selbst vollständig geoffenbart und wurde vor Gott beendet.«7 Petrus fügt diese Überlegungen hier hinzu, um uns noch eindrücklicher davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, sich eindeutig von der Ordnung dieser Welt zu trennen, von der Christus uns mit seinem Tod erlöst hat. Wir dürfen uns zwar nicht von den gottfernen Menschen isolieren, sondern müssen ihnen das Evangelium bringen. Doch in all unserem Handeln und unserer Beziehung zu ihnen dürfen wir niemals ihre Sünden teilen oder gutheißen. Wir sollen durch unser Leben zeigen, dass wir Kinder Gottes sind. In dem Augenblick, in dem wir weltförmig werden, wird unser Zeugnis geschwächt. Es gibt keinen Anreiz für Außenstehende, sich zu bekehren, wenn sie keinen Unterschied wahrnehmen und nicht sehen, wie sich unser Leben zum Guten hin verändert hat.
1,21 Treue gegenüber dem Herrn Jesus wird weiter durch die Tatsache verlangt, dass wir »durch ihn« zum Glauben »an Gott« gekommen sind. Er ist der Eine, der uns das Herz des Vaters geoffenbart hat. W. T. P. Wolston sagt dazu »Nicht durch die Schöpfung oder die Vors ehung noch durch das Gesetz erkennt der Mensch Gott, sondern durch Christus.«8 Der Vater zeigte seine völlige Zufriedenheit mit dem Erlösungswerk Christi, indem er ihn »aus den Toten auferweckt« und ihm die höchste Ehrenstellung im Himmel gegeben hat. Das Ergebnis all dessen ist, dass unser »Glaube und« unsere »Hoffnung auf Gott gerichtet« sind. Wir glauben und leben in ihm, nicht in der gegenwärtigen bösen Weltordnung.
1,22 Nun ermahnt der Apostel Petrus seine Leser, Liebe zu üben (1,22-2,3). Zunächst beschreibt er die Wiederg eburt und weist darauf hin, dass eine der Veränderungen, die sie mit sich bringt, die »Bruderliebe« ist (1,22a). Als Nächstes betont er die Verpflichtung zur Liebe (1,22b). Und erneut kehrt er zur Wiedergeburt zurück. Dabei verwendet er vor allem das Bild von der Saat, woraus das neue Leben gewachsen ist – dem Wort Gottes tät wie der Same, aus dem es entsprang: Es hat nur zeitweiligen Charakter. Die Wiedergeburt wird »durch das lebendige und bleibende Wort Gottes« hervorgebracht. Wenn Menschen die Bibel lesen oder zuhören, wenn sie vorgelesen wird, werden sie von ihren Sünden überführt. Sie lassen sich davon überzeugen, dass Christus der einzige und hinreichende Erretter ist, und bekehren sich zu Gott. Niemand wird je errettet, ohne dass das unvergängliche Wort Gottes daran Anteil hat.
Samuel Ridout sagt in der Numerical Bible:
Im ersten Kapitel finden wir drei unvergängliche Dinge – ein unvergängliches Erbe (V. 4), eine unvergängliche Erlösung (V. 18.19) und ein unvergängliches Wort, wodurch wir wiedergeboren werden (V. 23). So haben wir eine fehlerlose Wesensart, womit wir passend gemacht worden sind, ein fehlerloses Erbe zu genießen. Dies geschieht auf der Grundlage einer Erlösung, die niemals ihren Wert verlieren kann. Der Stempel der ewigen Vollkommenheit prangt auf all diesen geistlichen Gegebenheiten. Wie gut passt dies zu dem »unvergänglichen« Schmuck eines demütigen und ruhigen Geistes (Kap. 3,4).10
Das Wort ist »lebendig und bleibend«.11 Obwohl Himmel und Erde vergehen, wird es nie vergehen. Es wird im Himmel für immer bewahrt. Und auch das Leben, das es hervorbringt, ist ewig. Diejenigen, die durch das Wort wiedergeboren werden, nehmen den Ewigkeitscharakter des Wortes an. Bei der menschlichen Geburt enthält der Same, der das Kind hervorbringt, alle Eigenschaften des Kindes. Wie das Kind einmal werden wird, ist durch den Samen bereits festgelegt. Hinsichtlich unserer Betrachtung reicht es aus, an dieser Stelle zu erkennen, dass der Same und demzufolge auch das daraus entstehende Leben vergänglich ist.
1,24 Die Vergänglichkeit der menschlichen Natur wird nun durch ein Zitat aus Jesaja 40,6.7 untermauert. Das menschliche Leben ist so unbeständig »wie Gras«. Leibliche Schönheit ist so kurzlebig wie die Blumen des Feldes. »Das Gras verdorrt«, und die Blüten verwelken und fallen ab.
1,25 Im Gegensatz dazu »bleibt … das Wort des Herrn … in Ewigkeit« (Jes 40,8). Deshalb ist das neue Leben des Gläubigen ebenso unvergänglich. Dieses unvergängliche Wort ist die Botschaft des Evangeliums, das den Lesern des Briefes »verkündigt worden ist«. Aufgrund dessen sind sie wiedergeboren worden. In ihm ist der Ursprung ihres ewigen Lebens zu finden.
2,1 Weil sie Anteil am Leben aus Gott haben, sollten Christen alle lieblosen Handlungen ablegen:
»Bosheit« – das Hegen böser Gedanken gegen einen anderen Menschen. »Bosheit« fördert Gegensätze, baut Groll auf und hofft im Geheimen, dass Rache, Unglück oder Tragödien den anderen heimsuchen werden. George Washington Carver wurde aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe die Zulassung an einer Universität verweigert. Jahre später fragte ihn jemand nach dem Namen dieser Universität, und er antwortete: »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Das zählt heute nicht mehr.« Er hat deswegen keine Bosheit in sich aufkommen lassen. »Trug« – jede Form von Unehrlichkeit und Betrügerei (und in wie vielen Formen tritt diese Sünde auf!). Der Betreffende macht falsche Angaben bei der Steuererklärung, betrügt bei Examensarbeiten, lügt bezüglich des eigenen Alters, besticht Behörden und macht dunkle Geschäfte.
»Heuchelei« – Unehrlichkeit, Vortäuschen falscher Tatsachen, Scharlatanerie. Der Heuchler ist ein Schauspieler, der vorgibt, jemand zu sein, der er nicht ist. Er gibt vor, glücklich verheiratet zu sein, obwohl seine Familie eigentlich ein tägliches Schlachtfeld ist. Er gibt an Sonntagen vor, geistlich zu sein, doch während der Woche ist er geradezu ein geiler Bock. Er gibt vor, an anderen Menschen interessiert zu sein, doch seine Motive entspringen der Selbstsucht.
»Neid« – der sich schließlich in offener Eifersucht zeigt. Vine definiert den Neid als Zustand, worin sich die Unzufriedenheit regt. Er entsteht, wenn man sieht oder hört, dass es anderen besser geht oder sie einen Vorteil haben. Es war »Neid«, der die Hohenpriester dazu brachte, Jesus an Pilatus auszuliefern, damit dieser ihn zum Tode verurteilte (Matth 27,18). »Neid« ist noch immer ein Mörder. So manche Frauen durchbohren ihresgleichen mit Blicken, wenn sie sehen, dass diese ein besseres Haus, einen schöneren Garten oder elegantere Kleidung haben bzw. besser kochen können. Ein Mann mag das neue Auto oder die Segeljacht seines Nachbarn bewundern, doch innerlich denkt er: »Ich werde es dir schon noch zeigen. Ich werde mir ein besseres Modell anschaffen.« »Üble Nachrede« – Verleumdung, böser Klatsch, gegenseitige Beschuldigung. Über andere schlecht zu reden, ist der Versuch, selbst rein dazustehen, indem man andere anschwärzt. Das kann sehr subtile Formen annehmen wie etwa: »Ja, sie ist wirklich liebenswürdig, doch sie hat den einen Fehler …« und dann wird ihr der Dolch in den Rücken gestoßen. Oder man kann es sogar fromm verbrämen: »Ich sage dir dies nur als Gebetsanliegen, aber wusstest du schon, dass er …« und dann wird sein Ruf ruiniert. All diese Sünden sind Verletzungen des grundlegenden Gebots, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Es verwundert nicht, dass Petrus uns auffordert, diese Untugenden aufzugeben.
2,2 Eine zweite Verpflichtung, die sich aus unserer Wiedergeburt ergibt, besteht darin, dass man ein von Herzen kommendes Verlangen nach der reinen, geistlichen »Milch« des Wortes Gottes entwickeln sollte. Die Sünden, die in dem vorigen Vers genannt werden, verhindern geistliches Wachstum, das gute Wort Gottes fördert es dagegen.
Der Ausdruck »wie neugeborene Kinder« bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Leser des Petrus Neubekehrte waren, sie können schon mehrere Jahre errettet gewesen sein. Doch ob jung oder alt im Glauben, sie sollten ein solches Verlangen nach dem Wort Gottes verspüren, wie es bei kleinen Kinder deutlich wird, die nach der Milch schreien. Wir bekommen eine Vorstellung vom Durst eines gesunden Säuglings, wenn wir sehen, wie ungeduldig, energisch und entschlossen sie sind, bis sie endlich saugen und schlucken können.
Durch die »unverfälschte« Milch des Wortes wächst der Gläubige geistlich.12 Alles geistliche Wachstum in diesem Leben zielt allein darauf ab, dem Bild unseres Herrn Jesus Christus immer ähnlicher zu werden.
2,3 »Wenn ihr wirklich geschmeckt habt, dass der Herr gütig ist.« Welch ein Drang nach der vernünftigen, unverfälschten Milch! Mit der Konjunktion »wenn« wird kein Zweifel zum Ausdruck gebracht, denn wir haben wirklich geschmeckt und gesehen, dass der Herr gut ist (Ps 34,9). Sein Opfer für uns war eine Tat von unaussprechlicher Güte und Freundlichkeit (Titus 3,4). Was wir schon von seiner Güte geschmeckt haben, sollte uns nach mehr verlangen lassen, damit wir uns immer mehr von ihm nähren. Wir sollten uns davor fürchten, uns von ihm zu entfernen, da wir doch die Kostbarkeit seiner Nähe kennen!
D. Die Vorrechte des Gläubigen im neuen Haus und im neuen Priestertum (2,4-10)
2,4 Nun geht Petrus von der Ermahnung zu einer Betrachtung der Vorrechte des Gläubigen in dem neuen Haus (der Gemeinde) und im neuen Priestertum über. Nach der neuen Ordnung ist Christus das Zentrum, deshalb kommen wir »zu ihm«. Weil Petrus das Bild eines Gebäudes und des Baumaterials benutzt, erstaunt es uns nicht, den Herrn in der bildlichen Darstellung als »Stein« zu sehen. Zunächst einmal ist er der »lebendige Stein« – kein lebloser oder toter Stein, sondern der Eine, der in der Kraft eines unauflöslichen Lebens lebt (Hebr 7,16). So unglaublich es auch erscheinen mag, es trifft zu: Er ist »von Menschen … verworfen« worden. In ihren törichten, selbstsüchtigen und zum Scheitern verurteilten Plänen für ihr Leben können die kurzsichtigen, unbedeutenden Menschen keinen Platz für ihren Schöpfer und Erlöser finden. So wie in der Herberge kein Platz für ihn war, so haben sie für ihn in ihrem Leben ebenfalls keinen Platz! Doch die Meinung der Menschen zählt nicht. In Gottes Augen ist der Herr Jesus »auserwählt« und »kostbar«. Er ist nicht nur als der geeignete, sondern auch als der unverzichtbare Stein auserwählt. Und sein Wert für »Gott« ist unermesslich, er lässt sich nicht in Zahlen fassen, weil dieser Stein »kostbar« ist. Wenn wir als Steine in Gottes Bauplan Verwendung finden wollen, dann müssen wir zu Christus kommen. Unsere einzige Eignung als Baumaterial leitet sich aus der Tatsache ab, dass wir mit ihm eins gemacht worden sind. Wir sind nur wichtig, wenn wir zu seiner Ehre beitragen.
2,5 Das »geistliche Haus« setzt sich aus allen Gläubigen in Christus zusammen und ist deshalb mit der Gemeinde identisch. Die Gemeinde ist insofern dem Tempel des AT gleich, als dass sie die Wohnstätte Gottes auf Erden ist (1. Kön 6,11-13; Eph 2,22). Doch sie unterscheidet sich vom Tempel dahin gehend, als der Tempel ein mit den natürlichen Sinnen wahrnehmbares Gebäude im wörtlichen Sinne ist. Er besteht aus schönen, aber letztlich leblosen, vergänglichen Materialien. Dagegen ist die Gemeinde ein geistlicher Bau, der aus »lebendigen Steinen« besteht.
Nun wandelt sich das Bild langsam vom »geistlichen Haus« zum »heiligen Priestertum«. Die Gläubigen sind nicht nur »lebendige« Bausteine des Hauses, sondern auch »heilige« Priester. Im Rahmen des mosaischen Gesetzes war die Priesterschaft auf den Stamm Levi und die Familie Aarons beschränkt. Und auch diejenigen, die Priester waren, durften sich Gott nicht nahen. Dies durfte nur der Hohepriester an einem Tag des Jahres tun (am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag). Dabei musste er genau einem vorgegebenen Ritual folgen, das der Herr dafür angeordnet hatte.
In der neuen Haushaltung sind alle Gläubigen Priester und haben Tag und Nacht ständigen Zugang zum Thronsaal des Universums. Ihre Aufgabe ist es, »geistliche Schlachtopfer darzubringen« (im Gegensatz zu den Opfern des mosaischen Gesetzes, bei denen Großund Kleinvieh, Vögel oder Speisen dargebracht wurden). Die geistlichen Opfer des neutestamentlichen Priesters sind: 1. Die Gabe des Leibes als lebendiges Opfer, das heilig und Gott wohlgefällig ist. Dies ist eine Form geistlicher Anbetung (Röm 12,1).
2. Das Opfer des Lobes. »Das ist: Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen« (Hebr 13,15).
3. Das Opfer guter Werke. »Das Wohltun … aber vergesst nicht …« Ein solches Opfer gefällt Gott (Hebr 13,16). 4. Das Opfer des Besitzes, bei dem vor allem finanzielle Freigebigkeit gefragt ist. »Vergesst nicht … mitzuteilen.« Auch dieses Opfer gefällt dem Herrn (Hebr 13,16).
5. Das Opfer des Dienstes. Paulus bezeichnet seinen Dienst an den Heiden als ein priesterliches Opfer (Röm 15,16).
Diese Opfer sind »Gott wohlannehmbar durch Jesus Christus«. Nur »durch Jesus Christus«, unseren Mittler, können wir uns Gott nahen, und nur er kann unsere Opfer vor Gott angenehm machen. All unser Tun – unsere Anbetung und unser Dienst – ist unvollkommen und von der Sünde beschmutzt. Doch ehe es den Vater erreicht, gelangt es vor den Herrn Jesus. Er nimmt all die Sünde weg. Wenn es dann Gott erreicht, ist es vollkommen annehmbar.
Der Hohepriester des AT trug ein goldenes Stirnblatt an seiner Kopfbedeckung, worauf Folgendes stand: »Heiligkeit  dem  Herrn!«  (2. Mose  28,36).  Diese Inschrift galt für jede Sünde, die bei den Opfern des Volkes zur Sprache kam (2. Mose 28,38). Deshalb trägt unser Hoherpriester eine ähnliche Kopfbedeckung im geistlichen Sinne, und zwar für die menschlichen Fehler, die unseren Opfern anhaften mögen.
Das Priestertum aller Gläubigen ist eine Wahrheit, die jeder Christ vers tehen, glauben und voller Freude praktizieren sollte. Gleichzeitig darf man damit keinen Missbrauch treiben. Obwohl alle Gläubigen Priester sind, hat nicht jeder Priester das Recht, in der Gemeinde zu lehren oder zu predigen. Es gibt bestimmte Punkte, die zu beachten sind. 1. Frauen dürfen nicht lehren oder Autorität über Männer ausüben, sie sollen still sein (1. Tim 2,12). 2. Wenn Männer sprechen, so sollten dies die »Aussprüche Gottes« sein (1. Petr  4,11).  Entsprechend  der  Bedeutung dieses Petruswortes sollten sie ganz genau wissen, dass sie die Worte aussprechen, die Gott in dieser Situation durch sie weitergeben möchte.
3. Jeder Gläubige hat eine Gabe, so wie jedes Glied des Leibes eine Aufgabe hat (Röm 12,6; 1. Kor 12,7). Doch nicht zu allen Gaben gehört das öffentliche Reden. Nicht alle haben die besonderen Dienstgaben eines Evangelisten, Hirten oder Lehrers (Eph 4,11). 4. Ein junger Mann sollte die Gabe in sich anfachen,  die  in  ihm  ist  (2. Tim  1,6). Wenn zu dieser Gabe die Predigt, das Lehren oder eine andere Form der öffentlichen Rede gehört, dann sollte man ihm die Gelegenheit geben, sie in der Gemeinde anzuwenden. 5. Wie das Priestertum der Gläubigen in der Praxis aussieht, erkennt man in 1. Korinther 14,26: »Was ist nun, Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, so hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprachenrede, hat eine Offenbarung, hat eine Auslegung; alles geschehe zur Erbauung.«
In demselben Kapitel finden sich viele Kriterien, anhand derer man die öffentliche Ausübung der Gaben in einer Gemeinde prüfen muss. Damit sollen Ordnung und Erbauung gewährleistet werden. Das allgemeine Priestertum der Gläubigen darf nicht benutzt werden, um Missbräuche in den Ortsgemeinden zu rechtfertigen.
2,6 Petrus denkt noch immer an das Gebäude und wendet sich nun Christus als dem Felsen zu, und zwar insbesondere Christus als dem »Eckstein«. Indem er aus Jesaja 28,16 zitiert, zeigt er, dass Christi Rolle als »Eckstein« in der Schrift vorausgesagt worden ist. Er weist darauf hin, was Gott bestimmt hat: Christus soll diese einzigartige Stellung einnehmen. Er ist ein »auserwählter« sowie »kostbarer« Stein und absolut zuverlässig. Niemand, der ihm vertraut, wird je enttäuscht werden.
Das Wort, das mit »Eckstein«13 übersetzt wird, kann man auf mindestens dreierlei Weise verstehen, und jede beschreibt den Herrn Jesus gleichermaßen richtig.
1. Ein »Eckstein« wird in der modernen Architektur als Grundstein an einer Ecke des Gebäudes gelegt. Er verbindet zwei Wände und versinnbildlicht das Fundament, worauf das gesamte Gebäude ruht. Christus ist als »Eckstein« daher das wahre Fundament (1. Kor  3,10.11),  der  Eine,  der  die  Juden und Griechen zu einem neuen Menschen (Eph 2,13.14) vereint hat (wie die beiden Wände eines Gebäudes).
2. Einige Ausleger denken, dass es sich hier um den Schlussstein eines Bogens oder Gewölbes handelt. Der Schlussstein vervollständigt den Bogen und hält das gesamte Gebäude zusammen. Unser Herr entspricht dieser Beschreibung. Er ist der oberste Stein im Gebäude, und ohne ihn gäbe es keine Stabilität und keinen Zusammenhalt im Gebäude.
3. Eine dritte Ansicht lautet, dass der Stein der Schlussstein der Pyramide ist, der den höchsten Platz im Gebäude einnimmt. Er ist einzigartig insofern, als kein anderer Stein seine Form hat. Seine Form bestimmt die Form der gesamten Pyramide. Er ist der letzte Stein, der seinen Platz in der Pyramide erhält. Genauso ist Christus der Schlussstein der Gemeinde, der wahrhaft einzigartige Stein. Die Gemeinde erhält ihr Wesen von ihm. Wenn er wiederkommt, ist das Gebäude vollständig.
Er ist ein »auserwählter« und »kostbarer« Stein. Er ist »auserwählt« in dem Sinne, dass Gott ihn erwählt hat, damit er den höchsten Ehrenplatz einnimmt; und er ist »kostbar«, weil es keinen wie ihn gibt.
»Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.« Die ursprüngliche Bibelstelle in Jesaja, woraus hier zitiert wird, lautet: »Wer glaubt, wird nicht ängstlich eilen.« Wenn wir die beiden zusammennehmen, so bekommen wir die wunderbare Verheißung, dass diejenigen, die Christus als »Eckstein« haben, vor Erniedrigung in Verbindung mit großer Enttäuschung und vor übertriebener Hast verschont bleiben.
2,7 In den vorhergehenden Versen ist der Herr Jesus als der lebendige Stein, als verworfener Stein, als kostbarer Stein und als Eckstein dargestellt worden. Ohne das Wort zu nennen, scheint Petrus ihn nun als Prüfstein darzustellen. Ein Prüfstein offenbart, ob bestimmte Mineralien, die gegen ihn gerieben werden, echt oder falsch sind. Er zeigt z. B. an, ob ein gefundener Goldklumpen echtes Gold oder nur Eisenkies (Katzengold) enthält. Wenn Menschen mit dem Heiland in Kontakt kommen, dann zeigt sich, wie sie wirklich sind. In ihrer Haltung zu ihm enthüllen sie, wer sie selbst sind. Für wahre Gläubige ist Christus eine »Kostbarkeit«, Ungläubige hingegen weisen ihn zurück. Der Gläubige kann einen kleinen Hinweis auf die »Kostbarkeit« Christi erhalten, indem er sich vorstellt, wie das Leben ohne ihn aussehen würde. Alle irdischen Vergnügungen sind es nicht »wert, mit einem einzigen Augenblick eines von Christus erfüllten Lebens verglichen zu werden«. Er ist »hervorragend unter Zehntausenden« und »alles an ihm ist begehrenswert« (Hohesl 5,10.16).
Doch was ist mit den »Ungläubigen«14 oder Ungehorsamen? Der Verfasser von Psalm 118 sagte voraus, dass dieser kostbare Stein von den Bauleuten verworfen werden würde, doch später würde er zum »Eckstein« werden.
Es gibt eine Legende im Zusammenhang mit dem Bau des salomonischen Tempels, der diese Prophezeiung veranschaulicht. Die Steine des Tempels wurden vor dem Bau in einem nahe gelegenen Steinbruch gehauen. Wenn sie benötigt wurden, wurden sie zur Baustelle gebracht. Eines Tages sandten die Steinbrecher einen Stein von einzigartiger Form nach Jerusalem. Die Steinmetze konnten mit diesem Stein nichts anfangen, deshalb ließen sie ihn in einer Ecke liegen, und mit der Zeit wurde er von Moos bedeckt und von Unkraut überwuchert. Als der Tempel fast fertig war, brauchten die Steinmetze einen Stein mit ganz bestimmten Maßen. Die Männer im Steinbruch antworteten: »Wir haben diesen Stein schon vor langer Zeit nach Jerusalem geschickt.« Nachdem sie sorgfältig gesucht hatten, wurde der zunächst als unbrauchbar verworfene Stein gefunden und erhielt nun seinen ihm zukommenden Platz im Tempel.
Die Anwendung hier ist offensichtlich. Der Herr Jesus stellte sich bei seiner Menschwerdung dem Volk Israel vor. Die Angehörigen des Volkes, und zwar insbesondere die Machthaber und Obersten, hatten für ihn keinen Platz in ihren Plänen. Sie lehnten ihn ab und ließen ihn von den Römern kreuzigen.
Doch Gott hat ihn aus den Toten auferweckt und ihn zu seiner Rechten im Himmel eingesetzt. Wenn der Verworfene auf die Erde wiederkehren wird, dann wird er als König der Könige und Herr der Herren kommen. Er wird dann öffentlich als »Eckstein« geoffenbart werden.
2,8 Nun verschiebt sich das Bild ein wenig von Christus als dem Prüfstein und Eckstein zum Stein des Anstoßes. Jesaja sagte voraus, dass Christus für die Ungläubigen ein Stein wäre, der die Menschen zu Fall bringen würde und an dem sie sich ärgern würden (Jes 8,14.15). Dies erfüllte sich in der Geschichte der Angehörigen des Volkes Israel wörtlich. Als ihr Messias kam, stießen sich die Juden an seiner Herkunft und seinem einfachen Lebensstil. Sie wollten einen politischen Demagogen oder einen starken Militärmachthaber. Trotz überzeugendster Beweise weigerten sie sich, ihn als den verheißenen Messias anzuerkennen. Doch dies gilt nicht nur für Israel. Für jeden, der nicht an Jesus glaubt, wird er zum »Stein des Anstoßes und« zum »Fels des Ärgernisses«, worüber sie stolpern. Menschen beugen sich entweder in Buße und Glauben vor ihm und werden erlöst, oder sie straucheln über ihn auf dem Weg, der in die Hölle führt. »Was ihre Erlösung hätte sein sollen, wird nun die Ursache noch tieferer Verdammnis.« Es gibt keine Neutralität, Christus ist entweder unser Heiland oder unser Richter. »Sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben« (LU 1984). Warum »stoßen« sie sich? Es liegt nicht an ehrlichen intellektuellen Zweifeln. Es liegt nicht daran, dass es irgendetwas an dem Herrn Jesus gibt, das es unmöglich macht, an ihn zu glauben. Sie »stoßen sich«, weil sie willentlich dem »Wort« un gehorsam sind. Das Problem ist der menschliche Wille. Der Grund, warum Menschen nicht errettet werden, besteht darin, dass sie nicht errettet werden wollen (Joh 5,40).
Der letzte Teil von Vers 8 (»wozu sie auch gesetzt worden sind«) scheint zu sagen, dass sie vorherbestimmt waren, dem Wort nicht zu glauben. Bedeutet der Vers dies wirklich? Nein, dieser Vers lehrt, dass all diejenigen, die willentlich dem Wort ungehorsam sind, dazu bestimmt sind, sich zu stoßen. Die Worte beziehen sich auf den gesamten vorhergehenden Teilsatz: »Da sie nicht gehorsam sind, stoßen sie sich an dem Wort«. Gott hat bestimmt, dass sich alle, die sich vor dem Herrn Jesus nicht beugen, »stoßen« werden. Wenn ein Mensch auf seinem Unglauben beharrt, dann ist er dazu »gesetzt«, sich zu stoßen. »Wer nicht gehorchen will, wird unweigerlich straucheln« (nach der engl. Bibelübertragung von J. B. Phillips).
2,9 Petrus wendet sich nun wieder den Vorrechten der Gläubigen zu. Sie sind »ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk« zu Gottes besonderem »Besitztum«. Gott hat den Angehörigen des Volkes Israel genau diese Vorrechte verheißen, wenn sie ihm gehorchen würden: Und nun, wenn ihr willig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet, dann sollt ihr aus allen Völkern mein Eigentum sein; denn mir gehört die ganze Erde. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein (2. Mose 19,5.6a).
Wegen seines Unglaubens konnte Israel die Verheißung Gottes nicht erlangen, und das Volk verwirkte für die Zeit seiner Beiseitesetzung seine Stellung als Gottes auserwähltes Volk. Im gegenwärtigen Zeitalter hat die Gemeinde die Vorrechtsstellung inne, die Israel durch seinen Unglauben verloren hat. Die Gläubigen heute sind ein »auserwähltes Geschlecht«, von Gott vor Grundlegung der Welt dazu auserwählt, Christus zu gehören (Eph 1,4). Doch statt eines irdischen Volkes mit gemeinsamer Herkunft und bestimmten äußeren Merkmalen sind die Christen eine himmlische Nation mit einer göttlichen Herkunft und geistlichen Merkmalen.
Gläubige bilden auch ein »königliches Priestertum«. Dies ist das zweite »Priestertum«, das in diesem Kapitel erwähnt wird. In Vers 5 werden die Gläubigen als heilige Priester beschrieben, die geistliche Opfer darbringen. Nun wird von ihnen ausgesagt, dass sie »königliche« Priester sind, die die Herrlichkeit Gottes verkündigen. Als heilige Priester betreten sie durch den Glauben das Heiligtum des Himmels, um dort anzubeten. Als königliche Priester gehen sie in die Welt, um Zeugnis abzulegen. Dieser Unterschied in der Priesterschaft zeigt sich durch die Gefangenschaft des Paulus und Silas in Philippi. Als heilige Priester priesen sie Gott um Mitternacht, als »königliche« Priester predigten sie dem Kerkermeister das Evangelium (Apg 16,25.31). Die Gläubigen sind »eine heilige Nation«. Es war Gottes Absicht, dass Israel ein Volk sein sollte, das sich durch seine Heiligung auszeichnete. Doch die Israeliten erniedrigten sich, indem sie die sündigen Praktiken ihrer heidnischen Nachbarn übernahmen. Deshalb ist Israel zeitweise beiseitegesetzt worden, während die Gemeinde nun Gottes »heilige Nation« ist.
Schließlich sind die Christen ein »Volk«, das ganz Gott gehört. Sie geh ören ihm auf einzigartige Weise, und sie sind ihm sehr viel wert.
Der letzte Teil von Vers 9 beschreibt die Verantwortung derer, die zu Gottes neuem »Geschlecht« gehören, die sein »Priestertum«, seine »Nation« und sein Volk sind. Wir sollten die »Tugenden dessen verkündigen, der« uns »aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat«. Einst tappten wir durch die Finsternis von Sünde und Schande. Durch eine erstaunliche Errettung sind wir in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt worden. War die Finsternis vorher bedrückend, so scheint das Licht jetzt hell und klar. Wie sehr sollten wir das Lob dessen »verkündigen«, der all dies für uns getan hat!
2,10 Petrus schließt diesen Abschnitt mit einem Hinweis auf das Buch Hosea. Gott hatte das tragische Familienleben des Propheten dazu benutzt, um den Angehörigen des Volkes Israel das Gericht zu verkündigen. Wegen ihrer Untreue ihm gegenüber sagte Gott, dass er nicht länger Mitleid mit ihnen haben würde und sie nicht mehr sein Volk sein würden (Hos 1,6.9). Doch die Beiseitesetzung Israels erfolgte nicht endgültig, denn der Herr verhieß ebenso, dass Israel an einem künftigen Tag wiederhergestellt werden würde:
»Ich … will mich über die Lo-Ruhama erbarmen. Und ich will zu Lo-Ammi sagen: Du bist mein Volk! Und er wird sagen: Mein Gott!« (Hos 2,25).
Einige der Empfänger dieses Petrusbriefes waren jüdischer Herkunft. Nun waren sie zu Gliedern der Gemeinde geworden. Durch Glauben an Christus wurden sie in das neutestamentliche Gottesvolk eingegliedert, während die ungläubigen Juden noch immer beiseitegesetzt waren.
Deshalb sieht Petrus im Zustand der bekehrten Juden seiner Zeit eine teilweise Erfüllung von Hosea 2,25. In Christus waren sie zu einem neuen Volk Gottes geworden, und in Christus hatten sie »Barmherzigkeit empfangen«. Diese kleine Schar erretteter Juden genoss schon die Segnungen, die Israel durch Hosea verheißen waren, und zwar lange bevor Israel als Volk in deren Genuss kommen sollte.
Man sollte aus diesem Abschnitt im 1. Petrusbrief nicht folgern, dass Gott mit Israel als Nation abgeschlossen hat, nur weil die Gemeinde im gegenwärtigen Zeitalter Gottes Volk ist. Auch sollte man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Gemeinde nun das Israel Gottes wäre. Ferner sollte man nicht meinen, dass die Verheißungen, die Israel gegeben sind, nun auf die Gemeinde anwendbar wären. Israel und die Gemeinde sind voneinander getrennte und eigenständige Personenkreise, und das Verständnis dieses Unterschiedes ist einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Prophetien.
Israel war seit der Berufung Abrahams Gottes auserwähltes irdisches Volk, bis der Messias kam. Die Auflehnung des Volkes und sein Unglaube erreichten den schrecklichen Höhepunkt, als Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Dieser Gipfel ihrer Rebellion führte dazu, dass Gott die Angehörigen seines irdischen Volkes zeitweilig beiseitegesetzt hat. Sie sind heute noch sein altes, irdisches Volk, aber nicht sein auserwähltes Volk. Während des gegenwärtigen Zeitalters hat Gott ein neues Volk – die Gemeinde. Dieses Zeitalter der Gemeinde bildet eine Unterbrechung in Gottes Plänen mit Israel. Wenn die Unterbrechung beendet ist (d. h. wenn die Gemeinde in den Himmel aufgenommen sein wird), wird Gott sein Handeln mit Israel fortführen. Der gläubige Teil des Volkes wird dann wieder zum Volk Gottes werden. Die endgültige Erfüllung der Prophezeiung Hoseas liegt noch in der Zukunft. Sie wird bei der Wiederkunft stattfinden. Das Volk, das den Messias verwarf, wird »auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und (sie) werden über ihn wehklagen, wie man über den einzigen Sohn wehklagt, und werden bitter über ihn weinen, wie man bitter über den Erstgeborenen weint« (Sach 12,10). Dann wird das bußfertige, gläubige Israel Barmherzigkeit erlangen und wieder Gottes Volk werden.
Petrus will hier in Vers 10 sagen, dass die gläubigen Juden heute eine Vorerfüllung der Prophezeiung Hoseas verkörpern, während ungläubige Juden noch immer von Gott entfremdet sind. Die vollständige und endgültige Erfüllung wird stattfinden, wenn »aus Zion der Erretter kommen« und »die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden« wird. II. Die Beziehungen des Gläubigen (2,11-4,6) A. Als Pilger in Beziehung zur Welt (2,11.12)
2,11 Fast der gesamte Rest des 1. Petrusbriefes beschäftigt sich mit dem Verhalten, das die Christen in den verschiedenen Lebenssituationen charakterisieren sollte. Petrus erinnert die Gläubigen daran, dass sie »Fremdlinge und Pilger« (LU 1984) in dieser Welt sind und diese Tatsache ihr gesamtes Verhalten prägen sollte. Sie sind in dem Sinne »Fremdlinge«, dass sie in einem fremden Land leben, in dem sie keine Bürgerrechte haben. Sie sind Pilger in dem Sinne, dass sie gezwungen sind, für eine Weile an einem Ort zu leben, der nicht ihre ständige Heimat ist. Die alten Lieder erinnern uns an unsere Pilgerschaft. Z. B.: Himmelan geht unsre Bahn; wir sind Gäste nur auf Erden, bis wir dort nach Kanaan durch die Wüste kommen werden. Hier ist unser Pilgrimstand, droben unser Vaterland!
Himmelan schwingt sich der Geist, Ruhe find’t er nicht hienieden, und all das, was irdisch heißt, gibt der Seele keinen Frieden. Ein von Gott erleucht’ter Sinn kehrt zu seinem Ursprung hin. nach Benjamin Schmolck
Doch diese Gedanken sind aus unseren heutigen Gemeindeliedern fast verschwunden. Wenn sich die Gemeinde in der Welt eingerichtet hat, dann schwingt in unseren Augen ein heuchlerischer Unterton mit, falls wir von etwas singen, das über unsere Praxis hinausgeht. Wenn wir die Ermahnung lesen, uns »der fleischlichen Lüste, die gegen die Seele streiten«, zu enthalten, dann denken wir sofort an sexuelle Sünde. Doch es handelt sich hier um wesentlich mehr Sünden. Die Ermahnung bezieht sich auf jeden Wunsch, der nicht mit dem Willen Gottes übereinstimmt. Dazu gehören zum Beispiel übermäßige Genusssucht beim Essen oder Trinken, die Angewohnheit, dem Körper übermäßig viel Schlaf zu gönnen, die Sucht nach Anhäufung materiellen Eigentums oder das Streben nach weltlichen Vergnügungen. All dies streitet fortwährend gegen unser geistliches Wohlergehen. Diese Sünden behindern die Gemeinschaft mit Gott und verzögern das geistliche Wachstum.
2,12 Wir sollen nicht nur Disziplin erkennen lassen, indem wir die Weltförmigkeit meiden, sondern wir sollen auch »unseren  Wandel  unter  den  Nationen,  d. h. gegenüber der heidnischen Welt, gut15« führen. Wir als Menschen des 21. Jahrhunderts dürfen unser Leben nicht den Maßstäben der Welt anpassen. Wir sollten unseren Weg gehen, indem wir uns einer anderen Autorität unterstellen – dem Herrn Jesus.
Fast unausweichlich werden wir damit Kritik ernten. Erdman beleuchtet die Zeit, da Petrus seinen Brief schrieb: Die Christen wurden als gottlos verleumdet, weil sie die heidnischen Götter nicht anbeteten. Sie wurden als Asketen und Verrückte bezeichnet, da sie sich der üblichen Sünden enthielten. Außerdem wurden sie als der Obrigkeit untreu angesehen, weil sie behaupteten, einem himmlischen König zu gehören.16
Solche Kritik lässt sich nicht vermeiden. Doch unter keinen Umständen sollten Gläubige der Welt einen wirklichen Grund für eine solche Schmähung geben. Alle üble Nachrede sollte durch eine ununterbrochene Folge guter Werke zurückgewiesen werden. Dann werden die Ankläger gezwungen sein, »Gott … am Tage der Heimsuchung« zu »verherrlichen«. Mit dem »Tag der Heimsuchung« ist derjenige Tag gemeint, an dem der Herr kommt, entweder in Gnade oder zum Gericht. Der Ausdruck wird in Lukas 19,41-44 benutzt. Jesus weinte über Jerusalem, weil es die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt hatte. Dies bedeutet, dass Jerusalem nicht erkannt hatte, dass sein Messias in Liebe und Barmherzigkeit gekommen war. Hier kann mit »Heimsuchung« Folgendes gemeint sein: 1. der Tag, da Gottes Gnade die Kritiker erreicht und sie errettet werden, oder 2. der Tag des Gerichtes, da die Unerlösten vor Gott stehen werden. Saulus von Tarsus ist ein Beispiel für die Menschen, die der ersten Auslegungsmöglichkeit entsprechen. Er hatte Stephanus mit angeklagt, doch die guten Werke des Stephanus siegten über allen Widerstand. Als Gott in seiner Gnade Saulus auf der Straße von Damaskus entgegentrat, verherrlichte der bekehrte Pharisäer Gott und zog wie Stephanus los, um andere durch die Ausstrahlung eines christuserfüllten Lebens zu beeinflussen. Jowett sagt:
Das anmutige Leben besteht darin, die Gedanken der Menschen dahin zu bringen, den Gott der Herrlichkeit anzubeten. Wenn sie das Göttliche im Menschlichen sehen, dann können auch sie zu himmlischen Nachfolgern gewonnen werden. Sie sollen umworben werden, und zwar nicht durch die Überzeugungskraft unserer Rede, sondern durch die Ausstrahlung unseres Verhaltens. Durch die eindrückliche Anmut eines ehrenvollen Lebens sollen wir »die Unwissenheit törichter Menschen zum Schweigen bringen«, und dieses Schweigen wird für diese Menschen der erste Schritt in ein hingegebenes Leben sein.17
Bei der zweiten Auslegung geht es darum, dass unerrettete Menschen eines Tages gezwungen werden, »Gott … am Tage« des Gerichtes zu »verherrlichen«. Sie werden keine Entschuldigung haben, denn sie haben das Evangelium nicht nur gehört, sondern dessen praktische Umsetzung auch im Leben ihrer christlichen Verwandten, Freunde und Nachbarn gesehen. Gott wird dann durch das untadelige Leben seiner Kinder gerechtfertigt werden.
B. Als Bürger im Verhältnis zur Obrigkeit (2,13-17)
2,13 Die nächsten fünf Verse beschäftigen sich mit der Beziehung des Christen zu seiner Obrigkeit. Das Schlüsselwort hier lautet »unterordnen«. Die Ermahnung zur Unterordnung findet sich sogar viermal in diesem Brief.
Bürger sollen sich der Obrigkeit unterordnen (2,13).
Sklaven sollen sich ihren Herren unterordnen (2,18).
Ehefrauen sollen sich ihren Männern unterordnen (3,1).
Jüngere Gläubige sollen sich den Ältesten unterordnen (5,5). Lyall sagt:
Die endgültige Antwort des Christen gegenüber Verfolgern, Gegnern und Kritikern ist ein tadelloses Leben, ein Verhalten, das über jede Kritik erhaben ist, und Unterordnung als loyale Staatsbürger. Insbesondere … die Unterordnung ist eine christusähnliche Tugend.18
Menschliche Obrigkeiten werden von Gott eingesetzt (Röm 13,1). Herrscher sind Gottes Diener (Röm 13,4). Selbst wenn die Herrscher ungläubig sind, sind sie doch immer noch offiziell von Gott ernannt. Auch wenn sie Diktatoren und Tyrannen sind, so ist ihre Herrschaft immer noch besser als keine Herrschaft. Wenn es überhaupt keine Obrigkeit gibt, herrscht Anarchie, und keine Gesellschaft kann in der Anarchie bestehen. So ist jede Obrigkeit besser als gar keine. Ordnung ist besser als das Chaos. Die Gläubigen sollten sich jeder »menschlichen Einrichtung … um des Herrn willen« unterordnen. Wenn sie das tun, so erfüllen sie Gottes Willen und tun, was ihm gefällt. Diese Anweisungen gelten für den Kaiser oder für denjenigen, der sonst Macht ausübt, wer immer er sein mag. Selbst wenn Nero auf dem Thron sitzt, dann gilt die allgemeine Regel, ihm untertan zu sein.
2,14 Die Ermahnung zum Gehorsam bezieht sich auch darauf, sich solchen Beamten wie den Statthaltern unterzuordnen. Sie werden von Gott berechtigt, Straftäter zu bestrafen und diejenigen zu loben, die das Gesetz halten. Eigentlich haben Beamten meist keine Zeit oder sind wenig geneigt, das Letztere zu tun, doch dies ändert nichts an der Verpflichtung des Christen zum Gehorsam. Der Historiker Arnold Toynbee hat einmal beobachtet, dass, »solange die Erbsünde ein Teil der menschlichen Natur ist, Cäsar immer genug zu tun haben wird«. Natürlich gibt es Ausnahmen. Es gibt Zeiten, wo Christen keinen Gehorsam leisten müssen. Wenn eine menschliche Obrigkeit einem Gläubigen den Befehl gibt, dem Willen Gottes entgegenzuhandeln, dann muss der Gläubige der Obrigkeit den Gehorsam verweigern. In diesem Fall hat er eine höhere Verantwortung; er soll Gott mehr als Menschen gehorchen (Apg 5,29). Wenn er für den Ungehorsam bestraft wird, dann soll er die Strafe tapfer ertragen. Unter keinen Umständen soll er jedoch versuchen, die Obrigkeit zu stürzen.
Streng genommen brechen diejenigen, die Bibeln in verschlossene Länder schmuggeln, das Gesetz. Doch sie gehorchen einem Gesetz, dass Vorrang vor jedem menschlichen Gesetz hat, nämlich dem Gesetz, das Evangelium auf der ganzen Welt zu verbreiten. Sie können nicht aufgrund der Bibel verurteilt werden. Man stelle sich vor, dass eine Obrigkeit dem Christen befiehlt, bewaffneten Wehrdienst zu tun. Muss er gehorchen und Waffen tragen? Wenn er der Ansicht ist, dass dies eine Verletzung des Wortes Gottes ist, dann sollte er jede Möglichkeit ausschöpfen, die ihm offensteht, um einen unbewaffneten Dienst zu tun oder als Wehrdienstverweigerer anerkannt zu werden. Wenn dies nicht gelingt, dann muss er sich weigern, sich einziehen zu lassen, und die Konsequenzen tragen. Viele Christen haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie bei den Streitkräften dienen. Dies ist eine Angelegenheit, die jeder selbst mit seinem Gewissen abmachen muss. Dabei muss er seinen Mitchristen die Freiheit lassen, anderer Meinung zu sein.
Die Frage, ob Christen wählen gehen oder sich in der Politik engagieren sollen, liegt auf einer anderen Ebene. Es gibt kein Gesetz, das uns zu so etwas zwingt; deshalb ist dies keine Frage des Gehorsams oder Ungehorsams. Jeder muss hier im Lichte der Verhaltensprinzipien der Bibel handeln. Hier müssen wir auch Freiheit für unterschiedliche Ansichten lassen und nicht darauf bestehen, dass andere dieselbe Meinung wie wir haben.
2,15 Gottes »Wille« ist eindeutig: Sein Volk soll so ehrsam und tadellos leben, dass die Unbekehrten keine gerechte Grundlage zu einer Anklage haben. Indem sie vorbildlich leben, können und sollten Christen die »Unwissenheit« der Anklagen herausstellen, die von »unverständigen Menschen« gegen Gläubige vorgebracht werden.
Christen und der christliche Glaube werden unaufhörlich von der »Unwissenheit der unverständigen Menschen« angegriffen. Das kann in der Vorlesung an der Universität, im wissenschaftlichen Labor oder sogar von der Kanzel aus geschehen. Petrus sagt, dass eine der besten Antworten auf diese Angriffe ein geheiligtes Leben ist.
2,16 Wir sollten wie »Freie« handeln. Wir sind nicht Knechte oder Sklaven der Behörden. Wir brauchen nicht in falscher Unterordnung oder in Furcht zu leben. Schließlich sind wir die Befreiten des Herrn. Doch dies bedeutet nicht, dass wir befreit wurden, um dann zu sündigen. »Freiheit« bedeutet keine Narrenfreiheit. Zur »Freiheit« gehört keine Gesetzlosigkeit. Deshalb dürfen wir unsere Freiheit nie als einen Vorwand für Sünde nehmen. Mit Sünde verbundener Ungehorsam darf niemals durch eine pseudofromme Ausrede gerechtfertigt werden. Die Sache Christi wird nie gefördert, wenn sich das Böse mit religiösen Gewändern verkleidet.
Wenn wir als »Sklaven Gottes« leben, dann wird unser Verhältnis zu den Behörden geordnet sein. Wir sollen immer im Lichte der Gegenwart Gottes handeln, ihm in allem gehorchen und alles zu seiner Ehre tun. Der beste Bürger ist ein Gläubiger, der als »Sklave Gottes« lebt. Leider erkennen die meisten Obrigkeiten nicht, wie viel sie den Christen verdanken, die der Bibel glauben und gehorchen.
Wir sollten über den Ausdruck »Sklaven Gottes« nachdenken. »Der Himmel nimmt unsere gefürchtetsten Begriffe«, schreibt F. B. Meyer, »und lässt sie in seinem Licht leuchten, bis dasjenige, was einst für Unterdrückung und Schrecken stand, unser erhabenstes Ziel wird.«19
2,17 Keine Lebensbeziehung kann aus dem Bereich der christlichen Verantwortung herausgenommen werden. Deshalb geht Petrus hier mit knappen Ermahnungen die gesamte Skala durch. »Erweist allen Ehre.« Wir können nicht immer die Worte oder das Verhalten der Menschen ehren, doch wir können uns daran erinnern, dass jedes einzelne Leben größeren Wert als die gesamte Welt hat. Wir können erkennen, dass jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Wir dürfen niemals vergessen, dass der Herr Jesus auch für den Unwürdigsten gelitten hat und gestorben ist.
»Liebt die Bruderschaft.« Wir sollen alle Menschen lieben, doch wir sind besonders verpflichtet, die Glieder unserer geistlichen Familie zu lieben. Es handelt sich dabei um eine Liebe, die Gottes Liebe zu uns entspricht. Sie ist völlig unverdient, sie bezieht auch den Lieblosen ein, sie sucht nicht nach Belohnung und ist stärker als der Tod. »Fürchtet Gott.« Wir fürchten ihn, wenn wir ihn als obersten Herrn anerkennen. Ihn zu verherrlichen, wird dann zu unserem obersten Ziel. Wir fürchten uns, etwas zu tun, das ihm missfällt, und wir fürchten uns, ihn vor den Menschen falsch darzustellen.
»Ehrt den König.« Petrus kommt nun noch einmal als letzte Erinnerung auf das Thema menschliche Herrscher zu sprechen. Wir sollen unsere Herrscher als Menschen begreifen, die von Gott ernannt worden sind, um eine geordnete Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Das bedeutet, dass wir jedem dasjenige geben, was wir ihm schuldig sind: »die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht … gebührt« (Röm 13,7). Allgemein gesprochen kann der Christ unter jeder Regierungsform leben. Er darf nur dann nicht gehorchen, wenn ihm befohlen wird, seine Treue oder seinen Gehorsam gegenüber dem Herrn Jesus Christus aufzugeben. C. Als Knecht in Beziehung zu seinem Herrn (2,18-25)
2,18 Es ist bezeichnend, dass das NT den »Haussklaven« mehr Anweisungen gibt als den Königen. Viele der ersten Christen waren »Sklaven«, und die Schrift zeigt, dass die meisten Christen aus der Mittel- oder Unterschicht der Gesellschaft stammten (Matth 11,5; 1. Kor 1,26-29). Dieser Abschnitt ist an »Haussklaven« gerichtet, doch die Prinzipien lassen sich auf Arbeitnehmer jeder Art anwenden. Die wichtigste Ermahnung besteht darin, dass sich die Sklaven ihrem Herren mit allem Respekt unterordnen sollen. Es ist im Wesen jeder Gesellschaft oder Organisation begründet, dass es darin einerseits Autorität und andererseits Gehorsam gegenüber der Autorität geben muss. Es ist zum Guten des Sklaven selbst, wenn er sich seinem Meister unterstellt, denn anderenfalls hätte er keine Arbeit. Doch es ist für einen Christen noch viel wichtiger, sich zu unterwerfen. Es geht um mehr als nur um seinen Lohnzettel, sein ganzes Zeugnis hängt davon ab.
Gehorsam sollte nicht vom Temperament der Herren abhängen. Jeder kann sich einem Vorgesetzten unterordnen, der »gut und milde« ist. Gläubige sind aufgerufen, darüber hinauszugehen und auch den »verkehrten« Vorgesetzten gegenüber respektvoll und gehorsam zu sein. Dies ist ein ausgesprochen christliches Verhalten.
2,19 Wenn wir ungerechterweise leiden, dann gewinnen wir Gottes Wohlwollen. Es gefällt ihm, wenn er unser entsprechendes Verhalten sieht: Wenn wir uns der Beziehung zu ihm so bewusst sind, dass wir unverdiente Strafen ertragen, ohne uns zu verteidigen oder zurückzuschlagen, freut er sich darüber. Wenn wir demütig ungerechte Behandlung ertragen, dann spiegelt unser Leben Christus wider. Ein solch übernatürliches Leben erhält Gottes Lob (vgl. die Worte »Recht so« im Gleichnis von den anvertrauten Talenten [z. B. Matth 25,21]).
2,20 Es ist keine Tugend, geduldig für unsere Missetaten zu büßen. Natürlich wird Gott dadurch nicht verherrlicht. Solches Leiden wird uns nie als Christen herausstellen oder in anderen den Wunsch hervorbringen, Christ zu werden. Nur geduldiges Ausharren für gute Taten zählt. Dieses Verhalten ist so unnormal, so von einer anderen Welt, dass es die Menschen schockiert, sodass sie ihre Sünde erkennen und hoffentlich zur Errettung geführt werden.
2,21 Der Gedanke des Leidens um der Gerechtigkeit willen führt unausweichlich zu diesem wunderschönen Abschnitt über unser großes »Beispiel«, das der Herr Jesus gegeben hat. Niemand ist je so ungerecht behandelt worden wie er und hat es so geduldig ertragen. Wir sind berufen, so wie er zu handeln und wegen der schlechten Taten anderer zu leiden. Das Wort, das hier für »Beispiel« benutzt worden ist, enthält den Gedanken an ein Vorlagenbuch mit meisterlicher Schönschrift. Der Schüler versucht, das Original so ähnlich wie möglich wiederzugeben. Wenn er das Vorbild sorgfältig kopiert, dann wird seine Abschrift gut. Doch je mehr er sich vom Original entfernt, desto schlechter wird die Abschrift. Unsere Sicherheit besteht darin, so nah wie möglich am Original zu bleiben.
2,22 Unser Herr litt nicht für eigene Schuld, denn er hat keine Sünde begangen. »Er kannte keine Sünde« (2. Kor 5,21); Er hat »keine Sünde getan« (dieser Vers); und »in ihm ist keine Sünde« (1. Joh 3,5). Seine Rede wurde nie durch »Trug« entstellt. Er log nicht und hat auch die Wahrheit nicht manipuliert. Man denke einmal darüber nach. Es lebte einmal ein Mensch auf dieser Erde, der in jeder Beziehung ehrlich war, vollkommen frei von List oder »Trug«.
2,23 Er blieb geduldig, wenn er provoziert wurde. »Der, geschmäht, nicht wieder schmähte.« Er zahlte es nicht mit gleicher Münze heim. Wenn er angegriffen wurde, schlug er nicht zurück. Er verteidigte sich nicht, als man ihn anklagte. Er war auf wunderbare Weise von dem Bestreben frei, sich selbst zu rechtfertigen. Ein unbekannter Verfasser hat einmal geschrieben:
Es ist das Kennzeichen tiefster und größter Demut, wenn wir ohne Grund verurteilt werden und dies still erdulden. Unter Beleidigung und Unrecht stillzuhalten, ist eine sehr edle Nachahmung unseres Herrn. Wenn wir uns daran erinnern, auf welch vielfältige Weise er als derjenige gelitten hat, der es doch nie verdiente, stellt sich die Frage: Wo haben wir dann unseren Verstand, wenn wir uns berufen fühlen, uns selbst zu verteidigen oder zu entschuldigen?
»Der leidend, nicht drohte.« »Kein unfreundliches, drohendes Wort entschlüpfte seiner stillen Zunge.« Vielleicht legten seine Angreifer dieses Schweigen als Schwäche aus. Wenn sie jedoch tiefer nachgeforscht hätten, hätten sie herausgefunden, dass es hier nicht um Schwäche ging, sondern um übernatürliche Kraft!
Was war seine verborgene Kraftquelle, dass er solche grundlosen Beleidigungen ertrug? Er vertraute auf Gott, »der gerecht richtet«. Und wir sind aufgerufen, ebenso zu handeln: Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn; denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr. Wenn nun deinen Feind hungert, so speise ihn; wenn ihn dürstet, so gib ihm zu trinken; denn wenn du das tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten (Röm 12,19-21).
2,24 Die Leiden des Heilands hatten nicht nur Vorbildfunktion, sondern sühnten auch unsere Schuld. Wir können seine Leiden in dieser Hinsicht nicht nachahmen, und Petrus ist auch nicht der Meinung, dass wir es tun sollten. Vielmehr geht es hier offenbar um folgende Argumentation: Die Schmerzen des Heilands wurden nicht durch seine eigenen Sünden hervorgerufen, denn er hatte keine begangen. Er wurde stattdessen für »unsere Sünden« ans Kreuz genagelt. Weil er ein für alle Mal für »unsere Sünden« gelitten hat, dürfen wir uns nie in eine Stellung bringen, worin wir für sie nochmals leiden müssen. Die Tatsache, dass er für sie gestorben ist, sollte uns dazu bringen ihnen abzusterben. Und doch geht es nicht nur darum, uns der Sünden zu enthalten: Wir sollten nicht nur der Sünde sterben, sondern auch »der Gerechtigkeit leben«. »Durch dessen Striemen ihr geheilt worden seid.« Das Wort »Striemen« steht im Original in der Einzahl, was vielleicht verdeutlichen soll, dass sein Körper eine einzige Wunde war. Wie sollte unsere Haltung gegenüber der Sünde aussehen, wenn unsere Heilung unseren Herrn so viel gekostet hat? Theodoret kommentiert: »Es geht um eine neue und fremdartige Heilungsmethode. Der Arzt trug die Kosten, und der Kranke wurde geheilt.«
2,25 Vor unserer Bekehrung gingen wir »in die Irre wie Schafe« – verloren, zerrissen, übel zugerichtet, mit blutigen Wunden. Dass Petrus uns hier als verlorene »Schafe« darstellt, ist die letzte Bezugnahme auf Jesaja 53 in diesem Abschnitt:
V. 21  Christus … litt für uns (vgl. Jes 53,4.5).
V. 22 Er hat keine Sünde getan, noch ist Trug in seinem Mund gefunden worden (vgl. Jes 53,9).
V. 23 Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht wieder (vgl. Jes 53,7). V. 24 Der unsere Sünden an seinem Leib selbst an das Holz hinaufgetragen hat (vgl. Jes 53,4.11).
V. 24 Durch dessen Striemen ihr geheilt worden seid (vgl. Jes 53,5). V. 25  Denn ihr gingt in der Irre wie Schafe (vgl. Jes 53,6).
Wenn wir gerettet werden, dann kehren wir zum Hirten zurück – zum guten Hirten, der sein Leben für die Schafe gelassen hat (Joh 10,11), und dem großen Hirten, von dem es im Lied heißt: »Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! / Der gute Hirte leidet für die Schafe; / die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte, / für seine Knechte.« Außerdem ist er Oberhirte (Erzhirte), der schon bald wiederkommen wird, um seine Schafe auf die grünen Auen des Himmels zu führen, die wir nie wieder verlassen werden. Bekehrung bedeutet Rückkehr zum »Aufseher«20 unserer »Seelen«. Wir gehörten ihm schon, weil er uns geschaffen hat, doch wir gingen aufgrund der Sünde in der Irre. Nun kehren wir unter seine erhaltende Fürsorge zurück und sind für immer sicher bei ihm.
D. Als Ehefrau in Beziehung zu ihrem Mann (3,1-6)
3,1 Petrus hat die Verpflichtung der Christen betont, sich den menschlichen Obrigkeiten und irdischen Herren unterzuordnen. Nun behandelt er die Unterordnung der »Frauen« unter ihre »Männer«. Jede Frau soll sich ihrem Ehemann »unterordnen«, ob er nun ein Gläubiger ist oder nicht. Gott hat dem Mann die Stellung des Hauptes gegeben, und es ist Gottes Wille, dass die Frau die Autorität des Mannes anerkennen soll. Die Beziehung zwischen dem Ehemann und seiner Frau ist ein Bild für die Beziehung zwischen Christus und der Gemeinde. Die Frau sollte ihrem Ehemann so gehorchen, wie die Gemeinde Christus gehorchen sollte.
In unserer Gesellschaft gilt heute das genaue Gegenteil. Frauen erheben sich in Autoritätsstellungen über Männer, wobei unsere Gesellschaft zunehmend davon geprägt ist, dass Frauen Führungspositionen übernehmen. In vielen Gemeinden sind die Frauen anscheinend aktiver und begabter als die Männer. Doch Gottes Wort bleibt bestehen. Die Führungsstellung des Mannes ist eine göttliche Ordnung. Ganz gleich, wie vernünftig die Argumente klingen mögen – noch immer gilt: Nichts als Verwirrung und Chaos kann letztendlich daraus folgen, wenn die Frau die Autorität über den Mann an sich reißt.
Auch wenn der Ehemann einer Frau ungläubig ist, sollte sie ihn noch immer als ihr Haupt respektieren. Das wird ein Zeugnis ihres Glaubens für ihn sein. Ihr »Wandel« als gehorsame, hingegebene und liebevolle Frau kann Gott benutzen, um ihn für den Heiland zu gewinnen. Und sie mag ihn sogar »ohne Wort« gewinnen. Das bedeutet, dass die Frau ihrem Mann nicht ständig predigen sollte. Wahrscheinlich ist viel Schlimmes bewirkt worden durch Frauen, die ihrem Mann mit dem Evangelium auf den Nerv gingen und es ihm aufzwingen wollten. Die Betonung liegt hier darauf, dass eine Frau ihren Mann dadurch gewinnt, dass sie täglich christusgemäß vor ihm lebt.
Doch man stelle sich vor, ein Ehemann will das geistliche Leben seiner Frau unterbinden. Was soll sie dann tun? Wenn er von ihr verlangt, ein eindeutiges Gebot der Schrift zu brechen, dann muss sie ihrem Mann ungehorsam sein und Christus treu bleiben. Wenn es sich jedoch mehr um ein christliches Vorrecht als ein Gebot handelt, dann sollte sie sich ihrem Ehemann unterordnen und das Privileg aufgeben.
Wenn Petrus von einer christlichen Frau spricht, die einen heidnischen Ehemann hat, dann heißt er damit nicht gut, dass eine Gläubige einen Ungläubigen heiratet. Das ist niemals Gottes Wille. Der Apostel behandelt hier vornehmlich Fälle, in denen die Frau nach der Heirat errettet wurde. Es ist ihre Pflicht, auch einem ungläubigen Mann zu gehorchen.
3,2 Der ungläubige Ehemann kann vom ehrerbietigen und »reinen Wandel« seiner Frau beeindruckt sein. Der Geist Gottes kann dies benutzen, um ihn von seiner eigenen Sündhaftigkeit zu überzeugen, und er kann dadurch zum Glauben an Christus finden.
Georg Müller hörte einmal von einem reichen Deutschen, dessen Frau eine hingegebene Gläubige war. Der Mann selbst war ein Trinker, der bis abends spät in der Kneipe saß. Sie schickte die Bediensteten immer ins Bett, blieb auf, bis er heimkam, empfing ihn freundlich, schimpfte nie über ihn und beklagte sich auch nicht. Zeitweilig musste sie ihn sogar ausziehen und ins Bett bringen.
Eines Abends sagte er in der Kneipe zu seinen Zechkumpanen: »Ich wette, wenn wir jetzt zu mir nach Hause gehen, dann ist meine Frau noch auf und wartet auf mich. Sie wird uns die Tür öffnen, uns freundlich empfangen und uns sogar noch etwas zu essen machen, wenn ich sie darum bitte.«
Zunächst waren seine Kumpanen skeptisch, doch dann entschieden sie sich, dies auszuprobieren. Ganz selbstverständlich kam sie zur Tür, empfing sie freundlich und erklärte sich bereitwillig und ohne die geringste Spur von Ärger einverstanden, ihnen noch etwas zu essen zu machen. Nachdem sie diese bedient hatte, ging sie in ihr Zimmer. Sobald sie gegangen war, machte einer der Männer ihrem Gatten Vorwürfe. »Was für ein Mann bist du eigentlich, dass du so eine wunderbare Frau so schrecklich behandelst?« Kaum hatte er diesen Vorwurf ausgesprochen, stand er auf und ging nach Hause, ohne fertig gegessen zu haben. Ein anderer nahm sich ein Beispiel daran, und noch ein Zweiter und noch ein Dritter, bis alle gegangen waren, ohne die Mahlzeit zu beenden.
Nach einer halben Stunde war der Mann von seiner Schuld zutiefst überzeugt, und zwar insbesondere davon, wie lieblos er seine Frau behandelt hatte. Er ging zu seiner Frau, bat sie, für ihn zu beten, bekannte seine Sünde und übergab sein Leben Christus. Von dieser Zeit an wurde er zu einem Jünger des Herrn Jesus. Ohne ein Wort gewonnen! Georg Müller riet:
Sei nicht entmutigt, wenn du unter unbekehrten Verwandten leiden musst. Vielleicht schon bald wird der Herr das Verlangen deines Herzens erfüllen und deine Gebete für sie erhören. Doch in der Zwischenzeit solltest du eine Empfehlung für die Wahrheit sein. Dabei solltest du sie nicht wegen ihres Verhaltens dir gegenüber tadeln, sondern vielmehr ihnen gegenüber die Sanftmut, Milde und Freundlichkeit des Herrn Jesus zum Ausdruck bringen.21
3,3 Das Thema scheint jetzt zur äußeren Erscheinung der Frauen zu wechseln, doch im Grunde geht es darum, dass der Apostel in erster Linie darüber spricht, wie eine Frau ihrem Mann gefallen und ihm dienen kann. Nicht so sehr ihr Äußeres wird ihn beeinflussen, sondern ihr inneres Leben der Heiligung und Unterordnung.
Verschiedene Arten des äußeren »Schmucks« sollen vermieden werden. 1. »Flechten der Haare.« Einige sind der Ansicht, dass dies sogar den bescheidensten Zopf ausschließt. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Petrus hier übertriebene Frisuren meint, bei denen mehrere Zöpfe kunstvoll hochgesteckt werden, wie es im alten Rom beliebt war.
2. »Umhängen von Gold.« Einige legen dies als absolutes Verbot jeden Goldschmucks aus. Andere sehen darin das Verbot von auffälliger und übermäßiger Zurschaustellung. 3. »Anziehen von Kleidern.« Ganz offensichtlich wird hier nicht das Tragen von Kleidung allgemein verboten, sondern nur das Anziehen von Kleidung, womit man angeben will. Man lese dazu Jesaja 3,16-25. Dort erfahren wir, was Gott von allen Formen übermäßigen Schmucks hält.
Exkurs zum Thema christliche Kleidung
In der Frage der Kleider und des Schmucks gibt es Regelungen, die sich auf alle Gläubigen beziehen, sowohl auf Männer als auch auf Frauen. Ein erstes Prinzip sind die Ausgaben. Wie viel geben wir für Kleidung aus? Ist das alles nötig? Könnte das Geld nicht auf bessere Weise ausgegeben werden? 1. Timotheus 2,9 verbietet teure Kleidung: »Nicht mit … kostbarer Kleidung.« Es geht nicht darum, ob wir uns solche Kleider leisten können oder nicht. Es ist eine Sünde, wenn ein Christ Geld für teure Kleidung ausgibt, weil Gottes Wort dies verbietet. Auch das Mitleid mit Not Leidenden spricht klar dagegen. Die furchtbare Not unserer Mitmenschen in anderen Ländern sowie ihre ungeheuer großen geistlichen und materiellen Bedürfnisse zeigen uns, wie gefühllos es ist, unnötig Geld für Kleidung auszugeben. Das betrifft nicht nur die Art der Kleidung, sondern auch ihre Menge. Die Schränke mancher Christen sind so voll wie das Warenlager eines großen Kaufhauses. Wenn sie in Urlaub fahren, dann haben sie Kleider im Koffer, die das Sortiment eines Textilvertreters in den Schatten stellen.
Warum tun wir das? Geht es dabei nicht um unseren Stolz? Wir lieben es, Komplimente für unseren guten Geschmack und unser vornehmes Aussehen zu erhalten. Die Höhe der Ausgaben, die mit dem Kauf der Kleidung verbunden sind, ist nur ein Prinzip, das uns bei der Wahl leiten sollte.
Ein anderes diesbezügliches Prinzip ist Bescheidenheit. Paulus sagt: »… mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit.« Eine Bedeutung des Wortes »Schamhaftigkeit« ist »mit Anstand«. Eine der Funktionen der Kleidung ist es, die Nacktheit des Menschen zu bedecken. Zumindest war es am Anfang so. Doch heute scheint Kleidung dazu entworfen zu sein, immer mehr anatomische Details zu entblößen. So verherrlicht der Mensch seine Schande. Es ist nicht erstaunlich, wenn gottlose Menschen das tun, doch es ist schockierend, wenn Christen dies nachahmen.
Aber bescheiden kann trotzdem attraktiv sein. Es geht darum, dass der Christ sich ordentlich kleidet. Es ist keine Tugend, mit zerrissener oder unsauberer Kleidung herumzulaufen. Oswald Chambers sagte, dass Schäbigkeit eine Beleidigung des Heiligen Geistes ist. Die Kleidung des Gläubigen sollte sauber, gebügelt und in gutem Zustand sein sowie passen.
Im Allgemeinen sollte der Christ Modet rends vermeiden, die die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Aufmerksamkeit zu erregen, ist kein Ziel seines Lebens. Er ist nicht als Schmuck auf der Erde, sondern als fruchttragende Rebe am Weinstock. Wir können auf verschiedene Weise die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Wenn wir unmoderne Kleidung tragen, dann tun wir es. Der Christ sollte auch vermeiden, Kleidung zu tragen, die in jeder Beziehung schäbig oder ausgefallen ist bzw. nicht zur Körpergröße passt.
Schließlich sollte der Christ – und dies mag ein besonderes Problem für jüngere Leute sein – vermeiden, dass seine Kleidung aufreizend oder gewagt ist. Wir haben schon Modetrends behandelt, die in sexueller Hinsicht provozieren. Doch manche Kleider können den ganzen Körper bedecken und dennoch in anderen unheilige Begierden wachrufen. Moderne Mode ist nicht dazu angetan, geistliches Wachstum zu unterstützen. Im Gegenteil, unser Zeitalter ist von der Sexualität geradezu durchdrungen. Der Gläubige sollte niemals Kleidung tragen, die die Triebe ansprechen oder es anderen erschweren, christlich zu leben.
Das große Problem ist natürlich der enorme soziale Anpassungsdruck. Dies ist immer so gewesen und wird sich auch nicht ändern. Christen brauchen viel Rückgrat, um den Extremen der Mode zu widerstehen, gegen den Strom der öffentlichen Meinung anzuschwimmen und sich auf eine Weise zu kleiden, die dem Evangelium gerecht wird. Wenn wir Jesus auch zum Herrn unseres Kleiderschranks machen, dann regelt sich alles in angemessener Weise von allein.
3,4 Die Kleidung, die den Gläubigen wirklich attraktiv macht, ist die Schönheit des »verborgenen Menschen«. Modische Frisuren, kostbarer Schmuck und elegante Kleidung sind vergänglich. Petrus zeigt uns diesen starken Kontrast, um uns zu einer Entscheidung herauszufordern. F. B. Meyer merkt hierzu an: »Es gibt viele, deren äußerer Leib reich gekleidet ist, doch deren Seele in Lumpen geht, während andere, deren Kleider zerschlissen und abgetragen sind, von innen her nur Herrlichkeit ausstrahlen.«22 Die Menschen sind der Ansicht, dass Schmuck kostbar ist, doch Gott sieht das Juwel eines »sanften und stillen Geistes« als kostbar an.
3,5 Die gottesfürchtigen Frauen des AT haben »sich« geschmückt, indem sie die moralische und geistliche Schönheit eines inneren Lebens gepflegt haben. Ein Aspekt dieser Schönheit war eine gehorsame Unterordnung unter »ihre Männer«. Diese »heiligen Frauen … setzten ihre Hoffnung auf Gott«. Sie führten ein Leben, worin Gott im Mittelpunkt stand. Sie wollten ihm in allen Dingen gefallen. Deshalb erkannten sie seine Regeln sowie Grundsätze für die Familie an und »ordneten … sich ihren Männern … unter«.
3,6 Sara wird hier als Beispiel zitiert. Sie »gehorchte dem Abraham« und nannte »ihn Herrn«. Dies führt uns zu 1. Mose 18,12 zurück, wo wir lesen, dass Sara dies »in ihrem Inneren« sagte. Sie ging nicht herum und verkündete überall lautstark, wie sehr sie sich ihrem Mann unterordne, indem sie ihn öffentlich Herr nannte. Stattdessen erkannte sie ihn in ihrem inneren Leben als Haupt an, wobei sich diese Anerkennung in all ihren Taten zeigte.
Die Frauen, die Saras Beispiel folgen, sind ihre »Kinder«. Jüdische Frauen sind durch natürliche Geburt Nachkommen Saras. Doch um im besten Sinne ihre Tochter zu werden, müssen sie ihren persönlichen Charakter nachahmen. Kinder sollten immer eine gewisse Familienähnlichkeit haben.
Sie sollten »Gutes« tun und sich durch nichts erschrecken lassen. Das bedeutet, dass eine christliche Frau ihre von Gott gegebene Stellung als gehorsame Hilfe ausfüllen sollte und keine Angst haben soll, auch wenn sie das unvernünftige Verhalten eines ungläubigen Ehemannes ertragen muss. Dies gilt natürlich nicht, wenn er Gewalt anwendet oder ihr Leben bedroht.
E. Als Ehemann in Beziehung zu seiner Frau (3,7)
Nun wendet sich der Apostel den »Männern« zu und zeigt, welche entsprechenden Pflichten sie erfüllen müssen. Sie sollten »einsichtig« (Schl 2000) mit ihren Frauen leben, indem sie Liebe, Freundlichkeit und Verständnis erkennen lassen. Sie sollten für ihre Frauen auf eine Weise sorgen, wie es diesen als Gliedern des »schwächeren« Geschlechts gebührt. In diesen Tagen der Frauenbefreiung mag die Bibel unzeitgemäß erscheinen, wenn sie die Frauen als das »schwächere Gefäß« bezeichnet. Doch es ist eine einfache Lebenstatsache, dass Frauen im Schnitt körperlich schwächer als Männer sind. Auch hat die Frau im Allgemeinen nicht dieselbe Kontrolle über ihre Gefühle und reagiert häufiger emotional bedingt, statt sich vom rationalen, logischen Denken leiten zu lassen. Die Behandlung tiefgründiger theologischer Probleme ist normalerweise nicht ihre Stärke. Und normalerweise ist sie abhängiger als der Mann.
Doch mit der Tatsache, dass die Frau in mancher Hinsicht »schwächer« als der Mann ist, ist nicht gemeint, dass sie weniger wert ist als der Mann. Die Bibel deutet das nirgends an. Auch heißt das nicht, dass es keinerlei Gebiete gibt, auf denen sie stärker oder besser ist als ihr Mann. Es ist sogar eine Tatsache, dass Frauen normalerweise Christus mehr hingegeben sind als Männer. Und normalerweise sind sie besser imstande, Schmerzen und Schwierigkeiten zu ertragen. Der Mann sollte in seiner Haltung gegenüber seiner Frau die Tatsache anerkennen, dass sie eine Miterbin »der Gnade des Lebens« ist. Das bezieht sich auf eine Ehe, in der beide Ehepartner gläubig sind. Obwohl sie auf manche Weise schwächer als der Mann ist, hat die Frau dieselbe Stellung vor Gott und teilt in gleicher Weise die Gabe des ewigen Lebens. Auch ist sie sogar noch mehr als ihr Mann daran beteiligt, neues menschliches Leben auf die Welt zu bringen. Wenn Uneinigkeit zwischen beiden besteht, werden die »Gebete« behindert. Bigg sagt: »Die Seufzer einer in ihren Gefühlen verletzten Frau stellen sich zwischen die Gebete des Mannes und die Erhörung durch Gott.«23 Auch ist es für ein Paar sehr schwer, zusammen zu beten, wenn etwas ihre Gemeinschaft belastet. Für den Frieden und das Wohlergehen einer Familie ist es wichtig, dass Mann und Frau einige wenige Grundsätze einhalten: 1. Sie sollen immer absolut ehrlich sein, um eine Basis gegenseitigen Vertrauens zu haben.
2. Sie sollen das Gespräch aufrechterhalten. Stets sollen sie bereit sein, Dinge auszudiskutieren. Wenn man erlaubt, dass sich im Kessel zu viel Dampf bildet, dann ist eine Explosion unausweichlich. Zum Ausdiskutieren gehört auch die Bereitschaft, um Vergebung zu bitten und sie zu gewähren – wenn es sein muss, auf unbestimmte Zeit.
3. Sie sollen kleine Fehler und Eigenarten vergeben. Die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden. Sie sollen vom anderen keine Vollkommenheit verlangen, wenn sie selbst nicht vollkommen sind.
4. Sie sollen nach Einigkeit im Finanziellen streben. Sie sollen es vermeiden, über die Verhältnisse zu leben und Ratenkäufe zu tätigen. Außerdem sollen sie der Versuchung widerstehen, mit den Nachbarn mithalten zu wollen.
5. Sie sollen daran denken, dass Liebe ein Gebot und kein unbeherrschbares Gefühl ist. Mit Liebe ist hier alles gemeint, was in 1. Korinther 13 aufgeführt  wird.  Liebe  ist  z. B.  höflich, sie wird uns davon abhalten, unseren Partner vor anderen zu kritisieren oder ihm öffentlich zu widersprechen. Die Liebe hält uns vom Streiten vor den Kindern ab, was ihre Sicherheit gefährden könnte. Auf diese und auf hundert andere Arten erzeugt die Liebe eine von Glück geprägte familiäre Atmosphäre und schließt Streit und Trennung aus.
F. Als Bruder in Beziehung zur Gemeinde (3,8)
Dass dieser Vers in erster Linie den Christen und sein Verhältnis zur Gemeinde behandelt, ergibt sich aus den Ermahnungen zu Einheit und brüderlicher Liebe. Die drei anderen Ermahnungen könnten auch eine weiterreichende Anwendung finden.
Das Wort »endlich« (vgl. »abschließend« [Konkordante Übersetzung] und »schließlich« [Menge]; Anm. d. Übers.) bedeutet nicht, dass Petrus mit seinem Brief schon fertig wäre. Er hat zu verschiedenen Gruppen von Menschen gesprochen, etwa zu den Sklaven, den Frauen und den Männern. Nun hat er zum Abschluss dieses Themas noch ein Wort für sie »alle«. »Endlich aber seid alle gleichgesinnt.« Es wird von Christen nicht erwartet, dass sie in allem absolut dieselbe Meinung haben. Das wäre Gleichmacherei, nicht Gleichgesinntheit. Die beste Formel findet sich in dem wohlbekannten Wort: »Im Wesentlichen Einheit, im Unwichtigen Freiheit, in allem aber Liebe.« Wir sollen »Mitleid« miteinander haben. Das ist hier ganz wörtlich gemeint, wenn die Ermahnung an Menschen gerichtet wird, die unter Verfolgung leiden. Der Rat gilt jedoch für alle Zeiten, weil es kein Zeitalter gibt, das von Leiden frei wäre. »Voll brüderlicher Liebe«. Ein unbekannter Autor hat einmal geschrieben: Die Vorsehung fragt uns nicht, wen wir als Bruder haben – das ist für uns schon entschieden worden. Uns wird jedoch geboten, ihn zu lieben, und zwar unabhängig von unseren natürlichen Vorlieben. Sie mögen einwenden: »Das ist unmöglich.« Doch denken Sie einmal daran, dass echte Liebe ihren Ursprung nicht unbedingt in Emotionen hat, sondern im Willen. Sie besteht nicht in Empfindungen, sondern im Tun, nicht in Gefühlsseligkeit, sondern in Taten, nicht in schmeichelnden Worten, sondern in großzügigen und selbstlosen Handlungen. »Barmherzig« bedeutet, dass man ein Herz hat, das offen ist für die Bedürfnisse und Gefühle anderer. Barmherzigkeit weigert sich, kalt, gefühllos oder zynisch zu werden, auch wenn sie missbraucht wird.
»Freundlich«24 (LU 1912) – es scheint uns so angemessen, dass Höflichkeit als eine christliche Tugend gelehrt wird. Im Wesentlichen geht es bei ihr darum, zuerst an den anderen zu denken, und immer freundlich zu sprechen und zu handeln. Höflichkeit dient anderen, ehe sie sich selbst bedient, und eilt, wenn sich Gelegenheit zum Helfen ergibt. Sie dankt für Freundlichkeit, die sie selbst empfängt. Sie ist niemals derb, schroff, grob oder taktlos.
G. Als Verfolgter in Beziehung zu den Verfolgern (3,9-4,6)
3,9 Der gesamte Brief ist vor einem Hintergrund der Verfolgung und des Leidens geschrieben. Von diesem Vers an bis Kapitel 4,6 geht es um das Thema der Christ und sein Verhältnis zu seinen Verfolgern. Wiederholt werden die Gläubigen aufgefordert, um der Gerechtigkeit willen zu leiden, ohne zu vergelten. Wir dürfen »Böses … nicht … mit Bösem oder Scheltwort« nicht »mit Scheltwort« vergelten. Stattdessen sollen wir diejenigen segnen, die uns misshandeln, und Beleidigungen mit Freundlichkeit erwidern. Als Christen sind wir nicht berufen, anderen zu schaden, sondern ihnen Gutes zu tun. Wir sollen nicht fluchen, sondern segnen. Dann belohnt Gott dieses Verhalten ebenfalls mit »Segen«.
3,10 In den Versen 10-12 zitiert Petrus Psalm 34,13-17a. Damit will er bekräftigen, dass Gottes Segen auf denen ruht, die sich von bösen Taten und Worten fernhalten und Gerechtigkeit praktizieren.
Die Zielrichtung des ersten Verses ist dies: Wer das »Leben« voll und ganz genießen will sowie »gute Tage« erleben möchte, sollte sich in Rede und Tun »vom Bösen« zurückhalten. Er sollte Beleidigungen und Lügen mit Freundlichkeit vergelten.
»Das Leben lieben« wird in Johannes 12,25 verurteilt, doch dort geht es darum, nur für sich selbst zu leben und den echten Zweck des Lebens zu missachten. Hier bedeutet es, so zu leben, wie Gott es vorgesehen hat.
3,11 Nicht nur böses Reden, sondern auch böses Tun ist verboten. Rache vertieft nur den Konflikt. Wir erniedrigen uns dann, die Waffen der Welt zu benutzen. Der Gläubige sollte »Böses« mit »Gutem« vergelten und den »Frieden« suchen, indem er demütig Beschimpfungen erträgt. Feuer kann nicht mit Feuer bekämpft werden.
Die einzige Art, das Böse zu überwinden, ist, es seinen Lauf nehmen zu lassen, sodass es nicht den Widerstand findet, den es erwartet. Widerstand schafft nur weiteres Unheil und gießt Öl in die Flammen. Doch wenn das Böse keinen Widerstand und kein Hindernis findet, sondern nur stille Duldung erfährt, dann ist ihm der Stachel genommen, und schließlich wird es einen Gegner finden, der ihm mehr als gewachsen ist. Dies kann natürlich nur dann geschehen, wenn auch das letzte Quäntchen Widerstand verweigert wird und der Verzicht auf Rache vollständig ist. Dann kann das Böse sein Ziel nicht erreichen, es kann kein weiteres Böses hervorbringen und bleibt unfruchtbar (ohne Quellenangabe).
3,12 Der »Herr« schaut wohlwollend auf diejenigen, die gerecht handeln. Er hört »auf ihr« Gebet. Natürlich hört der Herr die Gebete aller seiner Kinder. Doch er verteidigt auf besondere Weise diejenigen, die um Christi willen leiden, ohne Böses mit Bösem zu vergelten. »Das Angesicht des Herrn aber ist gegen die, welche Böses tun.« Dies bezieht sich in erster Linie auf die Verfolger seines Volkes. Doch es kann auch den Gläubigen umfassen, der zurückschlägt, indem er seine Feinde beschimpft oder sogar Gewalt anwendet. »Böses« ist immer böse, und Gott widersteht ihm, wo immer er es findet, ob bei den Erlösten oder den Verlorenen.
Als Petrus Psalm 34,17 zitiert, lässt er die Schlussworte des Verses weg: »… um ihr Gedächtnis von der Erde zu tilgen.« Diese Auslassung ist kein Versehen. Wir leben im Zeitalter der Gnade Gottes, es ist das angenehme Jahr des Herrn. Der Tag der Rache unseres Gottes ist noch nicht da. Wenn der Herr Jesus als König der Könige und Herr der Herren wiederkehren wird, wird er die Übeltäter bestrafen und ihr Gedächtnis von der Erde tilgen.
3,13 Petrus führt seine Argumentation mit einer Frage weiter: »Und wer wird euch Böses tun, wenn ihr Eiferer des Guten geworden seid?« Die hier angedeutete Antwort lautet »niemand«. Und doch scheint die Geschichte der Märtyrer zu beweisen, dass die Feinde des Evangeliums den treuen Jüngern Schaden zufügen.
Es gibt mindestens zwei mögliche Erklärungen dieses Paradoxons: 1. Im Allgemeinen werden diejenigen, die gerecht leben, keinen Schaden nehmen. Eine Politik der Widerstandslosigkeit entwaffnet die Feinde. Es mag Ausnahmen geben, doch in der Regel wird derjenige, der nach dem Guten und Rechten strebt, durch sein Güte davor bewahrt, Schaden zu nehmen.
2. Das Schlimmste, was ein Feind einem Christen möglicherweise antut, kann ihm nicht in Ewigkeit schaden. Der Feind kann seinem Leib zwar Wunden schlagen, nicht jedoch seiner Seele Schaden zufügen.
Während des Zweiten Weltkrieges weigerte sich ein gläubiger Junge im Alter von 12 Jahren, einer bestimmten Bewegung in Europa beizutreten. »Weißt du nicht, dass wir die Macht haben, dich umzubringen?«, fragten die Häscher. »Wisst ihr nicht«, antwortete er ruhig, »dass ich die Macht habe, für Christus zu sterben?« Er war überzeugt, dass niemand ihm schaden konnte.
3,14 Doch man stelle sich vor, dass ein Christ wirklich einmal wegen seiner Treue zu Christus verfolgt wird. Was dann? Es ergeben sich drei Folgen: 1. Gott besiegt das Leid zu seiner Ehre. 2. Gott benutzt das Leiden, um andere zu segnen.
3. Gott segnet den Betreffenden, der um seines Namens willen leidet. Wir sollen Menschen nicht fürchten oder uns von ihren »Schrecken« nicht ängstigen lassen. Wie sehr lebten die Märtyrer doch nach dieser Einstellung. Als Polykarp versprochen wurde, dass er freigelassen würde, wenn er Christus lästerte, sagte er: »Ich habe nun 86 Jahre lang Christus gedient, und er hat mir nie unrecht getan. Wie kann ich meinen König und Heiland lästern?« Und als der Prokonsul ihm drohte, ihn den wilden Tieren vorzuwerfen, antwortete er: »Es ist schön für mich, schnell aus diesem unglücklichen Leben erlöst zu werden.« Schließlich drohte ihm der Herrscher, ihn bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Polykarp sagte: »Ich fürchte nicht das Feuer, das nur kurz brennt: Du kennst nämlich das Feuer nicht, das ewig brennt.«
3,15 Im zweiten Teil von Vers 14 und in diesem Vers zitiert Petrus aus Jesaja 8,12b-13, wo es heißt: »Das, was sie fürchten, sollt ihr nicht fürchten und nicht davor erschrecken. Den Herrn der Heerscharen, den sollt ihr heiligen! Er sei eure Furcht, und er sei euer Schrecken!« Jemand hat einmal gesagt: »Wir fürchten Gott so wenig, weil wir die Menschen so sehr fürchten.«
Der Abschnitt in Jesaja spricht vom »Herrn der Heerscharen« als dem, den wir verehren sollen. Petrus zitiert ihn und sagt durch die Inspiration des Heiligen Geistes: »Heiligt vielmehr Gott, den Herrn, in euren Herzen«25 (Schl 2000). Den Herrn zu ehren, bedeutet, ihn zum Herrscher unseres Lebens zu machen. All unser Tun und Reden sollte seinem Willen entsprechen und zu seinem Wohlgefallen sowie zu seiner Ehre sein. Die Herrschaft Christi sollte jeden Bereich unseres Lebens betreffen – unseren Besitz, unsere Beschäftigung, unseren Bücherschrank, unsere Ehe, unsere Freizeit. Nichts darf ausgeschlossen sein. »Seid aber jederzeit bereit zur Verantwortung jedem gegenüber, der Rechenschaft von euch über die Hoffnung in euch fordert, aber mit Sanftmut und Ehrerbietung.«26 Das bezieht sich in erster Linie auf Zeiten, wenn die Christen wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Das Bewusstsein der Gegenwart des Herrn Christus sollte den Gläubigen heiligen Mut schenken und sie zu einem guten Bekenntnis sowie Zeugnis anregen. Der Vers lässt sich auch auf den Alltag anwenden. Menschen stellen uns oft Fragen, die uns ganz natürlich eine Tür öffnen, um vom Herrn zu sprechen. Wir sollten »bereit« sein, ihnen zu erzählen, welch große Dinge der Herr für uns getan hat. Dieses Zeugnis sollte allerdings in Freundlichkeit und Ehrerbietung geschehen. Es sollte sich keine Spur der Bitterkeit, Leichtfertigkeit oder Strenge finden, wenn wir von unserem Herrn und Heiland reden.
3,16 Der Gläubige muss »ein gutes Gewissen« haben. Wenn er weiß, dass er sich keines Verbrechens schuldig gemacht hat, dann kann er Verfolgung mit dem Mut eines Löwen ertragen. Wenn er jedoch ein schlechtes Gewissen hat, dann wird er von Schuldgefühlen geplagt und nicht imstande sein, dem Feind zu widerstehen. Auch wenn das Leben eines Gläubigen im Grunde tadellos ist, werden die Feinde des Evangeliums doch noch immer Fehler an ihm finden und falsche Anklagen gegen ihn erheben. Doch wenn der Fall verhandelt wird, dann werden sich die Anklagen als grundlos erweisen, und die Ankläger werden »zuschanden werden«.
3,17 Wenn ein Christ »leiden« muss (was manchmal Gottes Wille für ihn sein mag), dann sollte er »für Gutestun« leiden. Doch er sollte nicht wegen seiner eigenen Missetaten Leid über sich bringen, denn darin liegt keinerlei Tugend.
3,18 Der Rest von Kapitel 3 zeigt »Christus« als das klassische Beispiel eines Menschen, der um der Gerechtigkeit willen gelitten hat. Wir werden daran erinnert, dass für ihn das Leiden der Weg zur Herrlichkeit war.
Man sollte sechs Punkte hinsichtlich des Leidens Jesu beachten: 1.  Es  war  ein  Sühneleiden,  d. h.  es  befreite den Sünder von der Strafe für seine »Sünden«.
2. Es ist ewig gültig. Er starb ein für alle Mal, um die Sündenfrage zu klären. Das Werk der Erlösung ist vollendet. 3. Das Leiden geschah stellvertretend. »Der Gerechte« starb »für die Ungerechten«. »Aber der Herr ließ ihn treffen unser aller Schuld« (Jes 53,6b). 4. Sein Leiden hatte Versöhnungscharakter. Durch seinen Tod sind wir »zu Gott« gebracht worden. Die Sünde, die uns von ihm entfremdete, ist weggetan.
5. Sein Leiden wurde durch Gewalt verursacht. Er wurde am Kreuz »getötet«.
6. Seinem Leiden folgte als Höhepunkt die Auferstehung. Er wurde am dritten Tag aus den Toten auferweckt. Der Ausdruck »lebendig gemacht nach dem Geist« bedeutet hier, dass seine Auferweckung in der Kraft des Heiligen Geistes geschah.
3,19 Die Verse 19 und 20 bilden einen der rätselhaftesten und faszinierendsten Abschnitte des NT. Sie sind für solche Irrlehren wie die Lehre vom Fegefeuer, aber andererseits auch für die Allversöhnung als Beweis herangezogen worden. Doch unter evangelikalen Christen gibt es zwei allgemein anerkannte Auslegungen. Nach der ersten Auffassung ging Christus zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung im Geist in den Hades und verkündigte dort den Sieg seines herrlichen Werkes am Kreuz. Unter den Auslegern, die diese Ansicht vertreten, gibt es Uneinigkeit bezüglich die Frage, ob die »Geister im Gefängnis« Gläubige, Ungläubige oder beides waren. Doch die Ausleger sind sich im Großen und Ganzen einig, dass der Herr Jesus ihnen nicht das Evangelium gepredigt hat. Dies würde die Lehre einer »zweiten Chance« voraussetzen, die nirgendwo in der Bibel gelehrt wird. Diejenigen, die dieser Ansicht sind, verbinden diesen Abschnitt gern mit Epheser 4,9. Dort wird beschrieben, dass der Herr »auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde«. Sie zitieren dies als weiteren Beweis dafür, dass er in körperlosem Zustand im Hades war und dort seinen Sieg auf Golgatha verkündigte. Sie zitieren auch die Worte des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, worin es heißt: »… hinabgestiegen in das Reich des Todes.«
Die zweite Auslegung lautet, dass Petrus hier beschreibt, was in den Tagen Noahs geschehen ist. Es war der Geist Christi, der durch Noah den Ungläubigen vor der Flut predigte. Zu dieser Zeit handelte es sich noch nicht um körperlose Geister von Menschen, sondern um Männer und Frauen, die damals lebten, die Warnungen Noahs ablehnten und von der Flut vernichtet wurden. Deshalb sind sie jetzt »Geister im Gefängnis« des Hades. Diese zweite Ansicht passt am besten in den Zusammenhang. Außerdem sind mit ihr die wenigsten Schwierigkeiten verbunden. Wir sollten den Absatz nun genau untersuchen.
»In diesem ist er auch hingegangen und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt.« Das Relativpronomen »diesem« bezieht sich offensichtlich auf das Wort Geist am Ende von Vers 18 zurück. Wir verstehen darunter den Heiligen Geist. In Kapitel 1,11 dieses Briefes wird der »Geist Christi« (d. h. der Heilige Geist) beschrieben, wie er durch die Propheten des AT spricht.  Und  in  1. Mose  6,3  spricht  Gott von  seinem  Geist  (d. h.  dem  Heiligen Geist) und sagt von ihm, dass seine Geduld mit den Menschen vor der Flut dem Ende entgegengehe.
»Er ist … hingegangen und hat … gepredigt.« Wie schon erwähnt, war es letztlich Christus, der predigte, doch die Verkündigung geschah durch Noah. In 2. Petrus 2,5 wird Noah als »Prediger der Gerechtigkeit« beschrieben. Es handelt sich dabei um dieselbe Wortwurzel, die hier für Christi Predigt benutzt wird. »Den Geistern«, die jetzt »im Gefängnis« sind. Dies waren die Menschen, denen Noah predigte – Männer und Frauen, die damals lebten und die Warnung vor der kommenden Flut sowie die Verheißung der Rettung durch die Arche hörten. Sie lehnten die Botschaft ab und ertranken in der Flut. Sie sind jetzt körperlose »Geister im Gefängnis« und erwarten das Endgericht.
Deshalb kann man diesen Vers wie folgt umschreiben: »In diesem (dem Heiligen Geist) ist er (Christus) hingegangen und hat (durch Noah) den Geistern (denen, die jetzt) im Gefängnis (sind,) gepredigt.«
Doch inwiefern sind wir zu der Annahme berechtigt, dass die »Geister im Gefängnis« zur Zeit Noahs lebten? Die Antwort findet sich im folgenden Vers.
3,20 Hier werden die Geister im Gefängnis ausdrücklich genannt. Wer waren sie? Es waren solche, »die einst ungehorsam waren«. Wann waren sie »ungehorsam«? »Als die Langmut Gottes in den Tagen Noahs abwartete, während die Arche gebaut wurde.« Was war das Ergebnis? Nur »wenige, das sind acht Seelen«, sind »durchs Wasser hindurch errettet« worden.
Wir sollten hier einmal innehalten und uns an den allgemeinen Gedankengang dieses Briefes erinnern, der vor dem Hintergrund allgemeiner Verfolgung geschrieben wurde. Die Christen, an die Petrus schrieb, litten wegen ihres Lebens und Zeugnisses. Vielleicht wunderten sie sich: Warum litten sie, statt zu herrschen, wenn der christliche Glaube die Wahrheit beinhaltete? Wenn sie im Vertrauen zu Christus den wahren Glauben gefunden hatten, erhob sich die Frage: Wieso gab es dann nur so wenige Christen? Um die erste Frage zu beantworten, weist Petrus auf den Herrn Jesus hin. Christus hatte um der Gerechtigkeit willen gelitten, sogar bis zum Tod. Doch Gott hat ihn aus den Toten auferweckt und ihn im Himmel verherrlicht (vgl. V. 22). Der Weg zur Herrlichkeit führte ihn durch das Leidenstal.
Als Nächstes bezieht sich Petrus auf »Noah«. 120 Jahre lang warnte dieser treue Prediger davor, dass Gott die Welt durch eine Flut zerstören wollte. Er erntete dafür nur Spott und Verachtung. Doch Gott rechtfertigte ihn, indem er ihn und seine Familie durch die Flut hindurch bewahrte.
Dann bleibt noch das Problem: »Wenn wir recht haben, warum gibt es dann so wenige Christen?« Petrus antwortet: »Es gab einmal eine Zeit, wo nur acht Menschen auf der Welt recht hatten und alle anderen nicht!« Normalerweise hat in der Geschichte der Menschheit die Masse nie recht gehabt. Die wahren Gläubigen sind immer nur ein kleiner Überrest gewesen; deshalb sollte unser Glaube nicht schwanken, weil es nur so wenige Errettete gibt. Es gab zur Zeit Noahs nur »acht« Gläubige, und heute gibt es viele Millionen. Am Ende von Vers 20 lesen wir, dass »wenige, das sind acht Seelen, durchs Wasser hindurch gerettet wurden«. Sie sind nicht durch das Wasser als Mittel gerettet worden, sondern »durchs Wasser hindurch«. Das Wasser war nicht der Retter, sondern das Gericht, durch das Gott sie sicher hindurchgeführt hat. Um diese Aussage und den Inhalt des folgenden Verses richtig verstehen zu können, müssen wir die Bedeutung der Arche und der Flut als Vorbilder betrachten. Die Arche ist ein Bild für den Herrn Jesus Christus. Die Wasserflut ist das Gericht Gottes. Die Arche war die einzige Rettungsmöglichkeit. Als die Flut kam, wurden nur die Menschen errettet, die sich in der Arche befanden. Alle, die draußen waren, starben. Ebenso ist Christus der einzige Heilsweg. Diejenigen, die in Christus sind, sind erlöst, und zwar im göttlich vollkommenen Sinne. Diejenigen, die nicht in Christus sind, sind und bleiben verloren.
Das Wasser war nicht das Mittel der Erlösung, denn alle, die in das Wasser gelangten, ertranken. Die Arche fuhr durch die Wasser des Gerichts, sie hat den Sturm abgehalten. Kein Tropfen Wasser erreichte die Menschen in der Arche. So hat Christus den Zorn des Gerichts Gottes über unsere Sünden abgehalten. Diejenigen, die in ihm sind, kommen nicht ins Gericht (Joh 5,24).
Die Arche schwamm auf dem Wasser und es regnete auf sie herab, so war sie ganz von Wasser umgeben. Doch sie trug ihre gläubigen Insassen »durchs Wasser hindurch« in die Sicherheit einer neuen Schöpfung. So werden diejenigen, die dem Heiland vertrauen, über diese von Tod und Verwüstung gekennzeichnete Erde zur Auferstehung und zum neuen Leben geführt.
3,21 »Das Gegenbild dazu errettet jetzt auch euch, das ist die Taufe.« Wieder bewegen wir uns auf gefährlichem Grund, der zu viel Auseinandersetzungen Grund gegeben hat. Dieser Vers ist ein Schlachtfeld zwischen den Vertretern der Taufwiedergeburtslehre und denen, die leugnen, dass die Taufe eine errettende Kraft hat.
Exkurs zum Thema Taufe
Zunächst sollten wir untersuchen, was dies bedeuten kann und was damit womöglich nicht gemeint ist. Es gibt wirklich eine Taufe, die uns errettet – nicht unsere Wassertaufe, sondern eine Taufe, die vor fast 2000 Jahren auf Golgatha vollzogen wurde. Christi Tod war eine Taufe. Er wurde in den Wassern des Gerichts getauft. Das meinte er, als er sagte: »Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muss, und wie bin ich bedrängt, bis sie vollbracht ist!« (Lk 12,50). Der Psalmist beschrieb diese Taufe mit den Worten: »Urflut ruft der Urflut zu beim Brausen deiner Wassergüsse; alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen« (Ps 42,8). In seinem Tod wurde Christus in den Wellen des Zornes Gottes getauft, wobei diese Taufe die Grundlage unseres Heils bildet. Doch wir müssen seinen Tod für uns annehmen. So wie Noah und seine Familie die Arche betreten mussten, um gerettet zu werden, so müssen wir uns selbst dem Herrn als unserem einzigen Heiland hingeben. Wenn wir das tun, dann werden wir mit ihm in seinem Tod, seiner Grablegung und seiner Auferstehung eins gemacht. In einem ganz realen Sinne sind wir mit ihm gekreuzigt (Gal 2,20), wir sind mit ihm begraben (Röm 6,4) und mit ihm vom Tod zum Leben gebracht worden (Röm 6,4).
All dies wird in der Gläubigentaufe dargestellt. Die Zeremonie ist ein äußerliches Zeichen dessen, was geistlich geschehen ist; wir sind in den Tod Christi getauft. Wenn wir untertauchen, dann erkennen wir an, dass wir mit ihm begraben sind. Wenn wir aus dem Wasser heraufsteigen, zeigen wir damit, dass wir mit ihm auferstanden sind und nun in Neuheit des Lebens wandeln. Es geht um ein Vorbild, das uns jetzt rettet – die Taufe bezieht sich auf die Taufe Christi im Tod am Kreuz und darauf, dass wir mit ihr eins gemacht sind, dargestellt durch die Wassertaufe. Der Vers kann jedoch nicht heißen, dass wir durch den Taufritus im Wasser errettet werden, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Damit wäre das Wasser der Err etter, und nicht mehr der Herr Jesus. Doch er hat gesagt: »Ich bin der Weg« (Joh 16,4).
2. Es würde heißen, dass Christus umsonst starb. Wenn Menschen durch Wasser gerettet werden können, bleibt die Frage: Warum musste dann der Herr Jesus sterben?
3. Die Lebenswirklichkeit widerspricht dieser Ansicht. Viele, die getauft worden sind, haben mit ihrem Leben bewiesen, dass sie niemals wiedergeboren wurden.
Auch kann dieser Vers nicht bedeuten, dass wir durch Glauben und Taufe gerettet werden.
1. Dies würde bedeuten, dass das Werk des Heilands am Kreuz nicht ausreichte. Als er rief: »Es ist vollbracht«, war es nach dieser Ansicht eben nicht vollbracht, weil die Taufe zu diesem Erlösungswerk noch hinzugefügt werden müsse.
2. Wenn die Taufe heilsnotwendig ist, dann ist es seltsam, dass der Herr selbst niemanden getauft hat. Johannes 4,1.2 sagt aus, dass Jesus die Taufe seiner Nachfolger nicht selbst durchführte, sondern dies seinen Jüngern überließ.
3. Der Apostel Paulus dankte Gott, dass er nur wenige Korinther getauft hat (1. Kor  1,14-16).  Das  wäre  ein  seltsamer Dank für einen Evangelisten, wenn die Taufe für die Errettung unabdingbar wäre! Die Tatsache, dass Paulus einige getauft hat, zeigt, dass er die Gläubigentaufe lehrte. Der Sachverhalt, dass er nur wenige getauft hat, lässt jedoch erkennen, dass er sie nicht für heilsnotwendig hielt. 4. Der Verbrecher am Kreuz, der Buße tat, wurde nicht getauft. Dennoch wurde ihm zugesagt, dass er mit Christus im Paradies sein würde (Lk 23,43).
5. Die Heiden, die in Cäsarea er rettet wurden, erhielten den Heiligen Geist, sobald sie gläubig wurden (Apg 10,44). Das zeigte, dass sie zu Christus gehörten (Röm 8,9b). Nachdem sie den Heiligen Geist erhalten haben (d. h. nachdem sie errettet wurden),  wurden  sie  getauft  (V. 47.48). Deshalb war ihre Taufe nicht zu ihrer Errettung notwendig. Sie wurden erst errettet und dann mit Wasser getauft. 6. Im NT wird die Taufe immer im Zusammenhang mit Tod und nicht mit der geistlichen Wiedergeburt gesehen.
7. Es gibt etwa 150 Stellen im NT, die lehren, dass die Errettung nur aus dem Glauben kommt. Diese können nicht durch zwei oder drei Verse ungültig werden, die scheinbar lehren, dass die Taufe zur Errettung nötig ist. Wenn wir deshalb in Vers 21 lesen: »Die Taufe … errettet jetzt auch euch«, so geht es hier nicht um unsere Wassertaufe, sondern um die Taufe Christi in den Tod und darum, dass wir mit ihm in dieser Taufe eins gemacht wurden.
»… nicht ein Ablegen der Unreinheit des Fleisches.« Der von Zeremonien geprägte Gottesdienst des AT, womit die judenchristlichen Leser des Petrus vertraut waren, reinigte die Betreffenden in gewisser Weise in äußerlicher Hinsicht. Doch er konnte weder den Priestern noch dem Volk ein reines Gewissen bezüglich der Sünde geben. Bei der »Taufe«, wovon Petrus spricht, geht es nicht um körperliche oder gar um rituelle Reinigung. Wasser kann den Schmutz vom Leib waschen, aber es kann uns kein gutes Gewissen vor Gott schenken. Nur unsere persönliche Verbindung mit Christus in seinem Tod, seiner Grablegung und seiner Auferstehung kann dies bewirken. »… sondern die Bitte an Gott um ein gutes Gewissen.« Es erhebt sich nun unausweichlich die Frage: »Wie kann ich vor Gott gerecht dastehen? Wie kann ich ein reines Gewissen vor ihm haben?« Die Antwort findet sich in der Taufe, wovon Petrus soeben gesprochen hat (der Taufe Christi in den Tod am Kreuz von Golgatha), und darin, dass man als Sünder dieses Werk persönlich annimmt. Durch den Tod Christi ist die Sündenfrage ein für alle Mal gelöst worden.
»… durch die Auferstehung Jesu Christi.« Woher weiß ich nun, dass Gottes Forderungen völlige Genüge getan wurde? Ich weiß es, weil er Christus aus den Toten auferweckt hat. Ein reines Gewissen ist untrennbar mit der »Aufe rstehung Jesu Christi« verbunden, sie stehen und fallen miteinander. Die Auferstehung sagt mir, dass Gott mit dem Erlösungswerk seines Sohnes voll und ganz zuf rieden ist. Wenn Christus nicht aufe rstanden wäre, könnten wir uns nie sicher sein, dass unsere Sünden wegg enommen sind. Er wäre wie jeder andere Mensch gestorben. Doch der aufe rstandene Christus ist für uns die absolute Sicherheit, dass die Forderungen Gottes wegen unserer Sünden voll erfüllt worden sind.
Der Liederdichter drückt es so aus: »O Gottes Lamm, du brachtest dar / dein Leben auf des Herrn Altar / jetzt thronst du in der Herrlichkeit, / wir nah’n dir mit Freimütigkeit.«
Deshalb sind wir »jetzt« durch »die Taufe« errettet, die »das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott« (Schl 2000) ist. Mein einziger Anspruch auf ein gutes Gewissen beruht auf dem Tod, der Grablegung und der Auferstehung des Herrn Jesus. Die Reihenfolge sieht so aus: 1. Christus wurde für mich auf Golgatha in den Tod getauft.
2. Wenn ich ihm als Herrn und Heiland vertraue, dann werde ich geistlich mit ihm in seinem Tod, seiner Grablegung und seiner Auferstehung vereinigt. 3. Durch mein Wissen, dass er auferstanden ist, ist meine Bitte um ein reines Gewissen beantwortet.
4. In der Wassertaufe gebe ich der geistlichen Errettung, die ich erfahren habe, sichtbaren Ausdruck.
3,22 »… der ist zur Rechten Gottes, nachdem er in den Himmel gegangen ist, und Engel und Mächte und Kräfte sind ihm unterworfen.« Der Herr Jesus ist nicht nur aus den Toten auferstanden, sondern er ist ebenso »in den Himmel« aufgefahren, aus dem er einst herabgestiegen ist. Er ist auch heute dort, nicht als unsichtbares Geistwesen, das unberührbar wäre, sondern als Mensch, der in einem verherrlichten Leib aus Fleisch und Bein lebt. An diesem Leib trägt er auf ewig die Wunden, die er auf Golgatha erhielt – Zeichen, die auf ewig von seiner Liebe zu uns künden.
Folgende Merkmale sind mit der Stellung unseres Herrn »zur Rechten Gottes« verbunden:
Macht: Weil die Rechte normalerweise kräftiger als die Linke ist, hat sie sich als Sinnbild der Macht eingebürgert (Matth 26,64).
Ehre: Christus ist »durch die Rechte Gottes erhöht worden« (Apg 2,33; 5,31). Ruhe: Durch sein vollendetes Werk hat Christus »sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt« (Hebr 1,3; vgl. auch 8,1; 10,12). Diese Ruhe ist Ausdruck des Wohlgefallens und der völligen Genüge und hat nichts mit Müdigkeit zu tun. Fürbitte: Paulus spricht davon, dass Christus zur Rechten Gottes ist, wo er für uns eintritt (Röm 8,34). Vorrangstellung: »… zu seiner Rechten in der Himmelswelt gesetzt«, ist er »hoch über jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen genannt werden wird« (Eph 1,20.21). Herrschaft: In Hebräer 1,13 sagt Gott der Vater zu dem Sohn: »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege als Schemel deiner Füße.« Die Herrschaft wird auch in 1. Petrus 3,22 betont: »… zur Rechten Gottes, … und Engel und Mächte und Kräfte sind ihm unterworfen.« »Engel und Mächte und Kräfte« sollen sicherlich alle Arten himmlischer Wesen umfassen. Sie sind alle Diener des auferstandenen, verherrlichten Christus. Darin bestand nun die Erfahrung unseres Herrn, als er für seine guten Taten litt. Die Menschen verwarfen ihn. Sie wollten weder sein Zeugnis vor seiner Menschwerdung durch Noah noch sein Zeugnis hören, als er, der Menschensohn, auf unsere Erde kam. Er wurde in den finsteren Todesfluten Golgathas getauft. Doch Gott hat ihn aus den Toten auferweckt und ihn zu seiner Rechten im Himmel verherrlicht. In den ewigen Plänen Gottes kam das Leiden vor der Herrlichkeit.
Für die damaligen Leser und auch für uns heute ist dies eine wichtige Lektion. Es sollte uns nicht aus der Fassung bringen, wenn wir als Täter des Guten Widerstand und sogar Verfolgung erfahren, denn wir verdienen keine bessere Behandlung als unser Heiland, als er auf der Erde war. Wir sollten uns mit der Verheißung trösten, dass wir, wenn wir mit ihm leiden, auch mit ihm verherrlicht werden (Röm 8,17). Außerdem sind die Leiden dieser Zeit nicht wert, mit der kommenden Herrlichkeit verglichen zu werden (Röm 8,18). Die Anfechtungen sind leicht und zeitlich begrenzt, die Herrlichkeit ist ewig und wiegt schwerer als alles andere (2. Kor 4,17).
4,1 Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen diesem Abschnitt und dem vorhergehenden (vgl. 3,18). Wir haben über Christus als Beispiel eines Menschen nachgedacht, der ungerechterweise »gelitten« hat. Er litt durch die Hände böser Menschen um der Gerechtigkeit willen. Weil dies der Fall war, sollten sich seine Nachfolger »mit demselben Sinn … wappnen«. Sie sollten damit rechnen, um seines Namens willen zu leiden. Sie sollten bereit sein, Verfolgung zu erleiden, weil sie Christen sind. Wer immer »im Fleisch« (d. h. an seinem Leib) »gelitten hat«, der »hat mit der Sünde abgeschlossen«. Der Gläubige steht zwei Möglichkeiten gegenüber – der Sünde oder dem Leiden. Einerseits kann er sich entscheiden, so wie die Menschen um ihn her zu leben, und ihre sündhaften Vergnügen teilen, um auf diese Weise Verfolgung zu vermeiden. Oder er kann in Reinheit und Gottesfurcht leben, die Schande Christi auf sich nehmen und Leiden erdulden, weil die Gottlosen ihm widerstehen. James Guthrie, ein Märtyrer, sagte kurz bevor er gehängt wurde: »Liebe Freunde, nehmt diesen Kelch des Leidens, wie ich es getan habe, ehe ihr sündigt, denn Sünde und Leiden sind mir vorgelegt worden, und ich habe das Leiden erwählt.«
Wenn ein Gläubiger sich bewusst dafür entscheidet, als Christ Verfolgung zu leiden, statt ein Sündenleben zu führen, dann hat er »mit der Sünde abgeschlossen«. Das bedeutet nicht, dass er nun sündlos wäre, doch die Macht der Sünde in seinem Leben ist gebrochen. Wenn ein Mensch leidet, weil er sich der Sünde verweigert, dann wird er nicht mehr vom Willen des Fleisches beherrscht.
4,2 Während seines weiteren irdischen Lebens wird er nun nicht mehr durch menschliche Leidenschaften gelenkt, sondern durch den »Willen Gottes«. Er zieht es vor, als Christ zu leiden, statt wie die Ungläubigen zu sündigen. Er würde eher sterben, als seinen Herrn zu verleugnen. »Die im Fleisch noch übrige Zeit« ist der Rest seines irdischen Lebens. Der Gläubige entscheidet sich, diese Jahre lieber zur Ehre Gottes als zur Bef riedigung seiner Sinne zu verwenden.
4,3 Petrus schreibt an Menschen, die vor ihrer Bekehrung in aller moralischen Verdorbenheit der Heidenwelt gelebt hatten. Sie hatten »genug« von diesem Leben! Als Christen waren sie neue Geschöpfe, und die alten Sünden sollten abgelegt werden. Die folgenden Jahre ihres Lebens gehörten Gott und sollten ihm gegeben werden.
Die Sünden, die Petrus hier anführt, sind auch heute noch für die heidn ische nichtchristliche Welt charakteristisch – die Sünden der freizügigen Sexualität, des Alkoholmissbrauchs und der falschen Religionen.
»Ausschweifungen« – ungezügeltes Schwelgen insbesondere in sexuellen Sün den.
»Begierden« – Befriedigung sündhafter Lüste aller Art, wobei aber wieder speziell sexuelle Sünden gemeint sind. »Trunkenheit« – Verlust der Selbstkontrolle, weil man sich berauschenden Getränken hingibt. Daraus folgt, dass die Willenskraft zum Widerstand gegen Versuchungen weiter vermindert wird. Es gibt eine enge Beziehung zwischen Trunkenheit und sexueller Sünde. »Festgelage« – laute Partys und Feiern bis spät in die Nacht.
»Trinkgelage« – Zechtouren, die zur Zügellosigkeit und zu Schlägereien führen.
»Frevelhafter Götzendienst« – die Verehrung von Götzen mit allen damit verbundenen Sünden.
Menschen nehmen Züge dessen an, was sie anbeten. Wenn sie den wahren Gott verlassen, dann sinkt automatisch ihr moralischer Maßstab. Dieser niedrigere Maßstab erlaubt es ihnen, sich alle möglichen Vergnügungen zu gönnen, denen sie unbedingt frönen wollen. Deshalb bringen dem Götzendienst verhaftete Relig ionen Sünde und Entehrung mit sich.
4,4 Dieser Vers beschreibt die allgemeine Erfahrung derer, die von einem Leben äußeren Verfalls errettet wurden. Ihre früheren Gefährten sind der Meinung, dass sie verrückt geworden sind. Dabei beschuldigen sie die Gläubigen, religiöse Fanatiker geworden zu sein. Sie denken, dass es sich um eine geistige Krankheit handelt, wenn Christen nicht mehr an Tänzen, weltlichen Partys und Sexorgien teilnehmen. Das reine, ordentliche Leben eines Gläubigen verurteilt den Sünder. Kein Wunder, dass dieser die Veränderung des Gläubigen hasst!
4,5 Obwohl die Gottlosen den Christen in diesem Leben lästern, müssen sie einst beim Gericht vor dem großen weißen Thron für jedes Wort und für jede Tat »Rechenschaft geben«. Der Herr ist »bereit …, Lebendige und Tote zu richten«. Ganz deutlich hat hier Petrus die Ungläubigen im Blick. Das Gericht der zu diesem Zeitpunkt lebenden Ungläubigen wird stattfinden, ehe das Tausendjährige Reich beginnt. Die in Sünde Gestorbenen werden gegen Ende der Herrschaft Christi über diese Erde gerichtet werden. Ihre Verdammnis wird ein Beweis für die Gerechtigkeit der Kinder Gottes sein.
4,6 Aus diesem Grund (nämlich der Rechtfertigung der Kinder Gottes) »ist auch den Toten gute Botschaft verkündigt worden«. Hier haben wir wieder eine schwierige Stelle vor uns. Bedeutet dies, dass das Evangelium Menschen gepredigt wurde, nachdem sie gestorben waren? Oder lebten sie noch, als dies geschah? Und wer waren diese Menschen? Wir verstehen diesen Vers so, dass er sich auf Menschen bezieht, denen das Evangelium gepredigt wurde, als sie noch auf Erden lebten, und die dem Herrn glaubten. Wegen ihres tapferen Einstehens für die Wahrheit litten sie durch die Hände gottloser Menschen, und in einigen Fällen wurden sie sogar zu Märtyrern. Diese Gläubigen wurden, obwohl sie »den Menschen gemäß nach dem Fleisch gerichtet« oder verurteilt worden sind, von »Gott« gerechtfertigt. Sie genießen nun das ewige Leben bei ihm. Sie waren nicht tot, als ihnen das Evangelium gepredigt wurde. Doch sie sind jetzt leiblich tot. Obwohl die Menschen sie für verrückt hielten, hat »Gott« ihnen die Ehre gegeben, und sie leben nun im Himmel.
Die Predigt des Evangeliums hat zwei Auswirkungen auf die Menschen, die glauben: Sie ziehen sich das Missf allen der Mitmenschen und das Wohlwollen Gottes zu. Barnes erklärt: Als ihnen das Evangelium verkündigt wurde, kam es durchaus vor, dass sie durch Menschen in der üblichen Weise beurteilt und sogar getötet wurden. Dennoch bestand die Zielsetzung für sie darin, dass sie entsprechend ihrer höheren und vornehmeren Wesensart (d. h. nach dem Geist) für Gott leben sollten.27
III. Der Dienst des Gläubigen und sein Leiden (4,7-5,14)
A. Wichtige Anweisungen für die letzten Tage
4,7 Durch die hier befindliche Feststellung (»Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge«) wird nun eine Folge von Ermahnungen eingeleitet. Man versteht darunter entweder 1. die Zerstörung Jerusalems, 2. die Entrückung, 3. die Wiederkunft Christi zur Herrschaft oder 4. die Vernichtung von Himmel und Erde am Ende des Tausendjährigen Reiches. Wir sind der Ansicht, dass es sich wahrscheinlich um das Letztere handelt. Die erste Ermahnung lautet, »besonnen und … nüchtern zum Gebet« zu sein. Dies wurde in einer Zeit der Verfolgung geschrieben. Es bedeutet, dass das Gebetsleben des Gläubigen von Störungen (wie Angst und gefühlsmäßiger Unruhe), die durch den Verfolgungsdruck hervorgerufen werden, frei sein sollte. Die Gemeinschaft des Gläubigen mit Gott sollte von ungünstigen Umständen unabhängig bleiben.
4,8 Der Gläubige muss auf seine Gemeinschaft mit anderen Gläubigen achtgeben  (V. 8.9)  und  »anhaltende  Liebe« gegenüber allen Angehörigen der Glaubensfamilie haben. Solch eine Liebe stellt die Fehler und das Versagen der anderen Gläubigen nicht heraus, sondern wird sie vor der Öffentlichkeit verbergen. Jemand hat einmal gesagt: »Der Hass macht alles ganz groß, die Liebe aber vergräbt vieles, sodass man es nicht mehr sieht.« Die Aussage: »Die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden« (Spr 10,12) sollte nicht als eine lehrmäßige Erklärung im Blick darauf aufgefasst werden, wie Sünde weggenommen wird. Die Schuld und Strafe für die Sünden können nur durch das Blut Christi weggewaschen werden. Auch sollte diese Aussage nicht missbraucht werden, um Sünde gutzuheißen oder die Gemeinde von ihrer Verpflichtung zu erforderlichen Zuchtmaßnahmen zu entheben. Diese Aussage bedeutet einfach, dass wahre Liebe imstande ist, kleine Fehler und Vergehen anderer Gläubiger zu übersehen.
4,9 Man kann den Glaubensgeschwistern seine Liebe dadurch bekunden, dass man ohne Murren »gastfrei« ist. Dieser Rat ist besonders in Verfolgungszeiten notwendig, wenn vielleicht das Essen knapp ist. Möglicherweise werden diejenigen, die Christen Unterschlupf gewähren, verhaftet, kommen ins Gefängnis oder werden sogar selbst umgebracht. Gastfreundschaft ist ein großes Vorrecht. Durch praktische Gastfreundschaft haben schon Menschen unwissend Engel beherbergt (Hebr 13,2). Jede Freundlichkeit, die einem Kind Gottes erwiesen wird, wird als dem Herrn selbst getan angesehen (Matth 25,40). Ganz gleich, wie gering die Freundlichkeit gewesen ist, sie wird großzügig belohnt werden. Auch wenn es sich nur um einen Becher kalten Wassers handelt, den man im Namen des Herrn weitergegeben hat, so wird dies belohnt werden (Matth 10,42). Diejenigen, die einen Propheten nur deshalb aufnehmen, weil er ein Prophet ist, werden den Lohn eines Propheten empfangen (Matth 10,41), der nach jüdischer Ansicht besonders groß war. Viele Christen bezeugen den Segen, den ihre Familien erlebten, weil sie den Dienern des Herrn Gastfreundschaft gewährt haben. Jesus lehrte, dass wir diejenigen aufnehmen sollen, die uns nichts wiedergeben können (Lk 14,12). Das bedeutet nicht, dass wir niemals Verwandte, Freunde oder Nachbarn aufnehmen sollen, die uns das vergelten können. Doch unsere Absicht sollte darin bestehen, im Namen des Herrn Jesus den Menschen gegenüber freundlich zu sein, ohne auf eine Gegeneinladung zu spekulieren. Sicher ist es jedoch fraglich, ob die Gläubigen ständig Feste und Partys mit ihren Freunden feiern sollten, während große Teile der Welt noch nicht evangelisiert sind.
4,10 »Jeder« Gläubige hat eine »Gnadengabe« vom Herrn »empfangen«, eine besondere Aufgabe, die er als Glied des Leibes erfüllen soll (1. Kor 12,4-11;29-31). Diese Gaben sind uns vom Herrn zur Verwaltung gegeben. Sie sollen nicht für eigensüchtige Zwecke missbraucht, sondern zur Ehre Gottes und zum Nutzen unserer Mitmenschen eingesetzt werden. Wir sind nicht die letztendlichen Empfänger der uns zugedachten Gaben Gottes. Die Gnade, die uns erreicht, soll nicht bei uns bleiben. Wir sollen Verteiler werden, durch die der Segen anderen zufließen kann.
Wir sollen »gute Verwalter der verschiedenartigen Gnade Gottes« sein. Der Ausdruck »Gnade Gottes« bezieht sich hier auf unverdiente Vorrechte, die Gott dem Menschen anbietet. »Verschiedenartig« bedeutet wörtlich so viel wie »vielfarbig« oder »bunt«. Phillips übersetzt es mit »außerordentlich vielfältig«.
4,11 Auch wenn ein Mann zum Reden oder Lehren begabt ist, muss er sich sicher sein, dass seine Rede die Worte enthält, deren Weitergabe Gott ihm zu dieser bestimmten Gelegenheit aufgetragen hat. Das ist mit »Aussprüche Gottes« gemeint. Es reicht nicht aus, einfach aus der Bibel zu predigen. Der Prediger sollte sich auch sicher sein, dass er die besondere Botschaft bringt, die Gott für seine Zuhörer in diesem Augenblick bestimmt hat. Jeder, der irgendeinen Dienst tut, sollte ihn in dem demütigen Wissen verrichten, dass »Gott« ihn dazu befähigt. Dann kommt »Gott« die Ehre dafür zu – demjenigen, dem sie gebührt. Diener des Herrn dürfen nicht stolz werden, ganz gleich, wie begabt sie für den Dienst des Herrn sind. Sie haben ja die Gabe nicht aufgrund eigener Anstrengungen erhalten, sondern sie ist ihnen von oben her zugeeignet worden. Sie haben überhaupt nichts, das sie nicht zuvor empfangen haben. Jeder Dienst sollte so durchgeführt werden, dass Gott dafür gelobt wird.
Wie Petrus betont, wird diese Ehre dem Vater »durch Jesus Christus« als Mittler gegeben, weil Gott durch ihn so viel für uns getan hat. Diesem hochgelobten Heiland gebührt Ehre und Macht »in alle Ewigkeit. Amen«.
B. Ermahnungen und Erklärungen zum Thema Leiden (4,12-19)
4,12 Der Rest von Kapitel 4 enthält Ermahnungen und Erklärungen zum Thema Leiden, die im Namen Christi erduldet werden. Das Wort »Leiden« und Ableitungen davon finden sich 21-mal in diesem Brief.
Die normale Haltung eines Christen ist, Verfolgung als befremdlich und unnormal zu empfinden. Wir sind überrascht, wenn wir leiden sollen. Doch Petrus sagt uns hier, dass wir das Leiden um Christi willen als normale christliche Erfahrung ansehen sollen. Wir können nicht damit rechnen, von der Welt besser behandelt zu werden als unser Heiland. Alle, die ein gottesfürchtiges Leben in Christus Jesus führen wollen, werden verfolgt  werden  (2. Tim  3,12).  Insbesondere gilt, dass diejenigen, die für Christus öffentlich einstehen, zum Ziel harter Angriffe werden. Satan verschwendet seine Munition nicht auf Namenschristen. Er zielt mit seinen Kanonen auf diejenigen, die die Pforten der Hölle erstürmen.
4,13 Dieses Vorrecht, an den »Leiden des Christus« Anteil zu haben, sollte uns zur Freude veranlassen. Wir können natürlich Christi Sühneleiden nicht teilen, denn er ist der Einzige, der unsere Sünden getragen hat. Doch wir können dieselbe Art des Leidens erdulden, die er als Mensch erdulden musste. Wir können seine Schande und seine Verwerfung durch die Menschen teilen. Unser Leib kann die Wunden und Striemen erhalten, die die Ungläubigen noch immer gerne unserem Herrn zufügen würden. Wenn sich das Kind Gottes heute inmitten von Leiden freuen kann, wie viel mehr wird es sich erst »mit Frohlocken« freuen, wenn die »Herrlichkeit Christi« offenbart wird. Wenn unser Heiland als Löwe aus Juda auf die Erde zurückkehrt, wird er als der allmächtige Sohn Gottes geoffenbart werden. Diejenigen, die jetzt um seines Namens willen leiden, werden dann mit ihm geehrt werden.
4,14 Die ersten Christen freuten sich darüber, dass sie für würdig erachtet wurden, Schande »im Namen Christi« zu erleiden (Apg 5,41). Das sollte für jeden Christen gelten, der das Vorrecht hat, um Christi willen verachtet zu werden. Solches Leiden ist ein echtes Zeichen dafür, dass »der Geist der Herrlichkeit und Gottes« auf uns »ruht«. Dies ist der Heilige »Geist«, der auf den verfolgten Christen »ruht«, wie die Herrlichkeitswolke auf dem Heiligtum des AT ruhte und dort die Anwesenheit Gottes anzeigte. Wir wissen, dass der »Geist« jedem wahren Kind Gottes innewohnt, doch er »ruht« in einer besonderen Weise auf denen, die ganz dem Anliegen Christi hingegeben sind. Sie kennen die Gegenwart und Kraft des Geistes auf eine Weise, wie andere sie nicht erfahren. Derselbe Herr Jesus, der von den Verfolgern »verlästert« wird, wird von seinen leidenden Heiligen »verherrlicht« (Schl 2000).28
4,15 Ein Christ sollte niemals Leiden wegen eigener Missetaten über sich bringen. Er sollte sich nie eines Mordes, Diebstahls oder sonst etwas Bösen schuldig machen bzw. sich nicht »in fremde Sachen« einm ischen. Dadurch wird Gott nicht verherrlicht – es ist nur eine Schande für Christus.
4,16 Doch es ist keine Schande, wenn jemand »als Christ leidet«. F. B. Meyer sagt, dass dies gilt – ganz gleich, »ob man dabei sein Geschäft, seinen Ruf und seine Familie verliert, ob man von Eltern, Kindern und Freunden verlassen wird, ob man missverstanden, gehasst oder sogar getötet wird«.29 Wer sich zu Recht Christ nennt, kann »Gott« unter all diesen Anfechtungen »verherrlichen«. G. Campbell Morgan ermahnt uns zu Folgendem: Dies bedeutet mehr, als sich nur seines Namens zu rühmen. Es bedeutet, des christlichen Glaubens so würdig zu leben, dass Gott verherrlicht wird. Wenn jemand als Christ bekannt ist und nicht so lebt, dann entehrt er Gott. Wenn wir diesen Namen annehmen, dann tragen wir eine Verantwortung, und zwar eine große und herrliche, doch auch eine sehr schwere.30
4,17 Petrus vergleicht nun das Leiden des Volkes Gottes in dieser Welt mit dem Leiden der Verdammten in der Ewigkeit. »Denn die Zeit ist gekommen, dass das Gericht anfange beim Haus Gottes.« »Die Zeit«, die hier erwähnt wird, ist das Zeitalter der Gemeinde, das zu Pfingsten begann und bis zur Entrückung dauert. Das »Haus Gottes« ist die Gemeinde. Während dieses Zeitalters ist die Gemeinde einem »Gericht« durch die ungläubige Welt unterworfen. Gläubige rechnen jetzt mit ihrem Leiden, genauso wie Jesus, als er auf der Erde war.
Wenn das so ist, »was wird das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen?« Wenn Christen jetzt schon dafür leiden, dass sie Gutes tun, was werden dann die Verlorenen für ihre bösen Taten in der Ewigkeit erleiden müssen?
4,18 Dieselbe Argumentation bringt der Vers, der aus Sprüche 11,31 zitiert wird: »Wenn die Gerechten« schon auf der Erde gerichtet werden, wie viel mehr dann »der Gottlose und Sünder«? Der »Gerechte« wird »mit Not« oder gerade eben errettet. Vom göttlichen Standpunkt aus ist seine Errettung um einen hohen Preis erkauft worden. Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen werden die Menschen ermahnt: »Ringt danach, durch die enge Pforte einzugehen« (Lk 13,24). Die Gläubigen werden gelehrt, »dass wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen«. Angesichts aller Gefahren und Versuchungen, die den Christen bestürmen, ist es wirklich nur ein Wunder der göttlichen Gnade, dass er für das himmlische Reich bewahrt wird.
Wenn das so ist, was wird dann die endgültige Bestimmung derer sein, die in ihren Sünden gestorben sind, ohne dass sie Buße getan haben und erlöst worden sind? Ein anschauliches Beispiel für diese Wahrheit findet sich in folgender Anekdote aus den Schriften von F. B. Meyer:
Gemäß dem ernsthaften Wunsch eines gläubigen Mannes sollte sein Tod so siegreich werden, dass seine unbekehrten Söhne von der offensichtlichen Kraft des Evangeliums überzeugt und angezogen würden, die es möglich macht, sich noch im Tal des Todesschattens zu freuen und dort auszuhalten. Stattdessen wurde sein Geist zu seinem großen Bedauern außerordentlich beschwert, er wurde von Befürchtungen, Ängsten und Zweifeln geplagt, und der Feind durfte ihm bis zum Äußersten zusetzen. Doch genau dies hat seine Kinder am meisten beeindruckt. »Denn«, so sagte der Älteste, »wir alle wissen, was für ein guter Mensch unser Vater war, und doch sehen wir, wie schwer er geistlich leiden muss. Was haben wir dann zu erwarten, die wir uns nie um unsere Seelen bekümmert haben?«31
Petrus betont, dass Leiden »nach dem Willen Gottes« geschehen muss. Religiöse Fanatiker können sich Leiden regelrecht zuziehen, indem sie ohne göttliche Leitung übereilt handeln. Diejenigen, die einen Märtyrerkomplex haben, versuchen Gott auf eine Weise, die ihn verunehrt. Doch der echte Leidensweg führt den Christen in die ewige Herrlichkeit. Angesichts dessen sollten die Gläubigen weiterhin Gutes tun, ganz gleich, was die Kosten sein mögen, und »ihre Seelen … einem treuen Schöpfer … anbefehlen«.
Es scheint etwas seltsam zu sein, dass Petrus an dieser Stelle den Herrn als »Schöpfer« und nicht als Heiland, Hohenpriester oder Hirten anführt. Christus ist auf zweifache Weise unser Schöpfer – wir gehören ihm als Teil der ersten und der zweiten Schöpfung (Eph 4,24; Kol 3,10). In jedem Fall werden wir von ihm geliebt und umsorgt. Es ist nur vernünftig, dass wir uns selbst demjenigen Gott anvertrauen sollten, der unsere Seelen erschaffen und sie errettet hat. C. Ermahnungen und Grüße (5,1-14)
5,1 Dieses Schlusskapitel des 1. Petrusbriefes enthält Ermahnungen und Grüße. Zunächst wird das Wort an »die Ältesten« gerichtet. Um seine Autorität für solch eine Ermahnung zu unterstreichen, stellt sich Petrus hier als »Mitältester und Zeuge der Leiden des Christus und auch als Teilhaber der« noch ausstehenden »Herrlichkeit« vor. »Mitältester« – welch ein Unterschied zum Anspruch des sogenannten »Pontifex Maximus« der Kirche! Ein »Zeuge« – Petrus sah den Hirten für die Schafe sterben, und die Erinnerung an diese Liebe zwingt ihn, für seine Gemeinde als treuer Unterhirte zu sorgen. Ein »Teilhaber« – schon bald dämmert die Herrlichkeit herauf, und Christus wird kommen. Dann werden wir mit ihm in Herrlichkeit erscheinen (Kol 3,4). Bis dahin gilt die Aufforderung des Heilandes: »Weide meine Lämmer … hüte meine Schafe!« (Joh 21,15-17).
5,2 Älteste sind reife Christen, die vom Heiligen Geist zur geistlichen Leiterschaft in der Gemeinde befähigt worden sind. Das NT geht davon aus, dass es immer mehrere Älteste gibt – nicht einen Ältesten in einer Gemeinde oder sogar über mehrere Gemeinden, sondern zwei oder mehr Älteste in einer Gemeinde (Phil 1,1). Die zum Ältestendienst erforderlichen Eigenschaften werden in 1. Timotheus 3,1-7 und in Titus 1,6-9 genannt. In der Urgemeinde wurden Älteste von den Aposteln ernannt, und zwar bis zu der Zeit, da das NT in schriftlicher Form vorlag. Älteste sollten jedoch erst ihren Dienst übernehmen, wenn eine Gemeinde lange genug existierte, damit sich Begabungen in dieser Richtung zeigen konnten. Heute sollten Christen diejenigen anerkennen und ihnen gehorchen, die die Eignung mitbringen und einen Ältestendienst ausüben.
»Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist.« »Die Herde« gehört »Gott«, doch Älteste haben die Verantwortung, als Unterhirten zu dienen. »… nicht aus Zwang, sondern freiwillig.«32 Wer die Herde führt, hat kein Amt inne, das Menschen durch Erwählung oder Ernennung erhalten. Vielmehr gibt der Heilige Geist die entsprechende Fähigkeit und macht dem Betreffenden die Notwendigkeit seines Dienstes klar, und der Älteste muss mit einem bereiten Herzen darauf reagieren. Deshalb lesen wir in 1. Timotheus 3,1: »Wenn jemand nach einem Aufseherdienst trachtet, so begehrt er ein schönes Werk.« Mit der göttlichen Befähigung muss menschliche Bereitschaft einhergehen.
»… auch nicht aus schändlicher Gewinnsucht.« Finanzielle Motive dürfen kein Anreiz sein, einen Ältestendienst anzustreben. Das schließt nicht aus, dass ein Ältester von seiner Gemeinde ein Gehalt erhalten darf, denn die Existenz solcher »vollzeitlicher« Ältesten« wird in 1. Timotheus 5,17.18 angedeutet. Doch es bedeutet, dass Geschäftssinn mit echtem christlichen Dienst unvereinbar ist.
5,3 Der dritte Teil der Ermahnung des Petrus lautet: »… nicht als die da herrschen über die ihnen anvertrauten Anteile der Herde, sondern indem ihr Vorbilder der Herde werdet.« Älteste sollten Vorbilder sein, keine Diktatoren. Sie sollten vor der Herde hergehen und sie nicht vor sich hertreiben. Sie sollten die Herde nicht behandeln, als sei sie ihr Eigentum. Genau das wäre Anmaßung von Autorität! Viele Missstände in der Christenheit ließen sich verhindern, wenn man nur den drei Anweisungen in den Versen 2 und 3 gehorchen würde. Die erste würde alle falsche Zurückhaltung ausschließen, die zweite würde alle Geldgier im Dienst beenden, und die dritte würde allem Amtsdenken in der Gemeinde den Todesstoß versetzen.
5,4 Der Dienst eines Ältesten erfordert großen Einsatz der körperlichen und seelischen Energien. Er muss Mitgefühl haben, Ratschläge geben, tadeln, zurechtweisen, ermahnen, lehren, Zuchtmaßnahmen ausführen und warnen. Manchmal scheint es eine undankbare Aufgabe zu sein. Doch dem treuen Ältesten ist eine besondere Belohnung verheißen. »Wenn der Oberhirte offenbar geworden ist«, so wird der Älteste den »unverwelklichen Siegeskranz der Herrlichkeit empfangen«. Offen gesagt wissen wir nicht allzu viel über die verheißenen Siegeskränze der Schrift – etwa den Ruhmeskranz  (1. Thess  2,19),  den  Siegeskranz  der  Gerechtigkeit  (2. Tim  4,8), den Siegeskranz des Lebens (Jak 1,12; Offb 2,10) und den Siegeskranz der Herrlichkeit. Wir wissen nicht, ob es sich um echte Kränze handelt, die wir dem Heiland zu Füßen legen werden, oder ob sie einfach nur anzeigen, welche Verantwortung wir während der Herrschaft Christi haben (Lk 19,17-19). Oder werden sie zu unserer christlichen Wesensart gehören, die wir in der gesamten Ewigkeit behalten werden? Doch wir wissen, dass sie die gerechte Vergeltung für alle Tränen, Anfechtungen und Leiden sein werden, die wir hier auf Erden erduldet haben.
5,5 Die »Jüngeren«, ob sie nun an Jahren oder im Glauben jünger sind, sollten sich »den Ältesten« unterordnen. Warum? Weil unsere Aufseher die Weisheit haben, die sich aus Jahren der Erfahrung im Glauben ergibt. Sie haben ein tiefes Verständnis für das Wort Gottes, das auf Erfahrung beruht. Und sie sind diejenigen, denen Gott die Verantwortung der Fürsorge für seine Schafe gegeben hat. Alle Gläubigen sollten sich »mit Demut … kleiden«, denn sie ist eine große Tugend. Moffatt drückt das so aus: »Umgürtet euch mit dem Schurz der Demut.« Dies passt sehr gut, weil der Schurz bzw. die Schürze das Zeichen des Dieners ist. Ein Indienmissionar sagte einmal: »Wenn ich zwei Sätze auszuwählen hätte, die zum geistlichen Wachstum notwendig sind, so wären es die beiden folgenden: ›Ich weiß es nicht‹, und: ›Es tut mir aufrichtig leid‹. Und beide Sätze sind Kennzeichen einer tiefen Demut.« Man stelle sich eine Gemeinde vor, in der alle Mitglieder diese demütige Gesinnung haben, wo einer den anderen höher achtet als sich selbst, wo sie sich einander zuvorkommen, die »niederen« Arbeiten zu erledigen. Solch eine Gemeinde muss kein Wunschtraum bleiben, sie kann und sollte Wirklichkeit sein. Selbst wenn es keine anderen Gründe zur Demut gäbe, dann wäre dieser eine doch ausreichend: »Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.« (Petrus zitiert hier aus der griechischen Übersetzung von Sprüche 3,34.) Man denke nur! Gott widersteht unserem Stolz und ist entschlossen, ihn zu brechen, doch der allmächtige Gott kann einem zerbrochenen und demütigen Herzen nicht widerstehen!
5,6 Diese Demut sollte sich nicht nur im Umgang mit anderen, sondern auch Gott gegenüber zeigen. In den Tagen des Petrus gingen die Gläubigen durch das Feuer der Verfolgung. Diese Anfechtungen waren von Gott zugelassen, auch wenn sie nicht von ihm verursacht wurden. »Ihr verhaltet euch am besten«, so sagt Petrus sinngemäß, »wenn ihr sie demütig aus der Hand des Herrn annehmt.« Er wird sein Volk bewahren und es »zur rechten Zeit« erhöhen.
5,7 Die Gläubigen dürfen »alle« ihre Ängste in der Gewissheit vor den Herrn bringen, dass er um sie »besorgt« ist. Und wieder zitiert Petrus aus der griechischen Übersetzung des AT (Ps 55,23). J. Sidlow Baxter weist darauf hin, dass es hier zweierlei Sorgen gibt: Es gibt die ängstliche Sorge, wie sie sich in den Worten ausdrückt: »Alle eure Sorgen werft auf ihn.« Und außerdem gibt es die liebevolle Fürsorge, die folgendermaßen beschrieben wird: »Er ist besorgt für euch.« Über all unserem ängstlichen Sorgen steht die liebevolle Fürsorge des Herrn, die uns niemals enttäuscht.33
Sorge ist unnötig, und es besteht keinerlei Notwendigkeit, dass wir Lasten tragen, wenn Gott bereit und in der Lage ist, sie für uns zu tragen. Sorge ist ver geblich, denn sie hat noch kein einziges Problem gelöst. Sorge ist Sünde. Ein Predi ger hat einmal gesagt: »Sorge ist Sünde, weil sie die Weisheit Gottes leugnet, denn sie behauptet, dass Gott nicht wüsste, was er tut. Sie leugnet auch die Allmacht Gottes, denn sie behauptet, dass er nicht imstande ist, mich von dem zu befreien, das die Sorge verursacht.« Darüber sollten wir einmal ernsthaft nachdenken!
5,8 Obwohl wir uns nicht sorgen sollten, sollen wir doch »nüchtern« sein und wachen, weil wir einen großen »Widersacher«, den »Teufel«, haben. »Nüchtern« bedeutet ernsthaft, realistisch ans Leben heranzugehen, und einsichtsvoll die Behauptungen Satans zurückzuweisen. Pentecost hat sehr treffend gesagt: Ein Mensch, der die Natur und die Wesensart dieser Welt nicht zur Kenntnis nimmt und die Ziele sowie Angriffe unseres Widersachers, des Teufels, nicht in seine Berechnungen einbezieht, kann es sich leisten, achtlos und leichtfertig zu leben. Doch jemand, der das Leben christusgemäß sieht, der hat eine ganz neue Haltung, ganz neue Ansichten, die von Nüchternheit gekennzeichnet sind.34
Wir müssen auch immer wachsam sein, immer bereit, einen Angriff des Bösen abzuwehren. Hier wird unser »Widersacher« beschrieben: Er ist »wie ein brüllender Löwe«, der »sucht, wen er verschlingen kann«. Satan hat verschiedene Erscheinungsformen. Manchmal kommt er als Schlange und versucht, Menschen zu moralischen Sünden zu verleiten. Manchmal verkleidet er sich auch als Engel des Lichts und versucht, Menschen im geistlichen Bereich zu betrügen. Hier, als »brüllender Löwe«, will er das Volk Gottes durch Verfolgung in Angst und Schrecken versetzen.
5,9 Wir sollen vor seinem Zorn nicht zurückweichen. Wir sollen ihm stattdessen »widerstehen«, und zwar durch Gebet und Gottes Wort. Wir haben keine eigene Kraft, um ihm zu widerstehen, doch wenn wir »durch den Glauben« in Abhängigkeit vom Herrn gefestigt sind, dann können wir ihm »widerstehen«. Eines der Mittel Satans, uns zu entmutigen, besteht darin, uns zu der Annahme zu verleiten, dass unser Leid einzigartig wäre. Und wenn wir durch das Feuer der Anfechtung gehen, dann geschieht es leicht, dass wir unter der falschen Vorstellung zusammenbrechen, dass niemand so schlimm zu leiden hat wie wir. Petrus erinnert uns daran, »dass dieselben Leiden sich« auch an unserer christlichen »Bruderschaft in der Welt vollziehen«.
5,10 Echter Sieg in Verfolgung ist es, wenn wir Gott hinter den Kulissen am Werk sehen, wie er seine wunderbaren Absichten verwirklicht. Ganz gleich, wie schlimm unsere Anfechtung ist, wir sollten uns in erster Linie daran erinnern, dass er der »Gott aller Gnade« ist. Dieser wunderschöne Titel unseres Gottes erinnert uns daran, dass sein Handeln mit uns nicht darauf beruht, was wir verdient hätten. Vielmehr gründet er sich auf seine liebevolle Haltung uns gegenüber. Ganz gleich, wie schlimm unsere Anfechtungen sind, wir können immer dankbar sein, dass wir nicht in der Hölle sind, wie es uns eigentlich zukäme. Ein zweiter großer Trost ist, dass er uns »zu seiner ewigen Herrlichkeit … berufen hat«. Das ermöglicht es uns, über alles Leid dieses Lebens hinaus auf eine Zeit zu sehen, wenn wir beim Heiland und für immer ihm gleich sein werden. Man denke sich nur! Wir sind aus dem Kot dieser Welt herausgeholt und »zu seiner ewigen Herrlichkeit … berufen« worden!
Ein dritter Trost ist, dass das Leiden nur »eine kurze Zeit« dauert. Wenn wir das mit der »ewigen Herrlichkeit« vergleichen, dann erscheinen uns die Anfechtungen unseres Lebens weniger als kurz.
Die letzte Ermutigung lautet, dass Gott das Leiden benutzt, um uns zu erziehen und unseren christlichen Charakter zu formen. Er übt mit uns für die Herrschaft. Vier Aspekte diese Lernprozesses werden aufgeführt:
»Vollkommen machen« – Anfechtungen befähigen den Gläubigen, sie prägen wichtige Teile seines Charakters, um ihn geistlich reifen zu lassen. »Befestigen« – Das Leid macht den Christen fester, es hilft ihm, ein gutes Zeugnis aufrechtzuerhalten und unter Druck auszuhalten. Hier steht dasselbe Wort, das Jesus gegenüber Petrus verwendete: »Stärke deine Brüder« (Lk 22,32). »Kräftigen« – Verfolgung soll nach Satans Absichten die Gläubigen schwächen und ermüden, doch sie hat genau den gegenteiligen Effekt. Sie stärkt sie in ihrem Durchhaltevermögen.
»Gründen« – Dieses Verb ist im Original vom Wort »Fundament« abgeleitet. Gott möchte, dass jeder Gläubige eine sichere Stellung in seinem Sohn und seinem Wort hat.
Lacey sagt:
Die unausweichlichen Leiden des christlichen Lebens zeigen immer dieselben glückseligen Folgen im Leben eines Gläubigen. Sie führen zu einem vertieften Glauben und einer positiven Veränderung seiner Wesensart. Ferner stützen und stärken sie das Volk Gottes und bringen es zur Ruhe.35
5,11 Wenn wir sehen, wie Gott die Verfolgung und das Leiden zu seiner Ehre und unserem Guten überwindet, ist es kein Wunder, dass Petrus in diesen Lobpreis ausbricht: »Ihm sei die Macht in alle Ewigkeit! Amen.« Nur einem solchen Herrn gilt unser Lobpreis, und nur in diesen Händen ist die »Macht« sicher!
5,12 Hier geht es um »Silvanus« (es handelt sich wohl um denselben, der an anderer Stelle Silas genannt wird, eine Kurzform des Namens). Er war der »treue Bruder«, dem Petrus diesen Brief diktiert hat, und vielleicht auch der Bote, der ihn überbrachte. Das Ziel des Petrus mit diesem Brief war es, die Gläubigen in der Zerstreuung in der Ansicht zu bestärken, dass der christliche Glaube der wahre Glaube ist – oder, wie er es nennt, »die wahre Gnade Gottes«. Vielleicht wären sie in der Hitze der Verfolgung versucht sich zu fragen, ob es richtig war, dass sie den christlichen Glauben angenommen hatten. Petrus erklärt, dass es richtig war. Sie hatten Gottes Wahrheit gefunden und sollten fest darin stehen.
5,13 »Es grüßt euch die Miterwählte in Babylon und Markus, mein Sohn.«
Es ist unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, wer oder was mit »der Miterwählten in Babylon« gemeint ist. Einige der wich- tigsten Auslegungen lauten wie folgt: 1. Die »Bruderschaft« (2,17; 5,9). Im Griechischen (wie im Deutschen) ist dieses Hauptwort zufälligerweise weiblich. 2. Die Frau des Petrus. 3. Eine im betreffenden Ort bekannte Frau. Wir wissen auch nicht genau, was mit »Babylon« gemeint ist. Es könnte sich um folgende Orte handeln: 1. um die berühmte Stadt dieses Namens am Euphrat, wo es viele Juden gab; 2. um den Militärstützpunkt desselben Namens am Nil (unwahrscheinlich); 3. um Rom. In der Offenbarung steht die Stadt Babylon nach allgemeinem Verständnis für Rom (17,1-9; 18,10.21).
Eine dritte Frage erhebt sich bezüglich der Erwähnung des Markus. Ist er der leibliche Sohn des Petrus oder ist dies Johannes Markus, der Verfasser des Evangeliums? Das Letztere ist wahrscheinlicher. Wenn dies der Fall war, dann ist uns die Entscheidung überlassen, ob wir Markus als Sohn des Petrus bezeichnen, weil er ihn zu Christus geführt hat, oder weil das Wort »Sohn« einfach eine enge geistliche Beziehung zwischen einem älteren und einem jüngeren Christen bezeichnet. Das Wort, das Petrus für »Sohn« 36 benutzt, ist nicht dasselbe, das Paulus benutzt, um seine geistliche Beziehung zu Timotheus und Titus zu bezeichnen. Das von Petrus gewählte Wort passt auch gut zu der alten Tradition, dass das sehr anschauliche Evangelium des Markus auf den Augenzeugenberichten des Petrus beruht.
5,14 Der Älteste schließt mit einer Aufforderung und einem Segen. Die Aufforderung lautet: »Grüßt einander mit dem Kuss der Liebe.« Die Verpflichtung zur Bruderliebe ist eine feststehende Ordnung der Gemeinde, auch wenn ihr äußerer Ausdruck in verschiedenen Kulturen und Zeiten unterschiedlich sein mag. Der Segenswunsch lautet: »Friede euch allen, die in Christus sind!« Dies ist ein zur Ruhe führendes Wort für diese Heiligen, die in den Stürmen der Verfolgung stehen und im Namen Christi Drangsal erleiden. Alle Angehörigen seiner bluterkauften Schar hören das leise Wort Jesu (»Friede«), wenn sie inmitten einer ruhelosen Gesellschaft leiden.
In der Welt der Sünde, wo ist wahre Ruh’?
Aus dem Blut des Heilands fließt mir Frieden zu.
Wer erhellt das Dunkel über meinem Pfad?
Wohl dem, der den Heiland als den Führer hat!
Edward H. Bickersteth,
deutscher Nachdichter unbekannt
1,1 »Simon Petrus« stellt sich als »Knecht und Apostel Jesu Christi« vor. Sofort fällt uns seine Schlichtheit und Demut auf. Er war ein freiwilliger »Knecht«, doch zum »Apostel« ist er von Gott ernannt worden. Er benutzt keine pompösen Titel oder Statussymbole. Er erkennt nur dankbar seine Verpflichtung an, dem auferstandenen Heiland zu dienen.
Uns wird über die Empfänger des Briefes nur gesagt, dass sie den »gleich kostbaren Glauben« wie Petrus und seine Mitapostel »empfangen haben«. Dies kann darauf hinweisen, dass Petrus an heidnische Gläubige geschrieben hat und ihnen hier verdeutlichen will, dass sie denselben Glauben empfangen hatten, wie die gläubigen Juden – einen »Glauben«, der jenem in keiner Weise unterlegen ist. Alle, die durch die Gnade Gottes erlöst worden sind, wurden von Gott gleichermaßen angenommen, ob es sich um Juden oder Heiden, Männer oder Frauen, Sklaven oder Freie handelt. »Glaube« bedeutet die Summe all dessen, was sie empfangen haben, als sie zum christlichen Glauben gekommen sind. Petrus fährt nun fort zu erklären, dass dieser Glaube »durch die Gerechtigkeit unseres Gottes und Heilandes Jesus Christus« erst Wirklichkeit wird. Petrus meint damit Folgendes: Von Gott her war es gerecht, diesen »Glauben«, der uns eine gleiche Stellung ermöglicht, allen zu geben, die an den Herrn »Jesus« glauben. Christi Tod, seine Grablegung und seine Auferstehung schaffen die gerechte Grundlage, worauf Gott den Sündern durch den Glauben Gnade erweisen kann. Die Sündenschuld ist beglichen, und nun kann Gott jeden gottlosen Sünder rechtfertigen, der an seinen Sohn glaubt.
Der Titel »unser Gott und Heiland Jesus Christus« ist einer der vielen im NT, die auf die vollkommene Gottheit des Herrn Jesus hinweisen. Wenn er nicht Gott ist, dann haben diese Worte keinerlei Bedeutung.
1,2 Das Gebet des Apostels für seine Leser lautet, dass ihnen »Gnade und Friede … in der Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn … immer reichlicher zuteil« werden mögen. Er möchte, dass diese »Erkenntnis« durch die tragende und bevollmächtigende »Gnade« Gottes in ihrem täglichen Leben verwirklicht wird. Er will, dass ihre Herzen durch den »Frieden« Gottes bewahrt werden, der allen Verstand übersteigt. Doch sie sollen diesen Friede und diese Gnade nicht nur in kleinen Dosen in Anspruch nehmen! Vielmehr verlangt Petrus danach, dass ihnen diese Güter »immer reichlicher« zugeteilt werden, nicht in kleinen Häppchen.
Wie können diese Segnungen »immer reichlicher« werden? Nur durch die »Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn«. Je besser wir »Gott« erkennen, desto mehr erfahren wir seine »Gnade« und seinen »Frieden«. Es ist besser für uns, ständig im Allerheiligsten des Herrn zu wohnen, als dort nur gelegentlich zu Besuch zu sein. Diejenigen, die im Heiligtum und nicht in den Außenbezirken leben, finden das Geheimnis von Gottes »Gnade und Frieden«.
II. Aufforderung, eine starke christliche Wesensart zu entwickeln (1,3-21)
1,3 Dieser Abschnitt sollte jeden Christen außerordentlich interessieren, weil er uns sagt, wie wir uns in diesem Leben vor dem Fallen bewahren und wie wir sicher sein können, siegreich in das Leben nach unserem Abscheiden von dieser Erde einzugehen.
Zunächst einmal wird uns versichert, dass Gott alle Vorkehrungen getroffen hat, damit wir ein geheiligtes Leben führen können. Diese Vorsorge ist ein Zeichen seiner »göttlichen Kraft«: Sie hat uns »alles zum Leben und zur Gottseligkeit geschenkt«. So wie Gottes Kraft uns zunächst einmal errettet, so gibt uns seine Kraft die Energie, fortan ein geheiligtes Leben zu führen. Die Reihenfolge lautet: Erst »Leben«, dann »Gottseligkeit«. Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die uns von der Strafe der Sünde, von ihrer Macht, von der Verdammnis und von der Verunreinigung durch die Sünde befreit. Zu allem, was das »Leben und« die »Gottseligkeit« betrifft, gehört auch das hohenpriesterliche Werk Christi, der Dienst des Heiligen Geistes, die Aktivität der Engelwesen um unsertwillen, das neue Leben, das wir bei der Bekehrung erhalten, und die Belehrung durch das Wort Gottes.
Die »Kraft« zu einem geheiligten Leben erhalten wir »durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat«. So, wie seine »göttliche Kraft« die Ursache unserer Heiligung ist, so ist »die Erkenntnis« seiner selbst das Mittel zu unserer Heiligung. Ihn zu erkennen, bedeutet ewiges Leben (Joh 17,3), wobei wir in der Heiligung vorankommen, je mehr wir in der Erkenntnis seiner selbst fortschreiten. Je mehr wir ihn erkennen, desto mehr ähneln wir ihm.
Unsere Berufung ist eines der Lieblingsthemen des Petrus. Er erinnert uns daran, dass wir 1. aus der Finsternis in sein herrliches Licht berufen sind (1. Petr 2,9), 2. berufen sind, Christus auf seinem Leidensweg  zu  folgen  (1. Petr  2,21),  3.  berufen sind, Schmähungen mit Segen zu vergelten (1. Petr 3,9), 4. zu seiner ewigen Herrlichkeit berufen sind (1. Petr 5,10), 5. durch »Herrlichkeit und Tugend« berufen sind (2. Petr 1,3). Dieser letzte Hinweis auf unsere Berufung bedeutet, dass er uns »berufen hat«, indem er uns die Wunder seines Wesens offenbart hat. Saulus von Tarsus wurde berufen, als er auf der Straße nach Damaskus die Herrlichkeit Gottes sah. Ein späterer Jünger des Herrn gab folgendes Zeugnis: »Ich sah sein Angesicht und war für nichts mehr zu gebrauchen, was ihm nicht ähnlich war.« Er war »durch seine Herrlichkeit und Tugend« berufen worden.
1,4 Hier steht »alles, was Gottes Kraft uns »geschenkt hat«, um ein Leben der Heiligung führen zu können. Dazu gehören auch seine »kostbaren und größten Verheißungen« in seinem Wort. Man schätzt, dass die Bibel mindestens 30 000 Verheißungen enthält. John Bunyan hat einmal gesagt: »Der Pfad des Lebens ist so reichlich mit den Verheißungen Gottes bestreut, dass es unmöglich ist, einen Schritt zu tun, ohne auf eine von ihnen zu treten.«
Die »Verheißungen« Gottes sind das letzte von sieben Gütern, die Petrus in seinen Briefen »kostbar« nennt. Unser Glaube ist kostbarer als Gold (1. Petr 1,7). Das Blut Christi ist kostbar (1. Petr 1,19). Christus, der lebendige Stein, ist in Gottes Augen kostbar (1. Petr 2,4). Er ist auch als Eckstein kostbar (1. Petr 2,6). Er ist allen kostbar,  die  an  ihn  glauben  (1. Petr  2,7). Der unvergängliche Edelstein eines sanften und stillen Geistes ist in Gottes Augen kostbar (1. Petr 3,4), und schließlich sind noch die »Verheißungen« Gottes »kostbar« (2. Petr 1,4). Wir sollten über einige der Verheißungen nachdenken, die es bezüglich unserer Heiligung gibt: 1. Freiheit von der Herrschaft der Sünde (Röm 6,14); 2. in jeder Beziehung hinreichende Gnade (2. Kor 12,9); 3. Kraft, seinen Geboten zu gehorchen (Phil 4,13); 4. Sieg über den Teufel (Jak 4,7); 5. Auswege aus der Versuchung (1. Kor 10,13); 6. Vergebung, wenn wir unsere Sünden bekennen (1. Joh 1,9) (sowie Gottes Zusage, dass er nicht mehr an sie denken wird; Jer 31,34); 7. Antwort, wenn wir rufen (Ps 50,15). Es verwundert nicht, dass die Verheißungen Gottes nach den Worten des Petrus kostbar und überaus groß sind! Diese Verheißungen ermöglichen es dem Gläubigen, »dem Verderben, das durch die Begierde in der Welt ist«, zu entf liehen. Gott hat uns alles Nötige zum Widers tand gegen die Versuchung verheißen. Wenn Begierden aufkommen, dann können wir die Verheißungen in Anspruch nehmen. Sie ermöglichen es uns, der Verderbnis dieser Welt zu entkommen – vor ihrer Sünde auf sexuellem Gebiet, ihrer Trunkenheit, ihrem Schmutz, ihrem Elend, ihrem Verrat und ihrem Streben. Die positive Seite daran ist, dass wir durch dieselben Verheißungen »Teilhaber der göttlichen Natur« werden können. Dies findet in erster Linie bei unserer Bekehrung statt. Wenn wir dann in den praktischen Genuss der Verheißungen Gottes kommen, werden wir immer mehr in Jesu Bild umgestaltet. So hat er uns z. B. verheißen, dass wir ihm immer ähnlicher werden, je mehr wir über ihn nachsinnen (2. Kor 3,18). Wir verwirklichen diese Verheißung, indem wir das Wort lesen, das darin geoffenbarte Wesen Christi studieren und ihm dann folgen. Wenn wir dies tun, so verwandelt uns der Heilige Geist in Jesu Bild, und zwar von einer Herrlichkeit zur nächsten.
1,5 Die Verse 3 und 4 zeigen, dass Gott uns alles gegeben hat, was für das Leben aus Gott notwendig ist. Weil er das getan hat, müssen wir uns eifrig dari n üben. Gott heiligt uns nicht gegen unseren Willen oder ohne unsere Mithilfe. Von uns erer Seite ist dazu Verlangen, Ents chiedenheit und Disziplin vonnöten. Als Petrus über die christliche Wesensart schreibt, setzt er den »Glauben« voraus. Schließlich schreibt er an Christen – an diejenigen, die den rettenden »Glauben« an den Herrn Jesus schon besitzen. Deshalb trägt er ihnen nicht auf zu glauben, sondern nimmt den Glauben als gegeben an.
Eines ist jedoch nötig, und zwar die Tatsache, dass der »Glaube« von sieben Elementen der Heiligung ergänzt wird – nicht von einem Element nach dem anderen, sondern von allen Tugenden gleichzeitig.
Tom Olsons Vater pflegte seinen Söhnen den Abschnitt folgendermaßen vorzulesen:
Fügt eurem Glauben die Tugend oder den Mut Davids hinzu, dem Mut Davids die Weisheit Salomos, der Weisheit Salomos die Geduld Hiobs, der Geduld Hiobs die Frömmigkeit Daniels, der Frömmigkeit Daniels die brüderliche Freundlichkeit Jonatans, und der brüderlichen Freundlichkeit Jonatans die Liebe des Johannes.2
Lenski ist folgender Ansicht: Diese Siebenerliste wurde bezüglich der falschen Propheten (2,1) und im Blick darauf geschrieben, wie sie ihr Leben nach ihrem vorgeblichen Glauben führten. Das Lob ersetzen sie durch Verunehrung, die Erkenntnis durch Blindheit, die Selbstbeherrschung durch eine von Zügellosigkeit geprägte Freiheit, das Ausharren im Guten durch das Ausharren im Bösen, die Gottseligkeit durch die Gottlosigkeit, die brüderliche Freundlichkeit durch Abneigung gegen die Kinder Gottes, die wahre Liebe durch eine furchtbare Lieblosigkeit.3
Die erste charakteristische Eigenschaft ist die Tugend. Damit können Frömmigkeit, Herzensgüte, moralische Vortrefflichkeit gemeint sein, obwohl diese Eigens chaften später durch das Wort »Gotts eligkeit« erfasst werden. Es kann auch sein, dass »Tugend« hier geistlichen Mut angesichts einer feindlichen Welt oder die Kraft bezeichnet, für das Recht einzustehen.
Wir denken dabei an den Mut der Märtyrer. Erzbischof Cranmer wurde befohlen, seinem Glauben schriftlich abzuschwören. Anderenfalls drohte ihm der Tod auf dem Scheiterhaufen. Zunächst weigerte er sich, doch unter dem schrecklichen Druck unterzeichnete er mit seiner rechten Hand die Widerrufung. Später erkannte er seinen Fehler und forderte seine Henker auf, das Feuer anzufachen. Auf seinen eigenen Wunsch hin wurden ihm die Fesseln seiner Hände abgenommen. Dann hielt er seine rechte Hand ins Feuer und sagte: »Dies ist die Hand, die dies geschrieben hat, und deshalb soll sie als Erste bestraft werden. Diese Hand hat gesündigt! Diese unwürdige Rechte soll vergehen!«4
Zum Mut soll »Erkenntnis« kommen, insbesondere »Erkenntnis« geistlicher Wahrheiten. Damit wird die Bedeutung des Bibelstudiums und des Gehorsams gegenüber dem Wort betont. Mehr von der Wahrheit festem Wort, mehr von der Gnade treuem Hort, mehr von der Liebe hellem Stern, mehr von dem Heiland wüsst’ ich gern! Eliza E. Hewitt,
deutscher Nachdichter unbekannt Durch Schrifterkenntnis, die auf Erfahrung beruht, entwickeln wir jene Fähigkeit, die Erdman als »praktische Fertigkeiten im Alltag des christlichen Glaubens« bezeichnet.
1,6 Gott beruft jeden Christen zu einem disziplinierten Leben. Jemand hat dies einmal als »Kontrolle der Willenskraft durch den Geist Gottes« definiert. Wir brauchen Disziplin zum Gebet, zum Bibelstudium, bei der Verwendung unserer Zeit, bei der Zügelung körperlicher Begierden und für ein hingegebenes Leben.
Paulus übte solche »Enthaltsamkeit«. »Ich laufe nun so, nicht wie ins Un gewisse; ich kämpfe so, nicht wie einer, der in die Luft schlägt; sondern ich zerschlage meinen Leib und knechte ihn, damit ich nicht, nachdem ich and eren gepredigt, selbst verwerflich werde« (1. Kor 9,26.27). Audubon, der große Naturforscher, war bereit, sich längeren Unbequemlichkeiten auszusetzen, um mehr über die Vogelwelt Amerikas zu erfahren. Lassen wir Robert G. Lee erzählen: Wenn es um den Erfolg seiner Arbeit ging, so bedeutete ihm seine äußerliche Bequemlichkeit nichts. Er lag stundenlang bewegungslos im Finsteren und im Nebel und fühlte sich sehr belohnt, wenn er nach wochenlangem Warten eine zusätzliche Tatsache über eine Vogelart herausgefunden hatte. Manchmal musste er bis fast zum Hals im Wasser stehen und konnte nur ganz flach atmen, während giftige Mokassinschlangen an seinem Gesicht vorbeischwammen und große Alligatoren an seinem Beobachtungsposten, auf dem er still verharrte, vorbeikamen und ihn nicht entdeckten.
»Es war nicht gerade angenehm«, pflegte er zu sagen, und sein Gesicht glühte vor Eifer, »doch was soll’s? Ich habe das Bild dieses Vogels.« All das tat er, um ein Bild von einem Vogel zu bekommen.5
Weil andere uns ein Beispiel geben, weil eine verlorene Welt unser Zeugnis dringend braucht und weil wir sonst in der Gefahr stehen, es zunichtezumachen, sollten wir uns selbst so disziplinieren, dass Christus das Beste unseres Lebens bekommt.
»Enthaltsamkeit« sollte mit »Ausharren«  ergänzt  werden,  d. h.  mit  dem geduldigen Ertragen von Verfolgung und Widrigkeiten. Wir müssen uns ständig daran erinnern lassen, dass das christliche Leben eine Herausforderung zum Aush arren ist. Es reicht nicht, mit Glanz und Gloria zu beginnen; wir müssen trotz Schwierigk eiten durchhalten. Die Vorstellung, dass das Christenleben eine unendliche Folge von Gipfele rlebnissen sei, ist unrealistisch. Es gibt tägliche Routine, unangenehme Auf gaben, ent mutigende Umstände, bitteres Leid und zerstörte Pläne. »Ausharren« ist die Kunst, angesichts all dessen auszuhalten und weiterz umachen, mag auch vieles uns entgegen stehen.
Die nächste Tugend ist die »Gottseligkeit«. Unser Leben sollte Gott ähnlich sein, und zwar mit allem, was dies für die praktische Heiligung bedeutet. Unser Verhalten sollte deutlich die außergewöhnlichen Merkmale des von oben her gegebenen Lebens zeigen. Dann erkennen andere, dass wir Kinder uns eres himmlischen Vaters sind. Die Familienähnlichkeit sollte nicht zu übersehen sein. Paulus erinnert uns: »Die Gotts eligkeit aber ist zu allen Dingen nütze, weil sie die Verheißung des Lebens hat, des jetzigen und des zukünftigen« (1. Tim 4,8).
1,7 »Bruderliebe« weist uns der Welt gegenüber als Jünger Christi aus: »Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt« (Joh 13,35).
Liebe zu den Brüdern führt zur »Liebe« zu allen Menschen. Dies ist nicht so sehr eine Sache der Gefühle als vielmehr des Willens. Es geht nicht um eine sentimentale Erhebung, die man erfährt, sondern vielmehr um ein Gebot, dem wir gehorchen sollen. Im Sinne des NT ist Liebe übernatürlich. Ein Ungläubiger kann nicht so lieben, wie es die Bibel uns vorschreibt, denn er hat kein Leben aus Gott. Man braucht Leben aus Gott, um seine Feinde lieben und für seine Henker beten zu können. Die Liebe zeigt sich in  der  Hingabe.  So  heißt  es  z. B.:  »Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab« (Joh 3,16). »… wie auch der Christus die Gemeinde geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat« (Eph 5,25). Wir können unsere Liebe unter Beweis stellen, indem wir unsere Zeit, unsere Fähigkeiten, unsere Schätze und unser Leben für andere einsetzen. T. E. McCully war der Vater von Ed McCully, einem der fünf jungen Missionare, die von Auca-Indianern in Ekuador erschlagen wurden. Eines Abends betete er, als er gemeinsam mit mir auf den Knien lag: »Herr, lass mich lange genug leben, damit ich noch erleben kann, wie diese Männer – die Mörder unserer Jungs – errettet werden. Ich möchte sie umarmen und ihnen sagen, dass ich sie liebe, weil sie meinen Christus lieben.« Das ist christliche Liebe – wenn man so für die Mörder des eigenen Sohnes beten kann.
Diese sieben Tugenden machen eine in jeder Beziehung ausgewogene christliche Wesensart aus.
1,8 Auf dem Pfad der Jüngerschaft gibt es entweder Fortschritt oder Rückschritt, doch keinen Stillstand. Im Vorwärtsschreiten gewinnen wir Kraft und Sicherheit, im Rückzug liegen Gefahr und Versagen verborgen.
Wenn wir nicht ständig unsere christliche Wesensart weiterentwickeln, dann führt dies zu Trägheit, Fruchtlosigkeit, Blindheit, Kurzsichtigkeit und Vergesslichkeit.
Trägheit. Nur ein Leben, das wir in Gemeinschaft mit Gott verbringen, kann wirklich effektiv sein. Die Führung des Heiligen Geistes verhindert »träge« Aktivität und hilft uns zu einem Maximum an Tätigsein. Anderenfalls üben wir uns nur im Schattenboxen oder wir versuchen, Wasser in ein Sieb zu füllen. Unfruchtbarkeit. Es ist möglich, große »Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus« zu haben, und doch »fruchtleer« zu bleiben. Wenn wir nicht praktizieren, was wir erkennen, dann führt uns das unausweichlich zur Trägheit. Weil das Tote Meer zwar Zuflüsse, aber keinen Abfluss hat, erstirbt darin jegliches Leben. Auch im geistlichen Bereich wird dadurch die Fruchtbarkeit verhindert.
1,9 Kurzsichtigkeit. Es gibt verschiedene Grade des schlechten Sehens, die »unter Blindheit und sonstige Augenkrankheiten« zusammengefasst werden. Kurzsichtigkeit ist die Form von Blindheit, bei der der Mensch nur für die Gegenwart und nicht für die Zukunft lebt. Er ist mit dem Materiellen dermaßen beschäftigt, dass er das Geistliche darüber vergisst.
Blindheit. Wem die sieben Eigenschaften, die in Vers 5-7 genannt werden, fehlen, der ist blind. Er ist sich nicht bewusst, was das Wichtigste in seinem Leben ist. Er kann keine wahren geistlichen Werte mehr erkennen. Er lebt in einer finsteren Schattenwelt.
Vergesslichkeit. Schließlich hat ein Mensch, der diese sieben Eigenschaften nicht hat, »die Reinigung von seinen früheren Sünden vergessen«. Die Wahrheit von der Erlösung hält ihn nicht mehr gefangen. Er geht in die Richtung zurück, aus der kam, bevor er errettet wurde. Er spielt mit Sünden, die den Tod des Sohnes Gottes verursacht haben.
1,10 Und so ermahnt Petrus seine Leser, ihre »Berufung und Erwählung fest zu machen«. Es gibt zwei Facetten im Heilsplan Gottes. »Erwählung« bezieht sich auf Gottes souveränes, ewiges Handeln mit einzelnen Menschen, damit sie zu ihm gehören. »Berufung« bezieht sich auf Gottes Handeln in der Zeit, wodurch seine Erwählung verdeutlicht wird. Unsere »Erwählung« fand statt, ehe die Welt erschaffen wurde, unsere »Berufung« fand bei unserer Bekehrung statt. Zeitlich gesehen kommt erst die »Erwählung«, dann die »Berufung«. Doch aus menschlicher Sicht erfahren wir erst Gottes »Berufung«, um dann zu erkennen, dass wir in Christus schon von aller Ewigkeit her erwählt worden sind.
Wir können unsere »Berufung und Erwählung« nicht noch fester machen, als sie es schon sind, denn Gottes ewige Pläne können nicht umgestoßen werden. Doch wir können sie bestätigen, indem wir dem Herrn immer ähnlicher werden. Indem wir die Frucht des Geistes hervorbringen, können wir unmissverständliche Beweise erbringen, dass wir wirklich zu ihm gehören. Ein geheiligtes Leben beweist die Echtheit unserer Er lösung.
Leben in der Heiligung hält uns vom Straucheln ab. Es geht dabei nicht darum, dass wir in ewige Verdammnis fallen könnten, denn das Werk Christi errettet uns davor. Es geht vielmehr darum, in Sünde, in Entehrung und Nutzlosigkeit zu fallen. Wenn wir im geistlichen Leben nicht mehr vorwärts kommen, dann sind wir in Gefahr, in unserem Leben Schiffbruch zu erleiden. Doch wenn wir im Geist wandeln, dann werden wir davor bewahrt, von seinem Dienst disqualifiziert zu werden. Gott bewahrt den Christen, der für ihn vorwärts geht. Die Gefahr liegt in geistlicher Tatenlosigkeit und Blindheit.
1,11 Im ständigen geistlichen Fortschritt liegt nicht nur Sicherheit, sondern auch die Verheißung eines reichlich gewährten Eingangs »in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus«. Petrus bezieht sich hier nicht auf die Tatsache unseres Eingangs, sondern auf die Art des Eingangs. Die einzige Basis für die Zulassung zum himmlischen »Reich« ist der Glaube an den Herrn Jesus Christus. Doch einige werden reicher ausgestattet kommen als andere. Es wird verschiedene Belohnungen geben. Und hier wird ausgesagt, dass die Belohnung davon abhängt, inwieweit man dem Heiland ähnlich geworden ist.
1,12 Als Petrus über die gegenwärtigen und ewigen Folgen dieses Themas nachdachte, entschloss er sich, die Gläubigen immer wieder daran zu erinnern, wie wichtig es ist, eine christliche Wesensart zu entwickeln. Auch wenn sie es schon wussten, mussten sie doch ständig daran erinnert werden. Und dasselbe gilt für uns. Selbst wenn wir »in der bei« uns »vorhandenen Wahrheit befestigt« sind, besteht immer die Gefahr, einen Moment lang mit etwas anderem beschäftigt zu sein oder einfach etwas zu vergessen. Deshalb muss die Wahrheit ständig wiederholt werden.
1,13 Es war nicht nur die Absicht des Petrus, sondern auch seine Pflicht, die Heiligen durch häufige Erinnerungen »aufzuwecken«, »solange« er lebte. Er hielt es für angemessen, sie von geistlicher Trägheit abzuhalten, während er dem Ende seines Lebens zuging.
1,14 Der »Herr« hatte Petrus schon die Tatsache offenbart, dass er sterben würde, und ihm auch die Art seines Todes (Joh 21,18.19) kundgetan. Viele Jahre waren seitdem vergangen. Der alternde Apostel wusste, dass er normalerweise mit seinem baldigen Tod rechnen musste. Dieses Wissen gab ihm einen neuen Impuls, für das geistliche Wohlergehen des Volkes Gottes zu sorgen, ganz gleich, wie viel Zeit ihm noch blieb. Er bezeichnet seinen Tod als das Ablegen seiner irdischen Wohnung oder als Ablegen seines Leibes bzw. »Zeltes«. So, wie ein Zelt eine zeitweilige Behausung für Reisende ist, so entspricht der Leib dem irdischen Zelt, in dem wir als Pilger auf Erden wohnen. Im Tod wird dieses Zelt abgebrochen. Bei der Entrückung wird der Leib auferweckt und verwandelt werden. In seiner ewigen, verherrlichten Form wird der Leib »Gebäude« oder »Haus« genannt (2. Kor 5,1). Hier geht es um die Tatsache, dass Petrus um seinen bevorstehenden Tod wusste. Dies bedeutet nicht, dass Christus nicht jederzeit für seine Heiligen wiederkommen könnte. Die wahre Gemeinde hat immer damit gerechnet, dass Christus zu jeder Zeit wiederkehren kann. Nur durch besondere Offenbarung wusste Petrus, dass er bei der Wiederkunft Christi nicht mehr leben würde.
1,15 Der Apostel war nicht nur entschlossen, die Heiligen persönlich an die Bedeutung geistlichen Fortschritts zu erinnern. Vielmehr sorgte er auch dafür, dass sie sich nach seinem Tod »diese Dinge ins Gedächtnis rufen« konnten, indem er sie ihnen in geschriebener Form hinterließ. Durch seine Schriften waren die Gläubigen imstande, sich jederzeit wieder daran zu erinnern. Deshalb haben die Petrusbriefe nun schon seit über 1900 Jahren Licht auf den Weg von Männern und Frauen geworfen, und sie werden es weiter tun, bis unser Heiland wiederkommt. Auch sagt eine verlässliche alte Tradition, dass das Evangelium des Markus größtenteils aus den Augenzeugenberichten seines geistlichen Führers, des Apostels Petrus, besteht. Die Bedeutung des schriftlichen Dienstes wird hier verdeutlicht. Nur das geschriebene Wort bleibt. Durch das geschriebene Wort dauert der Dienst eines Menschen fort, auch wenn sein Leib schon im Grab liegt.
Das Wort, das Petrus hier für »Abschied« gebraucht, ist das Wort, wovon sich das Fremdwort »Exodus« ableitet. Es ist dasselbe Wort, das benutzt wird, um den Tod Christi in Lukas 9,31 zu beschreiben. Der Tod ist nicht das Ende der Existenz, sondern der Aufbruch von einem Ort zu einem anderen.
Diese Verse haben besonderen Wert für uns, weil sie zeigen, was für einen Mann Gottes wichtig ist, der im Schatten des Todes lebt. Der Ausdruck »diese Dinge« findet sich viermal – in den Versen 8.9.12 und 15. Die großen, grundlegenden Wahrheiten des christlichen Glaubens haben einen großen Wert, wenn sie von demjenigen betrachtet werden, der an den Grenzen zur ewigen Welt steht.
1,16 Die Schlussverse von Kapitel 1 befassen sich damit, dass das Kommen Christi in Herrlichkeit ganz sicher erfolgen wird. Petrus beschäftigt sich zunächst mit der Gewissheit des apostolischen Zeugnisses und dann mit der Unumstößlichkeit des prophetischen Wortes. Es ist, als ob Petrus das NT mit dem AT verbindet, und seine Leser auffordert, an diesem gemeinsamen Zeugnis festzuhalten. Er betont, dass das Zeugnis der Apostel auf Tatsachen beruht, nicht auf Mythen. Sie »folgten« nicht schlau »ausgeklügelten Fabeln« oder Mythen, als sie den Lesern »die Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus« verkündigten.
Das besondere Ereignis, worauf er sich bezieht, ist die Verklärung Jesu auf dem Berg. Drei Apostel waren Zeugen – Petrus, Jakobus und Johannes. Der Ausdruck »die Macht und Ankunft« ist eine literarische Ausdrucksweise6 für »Ankunft in Macht« oder »vollmächtige Ankunft«. Die Verklärung war eine Vorausschau des Kommens Christi in »Macht«, wenn er über die ganze Erde herrschen wird. Dies wird im Bericht des Matthäus über dieses Ereignis verdeutlicht. In Matthäus 16,28 sagte Jesus: »Wahrlich, ich sage euch: Es sind einige von denen, die hier stehen, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie den Sohn des Menschen haben kommen sehen in seinem Reich.« Die nächsten Verse (17,1-8) beschreiben dann die Verklärung. Auf dem Berg sahen Petrus, Jakobus und Johannes den Herrn Jesus in derselben Herrlichkeit, die ihn auszeichnen wird, wenn er tausend Jahre lang auf der Erde regieren wird. Ehe sie starben, sahen diese drei Apostel den Menschensohn in der Herrlichkeit seines kommenden Reiches. So erfüllten sich die Worte des Herrn in Matthäus 16,28 und 17,1-8. Nun betont Petrus, dass der apostolische Bericht von der Verklärung nicht auf »Fabeln« (griech. Mythen) beruhte. Doch genau dieses Wort benutzen moderne Theologen in ihren Angriffen auf die Bibel. Sie meinen, wir müssten die Schrift »entmythologisieren«. Bultmann sprach vom »mythologischen Element« des NT. John A. T. Robinson rief die Christen auf, den (angeblichen) Sachverhalt zu erkennen, dass vieles in der Bibel mythologisch sei:
Im letzten Jahrhundert wurde ein schmerzlicher, aber entschlossener Schritt vorwärts gemacht, indem man erkannte, dass die Bibel »Mythen« enthält und dies eine wichtige Form der religiösen Wahrheit ist. Von allen (außer den extremen Fundamentalisten) wurde nach und nach anerkannt, dass die Berichte der Genesis über die Schöpfung und den Sündenfall Darstellungen der tiefgründigsten Wahrheiten über den Menschen und das Universum in der Form von Mythen und nicht von Geschichtsschreibung sind, obwohl sie dennoch Wahrheiten enthalten. Es war sogar wesentlich für die Verteidigung der christlichen Wahrheit, anzuerkennen und zuzugeben, dass diese Erzählungen keine historischen Berichte sind. Daher stehen sie nicht in Konkurrenz mit den alternativen Ergebnissen der Anthropologie und Kosmologie. Diejenigen, die diese Unterscheidung nicht machten, spielten (wie wir heute sehen) Thomas Huxley ([1825-1895], englischer Biologe und einer der eifrigsten Anhänger Darwins; Anm. d. Übers.) und seinen Freunden direkt in die Hände.7 Um die Anklage der Mythenbildung zurückzuweisen, gibt Petrus drei Beweise für die Verklärung: das Zeugnis des Sehens, das Zeugnis des Hörens und das Zeugnis der leiblichen Gegenwart. Soweit es das Sehen angeht, waren die drei Apostel »Augenzeugen« der Herrlichkeit des Herrn. Johannes bezeugte: »Wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater« (Joh 1,14).
1,17 Dann gab es das Zeugnis des Hörens. Die Apostel hörten die »Stimme« Gottes, die sagte: »Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.« Dieser hörbare Ausdruck der Ehrung des Herrn Jesus »erging an ihn … von der erhabenen Herrlichkeit«, d. h. aus der leuchtenden Herrlichkeitswolke, auch Schechina genannt, die die Gegenwart Gottes darstellt.
1,18 Petrus betont, während er von Jakobus, Johannes und sich selbst spricht, dass sie ausdrücklich die »Stimme« Gottes »hörten«, als sie »mit« dem Herrn »auf dem heiligen Berg waren«. Hier haben wir das Zeugnis dreier Augenzeugen, das nach Matthäus 18,16 gültig und aussagekräftig ist.
Schließlich fügt Petrus noch das Zeugnis der leiblichen Gegenwart hinzu: »Wir waren mit ihm auf dem heiligen Berg.« Es war eine reale Situation, und es gab keinerlei Zweifel darüber.
Wir wissen nicht, auf welchem Berg genau die Verklärung stattfand. Wenn wir es wüssten, wäre er sicher schon mit Kapellen und sonstigen »Heiligtümern« übersät.8 Er wird »der heilige Berg« genannt, und zwar nicht, weil er an sich heilig wäre, sondern weil er für ein heiliges Ereignis ausgesondert wurde.
1,19 »Und so besitzen wir das prophetische Wort umso fester.« Die Propheten des AT hatten Christi Kommen in Macht und großer Herrlichkeit vorausgesagt. Die Vorgänge auf dem Berg der Verklärung bestätigten diese Prophezeiungen. Was die Apostel sahen, hat die Prophezeiungen des AT nicht aufgehoben oder noch etwas sicherer gemacht. Vielmehr war es einfach eine weitere Bestätigung dieser Voraussagen. Den Aposteln war ein kleiner Vorausblick auf die Herrlichkeit des zukünftigen Reiches Christi gewährt worden.
F. W. Grants Übersetzung des zweiten Teils von Vers 19 ist hilfreich. »… und wir tun wohl daran, wenn wir darauf achten (wie auf eine Lampe, die an einem verborgenen Ort scheint, bis der Tag naht und der Morgenstern aufgeht) in euren Herzen.« Man beachte, wie Grant hier die Klammern setzt. Nach seiner Übersetzung sollen wir »in unseren Herzen« darauf achten. In den meisten Übersetzungen heißt es: »… bis der Tag anbricht und der Morgenstern in euren Herzen aufgeht«, und dies stellt die Ausleger vor praktische Schwierigkeiten. Das prophetische Wort ist die leuchtende »Lampe«. Der »dunkle Ort« ist die Welt. Das Anbrechen des Tages zeigt das Ende des gegenwärtigen Gemeindezeitalters an (Röm 13,12). Das Aufgehen des »Morgensterns« ist ein Bild des Kommens Christi für seine Heiligen. Deshalb besteht die Bedeutung dieses Abschnitts darin, dass wir uns immer das »prophetische Wort« vor Augen halten und es in unserem Herzen bewegen sollten. Es dient uns nämlich als »Lampe« in dieser finsteren Welt, bis dieses Zeitalter endet und Christus in den Wolken wiederkommt, um sein auf ihn wartendes Volk in den Himmel heimzuholen.
1,20 In den letzten zwei Versen des Kapitels betont Petrus, dass die prophetischen Schriften von Gott und nicht von Menschen stammen. Er hebt also hervor, dass sie göttlich inspiriert sind. »Keine Weissagung der Schrift geschieht aus eigener Deutung« oder Herkunft.9 Diese Aussage hat verschiedene Auslegungen hervorgebracht. Einige sind absurd, etwa wie die Ansicht, dass die Bibel nur von der Kirche ausgelegt werden dürfe und der Gläubige sie nicht lesen solle!
Andere Erklärungen mögen wahre Aussagen beinhalten, die jedoch nicht in diesem Abschnitt enthalten sind. Z. B. stimmt es, dass kein Vers für sich allein ausgelegt werden sollte, sondern immer im Zusammenhang des betreffenden Abschnitts und der gesamten Bibel. Doch Petrus geht es hier um die Herkunft des prophetischen Wortes, nicht um die Art, wie Menschen es auslegen, nachdem es offenbart worden ist. Es geht darum, dass sich die Propheten hinsetzten, um diese Worte zu schreiben. Dabei schrieben sie nicht ihre »eigene Deutung« der Ereignisse oder ihre eigenen Schlussfolgerungen nieder. Mit anderen Worten, »Deutung« bezieht sich nicht auf die Erklärung durch diejenigen von uns, die die Bibel in schriftlicher Form vorliegen haben. Vielmehr bezieht sich dieser Begriff auf die Art und Weise, wie das Wort überhaupt entstanden ist. D. T. Young schreibt:
Deshalb sagt dieser Text, richtig verstanden, … aus, dass die Schrift von ihrer Herkunft her letztendlich nicht menschlichen Ursprungs ist. Sie ist Gottes Deutung der Dinge, nicht diejenige des Menschen. Wir hören oft bestimmte Aussagen, so z. B. den Satz, dass die Schrift Davids Meinung bzw. die Ansicht des Paulus oder Petrus wiedergeben würde. Doch streng gesprochen haben wir nie die Meinung eines Menschen in der Heiligen Schrift vorliegen. In Wirklichkeit ist es Gott, der hier Dinge deutet. Keine Prophezeiung der Schrift umfasst die Deutung eines einzelnen Menschen: Menschen sprachen, weil sie vom Heiligen Geist dazu getrieben wurden.10
Deshalb ist die Übersetzung mit »Ursprung« oder »Herkunft« recht genau. Wir glauben, dass sie in diesem Zusammenhang sogar besser ist.
1,21 Dieser Vers bestätigt die Erklärung, die wir soeben in Vers 20 gegeben haben. »Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht.« Dazu sagte einmal jemand: »Sie schrieben keine Zusammenfassung ihrer eigenen Meinung, und es war auch kein Ergebnis menschlicher Fantasie, Einsicht oder Spekulation.« Tatsache ist, dass »Menschen … von Gott her redeten11, getrieben vom Heiligen Geist«. Auf eine Weise, die wir nicht ganz verstehen können, hat Gott diese Menschen angewiesen, genau diese Worte niederzuschreiben, und doch zerstörte er dabei nicht den persönlichen Stil der einzelnen Verfasser. Dies ist einer der Schlüsselverse der Bibel zur göttlichen Inspiration. In einer Zeit, in der viele die Autorität der Schrift leugnen, ist es wichtig, dass wir fest für die wörtliche, uneingeschränkte Inspiration des irrtumslosen Wortes Gottes einstehen. Mit wörtlicher Inspiration meinen wir, dass die Worte, die ursprünglich von den vierzig oder mehr menschlichen Autoren benutzt wurden, von Gott eingehaucht waren (1. Kor 2,13). Gott gab ihnen keine allgemeine Ausarbeitung seiner Ansichten, damit sie diese dann nach ihren Vorstellungen formulieren konnten. Jedes einzelne Wort, das sie schrieben, ist ihnen vielmehr »vom Heiligen Geist« eingegeben worden.
Mit Vollinspiration meinen wir, dass die Bibel vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung gleichermaßen von Gott eingegeben ist. Sie ist das Wort Gottes (vgl. 2. Tim 3,16). Mit »irrtumslos« meinen wir, dass das daraus resultierende Wort Gottes im Original völlig ohne Irrtum ist, nicht nur bezüglich der Lehre, sondern auch hinsichtlich der geschichtlichen, wissenschaftlichen, chronologischen und aller sonstigen Aspekte.
III. Voraussage des Aufkommens von Irrlehrern (Kap. 2)
2,1 Am Schluss von Kapitel 1 hat Petrus die Propheten des AT erwähnt. Es waren Männer, die nicht nach ihren eigenen Vorstellungen redeten, sondern vom Heiligen Geist getrieben wurden. Nun erwähnt er, dass es zusätzlich zu den wahren Propheten des AT »auch falsche Propheten« gab. Und so, wie es im christlichen Zeitalter vertrauenswürdige Lehrer gibt, so wird es auch »falsche Lehrer« geben.
Diese »falschen Lehrer« werden ihren Platz innerhalb der Gemeinden und Kirchen einnehmen. Sie geben vor, Diener des Evangeliums zu sein. Das macht die Gefahr so groß. Wenn sie ehrlich wären und sagen würden, dass sie Atheisten oder Agnostiker (Anschauung, wonach das Übernatürliche unerkennbar und z. B. die Existenz Gottes unerklärbar sei; Anm. d. Übers.) sind, so wären die Menschen gewarnt. Doch sie sind Weltmeister der Verstellung. Sie tragen eine Bibel bei sich und benutzen einen evangelikalen Wortschatz, obwohl sie die Worte in einer ganz anderen Bedeutung benutzen. Der Präsident eines liberalen theologischen Seminars hat diese Strategie einmal wie folgt bestätigt:
Gemeinden ändern oft ihre Ansichten, ohne die Ansichten ausdrücklich zu widerrufen. Dabei finden ihre Theologen normalerweise Wege, die Kontinuität mit der Ver gangenheit zu wahren, indem sie entsprechende Ausdrücke neu auslegen. W. A. Criswell beschreibt den Irrlehrer folgendermaßen:
(Es handelt sich um einen) weltmännischen, umgänglichen, freundlichen und gelehrten Mann, der behauptet, ein Freund Christi zu sein. Er predigt von der Kanzel, er schreibt gelehrte Bücher und veröffentlicht Artikel in christlichen Zeitungen. Er greift das Christentum von innen an. Er macht die Gemeinde und die theologischen Ausbildungsstätten sowie Lehreinrichtungen zu einer Brutstätte jedes unreinen und gehassten Vogels (vgl. Offb 18,2; Anm. d. Übers.). Er durchsäuert das Brot mit der Lehre der Sadduzäer.12
Wo finden sich diese Irrlehrer? Um die wohl wahrscheinlichsten Orte zu nennen, seien hier folgende Richtungen, Glaubensgemeinschaften und Sondergruppen angeführt: liberaler und neoorthodoxer Protestantismus (Mit »neoorthodox« wird hier eine Strömung innerhalb des Protestantismus bezeichnet, die sich selbst zwischen dem liberalen Protestantismus einerseits und den Evangelikalen bzw. Fundamentalisten andererseits ein ordnet; Anm. d. Übers.), liberaler Kathol izismus, Unitarismus (theologische Richtung, welche die Dreieinheit Gottes ablehnt; Anm. d. Übers.), Allversöhner, Zeugen Jehovas, Mormonen, Christliche Wissenschaft, die sogenannte »Neugeistbewegung« (auch als »New Thought Movement« bekannte Sondergemeinschaft, die z. B. die Reinkarnation lehrt, Gott als Person ablehnt und die Bibel allegorisch auslegt und wozu die »Unity School of Christianity« gehört; Anm. d. Übers.), Christadelp hianer (auch als Urchristen bekannte Sondergemeinschaft, deren Namen sich aus den griechischen Wörtern Christos adelphoi [»Brüder in Christus«] ableitet und die u. a. die Dreieinheit Gottes ablehnt; Anm. d. Übers.) und die Weltweite Kirche Gottes (von Herbert W. Armstrong gegründete Kirche, die sich seit Kurzem »Grace Communion International« nennt; Anm. d. Übers.).
Sie bekennen zwar, Diener der Gerechtigkeit zu sein, doch sie führen »heimlich Verderben bringende« Irrlehre ein und vermischen sie mit echter biblischer Lehre. Wir haben es hier mit einer absichtlich betrügerischen Mischung aus Irrtum und Wahrheit zu tun. In erster Linie vertreten sie ein System von Leugnungen. Hier sind einige Leugnungen, die sich unter den oben genannten Gruppen vollständig oder teilweise finden: Sie leugnen die wörtliche, uneingeschränkte Inspiration der Bibel, die Dreieinheit, die Gottheit Christi, seine Jungfrauengeburt und seinen stellvertretenden Tod für die Sünder. Sie bestreiten besonders heftig den Wert seines vergossenen Blutes. Sie leugnen seine leibliche Auferstehung, das ewige Gericht, die Erlösung durch Gnade und die Wahrheit der biblischen Wunder.
Es gibt noch weitere Irrlehren, die heute verbreitet sind:
Die Kenosis-Theorie, die besagt, dass Christus bei der Menschwerdung seine göttlichen Eigenschaften ablegte. Das bedeutet, dass er sündigen konnte, Fehler machen konnte etc.
Die »Gott-ist-tot-Theologie«, die Evolution, die Allversöhnung, die Lehre vom Fegefeuer, Gebete für die Toten und noch viele andere.
Die größte Sünde der Irrlehrer besteht darin, dass sie sogar den Meister leugnen, »der sie erkauft hat«. Sie sagen zwar Anerkennendes über Jesus, erwähnen vielleicht sogar seine »Göttlichkeit«, sprechen über seine erhabene Ethik, sein außerordentliches Vorbild, doch sie bekennen ihn nicht als Gott und einzigen Retter. Nels Ferré schrieb: »Jesus war nie Gott und wurde auch nie Gott … Wenn wir Jesus als Gott bezeichnen, setzen wir einen Götzen an die Stelle der Lehre von der Fleischwerdung.«13
Der methodistische Bischof Gerald Kennedy stimmt ihm zu: Ich bekenne ehrlich, dass mir diese Aussage (Christus ist Gott) nicht gefällt und für mich alles andere als befriedigend ist. Ich würde es viel lieber so ausdrücken: Gott war in Christus. Ich glaube nämlich, dass das Zeugnis des Neuen Testaments als Ganzes sich gegen die Gottheit Jesu wendet, obwohl es meiner Meinung nach ein überwältigendes Zeugnis für die Tatsache bietet, dass Jesus göttlich ist.14
Auf diese und vielerlei andere Weise leugnen »falsche Lehrer … den Gebieter, der sie erkauft hat«. Hier sollten wir innehalten, um uns an Folgendes zu erinnern: Diese Irrlehrer, die Petrus hier nennt, wurden zwar vom Herrn »erkauft«, aber nie errettet. Das NT unterscheidet zwischen den Erkauften und den Erlösten. Alle sind erkauft, doch nicht alle sind erlöst. Die Erlösung gilt nur für diejenigen, die Jesus Christus als Herrn und Heiland annehmen und den Wert seines vergossenen Blutes für sich in Anspruch nehmen (1. Petr 1,18.19). In Matthäus 13,44 wird der Herr Jesus als ein Mann dargestellt, der alles verkauft hat, um einen Acker zu erwerben. In Vers 38 desselben Kapitels wird ausdrücklich gesagt, dass der Acker die Welt ist. Deshalb hat der Herr durch seinen Tod am Kreuz die Welt und damit alle ihre Bewohner erkauft. Sein Werk war zwar für alle Menschen ausreichend, doch es ist nur für diejenigen wirksam, die Buße tun, glauben und ihn annehmen. Die Tatsache, dass diese Irrlehrer niemals wirklich wiedergeboren wurden, zeigt sich an ihrer endgültigen Bestimmung. Sie ziehen »sich selbst schnelles Verderben zu«. Sie gehen der ewigen Strafe im Feuersee entgegen.
2,2 Petrus sagt voraus, dass sie sich eine große Gefolgschaft erwerben werden. Sie tun das, indem sie die biblischen Moralvorstellungen aufgeben und die Menschen dazu anleiten, sich fleischlichen Begierden hinzugeben. Hier sind zwei Beispiele:
Der anglikanische Bischof John A. T. Robinson hat geschrieben: Nichts kann immer an sich als »falsch« bezeichnet werden. Man kann z. B. nicht davon ausgehen, dass »sexuelle Beziehungen vor der Ehe« oder »Scheidung« an sich sündig sind. Sie mögen es in 99 oder sogar 100 von 100 Fällen sein, aber sie sind es nicht an sich, denn das Einzige, das an sich böse ist, ist fehlende Liebe.15
In dem Buch »In die verantwortliche Freiheit berufen«, das vom US-amerikanischen Kirchenrat veröffentlicht wurde, wird jungen Menschen geraten: Im persönlichen, individuellen Sinne wird die Sexualität deshalb nicht durch den äußeren Ehestatus der Menschen vor dem Gesetz gerechtfertigt und geheiligt, sondern durch das, was beide in ihren Herzen füreinander empfinden. Wenn man nach diesem Maßstab geht, kann Händchenhalten ausgesprochen verkehrt sein, während intime Sexspiele richtig und gut sein können.16 Als Ergebnis eines derartigen Verhaltens, das Irrlehrer predigen und praktizieren, wird »der Weg der Wahrheit verlästert«.
2,3 Diese Irrlehrer sind gierig, und zwar sowohl auf sexuellem als auf finanziellem Gebiet. Sie haben den Dienst am Wort als einträglichen Beruf gewählt. Ihr großes Ziel besteht darin, eine zahlreiche Gefolgschaft um sich zu sammeln und so ihr Einkommen zu erhöhen. Sie »kaufen« Menschen mit falschen »Worten«. Darby sagte: »Der Teufel zeigt seine teuflischste Art am deutlichsten, wenn er eine Bibel unter dem Arm hat.« So geben sich diese Männer mit der Bibel in der Hand als Diener der Gerechtigkeit aus, stimmen bekannte pietistische Lieder an und benutzen Ausdrücke aus der Schrift. Doch all dies ist eine Maskerade, um Irrlehren und Unmoral zu kaschieren. Eine schreckliche Strafe wartet auf diese Namenschristen im Dienste des Feindes. Ihr »Gericht … zögert nicht«, es hat schon zur Strafe angesetzt. »Ihr Verderben« legt das Haupt nicht zum Schlafen nieder, sondern ist völlig wach und bereit, wie ein Panther zuzuschlagen.
2,4 In den Versen 4-10 finden wir drei alttestamentliche Beispiele dafür, wie Gott die Abtrünnigkeit richtet – im Blick auf die abgefallenen Engel, die Menschen vor der Sintflut und die Bewohner der Städte Sodom und Gomorra. Wir nehmen an, dass die »Engel, die gesündigt hatten«, dieselben sind, die auch in Judas 6 erwähnt werden. Dort erfahren wir, dass sie 1. ihre Stellung nicht bewahrt haben, und 2., dass sie ihren eigentlichen Aufenthaltsort verlassen haben. Obwohl wir nicht sicher sein können, gibt es triftige Gründe für die Annahme, dass es um dieselben Engel geht, die in 1. Mose 6,2 »Söhne Gottes« genannt werden: »Da sahen die Söhne Gottes die Töchter der Menschen, wie schön sie waren, und sie nahmen sich von ihnen allen zu Frauen, welche sie wollten.« Die Engel werden in Hiob 1,6 und 2,1 Söhne Gottes genannt. In 1. Mose 6 geht es darum, dass diese Söhne Gottes die ihnen als Engel zugewiesene Stellung verließen, ihre Wohnstätte im Himmel mit der Erde vertauschten und heirateten. Die Kinder, die ihnen geboren wurden, werden Nephilim genannt, was so viel wie »Gefallene« heißt (1. Mose  6,4). Aus 1. Mose  6,3 geht offenbar hervor, dass Gott diese widernatürlichen sexuellen Verbindungen sehr missfielen.
Gegen diese Ansicht wird im Allgemeinen angeführt, dass Engel keine Sexualität hätten und deshalb nicht heiraten könnten. Doch in der Bibel steht davon nichts. Dort heißt es nur, dass sie im Himmel nicht heiraten (Mk 12,25). Engel erschienen im AT oft in menschlicher Gestalt. So werden etwa die beiden Engel, die Lot in Sodom als Gäste aufnahm (1. Mose 19,1) als Männer beschrieben (in den Versen 5.10.12). Sie hatten Füße (V. 2) und  Hände  (V. 10),  konnten  essen  (V. 3) und  hatten  leibliche  Kraft  (V. 10.16).  Es geht aus den pervertierten Anliegen der Männer von Sodom hervor, dass diese Engel Körper hatten, die sexuell hätten missbraucht werden können (V. 5). Gott war zornig über diesen großen Abfall der »Engel«, die von seinen Ordnungen abwichen. Ihre Bestimmung bestand darin, in den »Abgrund hinabgestürzt« zu werden, wo sie in Höhlen völliger Finsternis auf das letzte »Gericht« warten.
2,5 Die zweite Veranschaulichung dafür, dass Gott eingriff, um Sünde direkt zu bestrafen, betrifft die Menschen, die in der »Flut« untergingen. Ihre Bosheit war unbeschreiblich groß. Jeder ihrer Herzensgedanken war böse (1. Mose 6,5). In Gottes Augen war die Erde verdorben und  mit  Gewalttat  erfüllt  (1. Mose  6,1113). Dem Herrn reute es, dass er die Erde erschaffen  hatte  (1. Mose  6,6).  Er  war  so betrübt, dass er entschlossen war, diese Menschen  auszurotten  (1. Mose  6,7).  Er »verschonte … die alte Welt nicht«, sondern brachte »die Flut über« sie, um ihre gottlosen Bewohner zu vernichten. Nur »Noah« und seine Familienangehörigen fanden vor Gottes Augen Wohlgefallen. Sie suchten und fanden Zuflucht in der Arche. Inmitten des Sturmes des göttlichen Zorns waren sie in der Arche sicher.
»Noah« wird hier »Prediger der Gerechtigkeit« genannt. Zweifellos hat er beim Bau der Arche immer wieder Warnungen an die spottenden Zuschauer gerichtet. Sie hatten zwei Möglichkeiten: sich von der Sünde abwenden oder dem gerechten Gericht Gottes wegen ihrer Bosheit entgegengehen.
2,6 Das dritte Beispiel für Gottes schonungsloses Gericht ist die Zerstörung von »Sodom und Gomorra«. Diese beiden Städte, die nahe dem Südende des Toten Meeres lagen, waren Brutstätten sexueller Perversion. Die Menschen dort akzeptierten Homosexualität als normale Lebensform. Diese Sünde wird auch in Römer 1,26.27 beschrieben: Deswegen hat Gott sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften. Denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr in den unnatürlichen verwandelt, und ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen, sind in ihrer Wollust zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst.
Gott hielt diese schrankenlose Entartung nicht für eine Krankheit, sondern für Sünde. Um allen kommenden Generationen gegenüber zu beweisen, dass er Homosexualität abgrundtief hasst, ließ er Feuer und Schwefel über Sodom und Gomorra regnen (1. Mose 19,24). Damit wurden diese Städte in Schutt und Asche gelegt. Die Zerstörung war so umfassend, dass man heute nicht mehr genau weiß, wo diese Städte lagen. Sie sind eine Mahnung für alle, die Sünde legalisieren oder sie als Krankheit entschuldigen wollen. Es ist bedeutsam, dass liberale Geistliche heute immer offener für sexuelle Perversion eintreten. Ein Vertreter einer US-amerikanischen Kirche namens »United Church of Christ«, der einen Beitrag in der Zeitschrift »Social Action« schrieb, empfahl der Kirche, Homosexuelle nicht mehr von der Aufnahme in Seminare, von der Ordination oder der Beschäftigung in Gemeindeämtern auszuschließen. Neunzig Priester der Episkopalkirche kamen zu der Ansicht, dass Homosexualität zwischen Erwachsenen, die von beiden Seiten freiwillig geschieht, ethisch neutral sei. Religiöse Irrlehrer stehen in Bewegungen zur Legalisierung dieser Sünde an vorderster Front.
Es ist kein Zufall, dass dieser 2. Petrusbrief, der den Abfall behandelt, auch so viel zum Thema sexuelle Sünde zu sagen hat, da die beiden oft zusammengehören. Abtrünnigkeit hat ihre Wurzel oft in moralischem Versagen. Ein Mann kann z. B. in ernsthafte sexuelle Sünde fallen. Statt seine Schuld zuzugeben und Reinigung durch das Blut Christi zu finden, entscheidet er sich dafür, die Gotteserkenntnis zu verwerfen, weil sie seine Handlung verurteilt, und in praktischem Atheismus zu leben. A. J. Pollock berichtet, dass er einmal einen jungen Mann getroffen hat, der sich einst zu Christus bekannte, doch jetzt voller Zweifel und Leugnung war. Pollock fragte ihn: »Mein Freund, welche Sünde hast du dir in der letzten Zeit gestattet?« Der junge Mann ließ seinen Kopf hängen, brach das Gespräch schnell ab und ging beschämt weg.17
2,7 Derselbe Gott, der den Gottlosen Vernichtung bringt, rettet die »Gerechten«. Petrus beweist dies durch die Erfahrung Lots. Wenn wir nur den alttestamentlichen Bericht über Lot hätten, würden wir denken, dass er gar nicht wirklich gläubig war. Im mosaischen Bericht sieht es fast so aus, als sei er nur ein Opportunist gewesen. Man könnte meinen, dass er immer auf seinen Vorteil bedacht war – bereit, Sünde und Verderbnis hinzunehmen, um sich einen Platz und einen Namen in der Welt zu sichern. Doch Petrus schrieb durch Inspiration nieder, dass er ein »gerechter« Mann gewesen ist, »der von dem ausschweifenden Wandel der Ruchlosen gequält wurde«. Gott sah, dass Lot wirklich glaubte und Gerechtigkeit liebte sowie Sünde hasste.
2,8 Um zu betonen, dass Lot trotz allem Anschein des Gegenteils wirklich ein »Gerechter« war, wiederholt Petrus hier, dass sich seine Seele wegen der Dinge »quälte«, die sie in Sodom sehen und hören musste. Er litt unter der abgrundtiefen Unmoral der dortigen Menschen.
2,9 Die Schlussfolgerung lautet, dass »der Herr … die Gottseligen aus der Versuchung zu retten« und die Gottlosen zu bestrafen weiß. Er kann sein Volk aus der Versuchung erretten und gleichzeitig »die Ungerechten« aufbewahren »auf den Tag des Gerichts, wenn sie bestraft werden«. Die Bösen werden für die Hölle »aufbewahrt«, und die Hölle ist für die Bösen (V. 17) bestimmt. Im Gegensatz dazu ist ein Erbe für die Gläubigen aufbewahrt, und sie sind für das Erbe bestimmt (1. Petr 1,4.5).
2,10 Gottes Fähigkeit, böse Menschen bis zu ihrem endgültigen Gericht zu erhalten, zeigt sich »besonders« an den Menschen, die in diesem Kapitel beschrieben werden – an den Irrlehrern, deren Leben durch »Lust der Befleckung« verunreinigt ist. Sie treten dafür ein, gegen jede über ihnen stehende »Herrschaft« aufzubegehren. Außerdem lästern sie in ihrer Vermessenheit »Herrlichkeiten«. Es ist kein Geheimnis, dass religiöse Irrlehrer, die sich als Diener Christi ausgeben, sich oftmals durch niedrige ethische Maßstäbe auszeichnen. Sie geben sich nicht nur selbst sündigen sexuellen Aktivitäten hin, sondern befürworten offen sexuellen Liberalismus. Der Kaplan einer Mädchenschule in Baltimore schrieb:
Wir sollten uns entspannen und uns wegen unserer Sexualität nicht mehr schuldig fühlen. Das gilt ungeachtet dessen, ob unsere Gedanken heterosexuell bzw. homo sexuell ausgerichtet oder auf die eigene Sexualität bezogen sind … Sexualität ist ein Vergnügen … und das bedeutet, dass es hier keine Gesetze darüber gibt, was erlaubt ist und was nicht. Für dieses Spiel gibt es sozusagen keine Spielregeln.18
Es ist auch bedeutsam, dass liberale religiöse Führer oft in Bewegungen, die die gewalttätige Revolution gegen bestehende Obrigkeiten unterstützen, in vorderster Front stehen. Dem Modernismus (eine generelle Strömung des 19. und 20. Jahrhunderts, die das historische Christentum mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft und Philosophie zu verbinden suchte; Anm. d. Übers.) verpflichtete Geistliche sind oft mit subversiven politischen Umtrieben verbunden gewesen. Ein Leiter für Gemeindeaktivitäten eines Presbyteriums in Philadelphia sagte: »Ich glaube nicht, dass wir dies (die Verwendung von Bomben und Granaten durch die Kirche) in Zukunft ausschließen, wenn alle gewaltlosen Mittel ausgeschöpft sind.«
Diese Männer sind verwegen und eigenmächtig. Ihre unverschämte Ablehnung aller rechtmäßig eingesetzten Autorität scheint grenzenlos zu sein. Sprachlich ist ihnen jedes Mittel recht, um Vertreter der Obrigkeit zu schmähen. Die Tatsache, dass menschliche Obrigkeiten von Gott eingesetzt sind (Röm 13,1) und es verboten ist, von der Obrigkeit schlecht zu reden (Apg 23,5), beeinflusst solche Männer nicht im Geringsten. Sie scheinen daran Gefallen zu finden, Menschen vor den Kopf zu stoßen, indem sie »Herrlichkeiten« in aggressiver Weise »lästern«. Dieser allgemeine Ausdruck kann alle bezeichnen – ob nun Engel oder Menschen, denen Gott obrigkeitliche Vollmacht übertragen hat. An dieser Stelle sind jedoch wahrscheinlich nur menschliche Herrscher gemeint.
2,11 Die Dreistigkeit dieser vorgeblichen Diener des christlichen Glaubens hat in der Engelwelt keinerlei Parallele. Obwohl »Engel … an Stärke und Macht größer sind« als Menschen, wagen sie es nicht, »ein lästerndes Urteil« gegen die Herrschenden »vor dem Herrn« vorzubringen. Hier sind mit »Herrlichkeiten« wohl Engel in ihren Herrschaftsstellungen gemeint.
Man ist allgemein der Ansicht, dass dieser Vers auf das Gleiche anspielt, das in Judas 9 erwähnt wird: »Michael aber, der Erzengel, wagte nicht, als er mit dem Teufel stritt und Wortwechsel um den Leib Moses hatte, ein lästerndes Urteil zu fällen, sondern sprach: Der Herr schelte dich!« Wir können nicht sicher sagen, warum sich Michael mit dem Teufel um den Leib des Mose stritt. Wichtig ist an dieser Stelle nur dies: Michael erkannte, dass Satan über die Welt der Dämonen herrschte, und obwohl Satan keine Macht über Michael hatte, wollte dieser Erzengel ihn nicht lästern. Man denke sich, wie frech die Menschen sind, die das zu tun wagen, wovor sogar heilige Engel zurückschreckten! Und man denke daran, welch ein Gericht eine solche Sünde nach sich zieht!
2,12 »Diese« abgefallenen religiösen Führer gleichen nun »unvernünftigen Tieren«. Statt ihren Verstand zu benutzen, der sie von den Tieren unterscheidet, handeln sie, als ob die Befriedigung ihrer leiblichen Triebe der Sinn ihres Lebens wäre. So wie viele Tiere kein anderes Schicksal haben, als getötet und geschlachtet zu werden, so gehen die Irrlehrer der Vernichtung entgegen. Sie sind ihrer wirklichen Berufung gegenüber gleichgültig, die darin besteht, Gott zu verherrlichen und in Ewigkeit bei ihm zu sein. Sie »lästern das, was sie nicht kennen«. Ihre Unwissenheit zeigt sich besonders dann, wenn sie die Bibel kritisieren. Weil sie kein Leben aus Gott haben, sind sie ausgesprochen unfähig, die Worte, Wege und Werke Gottes zu verstehen (1. Kor 2,14). Doch sie behaupten, auf geistlichem Gebiet Experten zu sein. Ein demütiger Gläubiger kann auf seinen Knien mehr sehen als sie, wenn sie auf Zehenspitzen stehen.
Sie werden auf dieselbe Art »Verderben« erleiden wie die Tiere. Weil sie wie Tiere leben wollten, werden sie auch wie sie sterben. Mit ihrem Tod wird jedoch nicht ihre Existenz ausgelöscht. Vielmehr werden sie in Schande und ohne Hoffnung sterben.
2,13 Im Tod werden sie für ihre »Ungerechtigkeit« leiden müssen. Phillips umschreibt diese Tatsache so: »Ihre Verderbtheit hat ihnen ein böses Ende eingebracht, wobei ihnen das volle Maß ausbezahlt werden wird.«
Diese Menschen sind so schamlos, dass sie ihren sündigen Aktivitäten bei vollem Tageslicht nachgehen. Die meisten Menschen warten die Dunkelheit ab, damit sie sich ihrer »Schwelgerei« hingeben können (Joh 3,19); daher die schummrigen Lichter von Bars und Bordellen (1. Thess  5,7).  Die  Irrlehrer  dagegen  haben die Schranken überschritten, die normalerweise die Sünde in der Finsternis verbergen.
Wenn sie mit Christen essen, dann sind sie »Schmutz- und Schandflecke«, d. h.  unansehnliche,  unreine  Eindringlinge, die es sich bei übermäßigem Essen und Trinken wohl sein lassen. In seiner Beschreibung derselben Menschen sagt Judas: »Diese sind Flecken bei euren Liebesmahlen, indem sie ohne Furcht Festessen mit euch halten und sich selbst weiden« (Judas 12). Wenn die Irrlehrer zu den Liebesmahlen kamen, die zusammen mit dem Herrenmahl abgehalten wurden, dann waren sie ausgesprochen gierig und dachten überhaupt nicht an die geistliche Bedeutung dieser Feste. Statt an andere zu denken, wie es die Liebe immer tut, kümmerten sie sich in selbstsüchtiger Weise nur um sich selbst.
2,14 Noch schlimmer ist die Tatsache, dass sie »Augen voller Begier nach einer Ehebrecherin« haben »und von der Sünde nicht« ablassen. Dies beschreibt Männer, die sogenannte fromme Predigten halten, die die Sakramente austeilen, Seelsorge an ihren Gemeindegliedern üben, und doch mit ihren Augen ständig nach Frauen ausschauen, mit denen sie eine ehebrecherische Affäre haben könnten. Ihr Durst nach Wollust, der sich unter dem Pastorentalar verbirgt, scheint grenzenlos zu sein.
Sie betrügen »unbefestigte Seelen«. Vielleicht missbrauchen sie Schriftabschnitte, um Sünde gutzuheißen. Oder sie erklären, dass die Frage von Gut und Böse größtenteils von der Kultur abhängig sei. Oder sie versichern ihren Anhängern mit aalglatter Stimme, dass nichts verkehrt ist, wenn es nur in Liebe geschieht. Es passiert schnell, dass ungefestigte Seelen argumentieren, dass etwas, was ein religiöser Führer tut, auch für einen Laien richtig sein wird. »Sie haben ein in der Habsucht geübtes Herz.« Sie sind keine Amateure, sondern in der Kunst der Verführung ausgebildet. Während das Wort »Habsucht« für übermäßiges Verlangen auf allen möglichen Gebieten stehen kann, ist in diesem Zusammenhang wohl in erster Linie sexuelle Gier gemeint.
Petrus denkt hier an dieses schrecklich verzerrte Christentum, an die Sünde, die durch diese Abgefallenen mit dem Namen Christi verbunden wird. Angesichts dessen muss er ausrufen: »Kinder des Fluches!« Er verflucht sie hier nicht, er sieht einfach nur voraus, dass sie dem Fluch Gottes in seiner ganzen Härte verfallen werden.
2,15 Auf verschiedene Weise sind diese Irrlehrer »Bileam, dem Sohn Beors« gleich. Sie täuschen vor, im Namen Gottes  zu  reden  (4. Mose  22,38).  Sie  verführen andere zur Sünde (Offb 2,14). Doch die größte Ähnlichkeit besteht darin, dass sie ihren Dienst missbrauchen, um sich zu bereichern. »Bileam« war ein Prophet aus Petor am Euphrat, der vom König Moab gedungen wurde, um Israel zu verfluchen. Sein Motiv für seine Tat war eindeutig Geld.
2,16 Bei einem seiner Versuche, Israel zu verfluchen, stellte sich dem Bileam und seinem Esel der Engel des Herrn entgegen  (d. h.  der  Herr  Jesus  in  einer  seiner Erscheinungen vor seiner Menschwerdung). Der Esel weigerte sich sofort, weiterzugehen. Als Bileam ihn deswegen schlug, ermahnte ihn der »Esel« in menschlicher Sprache (4. Mose 22,15-34). Das war ein erstaunliches Phänomen: »Ein stummes Lasttier redete mit Menschenstimme« (und zeigte mehr Verstand als sein Herr!). Doch durch das Wunder ließ Bileam sich nicht von seiner »Torheit« abhalten.
Lenski sagt:
Bileam ist ein furchtbares Beispiel für einen Mann, der »ein Prophet« war. Gott sagte ihm ausdrücklich, was er nicht tun sollte, und wollte ihn sogar an seinem falschen Handeln hindern, indem er ein stummes Tier zu ihm reden ließ. Trotz allem hielt Bileam im Geheimen an seiner Liebe zu dem fest, was er mit seiner Ungerechtigkeit erreichen konnte, und deshalb ging er verloren.19 Gott ermahnt die Irrlehrer heute nicht mehr durch stumme Tiere. Doch wir haben allen Grund anzunehmen, dass er sie auf andere Weise oft in ihrer Torheit ermahnt und ihnen zuredet, den richtigen Weg zu gehen, welcher Christus heißt. Gott benutzt oft das einfache Zeugnis eines unbedeutenden Gläubigen, um diese Männer zu beschämen, die sich ihres überlegenen Wissens und ihres kirchlichen Amtes rühmen. Der heutige Bileam windet sich vielleicht, wenn ein geisterfüllter Laie ihm ein Bibelzitat sagt oder ihm eine scharfsinnige Frage stellt.
2,17 Petrus vergleicht die Irrlehrer mit wasserlosen Quellen. Bedürftige Menschen gehen dorthin und erwarten von ihnen Erfrischung sowie Befreiung von ihrem geistlichen Durst, doch sie werden enttäuscht. Sie sind »Brunnen ohne Wasser«. Sie gleichen auch dem »Nebel, vom Sturmwind getrieben«. Die »Wolken« (vgl. LU 1984 und Schl 2000) versprechen Regen für das Land, das unter einer langen Dürre gelitten hat. Doch dann kommt ein »Sturmwind« und vertreibt die Wolke wieder. Alle Hoffnungen werden zunichte, und die trockenen Zungen warten vergeblich auf das labende Nass. Die »Finsternis« der Unterwelt wartet auf diese religiösen Scharlatane. Sie geben vor, Diener des Evangeliums zu sein, doch sie haben in Wirklichkeit keine Gute Nachricht anzubieten. Die Menschen kommen, um Brot von ihnen zu empfangen, aber sie bekommen nichts als Steine. Die Strafe für solch einen Betrug ist eine Ewigkeit20 im »Dunkel der Finsternis«.
2,18 »Sie führen stolze, nichtige Reden«. Oder, wie Knox es umschrieb: Sie benutzen »schöne Worte ohne Bedeutung«. Dies ist eine genaue Beschreibung der Worte vieler liberaler Prediger und Sektenführer. Sie sind geschickte Redner, halten ganze Zuhörerschaften mit ihrer grandiosen Rhetorik in Atem. Ihr gelehrtes Vokabular zieht arglose Menschen an. Was ihren Predigten an Inhalt fehlt, wird durch dogmatische, eindrucksvolle Präsentation ausgeglichen. Doch wenn sie fertig sind, haben sie nichts Wesentliches gesagt. Als Beispiel derartiger steriler Predigten sei hier ein Zitat eines wohlbekannten Theologen unserer Zeit eingefügt:
Es geht hierbei auf der Beziehungsebene nicht um Gleichheit oder Ungleichheit, sondern um Ähnlichkeit. Daran denken wir, und das bringen wir als wahre Gotteserkenntnis zum Ausdruck. Trotzdem wissen wir im Glauben und erinnern uns noch immer daran, dass alles, was wir als »Ähnlichkeit« kennen, nicht der hier gemeinten Ähnlichkeit entspricht. Und wir wissen auch und rufen uns (wiederum im Glauben) ins Gedächtnis, dass die hier gemeinte Ähnlichkeit sich darin gefällt, sich in dem widerzuspiegeln, was wir als Ähnlichkeit kennen und so nennen. Damit wird in unserem Reden und Denken Ähnlichkeit derjenigen Ähnlichkeit ähnlich, die in der wahren Gottesoffenbarung ruht (der sie als solche nicht ähnlich ist). Vom Denken und Reden her können wir daher keinem Irrtum unterliegen, wenn wir diese Beziehung als Ähnlichkeit beschreiben. Vielmehr handeln wir dann richtig. Die Strategie der Irrlehrer besteht darin, Menschen anzulocken, indem sie grenzenlose Erfüllung aller Lüste und Begierden versprechen. Sie lehren, dass unsere Triebe von Gott gegeben sind und deshalb nicht gezügelt werden sollen. Zügeln wir sie, so würden wir uns ihrer Meinung nach Persönlichkeitsstörungen zuziehen. Und so propagieren sie sexuelle Experimente vor der Ehe und eine lose Moral in der Ehe.
Ihre Opfer sind diejenigen, »die kaum denen entflohen sind,21 die im Irrtum wandeln«. Diese unerretteten Menschen haben sich einst ihren sündhaften Lüsten hingegeben, doch sie haben ihr Verhalten geändert. Sie beschlossen, sich zu bessern, ein neues Leben zu beginnen und wieder in die Kirche zu gehen. Statt eine bibelgläubige Gemeinde zu finden, geraten sie in einen Gottesdienst, wo einer dieser falschen Hirten predigt. Statt das Evangelium von der Errettung durch Glauben in Christus zu hören, wird ihnen gesagt, dass Sünde in Ordnung und Freizügigkeit begrüßenswert sei. Sie sind ganz überrascht, denn sie dachten bisher, dass Sünde immer falsch ist und die Kirche dagegen sei. Nun erfahren sie, dass Sünde kirchlicherseits sogar gutgeheißen wird!
2,19 Die abgefallenen Pastoren reden viel über Freiheit, doch sie meinen damit Freiheit von göttlicher Autorität und Freiheit zum Sündigen. In Wahrheit ist dies keine »Freiheit«, sondern schlimmste Sklaverei. Sie selbst sind »Sklaven des Verderbens«. Sie sind mit Ketten böser Begierden und Gewohnheiten gebunden, haben aber nicht die Kraft, sich davon zu befreien.
2,20 Die Verse 20-22 beziehen sich nicht auf die Irrlehrer selbst, sondern auf ihre Opfer. Sie sind Menschen, die sich geändert hatten, aber nicht wiedergeboren sind. »Durch« eine teilweise »Erkenntnis des Herrn« und durch christliche Prinzipien hatten sie sich von ihrem Sündenleben abgewandt und ihrem Leben eine neue moralische Grundlage gegeben.
Dann kamen sie jedoch unter den Einfluss von Irrlehrern, die sich über puritanische Tugenden lustig machen und für die Befreiung von moralischen Schranken kämpfen. Damit kehren diese Opfer der Irrlehrer genau zu denjenigen Sünden zurück, von denen sie zeitweise befreit waren. Sie sinken sogar tiefer als vorher, weil nun die religiösen Bedenken weggewischt sind und nichts mehr sie zurückhält. So stimmt es, dass »für sie das Letzte schlimmer geworden ist als das Erste«.
2,21 Je größer die Vorrechte eines Menschen sind, desto verantwortlicher ist er auch. Je mehr christliche Maßstäbe ein Mensch kennt, desto mehr ist er verpflichtet, ihnen entsprechend zu leben. »Es wäre ihnen besser«, Gottes heilige Anforderungen nie »erkannt« zu haben, als sich, »nachdem sie« diese »erkannt haben«, wieder dem Schmutz dieser Welt zuzuwenden.
2,22 Diese Menschen sind ein Beispiel für das »wahre Sprichwort« im Blick auf einen »Hund«, der sich »seinem eigenen« abstoßenden »Gespei« wieder zuwendet (vgl. Spr 26,11), und eine »gewaschene Sau« die wieder »zum Wälzen im Kot« zurückkehrt. Es ist bedeutungsvoll, dass Petrus hier den Hund und das Schwein als Beispiele benutzt. Unter dem Gesetz des Mose galten beide als unrein. Nirgendwo deutet das Sprichwort an, dass sie sich irgendwie geändert hätten. Sie waren schon unrein, ehe sie sich vom »Gespei« und vom »Kot« getrennt haben, und sie waren noch immer unrein, als sie dahin zurückkehrten.
So ist es auch mit den Menschen, über die Petrus geschrieben hat. Sie hatten sich in moralischer Hinsicht geändert, aber keine neue Natur empfangen. Nach dem Bild von Matthäus 12,43-45 war ihr Haus leer, gekehrt, in Ordnung gebracht und geschmückt, doch sie hatten den Heiland nie eingeladen, dort zu wohnen. Der unreine Geist, der ausgetrieben worden war, ging hin und fand sieben andere Geister, die schlimmer sind als er selbst. Daraufhin zogen diese Geister – im Bild gesprochen – im Haus des Betreffenden ein. Deshalb ist das Ende dieses Menschen schlimmer als der Anfang. Dieser Abschnitt sollte nicht dazu missbraucht werden, um zu lehren, dass wahre Gläubige aus der Gnade fallen und verlorengehen könnten. Die hier gemeinten Menschen waren niemals echte Gläubige. Sie haben keine neue Natur empfangen. Sie zeigten durch ihren Endzustand, dass ihr Wesen noch immer böse und unrein war. Die sich daraus ergebende Lehre besteht natürlich darin, dass eine äußere Lebensänderung allein nicht reicht, sondern sogar gefährlich sein kann, weil sie den Betreffenden in falscher Sicherheit wiegt. Eine neue Wesensart kann man nur dadurch empfangen, dass man wiedergeboren wird. Man wird wiedergeboren durch Buße vor Gott und durch Glauben an unseren Herrn Jesus Christus. IV. Voraussage des Aufkommens von Spöttern (Kap. 3)
3,1 Vom Thema der Irrlehrer in Kapitel 2 wendet sich Petrus nun der Tatsache zu, dass in den letzten Tagen Spötter auftreten werden. In diesem Brief ermahnt er wie im ersten seine Leser zunächst, an der Bibel festzuhalten.
3,2 Seine Leser sollten die Voraussagen der »heiligen Propheten« im Gedächtnis behalten, wie sie sich im AT finden. Außerdem sollten sie die Lehre »des Herrn« im Gedächtnis behalten, wie sie »durch eure Apostel« überliefert wurde – dies findet sich im NT. Die Bibel ist unsere einzige Sicherheit in Zeiten des Verfalls.
3,3 Das gemeinsame Zeugnis der Propheten und Apostel lautet, dass »in den letzten Tagen Spötter« aufkommen würden, »die nach ihren eigenen Begierden wandeln«. Die Christen sollten sich daran erinnern. Sie sollten sich von den arroganten und blasphemischen Leugnungen dieser Menschen nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Stattdessen sollten sie in ihnen einen ausdrücklichen Hinweis darauf sehen, dass das Ende dieses Zeitalters sich naht. Diese Spötter folgen »ihren eigenen Begierden«. Nachdem sie die Gotteserkenntnis verworfen haben, geben sie sich jetzt all ihren Begierden bedenkenlos hin. Sie sprechen von Freizügigkeit und ignorieren völlig das über sie verhängte Gericht.
3,4 Sie spotten am meisten über die Wiederkunft Christi. Ihre Haltung lautet: »Wo ist die Verheißung seiner Ankunft?«, und meinen damit: »Wann wird diese Verheißung erfüllt?« Doch was meinen sie mit »Ankunft«?
Meinen sie Christi Kommen für seine Heiligen, das wir die Entrückung nennen (1. Thess  4,13-18)?  Es  ist  zweifelhaft,  ob diese Spötter überhaupt etwas von dieser ersten Phase der Wiederkunft des Herrn wissen.
Meinen sie das Kommen Christi mit seinen Heiligen, um sein Reich zu errichten  (1. Thess  3,13)?  Es  ist  möglich,  dass dies dazugehört.
Doch aus dem Rest des Abschnitts geht eindeutig hervor, dass sie das Endgericht Gottes über die Erde meinen, was auch Ende der Welt genannt wird. Sie denken daran, dass die Himmel und die Erde am Ende des Tausendjährigen Reiches im Feuer vernichtet werden sollen. In Wirklichkeit wollen sie Folgendes damit sagen: »Ihr Christen habt uns immer mit Warnungen vor einem schrecklichen Gericht über die Welt gedroht. Ihr sagt uns, dass Gott eines Tages in die Geschichte eingreifen, die Bösen bestrafen und die Erde vernichten wird. All das ist nichts als Unsinn. Wir können leben, wie es uns gefällt. Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Gott in der Geschichte irgendwann eingegriffen hat Warum sollten wir dann daran glauben, dass er es einst tun wird?«
Ihre Schlussfolgerung beruht auf der unbedachten Hypothese, dass »seitdem die Väter entschlafen sind, … alles so von Anfang der Schöpfung an« bleibt. Sie sagen, dass die Natur unausweichlich den gleichen Gesetzen gehorcht. Es gebe keine übernatürlichen Eingriffe in diese Gesetze, und alles lasse sich auf natürliche Weise erklären.
Sie glauben an das sogenannte Aktualitätsprinzip (auch als Uniformitätsprinzip bekannt). Dieses Prinzip besagt, dass die heute beobachtbaren Naturvorgänge immer auf dieselbe Art und Weise und immer in derselben Stärke gewirkt haben, wie dies heute der Fall ist. Nach diesem Prinzip reichen die entsprechenden Prozesse aus, um alle Veränderungen zu erklären, die bisher stattgefunden haben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der gängigen Evolutionstheorie. Die Theorie einer Weiterentwicklung lebender Organismen aus vorher existierenden Arten hängt von der Voraussetzung ab, dass die Bedingungen mehr oder weniger gleich geblieben sind. Wenn die Erde jedoch von Katastrophen heimgesucht wurde, dann werden einige Annahmen der darwinistischen Evolution infrage gestellt.
3,5 Die Spötter wollen eine Tatsache nicht wahrhaben – die Flut. Einmal hat Gott wirklich in die Angelegenheiten der Menschen eingegriffen, und der Zweck seines Eingreifens war die Bestrafung der Bosheit. Wenn es schon einmal geschehen ist, kann es auch wieder geschehen. Es ist ein vernichtendes Armutszeugnis für diese Menschen, dass sie »absichtlich«  (Schl 2000)  unwissend  bleiben.  Sie sind stolz darauf, großes Wissen zu haben. Sie geben vor, bei ihrer Argumentation nach genauen objektiven Kriterien vorzugehen. Sie behaupten, sich streng an wissenschaftliche Prinzipien zu halten. Doch es ist eine Tatsache, dass sie eine gut bezeugte Tatsache der Geschichte ignorieren – die Flut. Sie sollten einen Kurs in Geologie belegen!
»Dabei übersehen sie … absichtlich, dass es schon vorzeiten Himmel gab und [dass] eine Erde aus dem Wasser heraus entstanden ist und … infolge einer Wasserflut  zugrunde  ging«  (Schl 2000). Die »Himmel« und die »Erde« wurden »durch das Wort Gottes« erschaffen. Gott sprach, und sie wurden ins Dasein gerufen (Hebr 11,3). Die Erde wurde »aus Wasser und durch Wasser« erschaffen. Wir bekennen, dass sich in dieser Aussage Tiefen verbergen, die wir nicht ganz verstehen können. Anhand von 1. Mose 1,2 wissen wir, dass die Erde ursprünglich mit Wasser bedeckt war. Dann lesen wir in Vers 6, dass Gott ein Firmament oder eine Ausdehnung erschuf, um die Wasser der Erde vom Dampf oder den Wolken über der Erde zu trennen. Wir nehmen deshalb an, dass die Erde von einer dicken Wasserdampfhülle bedeckt war, innerhalb derer kein Leben hätte existieren können. Aufgrund der Erschaffung der Ausdehnung entstand eine reine Atmosphäre, in der wir nun atmen können. In 1. Mose 1,9 wurden die Kontinente von den Ozeanen getrennt, dies könnte gemeint sein mit dem Ausdruck »die Erde, die aus Wasser Bestand hatte« (vgl. auch Ps 24,2). Was immer die wissenschaftlichen Folgen der Aussagen des Petrus auch sein mögen, wir wissen, dass die Erde ein Planet mit viel Wasser ist, der von Wolken bedeckt wird. Drei Viertel der Erdoberfläche bestehen aus Wasser, und große Teile sind von Wolken bedeckt. Soweit wir wissen, ist die Erde der einzige Wasserplanet und deshalb der einzige, der menschliches Leben beherbergen kann.
3,6 Von Anfang an waren auf der vorsintflutlichen Erde die Mittel vorhanden, wodurch sie vernichtet werden konnte. Es gab Wasser in den Tiefen unter der Erde, in den Meeren und in den Wolken. Schließlich ließ Gott die Wasser von unten her aufbrechen, während die oberhalb befindlichen Wasser auf die Erde herabregneten (1. Mose 7,11). Infolgedessen wurde das Land überflutet und alles Leben außerhalb der Arche vernichtet. Die Kritiker wollen diese historische Tatsache nicht wahrhaben. Es ist interessant, dass die Flut in den letzten Jahren immer wieder stark angegriffen wurde. Doch die Hinweise auf die Flut finden sich in den Gesteinen, in den alten und neueren Traditionen zahlreicher Völker und vor allem natürlich in Gottes heiligem Wort.
3,7 Als Gott die Erde schuf, sorgte er für so viel Wasser, dass damit unser Planet vernichtet werden kann. So verfuhr er auch mit dem »Feuer«: Damit können der gegenwärtige »Himmel« und die jetzige »Erde« ebenfalls vernichtet werden. In unserem Atomzeitalter verstehen wir, dass Materie gespeicherte Energie ist. Die Spaltung eines einzigen Atomkerns setzt gewaltige Energiemengen frei. Deshalb hat die gesamte Materie unserer Erde eine enorme Explosionskraft. Gegenwärtig wird sie vom Herrn zusammengehalten. (Kol 1,17: »Alles besteht durch ihn.«) Wenn er seine Hand als Erhalter alles Erschaffenen abziehen würde, dann würden die Elemente zerschmelzen. In der Zwischenzeit werden »die jetzigen Himmel und die jetzige Erde … für das Feuer aufgehoben zum Tag des Gerichts und des Verderbens der gottlosen Menschen«.
3,8 Warum wird das Gericht Gottes nun so lange verzögert? Zunächst einmal sollten wir daran denken, dass Gott nicht der Zeit unterworfen ist. Er lebt nicht wie wir in der Dimension der Zeit. Schließlich wird die Zeit durch das Verhältnis der Sonne zur Erde bestimmt, während Gott durch dieses Verhältnis keinerlei Beschränkungen unterworfen ist. »Beim Herrn ist ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag.« Er kann einen Tag zu einem Jahrtausend ausdehnen, oder aber ein ganzes Jahrtausend gleichsam in einen einzigen Tag pressen. Er kann sein Handeln entweder ausdehnen oder komprimieren.
3,9 Gott hat verheißen, die Geschichte der gottlosen Menschheit mit einem Gericht zu beenden. Wenn es so aussieht, als ob er zögere, dann nicht, weil er seiner Verheißung untreu geworden wäre. Er ist einfach nur geduldig. Er möchte nicht, »dass irgendwelche verlorengehen«. Sein Wunsch ist es, »dass alle zur Buße kommen«. Er streckt absichtlich die Zeit der Gnade, damit die Menschen jede nur erdenkliche Gelegenheit erhalten, errettet zu werden.
In Jesaja 61,2 lesen wir vom Gnadenjahr Gottes und vom Tag seiner Rache. Das bedeutet, dass es ihm gefällt, Gnade zu erzeigen, und dass ihm das Gericht eigentlich fremd ist (Jes 28,21). Es kann auch bedeuten, dass er seine Geduld auf ein Jahrtausend oder länger ausdehnen und seine Gerichte zu einem Tag zusammenfassen kann.
Er wartete 120 Jahre, ehe er die Flut sandte. Nun hat er mehrere Jahrtausende gewartet, bevor er die Welt im Feuer vergehen lässt.
3,10 »Es wird aber der Tag des Herrn kommen.« Die Worte »der Tag des Herrn« beziehen sich auf jeden Zeitabschnitt, in dem der Herr sein Gericht ergehen lässt. Im AT wurde dieser Ausdruck benutzt, um jede Zeitspanne zu beschreiben, in deren Verlauf Gott die Übeltäter bestraft und über seine Feinde siegt (Jes 2,12; 13,6.9; Hes 13,5; 30,3; Joel 1,15; 2,1.11; 3,4; 4,14; Amos 5,18.20; Ob 15; Zef 1,7.14; Sach 14,1; Mal 3,23). Zur Zeit des NT handelt es sich beim Tag des Herrn um einen Zeitabschnitt mit mehreren Phasen.
1. Der Ausdruck bezieht sich auf die Gro ße Trübsal, eine Zeit von sieben Jahren, in deren Verlauf Gott das ungläubige Israel richten wird (1. Thess 5,2; 2. Thess 2,2). 2. Der Ausdruck umfasst auch Christi Wiederkehr auf die Erde. Dann wird er Rache an denen üben, die Gott nicht kennen und dem Evangelium des Herrn  nicht  gehorchen  (2. Thess  1,710).
3. Der Ausdruck steht für das Tausendjährige Reich, wenn Christus mit eisernem Stab über die Erde herrschen wird (Apg 2,20).
4. Der Ausdruck bezieht sich auf die endgültige Vernichtung der Himmel und der Erde im Feuer. Diese Bedeutung ist hier in Kapitel 3 gemeint. Der »Tag des Herrn« wird »kommen wie  ein  Dieb«,  d. h.  unerwartet  und  mit einer umfassenden Vernichtung als Begleiterscheinung. »Die Himmel« werden »vergehen«. Damit sind sicher die Atmosphäre und eventuell auch den Sternenhimmel gemeint, doch der dritte Himmel – die Wohnstätte Gottes – kann davon nicht betroffen sein. Wenn die Himmel in einer ohrenbetäubenden Explosion vergehen werden, dann werden »die Elemente« im Feuer »aufgelöst« werden. Mit »Elemente« sind hier die Bestandteile der Materie gemeint. Alle Materie wird in einem riesigen nuklearen Holocaust vernichtet werden.
»Die Erde und die Werke, die darauf sind,  werden  verbrennen«  (LU 1912).22 Nicht nur die Natur, sondern auch alle Werke der Zivilisation werden vergehen. Die Metropolen der Welt, die imposanten Bauwerke, die überragenden wissenschaftlichen Errungenschaften usw. gehen alle unweigerlich dem Untergang entgegen.
3,11 Nun wendet sich Petrus von den Spöttern ab, um sich wieder den Heiligen zuzuwenden und ihnen die Verpflichtungen zu erklären, die sich aus diesen Tatsachen ergeben. »Da dies alles so aufgelöst wird, was für Leute müsst ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit.« Alles Materielle trägt den Stempel der Vergänglichkeit. Die Dinge, derer sich die Menschen rühmen, für die sie leben, sind im besten Fall vergänglich. Wer für das Materielle lebt, der lebt für das zeitlich Begrenzte. Die Vernunft sagt uns, dass wir uns vom Glanz und Glimmer dieser Welt abwenden und in Heiligung sowie »Gottseligkeit« leben sollen. Es geht einfach darum, für die Ewigkeit statt für die gegenwärtige Zeit zu leben. Wir sollen das Geistliche mehr betonen als das Materielle und statt des Vergänglichen das Bleibende wählen.
3,12 Die Gläubigen sollen ebenso in Erwartung leben. Sie sollen der »Ankunft des Tages Gottes« entgegensehen und sich von Herzen danach sehnen. Einige benutzen die hier befindlichen Worte (»indem ihr die Ankunft des Tages Gottes erwartet und beschleunigt«), um zu lehren, dass wir das Kommen des Herrn beschleunigen können, wenn wir hingegeben leben und ihm unermüdlich dienen. Doch diese Lehre beinhaltet zwei Probleme: Erstens ist der Tag Gottes nicht mit dem Kommen des Herrn identisch. Selbst wenn es so wäre, dann müssen wir zweitens ernsthaft bezweifeln, ob der Zeitpunkt des Kommens Christi durch den Eifer seines Volkes verändert werden kann.
»Der Tag Gottes« ist in diesem Fall die Ewigkeit. Er folgt dem Abschluss des »Tages des Herrn«, wenn Himmel und Erde vernichtet werden. »Der Tag Gottes« ist der Tag seines vollständigen und endgültigen Sieges. Aus diesem Grund ist es ein Tag, den wir voller Sehnsucht erwarten sollen.
Wenn Petrus vom »Tag Gottes« spricht, so sagt er nicht »an dem«, sondern »um dessentwillen die Himmel in Feuer geraten und aufgelöst und die Elemente im Brand zerschmelzen werden«. Der »Tag Gottes« ist nicht die Zeit, zu der die endgültige Vernichtung stattfindet. Statt dessen muss dieses Gericht statt finden, ehe der »Tag Gottes« beginnen kann.
3,13 In Vers 12 werden die Gläubigen aufgefordert, den Tag Gottes zu erwarten. Hier werden sie beschrieben, wie sie »neue Himmel und eine neue Erde« erwarten, »in denen Gerechtigkeit wohnt«. Dies stützt die Ansicht, dass der Tag Gottes sich auf die Ewigkeit bezieht, wenn es »neue Himmel und eine neue Erde« geben wird.
In Jesaja 65,17 und 66,22 wird der Ausdruck »neue Himmel und eine neue Erde« benutzt, um sowohl das Tausendjährige Reich als auch die Ewigkeit zu beschreiben. Wir wissen, dass diese Abschnitte neben der Ewigkeit auch das Tausendjährige Reich umfassen müssen, weil es zu dieser Zeit noch Sünde gibt (65,20) und Kinder geboren werden Paulus nach der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat.« Mehrere interessante Punkte ergeben sich aus dieser Anspielung auf »Paulus«:
1. Petrus nennt Paulus »unseren geliebten Bruder«, und dies trotz der Tatsache, dass Paulus Petrus in Antiochia öffentlich wegen Heuchelei ermahnt hat (Gal 2,11-21). Offensichtlich hat Petrus diese Zurechtweisung demütig aufg enommen. Wir sollten alle imstande sein, Korrektur anzunehmen, ohne demjenigen, der sie ausspricht, hinterher böse zu sein.
2. Petrus erkannte an, dass Paulus göttliche »Weisheit« zur Abfassung seiner Briefe erhalten hat. Dahinter steht sicher die Tatsache, dass Petrus die Paulusbriefe für göttlich inspiriert hielt. 3. Die Leser des Petrus hatten offensichtlich einen oder mehrere Paulusbriefe gelesen. Das kann bedeuten, dass diese Briefe direkt an sie gerichtet gewesen sind, oder aber, dass sie in dem betreffenden Gebiet weitverbreitet waren.
In welchem Paulusbrief ist nun davon die Rede, dass »die Langmut unseres Herrn … die Rettung« ist? In Römer 2,4 heißt es: »Oder verachtest du den Reichtum seiner Gütigkeit und Geduld und Langmut und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet?«
3,16 »In allen« seinen »Briefen« sprach Paulus von den großen Wahrheiten, die Petrus in seinen beiden Briefen behandelt hat – von Wahrheiten wie der Wiedergeburt, der Gottheit Christi, seinem Leben als sündlos Leidender, seinem stellvertretenden Tod, seiner Auferstehung, seiner Himmelfahrt, seiner Wiederkunft, dem Tag des Herrn und der Ewigkeit. »Einiges« in der Bibel ist »schwer zu verstehen«, etwa die Dreieinheit, Gottes Erwählung und der freie Wille des Menschen, das Geheimnis des Leidens usw. Es sollte uns nicht verunsichern, wenn wir in der Bibel Themen finden, die über unser Verständnis hinausgehen. Das Wort Gottes ist unendlich und kann nie erschöpft werden. Wenn wir es studieren, dann müssen wir bereit sein anzuerkennen, dass Gott Dinge weiß, die wir nie ganz ergründen können.
Petrus will nicht die Paulusbriefe kritisieren, wenn er davon spricht, dass »einiges schwer zu verstehen« sei. Nicht der Schreibstil des Paulus ist schwierig zu verstehen, sondern die Themen, die er behandelt. Barnes schreibt: »Petrus geht es hier nicht um die Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich dessen, was Paulus gemeint hat, sondern um die Schwierigkeit, die großen Wahrheiten zu verstehen, die er lehrte.«23
Statt sie einfach im Glauben anzunehmen, »verdrehen … die Unwissenden und Unbefestigten« einige dieser schwierigen Wahrheiten »zu ihrem eigenen Verderben«.  Einige  Sekten  verdrehen  z. B. entsprechende Schriftaussagen, indem sie das Gesetz zu einem Heilsweg machen, statt es als Weg zur Sündenerkenntnis zu verstehen. Andere lassen die Taufe zur Bedingung für den Eingang in den Himmel werden. Sie gehen nicht nur mit den Schriften des Paulus so um, sondern auch mit anderen Bibelteilen. Man beachte, dass Petrus hier die Paulusbriefe auf dieselbe Ebene wie »die übrigen Schriften« stellt. Er erkennt an, dass die Paulusbriefe Teil der inspirierten Heiligen Schrift sind.
3,17 Die Gläubigen müssen sich ständig vor »Irrwahn« hüten. Das Wissen, dass es immer wieder Irrlehrer geben wird, die die Wahrheit verdrehen und verzerren, sollte uns wach halten. Es geschieht leicht, dass die Arglosen »durch den Irrwahn der Ruchlosen« aus dem geistlichen Gleichgewicht geraten.
3,18 Und wieder lehrt Petrus, dass ständiger Fortschritt im geistlichen Bereich ein großer Schutz vor den verderblichen Irrlehrern ist. Wir müssen auf zweifache Weise wachsen: »In der Gnade und« in der »Erkenntnis«. Die Gnade ist eine praktische Auswirkung der Frucht des Geistes. Wachstum in der »Gnade« bedeutet nicht vermehrtes Kopfwissen oder unermüdliche Aktivität, sondern wachsende Ähnlichkeit mit dem Herrn Jesus. Mit »Erkenntnis« ist gemeint, den Herrn durch das Wort kennenzulernen. Wachs
1,1 Die lehrmäßige Grundlage aller wahren Gemeinschaft ist die Person unseres Herrn Jesus Christus. Es gibt keine wahre Gemeinschaft mit denen, die falsche Ansichten über ihn haben. Die ersten zwei Verse lehren seine ewige Existenz und die Wahrheit seiner Menschwerdung. Derselbe, der von aller Ewigkeit her bei Gott dem Vater gewesen ist, kam in diese Welt als wahrer Mensch. Die Tatsache seiner Menschwerdung wird dadurch angedeutet, dass die Apostel ihn hörten, ihn »mit … Augen gesehen«, ihn in tiefer Überlegung bestaunt und wirklich »betastet« haben. »Das Wort des Lebens« war nicht einfach eine vorübergehende Illusion, sondern eine wirkliche Person in einem Körper aus Fleisch und Bein.
1,2 Vers 2 bestätigt, dass der Eine, der »bei dem Vater war« und den Johannes »das ewige Leben« nennt, Fleisch wurde, unter uns wohnte und von den Aposteln »gesehen« worden ist.
Die folgenden Zeilen eines unbekannten Autors zeigen die praktischen Auswirkungen der ersten beiden Verse auf unser Leben:
»Ich bin froh, dass meine Erkenntnis bezüglich des ewigen Lebens nicht auf den Spekulationen der Philosophen oder sogar der Theologen, sondern auf dem absolut zuverlässigen Zeugnis derer beruht, die ihn hörten, sahen, angeschaut und betastet haben. In ihm ist dieses ewige Leben Fleisch geworden. Das war nicht nur ein schöner Traum, sondern eine handfeste Tatsache, die sorgfältig beobachtet und genau aufgezeichnet wurde.«
1,3 Die Apostel hielten diese wunderbare Nachricht nicht geheim, und wir sollten dies auch nicht tun. Sie erkannten, dass die Grundlage aller Gemeinschaft in ihr zu finden ist, und erklärten sie deshalb ausführlich und vollständig. Alle, die das Zeugnis der Apostel annehmen, haben »Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« sowie auch mit den Aposteln und allen anderen Gläubigen. Wie wunderbar, dass schuldige Sünder nun Gemeinschaft mit Gott dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus haben können! Und doch entspricht dies genau der Wahrheit, die wir hier vor uns haben.
»… sein Sohn Jesus Christus.« Jesus und Christus sind ein und dieselbe Person, und diese Person ist der Sohn Gottes. Jesus ist der Name, den er bei der Geburt erhielt und der deshalb von seinem vollkommenen Menschsein spricht. Christus ist der Name, der von ihm als dem Gesalbten Gottes, dem Messias, kündet. Daher ist der Name Jesus Christus ein Zeugnis seines Menschseins und seiner Göttlichkeit. Jesus ist wahrer Gott (»Gott aus Gott« nach der Formulierung im Nizäischen Glaubensbekenntnis) und dennoch wahrer Mensch.
1,4 Aber warum schreibt Johannes das überhaupt zum Thema Gemeinschaft? Der entsprechende Grund wird jetzt angegeben: »… damit unsere Freude vollkommen sei«. Johannes erkannte, dass die Welt dem menschlichen Herzen keine wahre und dauerhafte Freude geben kann. Diese Freude kann nur aus einer rechten Beziehung zum Herrn kommen. Wenn ein Mensch in Gemeinschaft mit Gott und dem Herrn Jesus Christus ist, erfährt er eine so tief greifende Freude, dass sie durch irdische Umstände nicht erschüttert werden kann. Ein Dichter fasste dies in folgende Worte: »Ewig seist du hoch erhoben / auf Erden und im Himmel droben. / Dein Werk bleibt ewig steh’n, / dein Sieg kann nie vergeh’n.« II. Mittel, um die Gemeinschaft aufrechtzuerhalten (1,5 – 2,2)
1,5 Gemeinschaft beschreibt eine Situation, worin zwei oder mehr Menschen bestimmte Dinge miteinander teilen. Sie umfasst eine Beziehung zwischen Gleichgesinnten und eine Freundschaft bzw. Partnerschaft. Johannes will nun seine Leser über die Erfordernisse der Gemeinschaft mit Gott aufklären. Das ist eine Anspielung auf die Lehre des Herrn auf Erden. Obwohl der Herr nicht als derjenige zitiert wird, der genau diese Worte verwendet hat, war doch der Kern und die Grundlage seiner Lehre, »dass Gott Licht ist und gar keine Finsternis in ihm ist«. Damit ist gemeint, dass Gott absolut heilig, gerecht und rein ist. Gott kann keine Form der Sünde wohlwollend ansehen. Vor ihm ist nichts verborgen, »sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben« (Hebr 4,13).
1,6 Nun folgt die Aussage, dass der Mensch die Sünde nicht verbergen darf, wenn er mit Gott Gemeinschaft haben will. Licht und Finsternis können im Leben eines Menschen nicht gleichzeitig existieren, ebenso wie sie nicht gleichzeitig in einem Raum sein können. Wenn ein Mensch in Finsternis lebt, dann kann er keine Gemeinschaft mit Gott haben. Jemand, der sagt, dass er »Gemeinschaft mit ihm« habe, und ständig in Finsternis wandelt, ist nie gerettet worden.
1,7 Wenn andererseits jemand im Licht wandelt, dann kann er Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus und mit seinen Mitchristen haben. Johannes ist der Auffassung, dass ein Mensch entweder im Licht oder in der Dunkelheit lebt. Wenn er im Licht lebt, ist er ein Mitglied der Familie Gottes. Wenn er in der Finsternis lebt, hat er mit Gott nichts gemein, weil es in Gott keinerlei Finsternis gibt. Diejenigen,  die  im  Licht  wandeln  (d. h. diejenigen Menschen, die Christen sind), »haben … Gemeinschaft miteinander. Das Blut Jesu, seines Sohnes, reinigt« sie ständig »von jeder Sünde«. Alle Vergebung Gottes geschieht aufgrund des Blutes seines Sohnes, das auf Golgatha vergossen wurde. Dieses Blut ist für Gott die gerechte Grundlage, worauf er Sünden vergeben kann, wie es auch in einem Lied heißt: »Du Gotteslamm, dein kostbar Blut, / verliert niemals die Kraft, / dass es Erlöste rein und gut / und endlich selig macht.«. Es ist immer wirksam, um uns zu reinigen. Natürlich müssen die Gläubigen ihre Sünden bekennen, ehe sie Vergebung erlangen können, aber damit beschäftigt sich Johannes in Vers 9.
1,8 Weiter erfordert Gemeinschaft mit Gott, dass wir die Wahrheit über uns selbst anerkennen. Wenn wir zum Beispiel leugnen, dass wir von Natur aus Sünder sind, heißt das, dass wir unaufrichtig sind und uns selbst betrügen. Man beachte, dass Johannes zwischen Sünde (Vers 8) und Sünden (Vers 9) unterscheidet. Sünde bezeichnet unsere verdorbene, böse Natur. Sünden sind die bösen Taten, die wir getan haben. Was wir sind, ist aber in Wahrheit schlimmer als alles, was wir je getan haben. Aber, gepriesen sei der Herr, Christus starb für unsere Sünde und für unsere Sünden.
Bei der Bekehrung wird die Sündennatur in uns nicht ausgerottet. Stattdessen wird uns eine neue, göttliche Natur eingepflanzt, die uns die Kraft gibt, über die in uns wohnende Sünde siegreich zu leben.
1,9 Damit wir jeden Tag in Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitgläubigen leben können, müssen wir »unsere Sünden bekennen«: Tatsünden, Unterlassungssünden, Gedankensünden, geheime und öffentliche Sünden. Wir müssen sie vor Gott ans Licht bringen, sie beim Namen nennen, uns gemeinsam mit Gott gegen sie stellen und uns schließlich davon abkehren. Ja, echtes Bekenntnis beinhaltet auch das Aufgeben der Sünde: »Wer seine Verbrechen zudeckt, wird keinen Erfolg haben; wer sie aber bekennt und lässt, wird Erbarmen finden« (Spr 28,13). Wenn wir das tun, können wir die Verheißung in Anspruch nehmen, dass Gott treu und gerecht ist, so »dass er uns die Sünden vergibt«. Er ist in dem Sinne treu, dass er Vergebung zugesagt hat und bei seinen Verheißungen bleiben wird. Es ist gerecht, uns zu vergeben, weil er eine gerechte Grundlage für die Vergebung im stellvertretenden Werk des Herrn Jesus am Kreuz gefunden hat. Und er garantiert uns nicht nur die Vergebung. Vielmehr sagt er uns auch zu, uns »von jeder Ungerechtigkeit« zu reinigen. Die Vergebung, von der Johannes hier spricht, ist die väterliche Vergebung, nicht die Vergebung vor dem Gesetz (richterliche Vergebung). Richterliche Vergebung bedeutet, dass die Strafe für die Sünde gesühnt ist. Diese Vergebung erhält der Gläubige, wenn er an den Herrn Jesus Christus glaubt. Sie wird so genannt, weil sie von Gott als Richter gewährt wird. Aber was ist mit den Sünden, die ein Mensch nach seiner Bekehrung begeht? Soweit es um Strafe geht, ist sie schon von unserem Herrn Jesus am Kreuz von Golgatha bezahlt worden. Aber was die Gemeinschaft in der Familie Gottes angeht, braucht der in Sünde gefallene Heilige die väterliche Vergebung, d. h.  die  Vergebung  seines  Vaters.  Diese erlangt er, indem er seine Sünde bekennt. Die Vergebung vor dem Gesetz brauchen wir nur einmal – sie reicht für all unsere Sünden aus, mögen sie vergangen, gegenwärtig oder zukünftig sein. Aber die väterliche Vergebung Gottes brauchen wir unser ganzes christliches Leben hindurch. Wenn wir unsere Sünden bekennen, dann müssen wir der Autorität des Wortes Gottes glauben. Es sagt, dass Gott uns vergibt. Und wenn er uns vergibt, müssen wir auch bereit sein, uns selbst zu vergeben.
1,10 Um Gemeinschaft mit Gott zu haben, dürfen wir schließlich auch nicht leugnen, dass wir einzelne Sünden begangen haben. Gott hat überall in seinem Wort gesagt, dass alle Menschen gesündigt haben. Wenn wir das leugnen, machen wir Gott zum Lügner. Wir widersprechen damit schlicht seinem Wort und leugnen die Ursache, um derentwillen der Herr Jesus in diese Welt kam, um zu leiden, sein Blut für uns zu vergießen und zu sterben.
Daraus können wir nun ablesen, dass Gemeinschaft mit Gott kein sündloses Leben erfordert. Wir dürfen stattdessen all unsere Sünden in das Licht seiner Gegenwart bringen, bekennen und uns davon abkehren. Dies bedeutet, dass wir bezüglich unseres Zustands absolut ehrlich sind. Wir dürfen dabei nicht heucheln und nichts von dem verbergen, was wir wirklich sind.
2,1 Johannes zeigt uns Gottes vollkommenen Maßstab für sein Volk und die gnadenreichen Vorkehrungen des Herrn für den Fall, dass wir versagen. Das Wort »Kinder« bezieht sich auf alle Mitglieder der Familie Gottes. Gottes vollkommener Maßstab wird uns dann mit den Worten genannt: »Ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt.« Weil Gott vollkommen ist, beinhaltet sein Maßstab für sein Volk ebenfalls absolute Vollkommenheit. Gott wäre nicht mehr Gott, wenn er sagen würde: »Ich schreibe euch dies, damit ihr so wenig wie nötig sündigt.« Gott kann Sünde nicht im Geringsten gutheißen, und deshalb setzt er uns das Ziel der Vollkommenheit. Der Herr Jesus setzte auch der Frau, die im Ehebruch ergriffen worden war, dieses Ziel: »So verurteile auch ich dich nicht. Geh hin und sündige nicht mehr!« Gleichzeitig kennt der Herr unser Gebilde: Er weiß, dass wir nur sterbliche Geschöpfe und Staub sind. Daher traf er in seiner Gnade Vorkehrungen für den Fall, dass wir versagen. Das wird durch die Worte ausgedrückt: »Und wenn jemand sündigt – wir haben einen Beistand bei dem Vater: Jesus Christus, den Gerechten.« Ein Beistand ist jemand, der sich in der Zeit der Not an die Seite eines Menschen stellt, um ihm zu helfen. Genau das tut der Herr Jesus für uns, wenn wir sündigen. Sofort kommt er zu uns, um uns wieder in die Gemeinschaft mit ihm zurückzubringen. Man beachte, dass es nicht heißt: »Wenn jemand seine Sünde bekennt …« Als unser Beistand versucht der Herr, uns dazu zu bringen, zu bekennen und unsere Sünden zu lassen. Es gibt einen wunderbaren Aspekt dieses Verses, den wir nicht übersehen sollten. Es heißt: »Wenn jemand sündigt – wir haben einen Beistand bei dem Vater.« Es heißt nicht: »bei Gott«, sondern: »bei dem Vater«. Er ist auch dann noch unser Vater, wenn wir sündigen. Das erinnert uns an die wunderbare Wahrheit, dass Sünde im Leben eines Gläubigen die Gemeinschaft zwar unterbricht, die Verwandtschaftsbeziehung aber nicht ang etastet werden kann. Wenn jemand wiedergeboren wird, dann wird er zu einem Kind Gottes. Fortan ist Gott sein Vater, und diese Beziehung kann nicht beeinträchtigt werden. Eine Geburt kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Ein Sohn kann seinem Vater Unehre bereiten, aber durch seine Geburt bleibt er doch immer Sohn.
Man beachte, dass unser Beistand »Jesus Christus, der Gerechte«, ist. Es ist gut, einen gerechten Verteidiger zu haben. Wenn Satan eine Anklage gegen einen Gläubigen vorbringt, kann der Herr Jesus auf sein vollendetes Werk auf Golgatha weisen und sagen: »Das geht auf meine Rechnung.«
2,2 Und der Herr Jesus ist nicht nur unser Beistand, sondern auch »die Sühnung für unsere Sünden«. Das bedeutet, dass er uns durch seinen Tod von der Schuld unserer Sünden befreit und uns wieder in die Gemeinschaft mit Gott zurückg ebracht hat, indem er die notwend ige Sühnung erwirkte und dadurch jedes Hindernis für die Gemeinschaft beseitigte. Gott kann uns Gnade erweisen, weil Christus den Ansprüchen der Gerechtigkeit völlige Genüge getan hat. Es geschieht nicht oft, dass ein Beistand (oder Anwalt) für die Sünden seines Klient en bezahlt, doch genau das hat unser Herr getan. Das Besondere dabei ist, dass er sie bezahlt hat, indem er sich selbst geopfert hat. Johannes fügt nun noch hinzu, dass der Herr nicht nur das vollkommene Opfer für unsere Sünden war, »sondern auch für die« Sünden der »ganzen Welt« (vgl. Schl 2000). Dies bedeutet nicht, dass nun die ganze Welt automatisch gerettet ist. Damit ist vielmehr gemeint, dass der Wert des Werkes des Herrn Jesus ausreicht, um die ganze Welt zu retten. Aber es ist nur für diejenigen wirksam, die wirklich ihr Vertrauen ganz auf ihn setzen. Weil sein Werk für alle Menschen ausreicht, können wir das Evangelium der ganzen Welt anbieten. Aber wenn alle Menschen automatisch gerettet wären, wäre es nicht mehr nötig, ihnen das Evangelium zu predigen. Es ist interessant, dass die Inschrift am Kreuz auf Hebräisch (der Sprache des erwählten Volkes Gottes) sowie auf Griechisch und Lateinisch, den Hauptsprachen der damals bekannten Welt, verfasst war. So wurde aller Welt verkündigt, dass Jesus Christus der Heiland für alle Menschen an jedem Ort ist.
III. Kennzeichen der Mitglieder der christlichen Gemeinschaft: Gehorsam und Liebe (2,3-11)
2,3 Johannes nennt uns nun die wahren Kennzeichen derer, die zur christlichen Gemeinschaft gehören. Das erste Kennzeichen ist der Gehorsam. Wir können uns unserer Beziehung zu Gott sicher sein, wenn unser Leben von dem Herzensverlangen bestimmt ist, Gottes Willen zu tun. Diese Verse richten sich zweifellos an die Gnostiker, die behaupteten, ein höheres Wissen von Gott zu haben. Sie bekundeten jedoch wenig Interesse, die Gebote des Herrn zu halten. Johannes zeigt, dass solche Erkenntnisse hohl und wertlos sind.
Johannes beschreibt den Gehorsam der Gläubigen auf dreifache Weise – »seine Gebote halten« (V. 3), »sein Wort« halten (V. 5) und »wandeln, wie er gewandelt ist« (V. 6). Wir finden hier eine gedankliche Weiterentwicklung: Seine Gebote zu halten, bedeutet, den im NT zu findenden Lehren des Herrn Jesus zu gehorchen. Sein Wort zu halten, bedeutet, nicht nur gegenüber dem geschriebenen Wort gehorsam zu sein. Vielmehr ist damit auch das Verlangen gemeint, das zu tun, von dem wir wissen, dass es ihm gefällt. Wandeln, wie er gewandelt ist, zeigt uns den vollen Maßstab Gottes für sein Volk: Es bedeutet, so zu leben, wie Jesus gelebt hat.
2,4 Johannes will nicht sagen, dass das christliche Leben in fehlerlosem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes besteht. Vielmehr will er zum Ausdruck bringen, dass der Christ gewohnheitsmäßig den Wunsch hat, Gottes Gebote zu halten und das zu tun, was in den Augen Gottes wohlgefällig ist. Johannes sieht die allgemeine Tendenz im Leben eines Menschen. Wenn jemand sagt, er kenne Gott, aber »hält seine Gebote nicht«, dann ist es eindeutig, dass er nicht die Wahrheit sagt.
2,5 Wenn wir andererseits Gottes Wort halten, dann »ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet« in uns. »Liebe Gottes« bezieht sich nicht auf unsere Liebe zu Gott, sondern auf seine Liebe zu uns. Der Gedanke ist, dass Gottes Liebe zu uns zu ihrem Ziel geführt wird, wenn wir sein Wort halten. Sie erreicht ihr Ziel, wenn sie zum Gehorsam ihm gegenüber führt.
2,6 Deshalb sollte jeder, der »sagt, dass er in ihm bleibe«, auch wandeln, wie der Herr Jesus gewandelt ist. Sein Leben, wie es uns in den Evangelien vorgestellt worden ist, ist unser Vorbild und unsere Leitung. Dieses Leben können wir nicht aus eigener Kraft führen, sondern nur in der Kraft des Heiligen Geistes. Unsere Verantwortung besteht darin, Jesus unser Leben ohne Vorbehalte zu übergeben und ihm zu erlauben, sein Leben durch und in uns auszuleben.
2,7 Ein anderes wichtiges Kennzeichen des wahren Gläubigen ist Liebe zu den Geschwistern. Johannes sagt, dass er kein neues Gebot aufstellt, »sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet«. Mit anderen Worten, der Herr Jesus hatte seine Jünger von Anfang seines irdischen Dienstes an gelehrt, einander zu lieben.
Die Gnostiker rühmten sich immer, dass ihre Lehren brandneu seien. Aber der Apostel drängt seine Leser, doch alles an der Lehre des Herrn Jesus zu messen, die er verkündigte, als er auf der Erde war. Immer stehen wir in der Gefahr, von dem abzuweichen, was »von Anfang an« war.1 Johannes sagt hier: »Geht zurück zu den Anfängen, und ihr werdet wissen, was wahr ist.«
2,8 Doch dieses Gebot ist nicht einfach ein altes Gebot, sondern in gewissem Sinne trägt es auch neue Züge. Als der Herr Jesus auf der Erde war, lehrte er die Jünger nicht nur, einander zu lieben. Vielmehr war er auch ein lebendiges Vorbild, um zu zeigen, was er meinte. Sein Leben bestand aus Liebe zu anderen. Das Gebot war »wahr … in ihm«, als er hier auf Erden lebte. Aber nun ist das alte Gebot in einer Hinsicht neu. In unserem Zeitalter ist es nicht nur wahr in dem Herrn Jesus, sondern auch in den Gläubigen. Diese Christen waren früher einmal Heiden gewesen und hatten in Hass und Leidenschaft gelebt. Nun veranschaulichten und verkörperten sie durch ihr Leben das große Gesetz der Liebe. Auf diese Weise vergeht die Finsternis, wann immer Menschen das Licht des Evangeliums aufnehmen. Nicht alle Finsternis ist schon vertrieben, weil bisher nicht viele zu Christus gekommen sind. Christus, »das wahrhaftige Licht« leuchtet jedoch schon, und wann immer Sünder sich zu ihm wenden, werden sie gerettet und lieben fortan ihre Mitgläubigen.
2,9-11 In den Versen 9-11 finden wir die Beschreibung des Kontrasts zwischen falscher und wahrer Liebe. Wenn man von sich behauptet, ein Christ zu sein, und doch diejenigen hasst, die wahre Christen sind, dann ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass solch ein Mensch »in der Finsternis bis jetzt« ist. Dieser Ausdruck zeigt, dass es hier nicht um einen Zurückgefallenen geht. Der Betreffende in unserem Text bleibt in seinem bisherigen Zustand, nämlich im Zustand als Nichterretteter. Andererseits bleibt derjenige, der sich durch Liebe zu »seinen Bruder« auszeichnet, »im Licht, und nichts Anstößiges ist in ihm«. Dies kann einmal bedeuten, dass der Betroffene selbst nicht in der Gefahr steht zu fallen, oder zum anderen, dass er andere nicht zum Fallen bringt. Beide Auslegungen sind zulässig. Wenn ein Christ wirklich im Kontakt mit dem Herrn lebt, dann beleuchtet das Licht seinen Weg, und niemand nimmt Anstoß, weil zwischen seinem Bekenntnis und seinem Leben kein Widerspruch besteht. Die Gnostiker hegten einen tiefen Hass auf diejenigen Menschen, die Gottes Wort treu blieben. Das bewies, dass sie »in der Finsternis« waren und darin wandelten. Sie wussten »nicht, wohin« sie gingen, »weil die Finsternis« ihre »Augen verblendet« hatte. Als ob er nun die brüderliche Liebe illustrieren wolle, hält der Apostel inne, um denen liebevolle Grüße zukommen zu lassen, die Glieder der Familie Gottes sind.
IV. Wachstumsphasen in der Gemeinschaft (2,12-14)
2,12 Als Erstes fasst er die gesamte Familie mit dem Ausdruck »Kinder«2 zusammen. Hier ist nicht an Alter oder geistliche Entwicklung gedacht. Johannes spricht von allen, die zum Herrn gehören, das sieht man am zweiten Teil des Verses: »… weil euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen.« Das gilt für alle Christen. Es ist wunderbar, hier und jetzt zu wissen, dass unsere Sünden vollkommen erlassen sind. Man beachte auch, dass unsere Sünden »um seines Namens willen« vergeben sind. Um Christi willen kann Gott unsere Sünden vergeben.
2,13 Die »Väter« werden als solche beschrieben, die den Einen, »der von Anfang an ist«, kennen. Es sind reife Gläubige, die die wunderbare Gemeinschaft des Sohnes Gottes kennen und ganz von ihm erfüllt sind. Die jungen Männer zeichnen sich in der geistlichen Familie durch Energie und Kampf aus. Die »jungen Männer« haben »den Bösen überwunden«, weil sie das Geheimnis des Sieges erkannt haben, nämlich: »Nicht ich, sondern Christus in mir.«
2,14 Die »Kinder« sind die Säuglinge im Glauben. Sie mögen nicht viel Erkenntnis haben, aber sie haben »den Vater erkannt«.
Wenn Johannes nun seine Anrede an die Väter wiederholt, entspricht sie wortwörtlich der ersten Anrede. Dies bedeutet, dass die Väter geistliche Reife erlangt haben. Wieder werden die »jungen Männer« als diejenigen angesprochen, die stark im Herrn und der Macht seiner Stärke sind. Sie haben »den Bösen überwunden«, weil »das Wort Gottes« in ihnen bleibt. Der Herr Jesus konnte Satan in der Wüste besiegen, indem er die Schrift zitierte. Das betont, wie wichtig es ist, sich ständig vom Wort zu nähren und es bereitzuhalten, um die Angriffe Satans zurückzuschlagen.
V. Zwei Gefahren für die Gemeinschaft: Die Welt und Irrlehrer (2,15-28)
In den Versen 15-17 finden wir nun eine ernste Warnung vor der Welt und ihren falschen Wegen. Es mag sein, dass sie sich in erster Linie an die jungen Männer richtet, für die die Welt oft eine besondere Anziehung hat, aber diese Warnung gilt letztlich für alle Kinder Gottes. Mit »Welt« ist hier nicht der Planet gemeint, auf dem wir leben, auch nicht die uns umgebende sichtbare Schöpfung. Wir haben es vielmehr mit dem System zu tun, das der Mensch in dem Versuch errichtet hat, ohne Christus glücklich zu werden. Das kann die Kulturwelt einschließen, die Welt der Oper, der Kunst, der Bildung – kurz, jedes Gebiet, worauf der Herr Jesus unbeliebt und nicht willkommen ist. Jemand hat Welt hier als »menschliche Gesellschaft« definiert, »insoweit sie nach falschen Prinzipien organisiert und von niedrigen Begierden, falschen Werten und Egoismus gekennzeichnet ist«.
2,15.16 Wir werden offen davor gewarnt, die Welt oder das, »was in der Welt ist«, zu lieben. Die ist einfach darin begründet, dass die Liebe zur Welt nicht mit der Liebe zum Vater vereinbar ist. Alles, was die Welt zu bieten hat, kann man mit den Worten »die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und der Hochmut des Lebens« beschreiben. Mit der »Begierde des Fleisches« sind die sinnlichen, körperlichen Wünsche gemeint, die aus unserer bösen Natur stammen. »Die Begierde der Augen« bezieht sich auf das böse Verlangen, das durch die Dinge entsteht, die wir sehen. »Der Hochmut des Lebens« umfasst das unheilige Bestreben, sich selbst darzustellen und zu verherrlichen. Diese drei Elemente der Weltliebe werden schon anhand der Sünde Evas deutlich. Der Baum war »gut zur Speise«, das ist die Begierde des Fleisches. Außerdem war er »eine Lust für die Augen«. Und der Baum war »begehrenswert … Einsicht zu geben«, damit wird der »Hochmut des Lebens« beschrieben. Wie Satan ein Feind Christi ist, und das Fleisch dem Geist gegenüber feindlich gesinnt ist, so ist die Welt gegen den Vater gerichtet. Begierde, Habsucht und Ehrgeiz sind »nicht vom Vater, sondern von der Welt«. Das heißt, ihr Ursprung liegt nicht im Vater, sondern sie entspringen der Welt. Weltlichkeit ist die Liebe zum Vergänglichen. Das menschliche Herz kann an Dingen dieser Welt jedoch niemals Befriedigung finden.
2,17 »Die Welt vergeht und ihre Begierde« Wenn eine Bank kurz davor ist, Konkurs anzumelden, dann werden kluge Menschen nicht dort noch Konten eröffnen. Wenn das Fundament unsicher ist, dann werden einsichtige Bauherrn nicht weiterbauen. Wenn wir uns auf diese Welt konzentrieren, so ist dies, als würden wir die Liegestühle an Bord der Titanic neu aufstellen. Deshalb leben verständige Menschen nicht für eine »Welt«, die »vergeht«. »Wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit.« Es ist der Wille Gottes, der uns vor der Versuchung vergänglicher Dinge bewahrt. Dieser Vers war übrigens das Lebensmotto von D. L. Moody, des großen Evangelisten. Er wurde auch auf seinen Grabstein gemeißelt: »Wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit.«
2,18 Ein anderer Prüfstein für diejenigen, die zur christlichen Gemeinschaft gehören, besteht darin, dass die Betreffenden an ihrer Lehre gemessen werden. Das Thema wird hier eingeführt, indem die Kinder im Glauben vor falschen Lehrern gewarnt werden. Diejenigen, die noch jung im Glauben sind, erweisen sich als besonders empfänglich für die Lügen des »Antichrists«. Die Leser des Johannes waren gelehrt worden, dass sich vor der Wiederkunft Christi ein Antichrist erheben und vorgeben würde, Christus zu sein. So, wie zukünftige Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, so werden vor dem Auftreten des Antichrists »viele Antichristen« erscheinen. Diese sind Lehrer, die einen falschen Christus und ein falsches Evangelium bringen. Es ist bemerkenswert, dass unsere Zeit durch das Auftreten vieler christusverleugnender Sekten gekennzeichnet ist. Sie alle geben von der Tatsache Zeugnis, dass die Wiederkunft des Heilands nahe ist.
2,19 Diese falschen Lehrer waren ihrem Bekenntnis nach Christen und hielten sich einst zu den Aposteln. Aber im Herzen waren sie mit den wahren Gläubigen nicht eins. Sie bewiesen das, indem sie von der Gemeinschaft »ausgingen«. »Wenn sie von uns gewesen wären, würden sie wohl bei uns geblieben sein.« Hier sehen wir, dass wahrer Glaube immer von Beständigkeit geprägt ist. Wenn ein Mensch wirklich wiedergeboren worden ist, wird er für den Herrn im Glaubensleben voranschreiten. Das heißt nicht, dass wir durch Ausharren bis zum Ende gerettet werden. Vielmehr ist damit gemeint, dass diejenigen, die bis zum Ende aushalten, auch wirklich gerettet sind. Die falschen Lehrer »blieben nicht, damit sie offenbar würden, dass sie alle nicht von uns sind«.
2,20 Aber das wirft folgende Frage auf: »Wie kann ein junger Gläubiger wissen, was wahr und was falsch ist?« Die Antwort lautet, dass wir »die Salbung von dem Heiligen« haben und alles wissen. Die »Salbung« bezieht sich auf den Heiligen Geist und ist »von dem Heiligen«, dem Herrn Jesus Christus. Wenn ein Mensch gerettet wird, empfängt er den Heiligen Geist, der fortan in ihm wohnt und ihn befähigt, zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden. Wenn Johannes seinen jungen Lesern sagt: »Ihr wisst alles«,3 meint er dies nicht im absoluten Sinne. Es geht nicht darum, dass sie vollkommene Erkenntnis haben. Vielmehr geht es darum, dass sie die Fähigkeit besitzen, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. So hat auch der jüngste und einfachste Gläubige die Gabe der Unterscheidung in göttlichen und geistlichen Angelegenheiten, die ein unerretteter Philosoph niemals haben kann. Der Christ kann auf Knien mehr sehen als der Weltmensch auf Zehenspitzen. In der natürlichen Welt ist ein neugeborenes Kind normalerweise mit allen Fähigkeiten und Veranlagungen ausgestattet, die Menschen schöpfungsmäßig mitgegeben sind. Es hat Augen, Hände, Füße und ein Gehirn. Diese kommen nicht erst später hinzu. Auch wenn sie wachsen und sich entwickeln, so sind sie doch alle von Anfang an da. So ist es auch mit einem Menschen, der wiedergeboren wird. Der Betreffende hat zu diesem Zeitpunkt all die Gaben und Fähigkeiten, die er je besitzen wird, auch wenn es unzählige Möglichkeiten zu ihrer Entwicklung geben wird.
2,21 Johannes schrieb nicht, weil seine Leser die »Wahrheit« nicht kennen würden. Vielmehr wollte er sie in der Wahrheit, die sie schon kannten, bestärken und daran erinnern, »dass keine Lüge aus der Wahrheit ist«. Die Gnostiker verbreiteten Lehren, die dem Wort Gottes entgegenstanden und deshalb falsch waren. Die Hauptlüge der Gnostiker, der Urgrund ihrer ganzen Lehre, war die Leugnung, dass Jesus der Christus ist. Wie schon in der Einleitung betont, lehrten sie, dass Jesus nur ein Mensch gewesen und der Christus bei seiner Taufe über ihn gekommen sei. Das ist auch die große Lüge einiger heutiger Sekten und Sondergemeinschaften. Die Bibel betont immer wieder, dass der Jesus des NT der Herr (Jahwe) des AT ist. Es ist nicht richtig zu sagen, dass der Christus über Jesus kam. Jesus ist der Christus.
2,22 Johannes stellt sorgfältig heraus, dass derjenige, der die Gottheit des Herrn Jesus infrage stellt, gleichzeitig den Vater leugnet. Einige Menschen glauben, dass sie Gott anbeten, aber sie wollen nichts mit dem Herrn Jesus Christus zu tun haben. Der Apostel sagt dagegen: »Der ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet.«
2,23 In Johannes 8,19.42 sagte Jesus, dass diejenigen, die seine Gottheit nicht anerkennen und ihn nicht lieben, den Vater weder kennen noch seine Kinder seien. Ähnlich schreibt Johannes hier: »Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater.« Hier finden wir die wunderbare Wahrheit von der Einheit zwischen Vater und Sohn. Man kann den Vater nicht ohne den Sohn haben. Das ist die Botschaft, die alle Unitarier, alle Angehörigen der Christlichen Wissenschaft, Muslime, alle liberalen Theologen, Zeugen Jehovas, Anthroposophen und Juden beachten müssen.
2,24 Hier wird der beste Schutz für junge Gläubige vor falschen Lehrern genannt: »Was ihr von Anfang an gehört hat, bleibe in euch!« Das bezieht sich auf die Lehren des Herrn Jesus und all seiner Apostel. Wir sind am sichersten, wenn wir uns ganz an das Wort Gottes halten. Wir sollten alles prüfen, indem wir fragen: »Was sagt die Schrift dazu?« Wenn eine Lehre nicht mit der Bibel übereinstimmt, dann sollten wir sie ablehnen. Dr. Ironside sagte einmal dazu: »Wenn sie neu ist, dann ist sie nicht wahr, und wenn sie wahr ist, dann ist sie nicht neu.«
2,25 Wenn wir in der christlichen Lehre bleiben, dann beweisen wir damit die Echtheit unseres Glaubens. Und die »Verheißung« dieses Glaubens umfasst »das ewige Leben«. Wenn wir den Herrn Jesus annehmen, empfangen wir sein Leben, nämlich ewiges Leben. Dieses Leben befähigt uns, alle neuen und fragwürdigen Lehren zu prüfen.
2,26.27 Johannes schrieb den jungen Gläubigen in Bezug auf falsche Lehrer, indem er sie warnte. Er sorgte sich nicht um den Ausgang dieser Angelegenheit, weil er sich erinnerte, dass seine Leser »die Salbung … empfangen« haben. Wie schon vorhin erwähnt, ist die Salbung der Heilige Geist. Hier lernen wir nun, dass er in uns bleibt. Dies bestärkt unsere Auffassung, dass der Heilige Geist nie wieder von uns genommen wird, wenn wir ihn einmal empfangen haben. Weil wir den Heiligen Geist empfangen haben, haben wir »nicht nötig«, dass uns »jemand belehre«. Das heißt nicht, dass wir in der Gemeinde keine christlichen Lehrer brauchen würden. Gott hat ja in Epheser 4,11 für diese Lehrer besondere Vorschriften gegeben. Es bedeutet vielmehr, dass der Christ keine Lehre außer derjenigen benötigt, die sich im Wort Gottes hinsichtlich der Wahrheit Gottes findet. Die Gnostiker behaupteten, zusätzliche Wahrheiten zu haben, aber Johannes sagt hier, dass zusätzliche Wahrheiten nicht notwendig sind. Mit dem Wort Gottes in der Hand und dem Geist Gottes in unseren Herzen haben wir alles, was wir zur Unterweisung in der Wahrheit Gottes brauchen.
2,28 Johannes spricht all die geliebten »Kinder« der Familie Gottes an und ermahnt sie, im Herrn zu bleiben, »damit wir, wenn er geoffenbart werden wird, Freimütigkeit haben und nicht vor ihm beschämt werden bei seiner Ankunft«. Das Pronomen »wir« bezieht sich hier auf die Apostel. Hier soll Folgendes gelehrt werden: Wenn die Christen, denen Johannes schrieb, nicht treu für den Herrn voranschritten, würden die Apostel als ihre geistlichen Geburtshelfer am Tag der Wiederkunft »beschämt« werden. Dieser Vers betont die Bedeutung der Nacharbeit bei allen evangelistischen Bemühungen. Er deutet auch die Möglichkeit an, dass man sich bei der Wiederkunft Christi schämt. VI. Kennzeichen der Mitglieder der christlichen Gemeinschaft (Fortsetzung): Gerechtigkeit, Liebe und die Zuversicht, die sie bewirkt (2,29 – 3,24)
2,29 Das vierte Kennzeichen der Gotteskinder ist »Gerechtigkeit«. Wir wissen, dass im natürlichen Bereich gilt: Gleiches bringt Gleiches hervor. So ist es auch auf geistlichem Gebiet. »Jeder, der die Gerechtigkeit tut«, »ist« aus Gott »geboren«. Weil Gott gerecht ist, ist alles, was er tut, ebenfalls gerecht. Deshalb muss jeder, der »aus ihm geboren ist«, ebenfalls gerecht sein. Das ist die unausweichliche Logik des Johannes.
3,1 Der Gedanke, aus Gott geboren zu sein, lässt Johannes voller Staunen innehalten. Er ruft seine Leser auf, einen Blick auf die große »Liebe« zu werfen, die uns zu Mitgliedern der Familie »Gottes« gemacht hat. Die Liebe hätte uns retten können, ohne uns zu »Kindern Gottes« zu machen. Aber das Wesen der Liebe Gottes zeigt sich darin, dass er uns als Kinder in seine Familie aufgenommen hat. »Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen!«4
Wenn wir nun im Alltag leben, »erkennt die Welt uns nicht« als Kinder Gottes. Die Weltmenschen verstehen weder uns noch unser Verhalten. Ja, sie verstanden auch den Herrn Jesus nicht, als er hier auf Erden war. »Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn, und die Welt kannte ihn nicht. Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an« (Joh 1,10.11). Weil wir dieselben Eigenschaften wie der Herr Jesus haben, können wir von der Welt nicht erwarten, dass sie uns versteht.
3,2 Ob wir nun verstanden werden oder nicht, es gilt: »Jetzt sind wir Kinder Gottes«, und das ist die Garantie für unsere zukünftige Herrlichkeit. »Noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen aber, dass wir ihm gleichgestaltet sein werden, wenn er offenbar werden wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (Schl 2000; vgl. Schl und Konkordante Übersetzung; Anm. d. Übers.). Dies bedeutet nicht, dass wir im Himmel in körperlicher Hinsicht wie Jesus sein werden. Der Herr Jesus wird dann auf unverwechselbare Weise erscheinen und auch in der Ewigkeit die Kreuzesmale von Golgatha tragen. Jeder von uns wird unserer Ansicht nach seine Eigenschaften behalten und als Person erkennbar sein. Die Bibel lehrt nicht, dass im Himmel alle gleich aussehen werden. Wir werden jedoch in moralischer Hinsicht dem Herrn Jesus Christus gleichen. Wir werden von der Möglichkeit zur Verunreinigung, von Sünde, Krankheit, Leid und Tod frei sein.
Und wie wird diese wunderbare Veränderung erreicht werden? Die Antwort lautet, dass ein Blick auf Jesus das vollbringen wird, »denn wir werden ihn sehen, wie er ist«. Hier im Leben ist es ein ständiger Prozess, christusähnlicher zu werden, wenn wir ihn durch Glauben im Wort Gottes sehen. Aber dann wird dieser Prozess in jeder Beziehung vollendet sein, wenn wir »ihn sehen, wie er ist«. »Ihn (zu) sehen«, heißt, »ihm (zu) gleich sein«.
3,3 »Jeder, der diese Hoffnung« hat, Christus zu sehen und christusähnlich zu sein, »reinigt sich selbst, wie er rein ist«. Schon vor langer Zeit haben Christen erkannt, dass die Hoffnung auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi einen heiligenden Einfluss auf das Leben des Gläubigen hat. Er will nichts mehr tun, bei dem er zum Zeitpunkt der Wiederkunft Christi nicht angetroffen werden will. Man beachte, dass es heißt: »… reinigt sich selbst, wie er (Christus) rein ist«. Hier heißt es nicht: »… wie er (Christus) sich reinigt«. Der Herr Jesus brauchte sich niemals zu reinigen, er ist immer rein gewesen. Bei uns ist Reinigung ein fortschreitender Prozess, bei ihm ist Reinheit eine Eigenschaft.
3,4 Das Gegenteil der Selbstreinigung finden wir in Vers 4: »Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit, und die Sünde ist die Gesetzlosigkeit.« Die Verbform »tut« wird in manchen Bibelübersetzungen mit »begeht« wiedergegeben (vgl. Zü). »Tun« drückt hier ein ständiges Verhalten aus, das durch die Gegenwartsform angedeutet ist. Es ist möglich, Sünde zu begehen, wo es kein Gesetz gibt. Die Sünde war auch in der Zeit zwischen Adam und Mose in der Welt, obwohl Gott zu dieser Zeit das Gesetz noch gar nicht gegeben hatte. Deshalb stimmt es nicht ganz, wenn es in manchen Bibelausgaben heißt: »Die Sünde ist die Übertretung des Gesetzes« (Zü, LU 1956). Vielmehr sollte es wie in ER heißen: »Die Sünde ist die Gesetzlosigkeit«. Gesetzlosigkeit bedeutet, dass man sich Gott nicht unterordnet, seinen eigenen Weg gehen will und sich weigert, den Herrn als rechtmäßigen Herrscher anzuerkennen. Im Grunde stellt man damit den eigenen Willen über den Willen Gottes. Gesetzlosigkeit bedeutet Widerstand gegenüber dem Lebendigen, der das Recht hat, Gehorsam zu fordern.
3,5 Ein Christ kann nicht ständig in Sünde leben, weil er damit die Zielsetzung, zu deren Verwirklichung der Herr Jesus in die Welt gekommen ist, vollständig leugnen würde. Der Herr Jesus ist »geoffenbart worden, damit er die Sünden wegnehme«. Wer deshalb in der Sünde verharrt, der lebt so, dass er die Ursache für die Menschwerdung Jesu völlig missachtet.
Nochmals sei gesagt: Ein Christ kann nicht in der Sünde bleiben, weil dies eine Verleugnung dessen wäre, dessen Namen er trägt. »Sünde ist nicht in ihm.« Dies ist eine der drei Schlüsselstellen des NT, die sich mit der Tatsache beschäftigt, dass der Herr Jesus Christus ein sündloser Mensch war. Petrus sagt uns, dass er »keine Sünde getan hat« (1. Petr 2,22), während Paulus bezeugt: »Er kannte keine Sünde« (2. Kor 5,21). Und nun fügt Johannes sein Zeugnis als derjenige Jünger an, der den Herrn auf besonders innige Weise kannte: »In ihm ist keine Sünde.«
3,6 »Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht; jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen noch ihn erkannt.« Dieser Vers stellt den wahren Gläubigen und denjenigen gegenüber, der nie wiedergeboren wurde. Von einem wahren Gläubigen kann man definitiv sagen, dass er nicht ständig sündigt. Johannes spricht hier nicht von einzelnen sündigen Handlungen, sondern vielmehr von einem ständigen, gewohnheitsmäßigen und charakteristischen Verhalten. Dieser Vers bedeutet nicht, dass ein Christ seine Errettung verliert, wenn er eine einzelne Sünde begeht. Vielmehr ist damit gemeint, dass ein Mensch, der gewohnheitsmäßig sündigt, folglich nie wiedergeboren wurde. Natürlich erhebt sich die Frage: »Wann ist denn Sünde zur Gewohnheit geworden? Wie oft muss jemand eine bestimmte Sünde begehen, damit sie zu einem charakteristischen Verhalten führt?« Johannes antwortet darauf nicht. Er will, dass sich jeder Gläubige vorsieht, und überlässt dem einzelnen Christen selbst die Last, sich zu prüfen.
3,7 Während also die Gnostiker um ihre Erkenntnis sehr viel Aufhebens machten, achteten sie sehr wenig auf ihr persönliches Leben. Deshalb fügt Joh annes hinzu: »Kinder, niemand verführe euch! Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht, wie er gerecht ist.« Man sollte sich über diesen Punkt im Klaren sein – ein Mensch kann nicht geistliches Leben haben und gleichzeitig in Sünde weiterleben. Andererseits kann ein Mensch nur dann die Gerechtigkeit in seinem Leben praktisch umsetzen, wenn ihm die Natur dessen zugeeignet worden ist, der »gerecht ist«.
3,8 Einige Kinder ähneln ihren Eltern so sehr, dass sie in einer Menschenmenge nicht verloren gehen können. Das gilt sowohl für Gottes Kinder als auch für die Kinder des Teufels. »Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel, denn der Teufel sündigt von Anfang an.« Auch hier ist wieder der Gedanke: »Wer ständig sündigt, ist vom Teufel.« Der Teufel hat von Anfang an gesündigt (als Ausdruck eines ständigen,  charakteristischen  Verhaltens),  d. h. von seiner ersten Sünde an. All seine Kinder folgen ihm auf diesem breiten Weg. Man sollte hier anfügen, dass Menschen durch die Wiedergeburt Gottes Kinder werden, aber es gibt keine Geburt in Verbindung mit den Kindern des Teufels. Ein Mensch wird zu einem Kind des Teufels, indem er einfach nur sein Verhalten nachahmt, aber niemand wird als Kind des Teufels gezeugt.
Dagegen diente das Kommen des Herrn Jesus dazu, »die Werke des Teufels zu vernichten« (oder ihnen ein Ende zu setzen). Der Herr hätte den Teufel mit einem einzigen Wort vernichten können, aber stattdessen kam er in diese Welt, um zu leiden, sein Blut zu vergießen und zu sterben, damit er die »Werke des Teufels« vernichten konnte. Wenn es den Heiland so viel gekostet hat, die Sünde zu beseitigen, stellt sich die Frage: Was sollte dann die Haltung derer sein, die ihm als Heiland vertraut haben?
3,9 Gemäß der Wiederholung in Vers 9 ist es unmöglich, dass jemand, »der aus Gott geboren ist«, in der Sünde bleibt. Einige Bibelausleger sind der Meinung, dass dieser Vers sich auf die neue Natur des Gläubigen bezieht. Während die alte Natur sündigen kann und es auch tut, kann die neue Natur nicht sündigen. Dennoch glauben wir, dass der Apostel hier erneut den Wiedergeborenen und den Nichtwiedergeborenen einander gegenüberstellt und von einem ständigen oder gewohnheitsmäßigen Verhalten spricht. Der Gläubige sündigt nicht gewohnheitsmäßig. Er verharrt nicht trotzig bei der Sünde.
Der Grund dafür ist, dass »sein Same in ihm bleibt«. Es gibt unter den Bibelauslegern viel Uneinigkeit, was dieser Ausdruck bedeutet. Einige sind der Meinung, dass sich das Wort »Same« auf die neue Natur bezieht, andere beziehen es auf den Heiligen Geist und wieder andere auf das Wort Gottes. All diese Ansichten treffen zu, wir haben es hier mit möglichen Auslegungen zu tun. Wir glauben, dass sich »Same« auf das neue Leben bezieht, das dem Gläubigen bei der Bekehrung eingepflanzt wird. Damit haben wir also die Aussage, dass das Leben aus Gott im Gläubigen »bleibt«. Ihm ist ewige Heilsgewissheit zugeeignet worden. Statt eine Entschuldigung für den Christen zu sein, hinauszugehen und weiter zu sündigen, ist diese ewige Gewissheit eine Garantie dafür, dass er nicht mehr in der Sünde verharrt. Er »kann nicht« gewohnheitsmäßig sündigen, »weil er aus Gott geboren ist«. Diese göttliche Beziehung schließt die Möglichkeit des Verharrens in der Sünde als Lebensstil aus.
3,10a Hier haben wir nun den vierten Unterschied zwischen den »Kindern Gottes« und den »Kindern des Teufels«. Wer »nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott«. Es gibt dazwischen keine Grauzone. Es gibt keinen, der dazwischen stehen kann. Gottes Kinder werden an ihrem von praktischer Gerechtigkeit gekennzeichneten Leben erkannt.
3,10b.11 In diesem Abschnitt haben wir die Fortsetzung des zweiten Prüfsteins für diejenigen, die zur Fam ilie Gottes gehören – des Prüfsteins der Lie be. Dies ist eine Fortsetzung von 2,7-17. Seit Beginn der christlichen Haushaltung wird gelehrt, dass Liebe zu den Brüdern eine göttliche Verpflichtung ist. Liebe ist hier nicht im Sinne von Freundlichkeit oder bloßer menschlicher Zuneigung gemeint. Vielmehr geht es um göttliche Liebe. Damit ist gemeint, den anderen so zu lieben, wie Christus uns geliebt hat. Im Grunde können wir das nie aus eigener Kraft tun, sondern nur deshalb, weil der Heilige Geist uns dazu befähigt.
3,12 Johannes geht nun zu dem ersten biblischen Bericht über einen Menschen zurück, der seinen Bruder nicht liebte. »Kain« ließ erkennen, dass er »aus dem Bösen« war, indem er seinen Bruder Abel ermordete. Der dahinterstehende Grund wird mit folgenden Worten angegeben: »… weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht«.
3,13 Es ist ein Grundprinzip menschlichen Lebens, dass Bosheit die Gerechtigkeit hasst. Dies erklärt auch, warum »die Welt« den Gläubigen »hasst«. Das gerechte Leben des Christen hebt die Bosheit des Ungläubigen deutlich hervor. Der Letztere hasst es, so bloßgestellt zu werden. Statt sein böses Verhalten zu ändern, versucht er, die Lichtquelle zu zerstören, die es so deutlich entlarvt. Aber das ist so unvernünftig wie die Handlungsweise eines Menschen, der das Lineal oder das Lot deshalb zerstört, weil es gezeigt hat, wie schief die Linie ist, die er gezogen hat.
3,14 »Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben.« Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass ein Mensch, sobald er gerettet ist, eine vollkommen andere Haltung gegenüber Christen hat. Auch auf diese Weise erhält er die Zusicherung seiner Errettung. Ein Mensch, der die wahren Kinder Gottes nicht liebt, mag sich zwar Christ nennen, aber die Schrift sagt, dass er »im Tod bleibt«. Er war immer geistlich tot, und er ist es noch immer.
3,15 In den Augen der Welt ist Hass nicht so schlimm, aber Gott bezeichnet ihn als Mord. Wenn wir einen Augenblick darüber nachdenken, dann sehen wir, dass Hass Mord im Anfangsstadium ist. Das Motiv ist da, auch wenn der Mord nicht ausgeführt werden mag. Deshalb ist jeder »der seinen Bruder hasst, … ein Menschenmörder«. Wenn Johannes sagt, »dass kein Menschenmörder ewiges Leben bleibend in sich hat«, dann meint er damit nicht, dass ein Mörder nicht errettet werden könne. Er meint damit einfach, dass ein Mensch, zu dessen Wesen es gehört, seine Mitchristen zu hassen, ein potenzieller Mörder und somit nicht gerettet ist.
3,16 Unser Herr Jesus gab uns das absolute Vorbild der Liebe, als er »für uns sein Leben hingegeben hat«. Christus wird hier Kain gegenübergestellt. Jesus zeigt uns die höchste Form der Liebe. In gewissem Sinne ist Liebe unsichtbar, aber wir können die Auswirkungen der Liebe sehen. Am Kreuz von Golgatha sehen wir echte, wahre Liebe. Johannes zieht daraus die Lehre, dass »auch wir … für die Brüder das Leben hingeben« sollen. Das bedeutet, dass unser Leben eine beständige Hingabe für andere Gläubige sein sollte. Dabei sollten wir auch bereit sein, für sie zu sterben, sollte dies notwendig werden. Die meisten von uns werden nie in die Situation kommen, für einen anderen zu sterben, aber jeder von uns kann brüderliche Liebe bekunden, indem er seine materiellen Reichtümer mit Bedürftigen teilt. Das wird in Vers 17 betont.
3,17 Wenn Vers 16 zeigt, was wir im äußersten Fall für unsere Brüder tun können, so zeigt uns Vers 17, wozu wir in jedem noch so geringfügigen Fall verpflichtet sind. Johannes sagt ausdrücklich, dass ein Mensch kein Christ ist, der »einen Bruder Mangel leiden sieht« und ihm doch vorenthält, was notwendig ist, um diesen Mangel zu beseitigen. Es geht hier nicht darum, jedem unterschiedslos zu geben. Es ist nämlich manchmal möglich, einem Menschen eher zu schaden, wenn man ihm das Geld gibt, mit dem er etwas kaufen wird, was ihm nicht guttut. Dennoch wirft der Vers die beunruhigende Frage auf: Warum häufen Christen Reichtum auf?
3,18 Wir sollen »nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit«. Mit anderen Worten, wir sollten nicht nur anteilnehmende Worte verlieren, auch sollte unsere Liebe nicht Ausdruck der Unwahrhaftigkeit sein. Stattdessen sollte sie in guten, freundlichen Taten zum Ausdruck kommen und echt sein.
3,19 Wenn wir diese echte und aktive Liebe unseren Geschwistern entgegenbringen, dann werden wir wissen, »dass wir aus der Wahrheit sind«. Dies wird »unser Herz« in dem Maße »zur Ruhe bringen«, wie wir zu Gott im Gebet kommen.
3,20 »Wenn das Herz uns verurteilt, (ist) Gott größer … als unser Herz und (kennt) alles«. Hier geht es um die Haltung, womit wir im Gebet vor Gott kommen. Dieser Vers kann auf zweierlei Weise verstanden werden. 1. »Wenn das Herz uns verurteilt, (ist) Gott größer … als unser Herz« in dem Sinne, dass er größere Barmherzigkeit mit uns hat. Während wir uns überaus unwürdig vorkommen mögen, so weiß Gott doch, dass wir im Grunde ihn und sein Volk lieben. Er weiß, dass wir ihm geh ören – trotz all unserer Fehler und Sünden.
2. »Gott [ist] größer … als unser Herz«, wenn wir uns selbst verurteilen, und zwar in Bezug auf das Gericht. Während wir nur eine sehr begrenzte Sündenerkenntnis haben, kennt Gott all diese Sünden vollständig. Er weiß alles, was an uns tadelnswert ist, während wir das nur teilweise wissen. Wir neigen zu der zweiten Sicht dieses Verses, obwohl beide Ausl egungen zutreffen und möglich sind.
3,21 Hier haben wir die Haltung eines Menschen vor uns, der vor Gott ein reines Gewissen hat. Das heißt nicht, dass dieser Mensch sündlos gelebt hat, sondern vielmehr, dass er seine Sünden schnell bekannt und sich davon abgekehrt hat. Infolgedessen hat er »Freimütigkeit zu Gott« und kann sich in freudiger Zuversicht im Gebet an ihn wenden. Deshalb gilt: »Wenn das Herz uns nicht verurteilt, haben wir Freimütigkeit zu Gott«.
3,22 »Und was immer wir bitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und das vor ihm Wohlgefällige tun.« Seine Gebote zu halten, heißt, in ihm zu bleiben. Es bedeutet, in enger, lebendiger Beziehung zum Heiland zu leben. Wenn wir so mit ihm Gemeinschaft haben, machen wir seinen Willen zu unserem. Durch den Heiligen Geist erfüllt er uns mit der Erkenntnis seines Willens. In solch einem Zustand werden wir um nichts außerhalb des Willens Gottes bitten. Wenn wir entsprechend seinem Willen bitten, dann »empfangen wir von ihm«, was wir erbeten haben.
3,23 Gottes Gebot ist, »dass wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, wie er es uns als Gebot gegeben hat«. Damit sind wohl alle Gebote des NT zusammengefasst. Hier wird unsere Pflicht Gott und unseren Mitchristen gegenüber angesprochen. Unsere erste Pflicht ist es, dem Herrn Jesus Christus zu vertrauen. Weil sich wahrer Glaube dann auch in rechtem Verhalten äußert, sollen wir einander lieben. Das ist der Beweis unseres rettenden Glaubens.
Man beachte, dass hier und in anderen Versen Johannes das Personalpronomen »er«, »ihn« und »ihm« benutzt, um damit sowohl Gott den Vater als auch den Herrn Jesus Christus zu bezeichnen, und zwar ohne zu erklären, wen er von beiden gerade meint. Er wagt, dies zu tun, weil der Sohn ebenso wahrer Gott ist wie der Vater, und es ist keine Vermessenheit, von ihnen im gleichen Atemzug zu sprechen.
3,24a Der erste Teil von Vers 24 beendet den Abschnitt über die Liebe als Prüfung für die Kinder Gottes: »Und wer seine Gebote hält, bleibt in ihm, und er in ihm.« Gehorchen bedeutet, in ihm zu bleiben, und wer in ihm bleibt, kann sich auch der bleibenden Gegenwart Gottes gewiss sein.
3,24b »Und hieran erkennen wir, dass er in uns bleibt: durch den Geist, den er uns gegeben hat.« Der Grund unseres Vertrauens wird hier durch die Aussage eingeführt, dass die Gewissheit der Gegenwart Gottes in uns durch den Heiligen Geist bewirkt wird. Alle Gläubigen haben den Heiligen Geist. Er ist derjenige, der die Gläubigen in alle Wahrheit leitet und es ihnen ermöglicht, Irrtümer aufzudecken.
VII. Die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Irrtum und Wahrheit (4,1-6)
4,1 Als Johannes den Heiligen Geist erwähnt, wird er daran erinnert, dass es in der heutigen Welt viele andere Geister gibt und die Kinder Gottes vor ihnen gewarnt werden müssen. So warnt er die Gläubigen davor, jedem Geist zu vertrauen. Das Wort »Geist« bezieht sich hier wahrscheinlich in erster Linie, aber nicht ausschließlich, auf Lehrer. Nur weil jemand über die Bibel, Gott und Jesus spricht, heißt das noch nicht, dass er ein wahres Kind Gottes ist. Wir sollen die Geister prüfen, »ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen«. Das sind Menschen, die angeblich den christlichen Glauben angenommen haben, aber dennoch ein anderes Evangelium predigen.
4,2 Johannes gibt uns Prüfsteine an die Hand, mit denen solche Menschen geprüft werden können. Der wichtigste Prüfstein für einen Lehrer des Wortes ist: »Was denkst du über Christus?« »Jeder Geist, der Jesus Christus, im Fleisch gekommen, bekennt, ist aus Gott.« Es geht nicht so sehr um das Bekenntnis der historischen Tatsachen, nämlich um die Tatsache, dass Jesus in einem menschlichen Körper in die Welt geboren wurde. Vorrangig geht es um das Bekenntnis zu einer lebendigen Person, »Jesus Christus, im Fleisch gekommen«. Zu diesem Bekenntnis gehört, dass Jesus als Christus Mensch geworden ist. Und ihn zu bekennen, bedeutet außerdem, sich vor ihm als Herrn des eigenen Lebens zu beugen. Wenn wir nun jemanden den Herrn Jesus als den wahren Christus Gottes predigen hören, dann wissen wir, dass er aus dem Geist Gottes spricht. Der Geist Gottes beruft Menschen, Jesus Christus als Herrn anzuerkennen und ihr Leben ihm zu übergeben. Der Heilige Geist verherrlicht immer Jesus.
4,3 »Und jeder Geist, der nicht Jesus bekennt, ist nicht aus Gott.«5 So können wir falsche Lehrer entlarven. Sie bekennen nicht den Jesus, der im vorigen Vers beschrieben worden ist. »Dies ist der Geist des Antichrists«, der vorhergesagt wurde und »schon in der Welt« ist. Es gibt heute viele, die annehmbare Dinge von Jesus sagen, aber sie bekennen ihn nicht als fleischgewordenen Gott. Sie würden zwar sagen, dass Christus göttlich ist, aber nicht, dass er Gott selbst ist.
4,4 Demütige Gläubige sind ims tande, solche falschen Lehrer zu überwinden, weil der Heilige Geist in ihnen wohnt. Das ermöglicht es ihnen, Irrlehren zu entlarven und sich zu weigern, darauf zu hören.
4,5 Die falschen Lehrer »sind aus der Welt«, und deshalb sind all ihre Aussagen weltlichen Ursprungs. Darum hört die Welt auf sie. Das erinnert uns daran, dass der Beifall der Welt kein Prüfstein für die Wahrheit einer Lehre ist. Wenn jemand lediglich populär sein will, dann braucht er nur so zu reden wie die Welt. Wenn er aber Gott treu bleiben will, muss er mit der Ablehnung der Welt rechnen.
4,6 In Vers 6 spricht Johannes in apostolischer Vollmacht. Er sagt: »Wir sind aus Gott; wer Gott erkennt, hört uns.« Das heißt, dass jeder, der wirklich aus Gott geboren ist, die Lehre der Apostel im NT annehmen wird. Andererseits werden jene, die nicht von Gott sind, das Zeugnis des NT ablehnen oder versuchen, es zu ändern bzw. etwas hinzuzufügen.
VIII. Kennzeichen der Mitglieder der christlichen Gemeinschaft (Fortsetzung): (4,7 – 5,20) A. Liebe (4,7-21)
4,7.8 Hier nimmt Johannes das Thema Bruderliebe wieder auf. Er betont, dass Liebe eine Verpflichtung ist, die in Übereinstimmung mit dem Wesen Gottes steht. Wie schon vorher erwähnt, denkt Johannes hier nicht an die Liebe, wie man sie unter Menschen im Allgemeinen antreffen kann. Vielmehr hat er die Liebe der Kinder Gottes im Blick, die denen gegeben ist, die wiedergeboren sind. »Die Liebe ist aus Gott«, d. h. hier liegt ihr Ursprung, »und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe.« Hier steht nicht, dass Gott liebt. Das stimmt zwar, aber Johannes betont, dass Gott Liebe ist. Liebe ist sein Wesen. Es gibt keine wahre Liebe außer derjenigen, die ihren Ursprung in Gott hat. Die Worte »Gott ist Liebe« sollten in alle Sprachen der Welt übersetzt werden, denn sie sind es wert. G. S. Barrett sagt über diese Worte Folgendes:
Es sind die großartigsten Worte, die je in menschlicher Sprache geäußert worden sind, die großartigsten Worte der Bibel … Es ist unmöglich, auch nur ganz kurz auf all das einzugehen, was diese Worte beinhalten, denn kein menschlicher oder erschaffener Geist hat je oder wird je ihre unergründliche Bedeutung voll erforschen können. Aber wir dürfen ehrfürchtig sagen, dass dieser eine Satz über Gott der Schlüssel zu allen Taten und Wegen Gottes ist, … zu den Wundern der Schöpfung, … der Erlösung … und des Wesens Gottes selbst.6
4,9.10 In den folgenden Versen haben wir eine Beschreibung der Auswirkungen der Liebe Gottes in drei Zeitformen. In der Vergangenheit zeigte sich die Liebe Gottes im Geschenk des »eingeborenen Sohnes« (4,9-11). In der Gegenwart zeigt sie sich darin, dass Gott in uns, den Heiligen, wohnt (4,12-16). Und in der Zukunft wird sie sich darin erzeigen, dass er uns am Tag des Gerichtes Freimütigkeit schenkt.
Als Erstes lesen wir also von Gottes Liebe zu uns als Sündern. »Gott (hat) seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt … damit wir durch ihn leben möchten«. Er sandte ihn »als eine Sühnung für unsere Sünden«. Der Ausdruck »eingeborener Sohn« enthält den Gedanken einer einzigartigen Beziehung, an der kein anderer als der Sohn Anteil haben kann. Dies macht die Liebe Gottes umso bemerkenswerter dahin gehend, dass er seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn Leben hätten. Gottes Liebe wurde uns nicht erwiesen, weil wir ihn zuerst geliebt hätten. Wir haben ihn nicht geliebt, wir waren sogar seine Feinde und hassten ihn. Mit anderen Worten, er liebte uns nicht, weil wir ihn liebten, sondern er liebte uns trotz unserer erbitterten Feindschaft. Und wie bewies er diese Liebe? Indem er »seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden«. Sühnung7 bedeutet, dass volle Genüge getan bzw. die Sündenfrage gelöst wurde.
Einige liberale Theologen erdenken sich Gottes Liebe ohne die Erlösungstat Christi. Johannes verbindet hier beides miteinander und sieht diesbezüglich keinerlei Widerspruch. Denney schreibt dazu:
Man beachte das scheinbare Paradoxon dieses Verses, dass Gott einerseits liebt und andererseits zornig ist. Es zeigt sich auch darin, dass seine Liebe die Sühnung vollbringt, die seinen Zorn von uns abwendet. So kann Johannes (weit davon entfernt, einen Widerspruch zwischen Liebe und Sühnung zu sehen) die Vorstellung von Liebe nur vermitteln, indem er auf die Sühnung verweist.8
4,11 Johannes schildert uns nun nachdrücklich die Lehre, die wir aus einer solchen Liebe ziehen sollen: »Wenn Gott uns so geliebt hat, sind auch wir schuldig, einander zu lieben.« Die Konjunktion »wenn« zu Beginn des Satzes drückt keinen Zweifel aus, sondern wird hier eher im Sinne von »weil« verwendet. Weil Gott nun denen, die jetzt sein Volk sind, seine Liebe entgegenbringt, sollten wir nun ebenfalls diejenigen lieben, die mit uns Glieder seiner wunderbaren Familie sind.
4,12.13 Gottes Liebe drückt sich gegenwärtig darin aus, dass er in uns wohnt. Der Apostel sagt: »Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.« In Johannes 1,18 lesen wir: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht.« Im Johannesevangelium sehen wir, dass der unsichtbare Gott durch den Herrn Jesus Christus der Welt bekannt gemacht worden  ist.  Hier  im  1. Johannesbrief wird der entsprechende Ausdruck (»Niemand hat Gott jemals gesehen«) wiederholt. Aber nun wird Gott weiter der Welt verkündigt, jedoch nicht durch Christus, der wieder in den Himmel aufgefahren ist und zur Rechten Gottes sitzt, sondern durch die Gläubigen, die ihn bekannt machen. Wie fantastisch, dass nun wir die Aufgabe haben, Gottes Hilfe in der Not des Menschen zu sein! Und wenn wir einander lieben, dann ist »seine Liebe … in uns vollendet«. Das bedeutet, dass Gottes Liebe zu uns ihr Ziel erreicht hat. Wir sollten nie die Endstation für Gottes Segen, sondern vielmehr der Kanal für dessen Weitergabe sein. Gottes Liebe wird uns gegeben, damit wir sie nicht für uns selbst aufhäufen, sondern vielmehr dafür, dass sie wieder an andere weitergegeben wird. Wenn wir einander in dieser Art lieben, dann ist das ein Beweis dafür, »dass wir in ihm bleiben und er in uns«, und dass wir Teilhaber an seinem Geist sind. Wir sollten hier ein wenig innehalten, um die Tatsache zu bestaunen, dass er in uns wohnt und wir in ihm sind.
4,14 Johannes fügt nun das Zeugnis der gesamten Apostelgemeinschaft hinzu: »Wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt.« Dies ist eine großartige Aussage über Gottes Liebe. Der Satz »der Vater (hat) den Sohn gesandt« beschreibt die Grenzenlosigkeit des Werkes Christi. W. E. Vine schreibt, dass »der Geltungsbereich so grenzenlos war wie die Menschheit, und nur der Unglaube und die Unbußfertigkeit des Menschen setzte den Auswirkungen seines Werkes Grenzen«.9
4,15 Die Segnung, dass Gott selbst in einem Menschen wohnt, ist das Vorrecht aller, die bekennen, »dass Jesus der Sohn Gottes ist«. Auch hier geht es nicht um das Bekenntnis einer rein intellektuellen Zustimmung zu diesem Satz, sondern um ein Bekenntnis, das die Hingabe der eigenen Person an den Herrn Jesus Christus beinhaltet. Es gibt keine engere Gottesbeziehung für einen Menschen als die hier beschriebene: Der Betreffende bleibt in Gott und Gott in ihm. Es fällt uns schwer, uns eine solche Beziehung bildlich vorzustellen, aber wir können diese Beziehung mit einem Scheit im Feuer, einem Schwamm im Wasser oder einem Ballon in der Luft vergleichen. In jedem Fall ist ein Gegenstand in einem Element und das Element gleichzeitig im betreffenden Gegenstand.
4,16 »Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.« Gott ist Liebe, und diese Liebe braucht ein Gegenüber, das sie lieben kann. Die Liebe Gottes gilt insbesondere der Gemeinschaft derer, die in seine Familie hineingeboren worden sind. Wenn ich in Gemeinschaft mit Gott sein soll, dann muss ich diejenigen lieben, die er auch liebt.
4,17 »Hierin ist die Liebe bei uns vollendet worden.« Nicht unsere Liebe wird hier vollendet, sondern Gottes Liebe wird in uns vollendet. Johannes nimmt uns nun mit in die Zukunft, wenn wir vor dem Herrn stehen werden. Werden wir freimütig und voll Zuversicht dort stehen, oder werden wir schreckliche Angst haben? Die Antwort lautet, dass wir mit Freimütigkeit (der Zuversicht) dort stehen werden, weil die vollkommene Liebe die Sündenfrage ein für alle Mal gelöst hat. Der Grund für unsere Zuversicht an diesem kommenden Tag wird uns mit den folgenden Worten genannt: »… denn wie er ist, sind auch wir in dieser Welt«. Der Herr Jesus ist jetzt im Himmel, und hat das Gericht hinter sich. Einst kam er in diese Welt und litt die Strafe, die unsere Sünden verdient hatten. Aber das Werk der Erlösung ist vollendet, wobei er sich nie wieder mit der Sündenfrage wird befassen müssen. »… wie er ist, sind auch wir in dieser Welt.« Das heißt, unsere Sünden wurden am Kreuz von Golgatha gerichtet, und wir können singen: Wir sind ein Volk, vom Strom der Schuld
umspült und schier verschlungen; doch hat der Lotse voll Geduld dem Tod uns abgerungen.
Sein Retterauge uns ersah, mag auch die Brandung schwellen. Hoch ragt das Kreuz von Golgatha aus dunkler Fluten Wellen. Rudolf Kögel
Ebenso wie das Gericht für ihn bereits vollendet ist, kann auch uns die Verdammnis nicht mehr erreichen.
4,18 Weil wir Gottes Liebe kennengelernt haben, haben wir keine Furcht mehr, verlorenzugehen. »Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.« Es ist Jesu vollkommene Liebe, die die Furcht austreibt. Zuallererst wird mir die Zusicherung gegeben, dass mir die Liebe des Herrn gilt, weil er seinen Sohn als Opfer für mich gesandt hat. Zweitens weiß ich, dass er mich liebt, weil er gegenwärtig in mir wohnt. Und drittens kann ich zuversichtlich und ohne Furcht in die Zukunft blicken. Es stimmt: »Die Furcht hat es mit Strafe zu tun«, und: »Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe«. Gottes Liebe kann nicht im Leben derer wirken, die sich vor ihm fürchten. Sie sind nie in Buße zu ihm gekommen und haben die Vergebung der Sünden nie empfangen.
4,19 »Wir lieben10, weil er uns zuerst geliebt hat.« Der einzige Grund, warum wir überhaupt lieben, besteht darin, dass er uns zuerst geliebt hat. Die Zehn Gebote verlangen, dass der Mensch Gott und seinen Nächsten lieben soll, aber das Gesetz konnte diese Liebe nicht hervorbringen. Wie konnte dann Gott diese Liebe erreichen, die seine Gerechtigkeit forderte? Er löste das Problem, indem er seinen Sohn sandte und ihn für uns sterben ließ. Diese wunderbare Liebe zieht nun ihrerseits unsere Herzen zu Gott. Wir sagen: »Du hast für mich gelitten und bist für mich gestorben, von nun an will ich für dich leben.«
4,20 Johannes betont nun, wie sinnlos es ist, sich zur Gottesliebe zu bekennen, wenn man gleichzeitig seinen Bruder hasst. Wie Speichen eines Rades einander zur Mitte hin immer näher kommen, so werden auch wir den Mitgläubigen umso mehr lieben, je näher wir dem Herrn sind. Wir lieben nämlich den Herrn nicht mehr, als wir den Geringsten seiner Nachfolger lieben. Johannes betont nun, dass es unmöglich ist, den unsichtbaren Gott zu lieben, wenn wir nicht unseren Bruder lieben, den wir sehen können.
4,21 Johannes schließt diesen Abschnitt, indem er das »Gebot« wiederholt, das wir »von ihm« haben: »Wer Gott liebt, (soll) auch seinen Bruder lieben«. B. Gesunde Lehre (5,1a) Johannes beschließt nun die Prüfsteine für das Leben. Hier wiederholt er nochmals den Prüfstein der Lehre, wir könnten ihn auch den Glaubenstest nennen. In den ersten drei Versen lesen wir über die Folgen des Glaubens. Diese sind erstens: göttliche Geburt, zweitens: Liebe zu Gott, drittens: Liebe zu den Mitgläubigen und schließlich: Gehorsam gegenüber Gottes Geboten. Als Erstes wird die göttliche Geburt erwähnt: »Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren.« Glaube bedeutet hier nicht intellektuelle Zustimmung zu einer Tatsache, sondern Hingabe des Lebens an Jesus als den Christus.
C. Liebe und der daraus folgende Gehorsam (5,1b-3)
5,1 Wenn wir wirklich aus Gott geboren sind, werden wir ihn lieben. Und nicht nur das, wir werden auch seine Kinder lieben. Es ist gut, hier einmal anzumerken, dass wir alle Gläubigen lieben sollen, und nicht nur diejenigen, die zu einer bestimmten irdischen Gemeinde oder Gemeinschaft gehören.
5,2.3 Die vierte Folge des Glaubens ist Gehorsam gegenüber Gottes Geboten. »Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote befolgen.« Wer wirklich gerettet ist, wird sich durch das Verlangen auszeichnen, den Willen Gottes zu tun. Unsere Liebe zu Gott drückt sich in willigem Gehorsam gegenüber seinen Geboten aus. Der Herr Jesus hat gesagt: »Wenn ihr mich liebt, so werdet ihr meine Gebote halten« (Joh 14,15). Wenn Johannes sagt, dass »seine Gebote … nicht schwer« sind, dann meint er nicht, dass wir sie mühelos halten könnten. Vielmehr will er damit sagen, dass sie genau das enthalten, was wiedergeborene Menschen gern tun. Wenn man einer Mutter sagt, sie solle gut auf ihr Kind aufpassen, so wird sie antworten, dass sie dies gern tut. Die Gebote Gottes sind Anweisungen, wie wir richtig handeln, wobei die neue Natur sie aus ganzem Herzen und freudig befolgt. D. Glaube, der die Welt überwindet (5,4.5)
5,4 Als Nächstes erfahren wir etwas über das Geheimnis des Sieges über die Welt. Das Weltsystem beinhaltet eine ungeheuer umfassende Verführungsstrategie, die immer versucht, uns von Gott und vom Ewigen abzuhalten und uns mit Zeitlichem und Sinnlichem zu beschäftigen. Die Menschen der Welt sind vollkommen von den zeitlichen und sinnlich wahrnehmbaren Dingen in Anspruch genommen. Sie sind Opfer des Vergänglichen geworden.
Nur der Mensch, der »aus Gott geboren ist«, kann wirklich die Welt überwinden, weil er durch den Glauben imstande ist, sich über diese vergängliche Welt zu erheben und die Dinge in ihrer wirklichen, ewigen Perspektive zu betrachten. So ist nicht der große Wissenschaftler, Philosoph oder Psychologe derjenige, der die Welt wirklich überwindet. Vielmehr ist es der einfache Gläubige, der erkennt, dass das Sichtbare zeitlich und das Unsichtbare ewig ist. Der Blick auf die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu lässt die Herrlichkeit dieser Welt verblassen.
5,5 Wie wir gesehen haben, ist das Thema dieses Abschnitts der Glaube als Prüfung für das ewige Leben. Johannes hat soeben auf denjenigen hingewiesen, der überwindet. Er ist derjenige, »der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist«. Er geht nun daran, die Wahrheit über das Werk des Herrn Jesus Christus auszulegen.
E. Gesunde Lehre (5,6-12)
5,6 Er sagt: »Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut.« Über die Bedeutung dieser Worte ist viel diskutiert worden. Einige denken, dass sich dieser Ausdruck darauf bezieht, dass »Wasser und Blut« aus der Seite Jesu flossen, als ein Soldat hineinstach (Joh 19,34). Andere denken, dass »Wasser« sich auf den Heiligen Geist Gottes und »Blut« auf das auf Golgatha vergossene Blut bezieht. Wieder andere glauben, dass es sich hier um einen Hinweis auf die leibliche Geburt handelt, bei der Wasser und Blut sichtbar werden. Wir denken, dass es noch eine vierte Auslegungsmöglichkeit gibt, die besonders die gnostische Häresie berücksichtigt, welche der Apostel in diesem Brief bekämpft.
Wie schon früher bemerkt, glaubten die Gnostiker, dass der Christus bei der Taufe auf Jesus kam und ihn vor seinem Leiden, nämlich im Garten Gethsemane, wieder verlassen hat. Mit anderen Worten würden sie sagen: »Der Christus ist nicht am Kreuz gestorben, sondern nur Jesus, der Mensch.« Das würde jedoch sein Werk des Sühnungswerts für die Sünden anderer berauben. Wir glauben, dass Johannes das Wasser als Symbol für die Taufe und das Blut als Symbol für Christi Sühnetod gebraucht. Diese beiden waren Anfang und Ende seines öffentlichen Dienstes. Johannes will damit sagen, dass Jesus zum Zeitpunkt seines Kreuzestodes ebenso der Christus war wie zu der Zeit, als er im Jordan getauft wurde. »Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus Christus; nicht im Wasser allein«, (da würden die Gnostiker zustimmen) »sondern im Wasser und im Blut.« Es scheint so, als wolle sich das menschliche Herz ständig von der Lehre der Sühnetat Christi befreien wollen. Die Menschen wünschen sich den Herrn Jesus als den vollkommenen Menschen, als Idealbild, der uns ein wunderbares Moralgesetz gegeben hat. Aber Johannes besteht hier darauf, dass der Herr Jesus nicht nur der vollkommene Mensch, sondern auch der vollkommene Gott ist. Derselbe, der im Jordan getauft worden ist, gab auch sein Leben als Opfer für Sünder. Die Menschen sagen zu Christus: »Steige jetzt herab vom Kreuz, damit wir sehen und glauben!« (Mk 15,32) Wenn sie nur das Kreuz aus ihrem Denken verbannen können, so sind sie damit am Ziel ihrer Wünsche. Aber Johannes sagt: »Nein, ihr könnt den Herrn Jesus Christus nicht ohne sein vollkommenes Erlösungswerk auf Golgatha haben.«
»Und der Geist ist es, der dies bezeugt, denn der Geist ist die Wahrheit.« Das bedeutet, dass der Heilige Geist Gottes immer die Wahrheit über den Herrn Jesus bezeugt, die Johannes gerade entfaltet hat. Er bezeugt, dass Christus nicht nur im Wasser, sondern auch im Blut gekommen ist, weil dies die göttliche Wahrheit ist.
5,7.8 Einige tiefgläubige Christen sind stets beunruhigt, wenn sie hören, dass Teile von V. 7.8, die z. B. in der Schl 2000 vorkommen (»… im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind eins; und drei sind es, die Zeugnis ablegen auf der Erde«), im Grunde nur in einigen wenigen griechischen Handschriften des NT zu finden sind.11 Doch dies beeinträchtigt keineswegs die Wahrheit von der Inspiration der Schrift. Einige sind der Ansicht, dass es bedeutsam sei, diese Worte beizubehalten, weil sie die drei Personen der Dreieinheit erwähnen. Die Wahrheit der Dreieinheit hängt jedoch nicht nur von dieser Stelle ab, sondern findet sich auch in vielen anderen Schriftabschnitten. Nachdem Johannes in den vorhergehenden Versen die Person und das Werk Christi behandelt hat, stellt er nun die Vertrauenswürdigkeit unseres Glaubens an ihn heraus. Er sagt, dass es drei Zeugen gibt: »der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind einstimmig«. Obwohl uns das Wort Gottes als Glaubensbasis ausreichen sollte, lässt sich Gott dazu herab, uns ein dreifaches Wahrheitszeugnis zuzueignen. Als Erstes gibt der Geist Gottes von der Wahrheit Zeugnis, dass Jesus Christus Gott und der einzige Heiland der Welt ist. Das Zeugnis des Geistes findet sich im geschriebenen Wort Gottes.
Der zweite Zeuge ist das Wasser. Wir glauben, dass sich diese Bemerkung auf das Geschehen bei der Taufe Jesu bezieht. Bei diesem Ereignis öffnete Gott die Himmel und erklärte öffentlich: »Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.« So fügte der Vater sein eigenes Zeugnis zu demjenigen des Geistes hinzu.
Und schließlich haben wir noch das Zeugnis des Blutes. Am Kreuz bezeugte Jesus, dass er der Sohn Gottes war. Niemand nahm ihm das Leben, sondern er ließ es freiwillig los. Wenn er nur ein Mensch gewesen wäre, hätte er das nicht tun können. Das Blut des Herrn Jesus Christus ist das Zeugnis dafür, dass die Sündenfrage ein für alle Mal und zum Wohlgefallen Gottes gelöst ist. Alle diese drei Zeugen »sind einstimmig«. Das heißt, dass sie im Zeugnis bezüglich der Vollkommenheit der Person und des Werkes Christi übereinstimmen.
5,9 Nun bringt Johannes ein zwingendes Argument: »Wenn wir schon das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer.« Im tägl ichen Leben glauben wir ständig den Auss agen unserer Mitmenschen. Wenn wir das nicht täten, stünde alles still, und es gäbe keine Kommunikation mehr. Wir akzeptieren das Zeugnis von Menschen, die sich irren oder aber Betrüger sein können. Wenn wir das nun im alltäglichen Leben tun, wie viel mehr sollten wir dem Wort Gottes vertrauen, denn Gott kann sich nicht irren und lügt nicht. Es ist außerordentlich unvernünftig, Gott nicht zu glauben. Sein Zeugnis ist außerordentlich glaubwürdig.
5,10 Wenn ein Mensch Gottes Zeugnis über seinen Sohn annimmt, dann besiegelt Gott die Wahrheit, indem er dem Betreffenden das Zeugnis des Geistes »in sich« gibt. Andererseits gilt: »Wer Gott nicht glaubt, hat ihn zum Lügner gemacht, weil er nicht an das Zeugnis geglaubt hat, das Gott über seinen Sohn bezeugt hat«. Die Menschen denken, sie könnten Gottes Zeugnis über Christus ablehnen oder annehmen, aber Johannes lässt sie wissen, dass eine Ablehnung bedeutet, Gott der Lüge anzuklagen.
5,11 Und nun fasst Johannes die christliche Botschaft noch einmal zusammen: »Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn.« Was sind das für überwältigende Wahrheiten, insbesondere die Tatsache, dass Gott den Menschen das ewige Leben gegeben hat und die Quelle dieses Lebens »in seinem Sohn« ist!
5,12 Die Folgerung daraus ist unausweichlich: »Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht.« Diese Lehre kann man nicht missverstehen. Man findet das ewige Leben weder in Bildung, Philosophie, Wissenschaft, guten Werken, Religion noch in der Kirche. Um Leben zu haben, muss man »den Sohn Gottes haben«. Andererseits hat derjenige, der »den Sohn Gottes nicht hat«, auch das Leben nicht, d. h. er hat kein wahres Leben. Ewiges Leben ist untrennbar mit Christus verbunden.
F. Gewissheit durch das Wort (5,13) Wir kommen nun zum Schlussteil des Briefes. Als Erstes stellt Johannes deutlich fest, warum er den vorhergehenden Brief geschrieben hat. Das Ziel ist, dass diejenigen, »die … an den Namen des Sohnes Gottes« glauben, ewiges Leben haben. »Wenn ihr die Kennzeichen der Kinder Gottes habt, dann könnt ihr wissen, dass ihr in die Familie Gottes hineingeboren worden seid«, sagt Johannes. Dieser Vers lehrt noch eine andere wertvolle Wahrheit, nämlich die Tat sache, dass Heils gewissheit durch das Wort Gottes kommt. Johannes schrieb über all diese Themen, damit die Menschen wissen, dass sie ewiges Leben haben. Mit anderen Worten, die Schrift wurde uns gegeben, damit die Menschen, die an den Herrn Jesus glauben, die Gewissheit haben, errettet zu sein. Wir brauchen weder vage hoffen noch vermuten, fühlen oder im Dunkeln tappen. Es ist keine Überheblichkeit, wenn jemand sagt, dass er gerettet ist. Johannes sagt auf die deutlichste Weise, dass diejenigen, die wirklich an den Herrn Jesus glauben, wissen dürfen, »dass sie ewiges Leben haben«.
G. Zuversicht im Gebet (5,14-17)
5,14.15 Wenn wir wissen, dass wir ewiges Leben haben, dann ist es fast unnötig zu sagen, dass wir »zuversichtlich« vor den Herrn treten können. Johannes beschreibt diese Zuversicht in den Versen 14 und 15. Für uns ist es Gewissheit: »Wenn wir etwas nach seinem Willen bitten«, wird Gott dieses Gebet hören und beantworten. Und wir sollten uns fürchten, für irgendetwas zu bitten, das nicht in Übereinstimmung mit seinem Willen steht. Vielleicht wird jemand fragen: »Aber wie kann ich in jedem einzelnen Fall den Willen Gottes erkennen?« Im Allgemeinen kann man darauf antworten, dass uns Gottes Willen in der Heiligen Schrift geoffenbart ist. Deshalb sollten wir sie oft studieren, damit wir besser wissen, was Gottes Wille ist und wie wir verständiger und einsichtsvoller beten können.
5,16 Johannes gibt uns ein Beispiel, bei dem der Gläubige Zuversicht im Gebet haben kann, aber er gibt uns auch ein zweites Beispiel, in dem Zuversicht nicht möglich ist. »Wenn jemand seinen Bruder sündigen sieht, eine Sünde nicht zum Tod, soll er bitten, und er wird ihm das Leben geben, denen, die nicht zum Tod sündigen.« Das ist ganz offensichtlich der Fall, wenn ein Christ einen Mitgläubigen sieht, der sich an irgendeiner sündigen Angelegenheit beteiligt. Es handelt sich nicht um Sünde, die dem Betreffenden den Tod bringt. In einem solchen Fall kann der Gläubige für die Wiederherstellung desjenigen bitten, der vom Weg abgekommen ist, und Gott wird dem Bittenden das Leben derer schenken, die nicht »zum Tod« sündigen.
Andererseits gibt es eine »Sünde zum Tod«, und der Apostel sagt: »Nicht im Hinblick auf sie sage ich, dass er bitten solle.«
Exkurs zum Thema Sünde zum Tod
Es ist unmöglich, abschließend zu sagen, was die »Sünde zum Tod« ist, und so ist es vielleicht am sichersten, die verschiedenen anerkannten Auslegungen aufzulisten und zu sagen, welche davon nach unserer Meinung am wahrscheinlichsten ist.
1. Einige meinen, dass die »Sünde zum Tod« sich auf eine Sünde bezieht, worin der Gläubige verharrt, ohne dass er sie bekannt hat. In 1. Korinther 11,30 lesen wir, dass einige gestorben sind, weil sie am Herrenmahl teilgenommen haben, ohne sich selbst zu richten.
2. Andere meinen, dass es hier um Mord geht. Wenn ein Christ in einem Zornesausbruch einen anderen Menschen tötet, dann sollten wir nicht die Freiheit haben, für einen Erlass der Todesstrafe zu bitten, weil sich Gott schon festgelegt und uns seinen Willen kundgetan hat: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden« (1. Mose 9,6). 3. Wieder andere glauben, dass es bei dieser Sünde um die Lästerung des Heiligen Geistes geht. Seinerzeit sprach der Herr Jesus von denjenigen, die seine in der Macht des Heiligen Geistes vollbrachten Wunder der Macht Beelzebuls, des Fürsten der Dämonen, zuschrieben. Er sagte, dass sie die Sünde begangen haben, die nicht vergeben werden kann. Für sie gibt es weder im jetzigen noch im zukünftigen Zeitalter Vergebung. 4. Andere glauben, dass es sich dabei um eine besondere Form der Sünde handelt, so wie diejenige, die Mose oder Aaron, oder auch Hananias und Saphira begangen haben, und die Gott mit allgemeinem Gericht beantwortet.
5. Eine letzte Erklärung könnte sein, dass es sich hier um die Sünde des Abfalls handelt. Wir glauben, dass diese Erklärung am besten in den Zusammenhang passt. Ein Abgefallener ist jemand, der die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens gehört hat, intellektuell überzeugt worden ist, dass Jesus der Christus ist und sich sogar zum Christentum bekennt, obwohl er niemals wirklich gerettet worden ist. Nachdem er das Gute des Christentums geschmeckt hat, wendet er sich vollkommen davon ab und weist den Herrn Jesus Christus von sich. In Hebräer 6 lesen wir, dass dies die Sünde ist, die zum Tod führt. Diejenigen, die diese Sünde begehen, haben keinen Ausweg mehr, weil sie »für sich den Sohn Gottes wieder gekreuzigt und dem Spott ausgesetzt haben«. Diesen ganzen Brief hat Johannes im Hinblick auf die Gnostiker geschrieben. Diese falschen Lehrer gehörten einst zur Gemeinschaft der Christen. Sie sagten von sich, dass sie gläubig seien. Sie kannten die Glaubenst atsachen, aber dann haben sie dem Herrn Jesus den Rücken zugekehrt und eine Lehre angenommen, die seine Gottheit und die Vollkommenheit seines Sühnetodes völlig leugnete. Ein Christ kann nicht die Freiheit haben, für die Wiederherstellung solcher Menschen zu bitten, weil Gott in seinem Wort bereits gesagt hat, dass sie »zum Tod« gesündigt haben.
5,17 »Jede Ungerechtigkeit ist Sünde; und es gibt Sünde, die nicht zum Tod ist.« Sünden wiegen unterschiedlich schwer, und es gibt Sünden, die nicht so ernst sind, dass sie zum Tode führen würden. H. Erkenntnis geistlicher Realitäten (5,18-20)
5,18 Ab Vers 18 bringt Johannes seinen Brief zu einem wunderbaren Abschluss, indem er noch einmal die großen Gewissheiten des christlichen Glaubens aufzählt. »Wir wissen, dass jeder, der aus Gott geboren ist, nicht sündigt.« Wir können dessen sicher sein, dass jemand, der die göttliche Natur in sich hat, nicht weiter in der Sünde lebt. Der Grund ist folgender: »Der aus Gott Geborene bewahrt sich 12 , und der Böse tastet ihn nicht an« (Elb). Wie in 3,9 bezieht sich das auf den wahren Gläubigen, der sich selbst durch seine göttliche Natur bewahrt. Nur solche Menschen bleiben vom Bösen unversehrt.
5,19 Die christliche Antwort an diejenigen, die von sich behaupten, ein höheres Wissen zu besitzen, lautet: »Wir wissen, dass wir aus Gott sind, und die ganze Welt liegt in dem Bösen.« Johannes nimmt kein Blatt vor den Mund. Er kennt nur zwei Bereiche: in Gott oder »in dem Bösen«. Alle Menschen sind entweder gerettet oder verloren, und ihre Stellung hängt von ihrer Beziehung zu Jesus Christus ab. Hört das, ihr Gnostiker!
5,20 Die dritte große Wahrheit ist die der Fleischwerdung. »Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist.« Mit diesem Thema hat Johannes seinen Brief begonnen, und damit schließt er ihn jetzt. Das Kommen des Herrn Jesus hat uns »den Wahrhaftigen« offenbart, das heißt, den »wahrhaftigen Gott«. Gott der Vater kann nur durch den Herrn Jesus Christus erkannt werden. »Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht« (Joh 1,18). Dann fährt Johannes fort: »... und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus.« Erneut liegt die Betonung darauf, dass wir nur in Jesus Christus in Gott sein können. »Niemand kommt zum Vater als nur durch mich« (Joh 14,6). »Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben.« Mit anderen Worten, Johannes lehrt genau das, was die Gnostiker leugneten, nämlich die Tatsache, dass Jesus Christus Gott ist und man das ewige Leben nur in ihm finden kann.
5,21 Schließlich haben wir noch die abschließende Ermahnung des Johannes: »Kinder, hütet euch vor den Götzen!« Der Apostel sagt im Grunde: »Hütet euch vor Lehren, die diesen Wahrheiten entgegenstehen.« Er möchte, dass sich die Gläubigen vor allen Gedanken über Gott schützen, die etwas anderes aussagen, als uns durch die Apostel überliefert worden ist. Jesus Christus ist Gott. Jede andere Vorstellung ist Götzendienst. Hier spricht Johannes nicht in erster Linie von Götzenbildern aus Stein oder Holz. Ein Götze ist ein Ersatzgott, ein falscher Gott, der den Platz des wahren Gottes einnimmt. Mit Götze ist hier etwas Immaterielles gemeint, nämlich eine falsche Lehre. Der Erzbischof Alexander nannte diesen Aufruf »vielsagendes Schaudern«. Wir können uns keine Bezeichnung denken, die diese Beschreibung noch verbessert, und so schließen wir den Kommentar mit dem »vielsagenden Schaudern« des Johannes: »Kinder, hütet euch vor den Götzen!«
1,1  In  2. Johannes  stellt  sich  der Apostel als »der Älteste« vor. Das kann sich einmal auf sein Alter, oder aber auf eine offizielle Stellung in der Gemeinde beziehen. Was das Alter angeht, so war Johannes der letzte lebende Apostel, der mit dem Herrn Jesus gelebt hatte. Was seine Stellung angeht, so war er sicher ein Bischof (im ursprünglichen neutestamentlichen Sinne) oder Aufseher. So brauchen wir uns zwischen den beiden Auslegungen nicht zu entscheiden: beide sind zutreffend.
Der Ausdruck »der auserwählten Herrin« ist nicht so leicht zu erklären. Es gibt im Allgemeinen drei Auffassungen: 1. Einige glauben, dass die »auserwählte Herrin« die Gemeinde ist, die an anderen Stellen auch Braut Christi genannt wird, oder aber eine bestimmte Ortsgemeinde.
2. Andere sind der Auffassung, dass der Brief an die Auserwählte Kyria gerichtet ist, also an eine Frau namens Kyria. Dieser Name könnte die griechische Entsprechung des aramäischen Namens Marta sein (beides bedeutet »Herrin«).1
3. Andere meinen, dass Johannes an eine unbekannte christliche Herrin schreibt, die mit allen anderen Gläubigen zu den »Auserwählten« Gottes gehört – in Christus erwählt vor Grundlegung der Welt.
Wir bevorzugen die letzte Ansicht und meinen, dass es besonders bedeutsam ist, dass diese Warnung vor antichristlichen Lehrern in einem Brief an eine Frau steht. Die Sünde kam dadurch in diese Welt, dass Satan Eva verführte. »Die Frau aber wurde betrogen und fiel in Übertretung« (1. Tim 2,14). Paulus spricht von falschen Lehrern, die sich besonders an Frauen richten: Sie kommen in Häuser zu »losen Frauen … – die mit Sünden beladen sind, von mancherlei Begierden getrieben werden«, die auf jeden hören und doch nicht imstande sind, »zur Erkenntnis der Wahrheit zu kommen« (2. Tim 3,6.7). Auch heute besuchen Sektenmitglieder die Häuser während des Tages, wenn der Mann normalerweise arbeitet. Kinder müssen ebenfalls vor solchen Irrlehrern gewarnt werden. Johannes erklärt auch, dass er diese »auserwählte Herrin und ihre Kinder … in der Wahrheit« liebt. Diejenigen, die gerettet sind, befinden sich nun in einer wunderbaren Gemeinschaft. Sie lieben Menschen, die sie sonst nie geliebt hätten, weil sie gemeinsam mit ihnen die Wahrheit Gottes lieben. Es ist die Wahrheit Gottes, die unsere Herzen verbindet, die Herzen aller, »die die Wahrheit erkannt haben«.
1,2 Für die Worte »um der Wahrheit willen« gibt es zwei mögliche Erklärungen. Sie können sich einmal auf das Motiv der Liebe zu allen Heiligen beziehen, oder aber auf den Grund des Johannes, der ihn zur Niederschrift dieses Briefes veranlasst hat. Beides sind gültige Auslegungen. Es geht um die Wahrheit, »die in uns bleibt und mit uns sein wird in Ewigkeit«. Hier kann sich das Wort »Wahrheit« beziehen auf: 1. den Herrn Jesus Christus. Er sagte: »Ich bin … die Wahrheit (Joh 14,6); 2. den Heiligen Geist. »Der Geist ist die Wahrheit«  (1. Joh  5,6;  s.  a.  Joh  14,16.17); 3. die Bibel. »Dein Wort ist Wahrheit« (Joh 17,17). Sollten wir nicht innehalten, um das Wunder zu bestaunen, dass wir von diesen drei Verkörperungen der Wahrheit erhalten werden?
1,3 Der Gruß des Johannes lautet: »Mit uns wird sein Gnade, Barmherzigkeit, Friede.«2 Gnade ist eine unverdiente Gunstbezeigung jemandem gegenüber, der das Gegenteil verdienen würde. Barmherzigkeit ist Mitleid mit denen, die schuldig und verzweifelt sind. Friede ist die harmonische Beziehung, die sich aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit ergibt. Alle drei Segnungen stammen »von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus«. Der Vater ist die Quelle, der Sohn der Kanal. Außerdem sind Vater und Sohn »in Wahrheit und Liebe«, und diese beiden Eigenschaften können sie niemals hinter sich lassen.
II. Die Freude des Apostels: Gehorsame Kinder (1,4)
Nun gibt Johannes seiner Freude Ausdruck, die er empfand, als er hörte, dass einige der Kinder der auserwählten Herrin »in der Wahrheit wandeln«. Die Wahrheit ist nichts, das man einfach mit dem Verstand glauben sollte, sondern etwas, das es im täglichen Verhalten auszuleben gilt. So wie der Herr Jesus eine lebendige Verkörperung der Wahrheit war, so erwartet er auch, dass unser Leben ein Zeugnis für die Wahrheit ist. III. Die Ermahnung des Apostels: Wandel in der Liebe (1,5.6)
1,5 In den Versen 5 bis 9 scheint uns der Apostel eine kurze Zusammenfassung seines ersten Briefes zu geben. Dort hatte er die Kriterien ewigen Lebens dargelegt. Nun wiederholt er in diesen Versen mindestens drei von ihnen – das Kriterium der  Liebe  (V. 5),  des  Gehorsams  (V. 6), und der Lehre (V. 7-9).
1,6 Als Erstes erinnert er seine Leser an das Gebot, die Mitgläubigen zu lieben. Mit Liebe ist hier in der Hauptsache die uneigennützige Hingabe des eigenen Ichs um anderer Menschen willen gemeint. Die Frage lautet nicht: »Was kann ich von diesem Menschen empfangen?«, sondern: »Was kann ich für diesen Menschen tun?« Dann sagt Johannes, dass Liebe ein Wandel »nach seinen Geboten« ist. Wir können nicht wirklich lieben, nicht auf göttliche Weise lieben, ehe wir nicht in Gehorsam gegenüber dem Herrn und der Wahrheit Gottes wandeln. IV. Die Sorge des Apostels: Antichristliche Verführer (1,7-11)
1,7 Das führt uns nun zum Kriterium »Lehre«. Die große Frage lautet: »Wurde Gott wirklich in der Person Jesu Christi Mensch?« Die Antwort ist ein lautes, deutliches »Ja!« Die Gnostiker3 glaubten, dass der göttliche Christus nur für eine bestimmte Zeit auf Jesus kam. Doch Johannes besteht darauf, dass Jesus Christus immer Gott war, ist und sein wird.
1,8 Deshalb warnt er seine Leser: »Seht auf euch selbst, damit ihr nicht verliert, was wir erarbeitet haben, sondern wir vollen Lohn empfangen.« Mit anderen Worten: »Steht fest in der Wahrheit über den Herrn Jesus Christus, damit unsere Arbeit unter euch nicht vergeb- lich gewesen ist, sodass wir (die Apostel und ihre Nachfolger) vollen Lohn empfangen.«
1,9 Wenn Johannes sagt: »Jeder, der weitergeht 4 und nicht in der Lehre des Christus bleibt, hat Gott nicht«, so spricht er von den Irrlehrern. »Weitergehen« bedeutet hier, über die zulässigen Grenzen hinwegzugehen. Darin besteht die Vorgehensweise von Sekten: Sie behaupten, neues Licht zu haben, und ver­breiten Lehren, die Gott in seinem Wort nicht offen­ bart hat. Sie bleiben nicht in den Grenzen der christlichen Offenbarung, sie bleiben nicht »in der Lehre des Christus«, womit wahrscheinlich die Lehren gemeint sind, die Christus selbst gebracht hat. Es kann auch alles bedeuten, was die Bibel über Christus lehrt. Nach den Wor- ten des Apostels in Vers 9 kann es sein, dass ein Sektierer behauptet, Gott zu kennen. Wenn er jedoch nicht an die vollkom- mene Göttlichkeit und das Menschsein des Herrn Jesus glaubt, dann hat er nie Gemeinschaft mit Gott gehabt (vgl. NeÜ). Wir können Gott nur durch seinen Sohn erkennen. »Niemand kommt zum Vater als nur durch mich« (Joh 14,6).
1,10.11 Diese Verse bilden das Zen­trum des Briefes. Sie geben uns geschätzten Rat, wie wir mit Irrlehrern umgehen sollen, die an unsere Tür klopfen. Johannes bezieht sich nicht auf gelegentliche Besucher, sondern auf antichristliche »Missionare«. Sollten wir sie hereinbitten? Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Ihnen finanziell unter die Arme greifen? Ihre Literatur kaufen? Die Antwort lautet: Wir sollen sie »nicht ins Haus aufnehmen« und »nicht grüßen«. Diese Menschen sind Feinde Christi. Wenn wir ihnen Gastfreundschaft erweisen, dann stellen wir uns auf die Seite derer, die gegen Christus sind. Es ist möglich, dass wir manchmal solch einen Menschen in unser Haus lassen, ohne zu wissen, dass er den Herrn verleugnet. Darauf bezieht sich der Vers nicht. Aber wenn wir wissen, dass jemand ein Irrlehrer ist, dann wäre es Untreue gegenüber Christus, mit ihm Umgang zu pflegen. Diese Verse beziehen sich jedoch nicht auf Gäste allgemein. Wir haben oft Ungläubige als Gäste und versuchen, sie für Christus zu gewinnen. Hier geht es um religiöse Lehrer, die die Göttlichkeit und das Menschsein Jesu Christi verleugnen. C. F. Hogg erklärt: Wir sollten nichts tun, das den Eindruck erweckt, dass eine falsche Lehre eine geringe Sache sei. Ebenso sollten wir keinem Irr­lehrer die Möglichkeit geben, andere zu beeinflussen. 5
1,12 Johannes hätte der auserwählten Herrin gern noch mehr geschrieben. Aber er schließt hier in der Hoffnung, dass er sie bald persönlich besuchen und »mündlich mit euch ... reden« kann. Wie viel befriedigender ist es doch oft, bei einer persönlichen Begegnung miteinander zureden, als »mit Papier und Tinte« schreiben zu müssen! Und wie viel wunderbarer wird es einst sein, den Herrn von Angesicht zu Angesicht statt wie heute nur mit den Augen des Glaubens zu sehen! Dann wird unsere Freude ganz bestimmt vollkommen sein!
1,13 So schließt Johannes denn mit den Worten: »Es grüßen dich die Kinder deiner auserwählten Schwester.« Wir wissen nicht, wer das war, aber wir werden sie eines Tages sehen und Gemeinschaft mit ihnen sowie dem geliebten Apostel Johannes haben, der diesen Brief geschrie- ben hat. Das Allerbeste wird jedoch sein, dass wir dann bei unserem Heiland selbst sind.
1,1 Wie in seinem 2. Brief spricht Johannes von sich als dem »Ältesten«. Er richtet den Brief an den »geliebten Gajus«, den er »in der Wahrheit« liebt. Wir wissen nicht, ob dies derjenige Gajus ist, der in Römer 16,23 oder in Apostelgeschichte 20,4 erwähnt wird. Dennoch ist es überraschend, wie viel wir über ihn in den wenigen Versen erfahren. Als Erstes erfahren wir, dass er ein »geliebter« Gläubiger war, ein Mann, dessen ganzes Leben ihn seinen Mitchristen empfahl.
1,2 Doch offensichtlich ging es ihm gesundheitlich nicht so gut, weil Johannes ihm wünscht, dass seine körperliche Gesundheit seinem geistlichen Eifer entsprechen möge. Wenn Johannes sagt: »Ich wünsche, dass es dir in allem wohlgeht«, dann ist es sehr zweifelhaft, dass er dabei an Reichtum oder materiellen Wohlstand denkt. Er spricht eher von körperlichem Wohlbefinden, wie es durch den nächsten Teil des Satzes nahegelegt wird, und zwar davon, »gesund« zu sein. Würden wir uns wünschen, dass unser körperlicher Zustand unserer geistlichen Verfassung entspricht? Ist es nicht traurig, aber wahr, dass wir für unseren Leib oft mehr sorgen als für unsere Seele? Deshalb bemerkte F. B. Meyer ironisch: Es wäre nicht gut, wenn wir den Wunsch von Vers 2 auf all unsere Freunde ausdehnen würden, denn wenn ihre leibliche Verfassung ihrer geistlichen entsprechen sollte, dann würden sie recht plötzlich krank werden, dann fehle es ihm an Glauben. Das galt ganz bestimmt nicht für Gajus. Seine geistliche Verfassung war gut, aber sein körperlicher Zustand war weniger gut. Das zeigt, dass man nicht vom körperlichen Zustand eines Menschen Rückschlüsse auf seinen geistlichen Zustand ziehen darf.
1,3 Der Apostel freute sich sehr, »als Brüder kamen und für die Wahrheit Zeugnis gaben«, die in Gajus war. Sie bezeugten, wie er »in der Wahrheit« wandelte. Es ist gut, die Wahrheit in sich zu haben, aber noch besser ist, wenn sich die Wahrheit in unserem Leben zeigt. Wir sollten die Wahrheit nicht nur festhalten, die Wahrheit sollte auch uns festhalten. Die Menschen möchten eine Predigt lieber sehen als hören. In einem Zeitalter, worin es vor allem auf Tatsachen ankommt, zählt für Gott nichts mehr als ein geheiligtes Leben.
1,4 Das war Johannes so wichtig, dass er sagen konnte: »Eine größere Freude habe ich nicht als dies, dass ich höre, dass meine Kinder in der Wahrheit wandeln.« Vielleicht denken einige von uns, dass das Menschenfischen die größte Freude eines christlichen Lebens ist. Dabei ist es wirklich wunderbar, wenn man sehen kann, wie Männer und Frauen vom Reich der Finsternis in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt werden. Aber niemand kann die Schmerzen ermessen, die einem bereitet werden, wenn man Folgendes sieht: Da sind diejenigen, die bekannten, gerettet zu sein. Nun verfallen sie wieder in ihr früheres Leben – wie eine gewaschene Sau, die sich erneut im Kot wälzt, und ein Hund, der zu seinem eigenen Gespei zurückkehrt. Welch eine Freude ist es andererseits, wenn die eigenen geistlichen Kinder für den Herrn voranschreiten und von einer Gnade zur anderen gehen. Dies betont einmal mehr die Notwendigkeit der Nacharbeit bei all unseren evangelistischen Bestrebungen. II. Der gottesfürchtige Gajus (1,5-8)
1,5 Gajus bereitete es besondere Freude, sein Haus für die Menschen zu öffnen, die das Evangelium in aller Welt predigten. Er gewährte nicht nur denen seine liebevolle Gastfreundschaft, die er kannte, sondern auch »Fremden«.2 Johannes sagt, dass er in diesem Dienst treu war. Es scheint vom NT her so zu sein, dass in den Augen Gottes Gastfreundschaft sehr wichtig ist. Wenn wir Kinder Gottes beherbergen, dann ist es, als ob wir den Herrn selbst beherbergten (Matth 25,40). Wenn wir andererseits seine Diener nicht beherbergen, dann haben wir auch ihn nicht beherbergt (Matth 25,45). Indem einige Fremde aufgenommen haben, »haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt« (Hebr 13,2). Viele können bezeugen, dass durch die Praxis der Gastfreundschaft Mahlzeiten zu besonderen Segnungen geworden sind (Lk 24,29-35), dass Kinder sich bekehrt haben und Familien in engere Gemeinschaft mit dem Herrn gebracht wurden.
1,6 Gastfreundschaft lohnt sich immer. Gajus war in der gesamten Gemeinde für seine Freundlichkeit bekannt. Aber damit nicht genug – sein Name ist für immer in Gottes heiligem Wort festgehalten worden als einer, der ein offenes Haus und ein offenes Herz hatte. Und nicht nur das: Gajus wird am Richterstuhl Christi belohnt werden, denn »wer einen Propheten aufnimmt in eines Propheten Namen, wird eines Propheten Lohn empfangen« (Matth 10,41). Er wird am Lohn aller Prediger teilhaben, die er beherbergt hat. Das ist ein Punkt, den sich alle merken sollten, die selbst nicht predigen können: Sie, lieber Leser, können den Lohn eines Predigers erhalten, indem Sie Predigern im Namen Gottes Gastfreundschaft gewähren. Gott wird alle guten Taten belohnen! Seine Güte wird die Güte der Menschen schließlich krönen und vollenden. Nun erinnert Johannes Gajus daran, dass er wohltut, wenn er »sie zur Reise ausstattet, wie es Gottes würdig ist«. Wenn wir unsere materiellen Güter mit denen teilen, die predigen und lehren, erfüllen wir diese hohe Anforderung.
1,7 Nun gibt Johannes uns eine Begründung, warum Gajus den reisenden Evangelisten helfen soll: »Denn für den Namen sind sie hinausgegangen, und sie nehmen nichts von den Heiden.« Diese Männer hofften allein auf den Herrn, dass er ihre Bedürfnisse erfülle. Sie wollten von Unbekehrten keine Unterstützung annehmen. Hätten sie das getan, so hätte dies bedeutet, dass ihrer Meinung nach ihr Meister zu arm war, um für sie zu sorgen. Außerdem könnte dies die Unbekehrten in falsche Sicherheit wiegen und selbstgerecht werden lassen in der irrigen Meinung, sie hätten gute Werke getan. Welch ein Tadel für die Methoden der Spendensammlung in der heutigen Christenheit! Und wie sehr sollte es uns an unsere besondere Verpflichtung erinnern, die wir den Dienern des Herrn gegenüber haben, die im Glauben an den lebendigen Gott hinausgehen und niemandem als dem Herrn ihre Bedürfnisse sagen.
1,8 »Wir nun sind schuldig, solche aufzunehmen, damit wir Mitarbeiter der Wahrheit werden.« Aufnehmen3 bedeutet, alles uns Mögliche zu tun, um ihnen zu helfen, denn wenn wir das tun, so helfen wir, die Wahrheit zu verbreiten. III. Der diktatorische Diotrephes (1,9-11)
1,9 Offensichtlich hatte Johannes in diesem Sinne etwas an die Gemeinde geschrieben, aber sein Brief wurde von einem Mann namens Diotrephes abgefangen, der seine eigene Bedeutung viel zu hoch einschätzte. Er war ein regelrechter Diktator in der Versammlung. Seine Sünde bestand darin, dass er auf seine Stellung stolz war, ein aufgeblasenes Ich hatte und äußerst eifersüchtig hinsichtlich dessen war, was er für sein Recht hielt. Dieses »Recht« verteidigte er ohne Zweifel mit der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde. Diotrephes hatte vergessen, dass Christus das Haupt der Gemeinde ist – wenn er es je gewusst hatte!
1,1 Gott benutzte einen gerechten »Judas«, um die Abtrünnigen zu entlarven, für die ein anderer Judas, nämlich Judas Iskariot, ein Beispiel war. Sicher wissen wir nur, dass der recht gesinnte »Judas« ein »Knecht Jesu Christi, aber Bruder des Jakobus« war.
Hinsichtlich der Adressaten gibt Judas drei Eigenschaften an, die für alle Gläubigen gelten. Sie sind »berufen«, »geliebt«1 »in Gott, dem Vater«, und »in Jesus Christus bewahrt«. Gott hat diese Menschen durch das Evangelium aus der Welt berufen, damit sie ihm gehören. Sie sind von Gott ausgesondert, um Gottes besonderes und reines Volk zu sein. Und sie werden auf wunderbare Weise vor Gefahr, Verunreinigung und Verurteilung »bewahrt«, bis sie einst in den Himmel geleitet werden, wo sie den König in seiner Schönheit sehen werden.
1,2 Judas wünscht seinen Lesern »Barmherzigkeit und Friede und Liebe«. Dieser Gruß ist besonders für die Menschen angemessen, die sich dem Ansturm der Feinde entgegenwerfen müssen. Deren Ziel besteht darin, den Glauben zu untergraben. »Barmherzigkeit« bedeutet Gottes Zuspruch voller Mitgefühl und seine Fürsorge für seine angegriffenen Heiligen in Zeiten der Auseinandersetzung und des Kampfes. »Friede« ist die Gelassenheit und das Vertrauen, die sich daraus ergeben, wenn man sich auf Gottes Wort verlässt und über die Umstände hinaus auf denjenigen blickt, der die Umstände in der Hand hat und mit ihnen seine Ziele erreicht. »Liebe« ist die Tatsache, dass Gott die Angehörigen seines Volkes völlig unverdient in seine Arme schließt – eine überwältigende Zuneigung, die wir anderen mitteilen sollen. Judas wünscht sich, dass diese drei Segnungen seinen Lesern »immer reichlicher zuteil« werden mögen. Dabei sollen die betreffenden Segnungen nicht einfach aneinandergefügt, sondern um ein Vielfaches vermehrt werden!
II. Die Abtrünnigen werden entlarvt (1,3-16)
1,3 Judas hatte eigentlich beabsichtigt, über das herrliche »Heil zu schreiben«, das »gemeinsames« Eigentum aller Gläubigen ist. Doch der Geist Gottes hat diesen hingegebenen Verfasser anders geführt: Er merkte, dass sein Schreiben in eine andere Richtung gehen sollte. Eine einfache lehrmäßige Abhandlung war nicht genug; es musste ein leidenschaftlicher Aufruf werden, der seine Leser stärken sollte. Sie sollten angeregt werden, »für den ein für alle Mal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen«. Das heilige Gut der christlichen Wahrheit wurde angegriffen, und es gab sogar schon Bemühungen, die großen, grundlegenden Lehren auszuhöhlen. Gottes Volk muss kompromisslos für die Inspiration, Unfehlbarkeit, Autorität und Hinlänglichkeit des heiligen Wortes Gottes einstehen. Doch wenn der Christ für den Glauben kämpft, so muss er als Christ reden und handeln. Wie Paulus geschrieben hat: »Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streiten, sondern gegen alle milde sein, lehrfähig, duldsam« (2. Tim 2,24). Er muss kämpfen, ohne um jeden Preis gewinnen zu wollen. Er muss Zeugnis geben, ohne sein Zeugnis zu kompromittieren. Wir führen den Kampf um »den ein für alle Mal den Heiligen überlieferten Glauben«. Man beachte: Nicht »es war einmal«, sondern »ein für alle Mal«. Das Lehrgebäude an sich ist vollständig, der Kanon ebenfalls. Es ist nichts mehr hinzuzufügen. »Wenn es neu ist, kann es nicht wahr sein, und wenn es wahr ist, kann es nicht neu sein.« Wenn einige Lehrer behaupten, eine Offenbarung erhalten zu haben, die über das hinausgeht, was sich in der Bibel findet, dann können wir sie von vornherein ablehnen. Der Glaube ist uns ein für alle Mal überliefert worden, und wir brauchen oder beachten nichts anderes. Dies ist unsere Antwort an die Sektenführer mit ihren Büchern, die die gleiche Autorität wie die Schrift beanspruchen.
1,4 Die Art der Bedrohung wird in Vers 4 beschrieben. Die christliche Gemeinde wur de von zerstörerischen Elementen unterwandert. »Gewisse Menschen« hatten sich »heimlich ein ge schli chen«. Es handelte sich um Aktivitäten im Untergrund, die sich des Betrugs und der List bedienten.
Diese Namenschristen im Dienst des Feindes waren schon »längst zu diesem Gericht vorher aufgezeichnet«. Dieser Satz sagt scheinbar aus, dass diese einzelnen Personen von Gott ausgewählt wurden, um verlorenzugehen. Doch das ist hier nicht gemeint. Die Bibel lehrt nirgendwo, dass es Menschen gibt, die zur Verdammnis erwählt werden. Wenn Menschen gerettet werden, dann durch die souveräne Gnade Gottes. Doch wenn sie eines Tages verlorengehen, dann durch ihre eigene Sünde und ihren Ungehorsam.
Dieser Satz lehrt jedoch, dass das »Gericht« über diese Abtrünnigen längst beschlossen ist. Wenn Menschen bewusst vom christlichen Glauben abfallen, so werden sie zur gleichen Strafe verurteilt, wie die ungläubigen Israeliten in der Wüste, wie die Engel, die sich Satans Rebellion anschlossen, und die Bewohner Sodoms. Sie sind nicht zum Abfall vorherbestimmt, doch sobald sie sich aus eigenem Willen von Gott abwenden, erwartet sie die Strafe, der auch alle anderen Abtrünnigen entgegengehen. Zwei wichtige Eigenschaften dieser »Gottlosen« sind ihr nichtswürdiges Verhalten und ihre verdorbene Lehre. Ihr Verhalten ist so, dass sie »die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren«. Sie verwandeln die christliche Freiheit in Zügellosigkeit. Außerdem verkehren sie die Freiheit zum Dienst in die Freiheit zum Sündigen. In ihren Lehren »verleugnen« sie »den alleinigen Gebieter2 und unseren Herrn Jesus Christus«. Sie »leugnen« sein absolutes Herrschaftsrecht, seine Gottheit, seinen stellvertretenden Tod, seine Auferstehung – kurz gesagt, sie leugnen jede wichtige Lehre über Christi Person und sein Werk. Sie bekennen sich zur weitgehenden Aufgeschlossenheit und Vorurteilslosigkeit auf geistlichem Gebiet, doch sie stehen lehrmäßig dem Evangelium, dem Wert des kostbaren Blutes Christi und der Tatsache, dass er der einzige Heilsweg ist, feindselig gegenüber.
Wer sind nun diese Männer? Sie sollten eigentlich Diener des Evangeliums sein. Sie haben Führungspositionen in der Christenheit inne. Einige sind Bischöfe oder Synodale oder Theologieprofessoren. Doch alle haben das eine gemeinsam – sie stehen dem Christus der Bibel feindselig gegenüber und haben das Bild eines »liberalen«3 oder »neo-konservativen«4 »Christus« ersonnen, dem alle Herrlichkeit, Autorität, Majestät und Gewalt fehlen.
1,5 Es gibt keinerlei Zweifel an Gottes Haltung gegenüber diesen Abtrünnigen. Er hat dies im AT bei etlichen Anlässen geoffenbart. Judas will nun seine Leser an drei derartige Ereignisse »erinnern« – an die ungläubigen Israeliten, an die in Sünde gefallenen Engel und an die Bewohner von Sodom und Gomorra. Das erste Beispiel ist Israel in der Wüste: Der »Herr« hat, »nachdem er das Volk einmal aus dem Land Ägypten gerettet hatte, zum zweiten Mal die vertilgt, die nicht geglaubt haben« (vgl. 4. Mose 13 und  14;  1. Kor  10,5-10).  Gott  hatte  dem Volk das Land Kanaan verheißen. In der Verheißung lag auch die Bef ähigung zur Landeinnahme. Doch das Volk hörte auf den entmutigenden Bericht der zehn glaubenslosen Kunds chafter in Kadesch und lehnte sich gegen den Herrn auf. Infolgedessen starben all diejenigen Männer, die beim Auszug älter als zwanzig Jahre waren, in der Wüste. Die einzigen Ausnahmen waren Kaleb und Josua (vgl. Hebr 3,16-19).
1,6 Das zweite Beispiel einer Rebellion und eines Abfalls sind die »Engel«, die gesündigt haben. Sicher wissen wir von ihnen nur, dass sie »ihren Herrschaftsbereich nicht bewahrt« haben, der ihnen zugewiesen war. Sie haben »ihre eigene Behausung verlassen« und sind nun »zum Gericht des großen Tages mit ewigen Fesseln in Finsternis verwahrt«. Aus der Schrift geht hervor, dass mindestens zweimal Engel abtrünnig geworden sind. Als Erstes fiel Satan. Er riss wahrscheinlich viele andere Engelwesen bei seiner Rebellion mit. Diese gefallenen Engel sind gegenwärtig nicht gefesselt. Der Teufel und seine Dämonen führen einen ständigen Kampf gegen den Herrn und sein Volk.
Den anderen Abfall von Engelwesen erwähnen nur Judas und Petrus (2. Petr  2,4).  Es  gibt  viele  verschiedene Auffassungen unter den Auslegern, welches Ereignis hier gemeint ist. Unser Vorschlag ist deshalb eine persönliche Meinung, die keinen Anspruch darauf erhebt, eine lehrmäßige Tatsache zu sein. Wir sind der Ansicht, dass Judas sich auf den Bericht in 1. Mose  6,1-7 bezieht. Die Söhne Gottes verließen die ihnen gegebenen Stellungen, kamen in menschlicher Gestalt auf die Erde und heirateten Töchter von Menschen. Diese Ehebeziehung widersprach den Anordnungen Gottes und war ihm ein Gräuel. Es kann sein, dass in Vers 4 darauf hingewiesen wird, dass aus diesen widernatürlichen Ehen ungeheuer starke und gottlose Nachkommen hervorgingen. Ob dies nun stimmt oder nicht, sei dahingestellt. Es ist jedoch eindeutig, dass Gott die Bosheit des Menschen zu dieser Zeit außerordentlich missfallen hat und er sich entschloss, die Erde durch eine Sintflut zu vernichten.
Es gibt drei Einwände gegen diese Ansicht: 1. Der Abschnitt in 1. Mose nennt keine Engel, sondern nur »Söhne Gottes«. 2. Engel sind geschlechtslos. 3. Engel heiraten nicht. Es stimmt, dass in diesem Abschnitt Engel nicht ausdrücklich erwähnt werden, doch es gilt auch, dass sich das Wort »Söhne Gottes« in den semitischen Sprachen auf Engel bezieht (s. Hiob 1,6;2,1).
Es gibt in der Bibel keinerlei Aussage darüber, ob Engel geschlechtslos sind. Engel erschienen manchmal in menschlicher Gestalt auf Erden und hatten dabei einen menschlichen Körper und menschliche  Bedürfnisse  (1. Mose  18,2.22;  vgl. 19,1.3-5). Die Bibel sagt nicht, dass Engel generell nicht heiraten. Sie teilt uns jedoch mit, dass sie im Himmel nicht heiraten noch geheiratet werden (Matth 22,30). Welches historische Ereignis auch immer in Vers 6 gemeint ist, wichtig ist dabei Folgendes: Die Engel haben die ihnen von Gott zugedachte Sphäre verlassen und müssen nun »mit ewigen Fesseln in Finsternis« leben, bis sie ihr endgültiges Urteil erhalten.
1,7 Beim dritten Abfall im AT, den Judas erwähnt, geht es um »Sodom und Gomorra und die umliegenden Städte« (1. Mose  18,16–19,29).  Das  einleitende Wort »wie« zeigt, dass die Sünde der Bewohner Sodoms Berührungspunkte mit der Rebellion der Engel hatte. Es handelte sich um die schlimmste Unmoral, die gegen alles Natürliche gerichtet und Gott ein Gräuel war.
Die besondere Sünde der Perversion wird von Paulus im Römerbrief behandelt: »Denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr in den unnatürlichen verwandelt, und ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen, sind in ihrer Wollust zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst« (Röm 1,26b.27). Die Männer aus Sodom, Gomorra, Adma und Zebojim waren der Homosexualität verfallen. Mit der hier befindlichen Beschreibung ihrer Sünde (»hinter fremden Fleisch herlaufen«) ist gemeint, dass sie der natürlichen Ordnung Gottes völlig widerstrebt.
Ist es einfach nur ein Zufall, dass viele heutige Abtrünnige in der ersten Reihe derer mitmarschieren, die die Homo sexualität öffentlich verteidigen? Sie kämpfen dafür, dass sie legalisiert wird, sol ange sie zwischen zwei Erwachsenen im beiderseitigen Einverständnis geschieht!
All diesen Liberalen werden die Städte Sodom und Gomorra »als ein Beispiel« vorgestellt, weil deren Bewohner »des ewigen Feuers Strafe« erlitten haben. Der Ausdruck »ewiges Feuer« kann nicht bedeuten, dass ihre Städte durch Feuer zerstört wurden, das ewig ist. Vielmehr geht es hier eher darum, wie gründlich und umfassend dieses Feuer alles ringsum vernichtete. Es ist ein Bild für die ewige Strafe, die alle Abtrünnigen treffen wird.
1,8 Judas kehrt nun zum Thema der Abtrünnigen seiner Zeit zurück und beschreibt ihre Sünde sowie die gegen sie gerichtete Anklage. Er verwendet der Natur entnommene Bilder, die ihnen entsprechen, und beschreibt ihre Bestimmung sowie ihre gottlosen Worte und Taten (1,8-16).
Zunächst einmal geht es um ihre Sünden. Durch Träume »beflecken« sie »das Fleisch«. Ihr ganzes Gedankenleben ist verunreinigt. Sie leben in einer Welt schmutziger Fantasien, und sie finden wie die Männer Sodoms die Erfüllung ihrer Träume schließlich in sexuellen Sünden.
Sie »verachten … die Herrschaft«. Sie lehnen sich gegen Gott und gegen obrigkeitliche Autoritäten auf. Sie sind Verteidiger von Gesetzlosigkeit und Anarchie. Ihre Namen stehen auf den Mitgliederlisten von Organisationen, die die Regierung stürzen wollen.
Sie »lästern« himmlische »Herrlichkeiten«. Damit sind Engelwesen gemeint. Den Abtrünnigen bedeuten die Worte: »Es ist keine staatliche Macht außer von Gott« (Röm 13,1) nichts. Sie verachten das göttliche Gebot: »Einem Fürsten in deinem Volk sollst du nicht fluchen« (2. Mose  22,27).  Sie  sprechen  verächtlich von jeder Autorität, ob sie nun von Gott, Engeln oder Menschen ausgeübt wird.
1,9 In dieser Hinsicht nehmen sie sich Dinge heraus, die selbst »der Erzengel … Michael« nicht zu tun wagte. Als Michael sich »mit dem Teufel … um den Leib des Mose« stritt, wagte er es nicht, ihn zu lästern, »sondern sprach: Der Herr schelte dich!« Hier teilt uns Judas einen Vorfall mit, den wir sonst in der Bibel nicht finden. Natürlich erhebt sich die Frage: Woher hatte er diese Information? Einige sind der Ansicht, dass diese Information aus der jüdischen Tradition stammt. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht.
Die befriedigendste Erklärung lautet, dass diese Information Judas auf übernatürliche Weise durch denselben Heiligen Geist offenbart wurde, der ihn auch zum Schreiben dieses Briefes veranlasst hat. Wir wissen nicht, warum sich der Streit zwischen Michael und Satan über »den Leib Moses« entspann. Wir wissen jedoch, dass Mose von Gott in einem Tal in Moab begraben wurde. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Satan die Stelle wissen wollte, um dort einen Tempel bauen zu lassen. Damit hätte er Israel zur Anbetung der Gebeine des Mose bringen können, die durch Götzendienst gekennzeichnet gewesen wäre. Als über dem Volk Israel wachender Engel (Dan 10,21) kämpfte Michael natürlich darum, sein Volk vor dieser Form des Götzendienstes zu bewahren, indem er die Lage des Grabes geheim hielt.
Doch es geht hier eigentlich um etwas anderes. Immerhin ist »Michael« ein »Erzengel«, und zwar derjenige, den Gott benutzen wird, um Satan aus dem Himmel zu werfen (Offb 12,7-9). Dennoch meinte er nicht, den lästern zu können, der im Reich der Dämonen herrscht. All diese Zurechtweisung überließ er Gott.
1,10 Eigensinnig und dreist lästern die Abtrünnigen auf Gebieten, bezüglich derer sie unwissend sind. Sie erkennen nicht, dass in einer geordneten Gesellschaft Autorität und Unterordnung unter die Autorität notwendig sind. Und so drängen sie vorwärts, indem sie in arroganter Rebellion überall großtun. Das Gebiet, das sie am besten beherrschen, ist der Bereich der Triebe und der Sinnesbefriedigung. Mit der Unvernunft von Tieren geben sie sich der sexuellen Befriedigung hin. Dabei »verderben« und zerstören »sie sich«.
1,11 Über sie wird ein hartes Urteil verkündet: »Wehe ihnen!« Wegen ihres verstockten und unbußfertigen Herzens haben sie sich selbst Zorn für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes aufgehäuft (Röm 2,5).
Der Verlauf ihres gottabgewandten Lebens wird als schlimmer Fall mit immer höherer Geschwindigkeit beschrieben. Zunächst sind sie »den Weg Kains gegangen«. Sie »haben sich für Lohn dem Irrtum Bileams völlig hingegeben«. Und schließlich sind sie »in dem Widerspruch Korachs … umgekommen«. Irrtum und Abfall sind niemals Ausdruck statischer Zustände. Sie führen die Menschen in heillosem Durcheinander zum Abgrund und stürzen sie dann hinein. Der »Weg Kains« ist im Grunde die Ablehnung der Erlösung durch das Blut eines Opfers (1. Mose 4). Es handelt sich hierbei um den Versuch, Gott durch menschliche Bemühungen zu beschwichtigen. C. H. Mackintosh sagt: »Gottes Mittel zur Reinigung wird abgelehnt, und der Versuch des Menschen zur Verbesserung wird an dessen Stelle gesetzt. Das ist der ›Weg Kains‹.« Doch wenn wir uns auf menschliche Bemühungen verlassen, so führt das zum Hass auf die Gnade und die Menschen, die die Gnade empfangen haben. Und dieser Hass führt schließlich zu Verfolgung und Mord (1. Joh 3,15). Der »Irrtum Bileams« ist das Bestreben, sich persönlich zu bereichern, indem man aus dem Dienst Gottes ein Geschäft macht. Bileam nannte sich Prophet Gottes, doch er war habgierig und bereit, seine prophetische Gabe für Geld zu  verkaufen  (4. Mose  22 – 24).  Fünfmal bekam er Geld von Balak, weil er Israel verfluchen sollte. Er war mehr als bereit dazu, doch er wurde von Gott mit Gewalt zurückzuhalten. In vielem, was Bileam sagte, fanden sich wahre und treffende Sachverhalte, aber dennoch war er ein Prophet, der sich für Geld ködern und dingen ließ. Er konnte die Israeliten nicht verfluchen, doch schließlich gelang es ihm, sie zur Sünde mit den Töchtern Moabs zu verführen (4. Mose 25,1-5; 31,16). Wie Bileam sind die Irrlehrer von heute sehr beredt und überzeugend. Sie können immer alles von allen Seiten darstellen. Sie unterdrücken die Wahrheit, um ihr Einkommen zu erhöhen. Es geht hier vor allem darum, dass sie habsüchtig sind und versuchen, aus dem Haus Gottes ein Kaufhaus zu machen. Die heutige Christenheit ist von der Sünde der Simonie durchsäuert. Wenn das Motiv des Geldverdienens irgendwie weggenommen werden könnte, dann würde vieles, was bisher als christliche Arbeit gilt, stillstehen. C. A. Coates warnt: Der Mensch ist so niederträchtig, dass er aus dem göttlichen Dienst Gewinn für sich selbst schlägt. Ja, darin wird der Gipfel menschlicher Niedertracht sichtbar. Der Herr wird dies ganz bestimmt richten. Wir können sehen, wie die Christenheit voll von Habsüchtigen ist, und wir müssen uns selbst in Acht nehmen, dass dieses Element bei uns keinen Zugang erhält.5
Der dritte Grund für ein »Wehe« des Judas ist die Tatsache, dass diese Irrlehrer »in dem Widerspruch Korachs … umgekommen« sind. Zusammen mit Datan und Abiram rebellierte Korach gegen die Führung Moses und Aarons. Er wollte ebenfalls das Priesteramt übernehmen (4. Mose 16). Damit haben die Betreffenden jedoch in Wirklichkeit den Herrn abgelehnt. Weil sie sich nicht unterordnen wollten, wurden sie in einem großen Erdbeben lebendig von der Erde verschlungen. Gott zeigte auf diese Weise, wie sehr ihm diese Auflehnung gegen diejenigen missfiel, die nach seinem Willen in seinem Namen sprechen und handeln sollten.
1,12 Als Nächstes wählt Judas fünf Bilder aus der Natur, um den Charakter und die Bestimmung der Abtrünnigen darzustellen. Moffatt sagt, dass »Himmel, Land und Meer nach Veranschaulichungen für den Charakter dieser Männer durchgekämmt werden«.
Die Abtrünnigen sind »Flecken bei« den »Liebesmahlen«6, die von den ersten Christen im Zusammenhang mit dem Herrenmahl gehalten wurden. Sie fürchteten weder Gott noch Menschen und sorgten mehr für sich selbst als für die Herde. Sie verleiten andere dazu, den Glauben zu beschmutzen.
Sie sind »Wolken ohne Wasser«, die zwar die Verheißung einer Erfrischung für das ausgetrocknete Land bereithalten, doch dann werden sie »von Winden fortgetrieben«7 und hinterlassen nur Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Sie sind wie »spätherbstliche Bäume«, die keine Blätter mehr haben und »fruchtleer« sind. »Zweimal erstorben« kann bedeuten, dass sie ganz tot sind. Mit dieser Wendung kann auch gemeint sein, dass sie sowohl in der Wurzel als auch in den Zweigen tot sind. Ebenso sind sie »entwurzelt«, als wären sie von einem Sturm aus der Erde gerissen worden, sodass kein Stumpf übrig geblieben ist, der in Zukunft noch neues Leben hervorbringen könnte.
1,13 Sie sind wie »wilde Meereswogen«, unbeherrschbar, tosend und stürmend. Trotz all des Lärms, den sie machen, haben sie nichts vorzuweisen als den Schaum ihrer »eigenen Schändlichkeiten«. Sie sonnen sich in Taten, derer sie sich schämen sollten, und hinterlassen nichts Wertvolles.
Schließlich sind sie noch wie »Irrsterne, denen das Dunkel der Finsternis in Ewigkeit aufbewahrt ist«. »Irrsterne« sind Himmelskörper, die keiner regelmäßigen Bahn folgen. Sie sind zur Orientierung ungeeignet. Welch eine passende Beschreibung der Irrlehrer! Diese religiösen Meteore, diese gefallenen Sterne und Kometen, die für einen kurzen Moment aufleuchten, und dann in der Finsternis wie die Raketen eines Feuerwerks verglühen, können keine geistliche Orientierung bieten.
1,14 Die Bestimmung der Abtrünnigen wurde schon von Henoch, dem Nachkommen der »siebenten« Generation »von Adam an«, vorhergesagt. Es handelt sich um eine Prophezeiung, die sich nur im Judasbrief findet. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass sie aus dem apokryphen Buch Henoch (der sogenannten Henochapokalypse) stammt, doch gibt es keinen Beweis dafür, dass dieses gefälschte Buch zur Zeit des Judas überhaupt schon existiert hat. Kelly sagt: Es [das Henochbuch] trägt viele Merkmale dafür, dass es nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben wurde [und deshalb später als der Judasbrief zu datieren ist]. Höchstwahrscheinlich stammt es von einem Juden, der sich selbst noch mit der Hoffnung aufrechterhielt, dass Gott den Juden beis tehen würde.8
Wir wissen zwar nicht, wie Judas von dieser alten Prophezeiung erfahren hat, doch eine einfache und plausible Erklärung lautet, dass der Heilige Geist ihm die Worte offenbarte – so wie er ihn im ganzen übrigen Brief geleitet hat. Die Prophezeiung beginnt: »Siehe, der Herr ist gekommen9 mit seinen heiligen Tausenden.« Diese Vorhersage wird eine vorläufige und teilweise Erfüllung finden, wenn der Herr Jesus nach der Großen Trübsal auf die Erde kommen, seine Feinde vernichten und als König herrschen wird. Am Ende des Tausendjährigen Reiches wird sie vollständig und endgültig in Erfüllung gehen, wenn die im Unglauben Gestorbenen vor dem großen weißen Thron gerichtet werden.
1,15 Christus kommt, um »Gericht auszuüben gegen alle«. Der Rest des Verses zeigt uns, dass mit »alle« hier »alle« Ungläubigen gemeint sind. Wahre Gläubige werden nicht dazugehören. Durch den Glauben an Christus werden sie vom Gericht verschont. Ihnen wird nämlich bereits in Johannes 5,24 verheißen: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen.« Als Menschensohn, dem alles Gericht übergeben worden ist, wird der Herr Jesus »alle Gottlosen … überführen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von all den harten Worten, die gottlose Sünder gegen ihn geredet haben«. Viermal finden wir in diesem Vers das Wort »gottlos«. Die Menschen sind gottlos, ihre Werke sind gottlos, ihre Verhaltensweisen sind gottlos, und sie reden gottlos, indem sie den Herrn lästern. Er wird sie von aller »Gottlosigkeit« überführen, nicht in dem Sinne, dass er ihnen ein starkes Schuldgefühl eingibt, sondern indem er die Strafe für ihre bewiesene Schuld verkündet.
1,16 Die gottlosen Worte und Taten der Abtrünnigen werden nun genauer beschrieben. Sie »sind Murrende«, die sich ständig über die Ratschlüsse Gottes beklagen, statt für seine Gnade dankbar zu sein. Die Tatsache, dass Gott solche Klagen hasst, wird durch seine Bestrafung Israels in der Wüste ausreichend dokumentiert.
Sie geben dem Herrn immer wieder die Schuld. Warum erlaubt er Kriege und Leid? Wieso beendet er nicht alle soz iale Ungerechtigkeit? Weshalb kann er die Welt nicht verändern, wenn er allmächtig ist? Sie geben auch den Angehörigen des Volkes Gottes immer wieder die Schuld, engherzig im Glauben und puritanisch in ihrem Verhalten zu sein. Sie leben nach ihren Lüsten, fördern die Begierde des Fleisches und schreien immer am lautesten, wenn sexuelle Freiheit gefordert wird.
Ihre arrogante Redeweise erreicht die Aufmerksamkeit der Menschen. Ihre schockierende Parteinahme für politischen, ökonomischen und sozialen Extremismus sichert ihnen einen Platz in den Schlagzeilen. Und ihre dreiste, schamlose Ablehnung der christlichen Grundlehren (etwa ihre Behauptung, dass Gott tot sei) verschafft ihnen eine gewisse Anerkennung unter den liberalen Theologen. Schließlich sind sie noch Meister im Schmeicheln und Heucheln. Damit erwerben sie sich eine Gefolgschaft und dazu noch ein gutes Einkommen. Dieses Porträt ist zutreffend und genau. Es bestätigt sich fast täglich in den Medien der Welt.
III. Die Aufgabe des Gläubigen inmitten des Abfalls (1,17-23)
1,17 Judas verlässt nun die Beschreibung der Abtrünnigen und wendet sich der Rolle der Gläubigen zu, die inmitten dieser Mietlinge leben müssen. Zunächst erinnert er die Gläubigen daran, dass sie vor dem kommenden Verderben im Vora us gewarnt wurden. Dann ermutigt er sie, in ihrem geistlichen Zustand unerschütterlich und standhaft zu bleiben. Schließlich rät er ihnen noch, ihre Unterscheidungsgabe dazu zu benutzen, um denen zu dienen, die den Abtrünnigen in die Falle gegangen sind.
Die »Apostel« haben das Aufkommen von Irrlehrern vorausgesagt. Dies kann man in den Schriften des Paulus (Apg 20,29.30; 1. Tim 4,1-5; 2. Tim 3,1-9), Petrus  (2. Petr  2,1-22;  3,1-4)  und  Johannes (1. Joh 2,18.19) nachlesen.
1,18.19 Ihre Botschaft besagte im Wesentlichen, »dass am Ende der Zeit Spötter« aufkommen werden, die »ihren gottlosen Begierden« folgen. Diesem Zeugnis fügt nun Judas die Erklärung hinzu, dass diese Spötter drei charakteristische Eigenschaften haben. Sie sind »irdisch gesinnt«, das heißt, dass sie fleischlich denken und handeln. Sie »verursachen Trennungen«, indem sie Jünger um sich sammeln und eventuell die Menschen in verschiedene Klassen einteilen, je nachdem, wie weit sie schon in ihrer Abtrünnigkeit fortgeschritten sind. Sie haben »den Geist nicht«. Sie sind niemals wiedergeboren worden und können daher geistliche Tatsachen nicht verstehen.
1,20 Die Zuflucht für den Gläubigen ist es natürlich, sich nahe beim Herrn zu halten und in ununterbrochener Gemeinschaft mit ihm zu leben. Doch wie geschieht das? Judas nennt vier Schritte. Der erste Schritt ist: »Erbaut euch auf eurem heiligsten Glauben«, d. h. auf dem christlichen Glauben. Wir erbauen uns selbst, indem wir die Bibel studieren und ihr gehorchen. Ständige Vertrautheit mit dem Wort führt uns auf einen Weg der Gerechtigkeit und warnt uns vor den Gefahren auf dem Weg. »Menschen mögen die Lehre schlechtmachen«, sagt H. Pickering, »doch der Glaube bringt eine entsprechende Wesensart hervor, nicht die Wesensart den Glauben.« Der zweite Schritt ist: »Betet im Heiligen Geist.« Das bedeutet, so zu beten, wie man vom Geist geleitet wird. Man befindet sich dabei im Einklang mit dem Willen Gottes, wie er sich durch die Bibel offenbart oder wie er dem Gläubigen durch den Geist auf subjektive Weise geoffenbart worden ist. Das steht im Gegensatz zu Gebeten, die mechanisch aufgesagt oder ohne echte geistliche Beteiligung heruntergeleiert werden.
1,21 Als Nächstes sollen Gläubige sich »in der Liebe Gottes … erhalten«. Hier kann man die Liebe Gottes mit dem Sonnenlicht vergleichen. Die Sonne scheint immer. Doch wenn etwas zwischen uns und die Sonne tritt, dann stehen wir nicht mehr im Sonnenlicht. Genauso ist es mit der Liebe Gottes. Sie scheint immer auf uns herab. Doch wenn sich Sünde zwischen uns und den Herrn schiebt, dann genießen wir seine Liebe in der Praxis nicht mehr. Wir können uns in dieser »Liebe« in erster Linie dadurch »erhalten«, dass wir ein geheiligtes und gottesfürchtiges Leben führen. Und wenn doch eine Sünde dazwischenkommt, dann sollten wir diese Sünde sofort bekennen und uns davon abkehren. Das Geheimnis liegt darin, es nicht zuzulassen, dass sich etwas zwischen uns und Gott schiebt und uns von ihm trennt:
Nichts kann uns von Dir mehr scheiden, nichts kann uns verdammen mehr, weder Tod, noch Schmach, noch Leiden, noch des Satans mächt’ge Heer’. Ewig sind wir, Dir zum Ruhm, Dein erkauftes Eigentum. Carl Brockhaus
Und schließlich sollten wir eifrig »die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus … zum ewigen Leben« erwarten. »Die Barmherzigkeit unseres Herrn« ist hier seine bevorstehende Wiederkunft, um sein Volk in den Himmel zu holen. In Zeiten der Finsternis und des Abfalls sollen wir die Flamme der seligen Hoffnung in unseren Herzen brennen lassen. Sie wird sich als tröstende und reinigende Hoffnung erweisen (1. Thess 4,18; 1. Joh 3,3).
1,22 Ein gewisses Maß an geistlicher Unterscheidungsgabe ist notwendig, wenn man mit den Opfern des Abfalls zu tun hat. Die Schrift unterscheidet zwischen der Art, wie wir die aktiven Vertreter wahrheitsfeindlicher Irrlehren und deren Verbreiter behandeln sollen, und der Umgangsweise gegenüber denjenigen, die von ihnen betrogen worden sind. Im Falle der Führungspersönlichkeiten und Verbreiter von Irrlehren ist das Verhalten in  2. Johannes  10.11  vorgegeben:  »Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht! Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken.« Doch wenn wir zu denen sprechen, die von Irrlehrern betrogen worden sind, rät Judas, hier zu »unterscheiden« (vgl. Schl 2000)(1,22) Die Entscheidung für die richtige Lesart wird in diesem Fall noch durch die Tatsache kompliziert, dass das griechische Verb diakrinomai sowohl »zweifeln« als auch »unterscheiden« heißen kann. und gibt zwei verschiedene Handlungsweisen vor.
»Der einen« sollen wir uns »erbarmen«. Das heißt, wir sollten uns voller Mitgefühl für sie interessieren und versuchen, sie aus den Zweifeln und Streitgesprächen zu einer festen Überzeugung hinsichtlich der göttlichen Wahrheit zu führen.
1,23 Dann gibt es diejenigen, die am Rande des Abgrunds stehen, und schon fast in die Flammen der Abtrünnigkeit gefallen sind. Diese sollen wir »retten«, indem wir sie ernsthaft warnen und bel eh ren und »sogar das vom Fleisch befleckte Kleid« hassen. Im AT war die Kleidung eines Aussätzigen unrein und musste verbrannt werden (3. Mose 13,47-52). Heute müssen wir an Folgendes denken, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die in sexuelle Sünden gefallen sind: Mater ielle Dinge,  wie  z. B.  Kleidung,  können  oftmals die Begierde hervorrufen. Wenn wir so etwas sehen oder fühlen, gibt es gedankliche Verbindungen mit bestimmten Sünden. Wenn wir also mit Menschen umgehen, die sich verunreinigt haben, müssen wir sorgfältig alles vermeiden, was in unserem Leben zur Versuchung werden könnte. Ein unbekannter Autor hat dies einmal so ausgedrückt:
Die Kleidung, die zu einem Menschen gehört, kann die Assoziation und die Infektion mit der Sünde, den Bazillus des Bösen, an sich haben. Was immer man mit einem Sündenleben in Verbindung bringt, es sollte weggeworfen und aufgegeben werden, wenn wir vor einer Infektion mit dieser seelenzerstörenden Krankheit sicher sein wollen.
J. B. Mayor warnt:
Während es die Pflicht des Christen ist, für den Sünder zu beten und Mitleid mit ihm zu haben, muss er sehr vorsichtig mitallem umgehen, das Spuren der Sünde an sich trägt.(1,23) J. B. Mayor, The Epistle of St. Jude and the Second Epistle of St. Peter, S. 51.
1,24 Judas schließt mit einem wunderbaren Segen. Lobpreis und Anbetung werden »dem« dargebracht, der »vermag«. Er vermag zu retten (Hebr 7,25), zu befestigen (Röm 16,25), zu helfen (Hebr 2,18) und zu unterwerfen (Phil 3,21) – und hier vermag er »zu bewahren«. Er vermag, uns im vollkommenen Frieden zu erhalten (Jes 26,3), und er vermag, uns bis zu jenem Tag das anvertraute Gut zu erhal- ten (2. Tim 1,12). Er vermag, mehr zu tun, als wir erbitten oder erdenken können (Eph 3,20), und er vermag, uns(1,24) Der Mehrheitstext liest statt »euch« »sie«, womit diejenigen gemeint sind, die in den vorigen Versen in Sünde gefallen waren und denen geistliche Christen helfen möchten. »ohne Straucheln zu bewahren«. Diese letzte Verheißung ist besonders für die Zeit des Abfalls angemessen, die Judas erwähnt.
Doch hier endet die Verheißung nicht. Gott kann uns »vor seine Herrlichkeit tadellos mit Frohlocken hinstellen«. Das ist wunderbar! Denken wir daran, was wir einst waren – tot in Sünden und Übertretungen. Halten wir uns vor Augen, was wir sind – arme, schwache und irrende Diener. Stellen wir uns dann vor, dass wir eines Tages völlig »tadellos« und »mit Frohlocken« im Thronsaal des Universums stehen werden – welch eine Gnade!
1,25 Gott ist nicht derjenige, der uns erhält und vollkommen macht, sondern er ist auch »Gott, unser Heiland«(1,25) Wenn man den Fußnotenteil der revidierten Elberfelder Bibel liest, dann zeigt sich, dass NA (der größtenteils dem alexandrinischen Text folgt) eher kürzer ist (d. h. Worte auslässt) als TR oder der Mehrheitstext. Wenn NA also etwas hinzufügt, so ist dies besonders interessant. In Vers 25 sind in TR folgende Worte nicht enthalten: »alleinig«, »durch Jesus Christus, unseren Herrn« und »vor aller Zeit«. Ausgelassen wird von NA jedoch die Wendung »allein weise«. Vielleicht wurde der überall bekannte Segen des Judas in den ägyptischen Gemeinden in dieser längeren Form zitiert.. Es ist ein Wunder, dass Gott so interessiert an uns ist, dass er unser »Heiland« geworden ist. Dies geschah in dem Sinne, dass er den Plan gefasst hat, wodurch wir gerettet wurden, und seinen sündlosen Sohn als Opferlamm dahingab. »Der allein weise ist« (Schl 2000) – letztlich kommt alle Weisheit von Gott (vgl. Jak 1,5). Unsere Weisheit entspringt nur der Quelle dieser Weisheit, dem allein weisen Gott.
»Herrlichkeit« – das ist die große Ehre, die ihm aufgrund seines Wesens und all seiner Taten gebührt. »Majestät« – dies umfasst die Würde und Pracht, die er als oberster Herrscher des Universums verdient. »Gewalt« – das beinhaltet seine un- angefochtene Herrschaft, die ihm infolge seiner Stellung als souveräner Gott zusteht. Und »Macht« oder Autorität – da- mit sind die Macht und das Recht gemeint, über alles zu herrschen, was seine Hand erschaffen hat.
Er war eines solchen Lobes in der Vergangenheit wert, er ist es in der Gegenwart, und er wird es in alle Ewigkeit sein. Abtrünnige und Irrlehrer mögen versuchen, ihn seiner »Herrlichkeit« zu berauben, seine »Majestät« zu beschneiden, sich gegen seine »Gewalt« aufzulehnen und seine »Macht« herauszufordern. Doch alle echten Gläubigen finden ihre größte Erfüllung in der Verherrlichung Gottes, und dürfen seine Nähe »jetzt und in alle Ewigkeiten« genießen. »Amen.«
1,1.2 Der erste Vers kündigt das Thema des Buches an, nämlich dasjenige, »was bald geschehen muss«. Das Buch der Offenb arung ist in erster Linie eine Enthüllung der Zukunft. Diese »Offenbarung« zukünftiger Ereignisse wurde »Jesus Christus« von Gott gegeben. Der Herr Jesus wiederum hat sie seinem »Engel« anvertraut, und dieser Engel verkündigte »sie seinem Knecht Johannes«. Das Ziel des Johannes beim Schreiben dieses Buches bestand darin, diese Informationen den »Knechten« des Herrn, d. h. allen wahren Gläubigen, mitzuteilen. Indem Johannes dies tat, hat er das prophetische »Wort … bezeugt«, das »Gott« zu ihm gesprochen hat. Das Gleiche traf auf »das Zeugnis« zu, wofür »Jesus Christus« der Zeuge war. Kurz gesagt, Johannes bezeugte »alles, was er« in seinen himmlischen Visionen »sah«.
1,3 Es war offensichtlich Gottes Absicht, dass dieses Buch in den Gemeinden vorgelesen wurde, weil er denen besonderen Segen verheißen hat, die es laut »lesen«, und denen, die es in der Versammlung »hören« und sich zu Herzen nehmen. »Die Zeit« der Erfüllung der Prophezeiungen war »nahe«.
1,4 »Johannes« richtet das Buch an die »sieben Gemeinden, die« in der römischen Provinz »Asien« lagen. Diese Provinz lag in Kleinasien (dem Westteil der heutigen Türkei). Zunächst wünscht Johannes diesen Gemeinden »Gnade und Friede«. »Gnade« ist das unverdiente Wohlwollen Gottes und die Kraft, die man Tag für Tag zu einem christlichen Leben braucht. »Friede« ist die daraus folgende Ruhe, die es dem Gläubigen ermöglicht, Verfolgung, Leid und sogar Tod zu ertragen. Gnade und Friede sollen von der Dreieinheit kommen. Sie kommen »von dem, der ist und der war und der kommt«. Das bezieht sich auf Gott den Vater und ist die Bedeutung des Namens Jahwe. Er ist der Ewige, und er bleibt immer derselbe. Gnade und Friede kommen aber auch »von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind«. Das bezieht sich auf Gott den Heiligen Geist in seiner Fülle, wobei sieben die Zahl der Vollkommenheit und Vollständigkeit ist. Es ist nicht erstaunlich, dass sich die Zahl Sieben und entsprechende Ableitungen in diesem letzten Buch der Bibel etwa 60-mal finden.
1,5 Gnade und Friede kommen aber auch »von Jesus Christus, der der treue Zeuge ist, der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige der Erde«. Dies beschreibt eindeutig Gott den Sohn. Er ist der verlässlichste »Zeuge«. Als »Erstgeborener der Toten« ist er der Erste, der von den »Toten« auferstanden ist, um nie mehr zu sterben. Darüber hinaus ist er derjenige, der den Ehrenplatz und die Vorrangstellung vor allen hat, die aus den Toten auferstanden sind, um das ewige Leben zu genießen. Er ist auch der »Fürst« über alle irdischen »Könige«. Nach seinem einleitenden Gruß schreibt Johannes einen Lobpreis auf den Herrn Jesus. Zunächst einmal nennt er unseren Heiland denjenigen »der uns liebt3 und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut«. Man beachte die Zeitformen der Verben: Der Begriff »liebt« drückt eine allezeit gültige Wahrheit aus, »gewaschen« dagegen ein vergangenes, vollendetes Werk. Man beachte auch die Reihenfolge: Er liebt uns, und er hat uns schon geliebt, ehe er uns »gewaschen hat«. Und man beachte den Preis, den er dafür gezahlt hat: »in seinem Blut«. Wenn wir uns ehrlich selbst betrachten, dann müssen wir zugeben, dass die Kosten eigentlich zu hoch waren. Wir haben es nicht verdient, zu solch einem ungeheuren Preis »gewaschen« zu werden.
1,6 Seine Liebe machte jedoch beim Waschen nicht halt, obwohl das möglich gewesen wäre. Er machte uns »zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater«. Als heilige »Priester« bringen wir Gott geistliche Opfer dar: unser Leben, unseren Besitz, unseren Lobpreis und unseren Dienst. Als königliche »Priester« verkündigen wir die Tugenden dessen, der uns aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat. Wenn wir über eine solche Liebe nachsinnen, dann können wir nur folgern, dass ihm alle »Herrlichkeit«, Ehre und Anbetung sowie aller Lobpreis gebühren. All das sollen wir ihm bringen, sooft und so viel wir können. Und er ist würdig, die »Macht« über unser Leben, über die Gemeinde, die Welt und das gesamte Universum auszuüben. »Amen.«
1,7 Dieser Eine »kommt« einst in Triumphwagen wieder. Er wird mit den »Wolken« kommen. Seine Wiederkunft wird weder unsichtbar noch an einen Ort gebunden sein, weil »jedes Auge ihn sehen wird« (vgl. Matth 24,29.30). Die Menschen, die an seiner Kreuzigung schuld waren, werden entsetzt sein. Ja, »alle Stämme der Erde« werden »seinetwegen« tief trauern, weil er als Richter über seine Feinde und zur Aufrichtung seines Reiches kommt. Gläubige trauern bei seinem Kommen nicht, sondern sagen: »Ja, Amen«.
1,8 Hier wechselt nun der Sprecher. Der Herr Jesus stellt sich als »das Alpha und das Omega« vor (Alpha und Omega sind der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets), als »Anfang und das Ende« (Schl 2000).4 Er steht über Zeit und Ewigkeit, und alle noch so vortrefflichen Worte reichen nicht, um ihn zu beschreiben. Er ist der Ursprung und das Ziel der Schöpfung. Er hat mit der Durchführung des göttlichen Plans für die Welt begonnen und wird ihn auch zu Ende führen. Er »ist«, er »war«, und er »kommt« – ewig von seinem Wesen her und »der Allmächtige« hinsichtlich seiner Vollmacht.
B. Die Vision des Christus im Richtergewand (1,9-20)
1,9 Nun kommen wir zurück zu »Johannes«, der sich als »Bruder und Mitgenosse« aller Gläubigen »in der Drangsal und dem Königtum und dem Ausharren in Jesus« vorstellt. Er verbindet hier »Drangsal«, Geduld (»Ausharren«) und das »Königtum«. Paulus hat sie in Apostelgeschichte 14,22 ähnlich verbunden, als er die Gläubigen ermahnte, »im Glauben zu verharren«, weil »wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen«.
Johannes war im Gefängnis »auf der Insel … Patmos« in der Ägäis, weil er »dem Wort Gottes und« dem »Zeugnis Jesu« treu geblieben war. Doch sein Gefängnis wurde für ihn zu einem Vorhof des Himmels, als er die Visionen der Herrlichkeit Gottes und des Gerichts empfing.
1,10 Johannes  war  »im  Geist«,  d. h. er wandelte in ungebrochener Gemeinschaft mit ihm und befand sich so in der richtigen Haltung, um göttliche Mitteilungen zu empfangen. Das erinnert uns daran, dass man die innige Gemeinschaft des Geistes pflegen muss, um recht hören zu können. »Der Herr zieht ins Vertrauen, die ihn fürchten« (Ps 25,14). Es war »an des Herrn Tag«, d. h. am ersten Tag der Woche. Am ersten Tag der Woche war Christus auferstanden und zweimal seinen Jüngern erschienen. Außerdem war der Heilige Geist zu Pfingsten, an einem ersten Tag der Woche, gekommen. (Dies ergibt sich aus den Anweisungen zum Fest der Wochen, das gewissermaßen der alttestamentliche Vorläufer des Pfingstfestes war [vgl. 3. Mose 23,1516]; Anm. d. Übers.) Die Jünger versammelten sich zum Brotbrechen am Tag des Herrn, und Paulus wies die Korinther an, am ersten Tag der Woche eine Sammlung durchzuführen. Einige sind der Ansicht, dass Johannes die Zeit des Gerichts meint, worüber er schreiben will, doch im griechischen Urtext des NT steht dafür ein anderer Ausdruck.5
Plötzlich »hörte« Johannes »hinter« sich eine »Stimme«, die so klar und laut erklang wie eine »Posaune«.
1,11.12 Jesus sprach und wies ihn an, »ein Buch« über das zu schreiben, was er sehen würde. Dann sollte er »es den sieben Gemeinden« senden. Als er sich umwandte, um den Sprecher zu sehen, sah Johannes »sieben goldene Leuchter«, von denen jeder einen Fuß und offenbar einen einzigen aufrechten Arm hatte, an dessen oberen Ende sich eine Öllampe befand. (Gemäß dieser Aussage unterschieden sich die hier erwähnten Leuchter vom goldenen siebenarmigen Leuchter im Zelt der Begegnung bzw. im Tempel hinsichtlich der Anzahl der Arme; Anm. d. Übers.)
1,13 Die Person »inmitten der Leuchter« war einer »gleich einem Menschensohn«. Zwischen ihm und den einzelnen »Leuchtern« stand nichts, kein Vermittler, keine Hierarchie oder Organisation. Jede Gemeinde war eigenständig. Im Blick auf die Beschreibung des Herrn durch Johannes sagt McConkey:
Der Heilige Geist durchkämmt geradezu den Bereich der Natur, um Symbole zu erhalten, die unserem trägen und begrenzten Verstand eine schwache Vorstellung der Herrlichkeit, des Glanzes und der Majestät dieses Kommenden geben, der der Christus der Offen barung ist.6
Sein »Gewand« war eine lange Richterrobe. Der »Gürtel« um seine »Brust« steht für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit seines Richterspruches (vgl. Jes 11,5).
1,14 »Sein Haupt aber und die Haare waren weiß wie weiße Wolle«. Damit soll seine Ewigkeit (die ewige Existenz des »Alten an Tagen«; Dan 7,9.13), aber auch seine Weisheit und die Reinheit seiner Richtersprüche dargestellt werden. »Augen wie eine Feuerflamme« künden von vollkommener Erkenntnis, tiefer Einsicht und unbestechlicher Genauigkeit.
1,15 Die »Füße« des Herrn waren »gleich« poliertem »Erz, als glühten sie im Ofen«. Weil Erz in der Bibel durchgängig ein Bild für das Gericht ist, unterstützt dieser Vers die Ansicht, dass es hier in erster Linie um das Richteramt Christi geht. »Seine Stimme« tönte wie die Wellen des Meeres oder wie ein Wasserfall in den Bergen, majestätisch und Furcht einflößend.
1,16 »Er hatte in seiner rechten Hand sieben Sterne«, was Besitz, Macht, Kontrolle über die Sterne und Ehre andeutet. »Aus seinem Mund ging ein zweischneidiges, scharfes Schwert hervor«, das Wort Gottes (Hebr 4,12). Hier bezieht sich das Bild auf die scharfsinnigen und gerechten Urteile über sein Volk, wie sie sich in den Briefen an die sieben Gemeinden zeigen. »Sein Angesicht« leuchtete »wie die Sonne« zur Mittagszeit und zeigte den wunderbaren Glanz sowie die Herrlichkeit seiner Gottheit.
Wenn wir alle diese Gedanken zusammenfügen, dann sehen wir Christus in all seiner Vollkommenheit als unbestechlichen und mächtigen Richter über die sieben Gemeinden. Später in diesem Buch wird er auch seine Feinde richten, doch »das Gericht (muss) anfangen beim Haus Gottes« (1. Petr 4,17). Man beachte jedoch, dass es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Gerichte handelt. Die Gemeinden werden mit dem Ziel der Reinigung und Belohnung gerichtet, die Welt dagegen zur Bestrafung.
1,17 Als Johannes den Richter sieht, bricht er »zu seinen Füßen wie tot« zusammen, doch der Herr richtet ihn wieder auf, indem er sich als »der Erste und der Letzte« zu erkennen gibt, was einer der Titel Jahwes ist (Jes 44,6; 48,12).
1,18 Der Richter ist der Lebendige, der »tot war«, doch nun »lebendig in alle Ewigkeit« ist. Er hat »die Schlüssel des Todes und des Hades« und damit die Kontrolle und die einzigartige Fähigkeit, die Toten aufzuerwecken. »Hades« steht hier für die Seele und »Tod« für den Leib. Wenn jemand stirbt, dann kommt die Seele in den »Hades«, ein Begriff, der als Beschreibung für den körperlosen Zustand dient. Der Leib liegt im Grab. Für den Gläubigen ist der körperlose Zustand gleichbedeutend damit, beim Herrn zu sein. Bei der Auferstehung wird die Seele mit dem verherrlichten Leib wiedervereinigt und ins Vaterhaus entrückt (emporgehoben).
1,19 Johannes muss nun »schreiben, was« er »gesehen« hat (Kap. 1), »was ist« (Kap.  2 – 3)  »und  was  nach  diesem  geschehen wird« (Kap. 4 – 22). Damit wird die allgemeine Einteilung des Buches vorgegeben.
1,20 Der Herr erklärt nun Johannes die verborgene Bedeutung der »sieben Sterne« und der »sieben goldenen Leuchter«. Die »Sterne sind Engel« oder Boten der »sieben Gemeinden«, während die »Leuchter« die »sieben Gemeinden« selbst darstellen.
Verschiedene Erklärungen sind für die »Engel« angeboten worden. Einige Ausleger behaupten, dass es sich um Engelwesen handelt, die die Gemeinden vertreten, so wie Engel auch Nationen repräsentieren (Dan 10,13.20.21). Andere meinen dagegen, dass es sich um die Aufseher (oder Hirten) dieser Gemeinden handelt, eine Erklärung, die vom biblischen Text her nicht unterstützt wird. Noch andere sagen, dass es sich um menschliche Boten handelt, die die Briefe bei Johannes in Patmos abgeholt und sie den einzelnen Gemeinden überbracht haben. Dasselbe griechische Wort (angelos) kann entweder Engel oder Bote bedeuten, doch in diesem Buch ist die erstere Bedeutung wesentlich wahrscheinlicher.
Obwohl die Briefe an »Engel« gerichtet sind, ist der Inhalt doch deutlich für alle Menschen in den Gemeinden bestimmt.
Die »Leuchter« waren Lichtträger und damit ein geeignetes Symbol der Ortsgemeinden, die für Gott inmitten der Finsternis dieser Welt Lichter sein sollen. II. Was ist: Briefe von unserem Herrn (Kap. 2 – 3)
In den Kapiteln 2 und 3 haben wir einzelne Briefe, die an sieben Gemeinden in Kleinasien gerichtet sind. Die Briefe können auf mindestens dreierlei Weise gedeutet werden. Zunächst einmal beschreiben sie den Zustand, der wirklich in diesen sieben Ortsgemeinden herrschte, als Johannes diese Briefe verfasste. Zweitens geben sie uns eine Übersicht über die verschiedenen Merkmale der Christenheit auf der Erde zu jedem einzelnen Zeitpunkt der Geschichte. Die hier beschriebenen Eigenschaften haben zumindest zum Teil in jedem der bisherigen Jahrhunderte seit Pfingsten gleichzeitig existiert. In dieser Hinsicht gleichen sie sehr den sieben Gleichnissen in Matthäus 13. Schließlich geben uns die Briefe noch eine Sicht der Aufeinanderfolge in der Geschichte des Christentums, wobei jede Gemeinde für einen bestimmten Zeitabschnitt steht. Der generelle Trend der Entwicklung geht abwärts. Viele Ausleger glauben, dass die ersten drei Briefe aufeinanderfolgende Abschnitte beschreiben, während die letzten vier Zustände gleichzeitig bestehen, und zwar bis zur Entrückung. Nach der dritten Ansicht werden die Epochen der Kirchengeschichte, wofür die einzelnen Gemeinden stehen, generell so angegeben:
Ephesus: Die Gemeinde des 1. Jahrhunderts war allgemein zu loben, doch hatte sie bereits ihre erste Liebe verloren. Smyrna: Vom 1. bis zum 4. Jahrhundert litt die Kirche unter der Verfolgung durch die römischen Kaiser. Pergamon: Während des 4. und 5. Jahrhunderts wurde das Christentum durch Konstantins Unterstützung zunächst als offizielle Religion geduldet und später als solche anerkannt.
Thyatira: Vom 6. bis zum 15. Jahrhundert hatte in der westlichen Christenheit die römisch-katholische Kirche die Herrschaft, bis sie durch die Reformation erschüttert wurde. Im Osten herrschte die orthodoxe Kirche.
Sardes: Das 16. und 17. Jahrhundert war die reformatorische und nachreformatorische Zeit. Nachdem die Reformation viel Licht gebracht hatte, begann das Licht biblischer Erkenntnis bald schwächer zu werden.
Philadelphia: Während des 18. und 19. Jahrhunderts gab es große Erweckungen und große missionarische Bewegungen.
Laodizea: Die Kirche der letzten Tage wird als lauwarm und abtrünnig dargestellt. Es handelt sich um die Kirche des Liberalismus und der Ökumene. Alle Briefe haben einen ähnlichen Aufbau.  Jeder  beginnt  z. B.  mit  einem  Gruß an die jeweilige Gemeinde, jeder zeigt den Herrn Jesus in einer Rolle, die besonders zu dieser Gemeinde passt, jeder beschreibt sein Wissen über die Werke dieser Gemeinde, eingeleitet durch die Worte »ich kenne«. Außer bei Laodizea gibt es über alle Gemeinden etwas Gutes zu sagen, alle mit Ausnahme von Smyrna und Philadelphia werden ermahnt. Jede Gemeinde wird besonders ermahnt, zu hören, was der Geist den Gemeinden sagt, und jede Gemeinde erhält eine besondere Verheißung für die Überwinder. Jede Gemeinde hat ihren eigenen Charakter. Phillips hat ihnen die folgenden Titel verliehen, die die jeweils vorherrschenden Merkmale beschreiben: Ephesus – die Lieblose, Smyrna – die Verfolgte, Pergamon – die zu Tolerante, Thyatira – die Kompromissbereite, Sardes – die Schlafende, Philadelphia – die Auskaufende, Laodizea – die Zufriedene. Walvoord beschreibt die Probleme der Gemeinden folgendermaßen:
1. Verlust der ersten Liebe, 2. Angst vor Verfolgung, 3. lehrmäßige Verirrung, 4. moralische Abweichung, 5. geistlicher Tod,
6. Gefahr der Aufgabe der geschenkten geistlichen Güter, und
7. Lauheit.7
A. An Ephesus (2,1-7)
2,1 Der Herr stellt sich »der Gemeinde in Ephesus« als der Eine vor, »der die sieben Sterne in seiner Rechten hält« und »inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt«. Die meisten Beschreibungen des Herrn in diesen Briefen ähneln denjenigen in Kapitel 1.
2,2 Die Gemeinde zeichnete sich durch ihre vielen »Werke«, ihre große »Mühe« und ihr geduldiges »Ausharren« aus. Sie wollte »Böse« in ihrer Gemeinde nicht tolerieren. Sie hatte die Fähigkeit, falsche Apostel zu erkennen und sie entsprechend zu behandeln.
2,3.4 Um Christi Namen willen hatte sie Versuchungen und Feindschaft mit »Ausharren« ertragen und hatte gearbeitet, ohne »müde« zu werden. Doch die Tragödie der Gemeinde in Ephesus bestand darin, dass sie ihre »erste Liebe« verloren hatte. Das Feuer der Zuneigung war heruntergebrannt. Der glühende Eifer der ersten Zeit war verschwunden. Die Christen konnten auf bessere Tage zurücksehen, als das Feuer ihrer ersten Liebe zu Christus noch entzündet war und noch hell und weithin sichtbar aufloderte. Sie hatten noch gesunde Lehren und waren aktiv im Dienst, doch das wirkliche Motiv allen Dienstes für den Herrn war ihnen abhandengekommen.
2,5 Sie sollten an die erfreuliche Anfangszeit ihres Glaubenslebens »denken«, angesichts ihres Abfalls von der ersten Liebe »Buße« tun und sich wieder dem hingegebenen Dienst widmen, der sie zu Beginn ihres Christseins kennzeichnete. Anderenfalls würde Christus den »Leuchter« in Ephesus »von seiner Stelle  wegrücken«,  d. h.  die  Gemeinde würde aufhören zu existieren. Ihr Zeugnis würde aussterben.
2,6 Ein weiteres lobendes Wort erwähnt ihren Hass auf »die Werke der Nikolaiten«. Wir können nicht genau wissen, wer diese Menschen waren. Einige sind der Ansicht, dass es sich um Anhänger eines Sektenführers namens Nikolaus gehandelt hat. Andere Ausleger weisen darauf hin, dass der Name so viel bedeutet wie »Siegreicher des Volkes« bzw. »Herrscher über die Laien«, und sehen darin einen Hinweis auf das Aufkommen des Klerus.
2,7 Diejenigen, die Ohren haben, Gottes Wort zu hören, werden ermutigt, auf das zu hören, »was der Geist den Gemeinden sagt«.
Dann wird dem Überwinder eine Verheißung geschenkt. Im Allgemeinen ist ein Überwinder im NT jemand, der glaubt, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist (1. Joh 5,5), mit anderen Worten, ein echter Gläubiger. Sein Glaube ermöglicht es ihm, die Welt mit all ihren Versuchungen zu überwinden. Vielleicht enthält das Wort in jedem der Briefe noch einen zusätzlichen Gedanken, der zum jeweiligen Zustand der Gemeinde gehört. So kann es sein, dass ein Überwinder in Ephesus jemand ist, der echten Glauben zeigt, indem er Buße tut, wenn er von seiner ersten Liebe abgekommen ist. All diesen Überwindern wird Christus »zu essen geben von dem Baum des Lebens, welcher in dem Paradies Gottes ist«. Das bedeutet nicht, dass sie durch ihr Überwinden gerettet werden. Vielmehr bestätigt ihr Überwinden die Echtheit ihres Bekehrungserlebnisses. Menschen können ausschließlich aufgrund des Glaubens an Jesus Christus gerettet werden. Alle Erretteten werden »von dem Baum des Lebens«  essen,  d. h.  sie  werden  das  ewige Leben im Himmel in seiner Fülle genießen.
Man nimmt oft an, dass Ephesus für den Zustand der Gemeinde kurz nach dem Tod der Apostel steht. B. An Smyrna (2,8-11)
2,8 »Smyrna« bedeutet Myrrhe oder Bitterkeit. Hier stellt sich Christus als »der Erste und der Letzte« vor, »der tot war und wieder lebendig wurde«. Diese Beschreibung war für solche Menschen ein besonderer Trost, die jeden Tag vom Tode bedroht waren.
2,9 Mit besonders mitfühlender Zuwendung sagt der Herr seinen leidenden Heiligen, dass er ihre »Drangsal« genau kennt. Von ihrer äußeren Erscheinung her mochten sie arm erscheinen, doch von ihren geistlichen Gütern her waren sie »reich«. Charles Stanley sagte dazu: »Sie hatten die besondere Ehre, ganz nahe bei ihm und ihm ähnlich zu sein – ihm, der keinen Ort hatte, um sein Haupt hinzulegen. Ich habe Folgendes gelernt: Jesus pflegt mit seinen armen Knechten eine besonders innige Gemeinschaft.« Die Heiligen in Smyrna wurden von den Juden sehr hart angegriffen. Die Historiker berichten, mit welchem Eifer diese  Juden  z. B.  an  der  Seite  der  Henker Polykarps standen. (Polykarp erlitt im Jahre 155 in Smyrna den Märtyrertod; Anm. d. Übers.) Als »Juden« behaupteten sie, Gottes auserwähltes Volk zu sein, doch durch ihr lästerliches Verhalten zeigten sie, dass sie »eine Synagoge des Satans« waren.
2,10 Die Christen sollten sich »vor dem nicht fürchten«, was sie bald erleiden müssten. Einige von ihnen würden ins Gefängnis geworfen und durch »Drangsal … zehn Tage … geprüft« werden. Diese Zeitangabe kann sich auf »zehn« Kalendertage im wörtlichen Sinne beziehen, auf »zehn« verschiedene Verfolgungen durch die römischen Kaiser oder auf »zehn« Jahre der Verfolgung unter dem Kaiser Diokletian. Die Gläubigen wurden ermutigt, »treu bis zum Tod« zu sein, d. h. lieber zu sterben, als ihren Glauben an Christus zu widerrufen. Sie werden dafür einst »den Siegeskranz des Lebens« erhalten – eine besondere Belohnung für Märtyrer.
2,11 Und wieder wird der bereitwillige Hörer aufgefordert, auf die Stimme des Geistes zu hören. Dem Überwinder wird verheißen, dass ihm der »zweite Tod« erspart bleibt. Hier ist ein Überwinder jemand, der die Echtheit seines Glaubens beweist, indem er lieber mit einem guten Gewissen in den Himmel kommt, als mit einem schlechten auf Erden zu bleiben. Er wird den zweiten Tod nicht erleiden, womit alle Ungläubigen bestraft werden (20,6.14).
C. An Pergamon (2,12-17)
2,12 »Pergamon« (lat. Pergamum) bedeutet so viel wie hoher Turm oder fest verheiratet. Dieser Brief stellt den Herrn als den Einen vor, »der das zweischneidige, scharfe Schwert« hat. Dieses Schwert ist das Wort Gottes (Hebr 4,12), womit er die Missetäter in der Gemeinde richten wird (s. V. 16).
2,13 Pergamon war die asiatische Hauptstadt des Kaiserkultes: Von daher wird der Ort »Thron des Satans« genannt. Trotz des sie umgebenden Heidentums war die Gemeinde Christus treu geblieben, sogar als eines ihrer Glieder (»Antipas«) um seines Christuszeugnisses willen zum Märtyrer geworden war. Er war der erste bekannte kleinasiatische Christ, der starb, weil er sich weigerte, den Kaiser anzubeten.
2,14.15 »Aber« der Herr musste die Gemeinde tadeln, weil sie es erlaubte, dass Männer mit verderblichen Lehren in ihr geduldet wurden. Es gab auch Menschen, »welche die Lehre Bileams« und »die Lehre der Nikolaiten« festhielten. Die Lehre Bileams gestattete es, »Götzenopfer« zu essen und »Unzucht« zu »treiben«. Diese Bezeichnung steht auch für die Praxis des Predigens um des Gewinnes willen (4. Mose 22 – 25; 31). »Die Lehre der Nikolaiten« ist uns unbekannt. Viele Ausleger sind der Ansicht, dass ihre Anhänger liberal eingestellt waren. Sie lehrten, dass diejenigen, die unter der Gnade lebten, frei waren, Götzendienst auszuüben und sich an sexuellen Ausschweifungen zu beteiligen. Dr. C. I. Scofield verbindet diese Lehre jedoch mit dem Aufkommen des Klerikalismus:
Es geht hier um die Lehre, dass Gott einen »Klerus« eingesetzt hat – Priester, die sich von den »Laien« unterscheiden. Das Wort besteht aus zwei griechischen Worten: niko (Bezwinger oder Überwinder) und laos (das Volk). Das Neue Testament kennt keine »Geistlichen« und noch weniger »Priester«, es sei denn in dem Sinne, dass alle Kinder Gottes in diesem Zeitalter ein »königliches Priestertum« innehaben. In den aposto lischen Gemeinden gab es Dienste: Älteste (oder Bischöfe) und Diakone. Außerdem hatten Gläubige bestimmte Gaben: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer (Eph 4,11). Diese konnten Älteste oder Diakone sein oder auch nicht. Doch gegen Ende der Apostelzeit gab es die Tendenz, den Ältesten die alle inige Autorität über die Verwaltung der Sakramente zu geben. Im ganz allgemeine Sinne ging aus den be treffenden Ältesten ein privilegierter Personenkreis hervor, der zwischen Gott und seinem Volk stand – dies waren die Nikolaiten. Man wird beobachten, dass das, was in Ephesus (in der späten Apostelzeit) »Werke« waren, nun 200 Jahre später in Pergamon (oder der konstantinischen Zeit) zur »Lehre« geworden ist.8
2,16 Wahre Gläubige werden aufgerufen, »Buße« zu tun. Würden sie es tun, dann würden sie wahrscheinlich die Irrlehrer aus ihrer Mitte ausschließen. Anderenfalls würde der Herr selbst gegen diese Menschen mit ihrem verderblichen Einfluss »Krieg … führen«.
2,17 Gehorsame Heilige sollten hören, »was der Geist den Gemeinden sagt«. Dem Überwinder sollten das »verborgene Manna« und ein »weißer Stein« gegeben werden. Der Überwinder in Pergamon könnte das Kind Gottes sein, das sich weigert, Irrlehren in der Ortsgemeinde zu tolerieren. Doch was bedeuten das »verborgene Manna« und der »weiße Stein«? »Manna« ist ein Bild für Christus selbst. Es kann für himmlische Speise stehen, und zwar im Gegensatz zu den Speisen, die den Götzen geopfert waren (V. 14).  »Verborgenes  Manna«  könnte »eine kostbare, verborgene Gemeinschaft mit Christus« sein, »der in der Herrlichkeit als der Leidende bekannt ist«. Der »weiße Stein« ist auf vielerlei Weise erklärt  worden.  Er  war  z. B.  ein  Zeichen der Anerkennung in einem Gerichtsverfahren. Er war außerdem ein Symbol des Sieges in einem Sportwettbewerb. Und schließlich war er Ausdruck des Willkommens, das ein Gastgeber seinem Gast entbot. Es scheint klar zu sein, dass es sich um eine Belohnung handelt, die der Herr dem Überwinder gibt. Damit ist die persönliche Anerkennung dieses Überwinders durch den Herrn gemeint. Alford sagt, dass der »neue Name« anzeigt, dass man von Gott angenommen und für die Herrlichkeit bestimmt ist. Historisch gesehen stellt diese Gemeinde die Zeit kurz nach Konstantin dar, als sich immer engere Beziehungen zwischen Kirche und Staat herausbildeten (im Sinne der Namensbedeutung »fest verheiratet«). Tausende wurden zu Namenschristen, und die Kirche tolerierte heidnische Gebräuche in ihren Reihen.
D. An Thyatira (2,18-29)
2,18 Der Name »Thyatira« bedeutet ewiges Opfer oder ständiges Leiden. In diesem Brief sieht man den Sohn Gottes mit »Augen … wie eine Feuerflamme und Füßen gleich glänzendem Erz«. Die »Augen« künden vom durchbohrenden Blick und die ehernen »Füße« vom drohenden Gericht.
2,19 Diese Gemeinde war in verschiedener Hinsicht einzigartig. Ihr mangelte nicht an »Werken«, »Liebe«, »Glaube«, »Dienst« und geduldigem »Ausharren«. Ihre Werke wurden sogar immer mehr statt weniger.
2,20 Doch unreine Lehren wurden in der Gemeinde geduldet mit der Folge, dass »Unzucht« und Götzendienst praktiziert wurden. Die Gemeinde hatte es erlaubt, dass eine selbst ernannte »Prophetin« namens »Isebel«9 die Diener Gottes zur Sünde verführte. So wie die Isebel des AT Gottes Volk mit Hurerei und Götzenkult ins Verderben gerissen hatte, so lehrte diese Frau, dass Christen diese Dinge praktizieren könnten, ohne zu sündigen. Vielleicht ermutigte sie die Gläu bigen, den Handelsgilden in Thyat ira beizutreten, auch wenn man dabei die Gottheit der Gilde verehren und an Festen teilnehmen musste, bei denen die Speisen vorher den Götzen geopfert waren. Sie rechtfertigte diesen Kompromiss mit der Welt zweifellos damit, dass er dem Anliegen der Gemeinde angeblich nützen würde.
2,21-23 Weil sie nicht »Buße« tun wollte, beabsichtigte der Herr, »sie aufs Bett«  der  Drangsal  (d. h.  aufs  Krankenbett; vgl. Anm. ER; Anm. d. Übers.) statt auf ihr Lustlager zu werfen. Diejenigen, »welche Ehebruch mit ihr treiben«, sollten in »große Drangsal« geraten und sogar sterben, »wenn sie nicht Buße tun« und Isebel verlassen würden. Dann würden »alle Gemeinden erkennen«, dass der Herr achtgibt und den Menschen ihre Taten vergilt. Wahrscheinlich gab es in Thyat ira wirklich eine Prophetin mit Namen Isebel. Doch Ausleger haben in dieser Gestalt auch einen Hinweis auf die Ents tehung eines falschen Kirchensystems gesehen, in dem Bilder angebetet werden, es Ablasshandel gibt und Priester die Absolution von Sünden wie Ehebruch erteilen.
2,24.25 Es gab einen treuen Überrest in Thyatira (die »Übrigen« – alle, »die diese Lehre nicht haben«). Er war nicht in die geheimen Lehren und Riten Isebels eingeweiht, die auch als »die Tiefen Satans« bekannt waren. »Keine andere Last« der Verantwortung wurde ihnen auferlegt, als die Wahrheit festzuhalten, bis Christus wiederkommt.
2,26-28 Die Überwinder in Thyatira waren echte Gläubige, die an den »Werken« des wahren christlichen Glaubens festhielten. Ihre Belohnung wird die Herrs chaft mit Christus während des Taus endjährigen Reiches sein. Sie werden dann »Macht über die Nationen haben« und »sie mit eisernem Stab hüten«. Alle Sünden und alle Auflehnung werden dann hart und sofort bestraft. Der Herr verhieß den Überwindern, »den Morgenstern« zu empfangen. Der Herr Jesus ist der »helle Morgenstern« (22,16). Ebenso wie der Morgenstern vor der Sonne aufgeht, so wird Christus als Morgenstern erscheinen, um seine Gemeinde in den Himmel zu entrücken, ehe er als die Sonne der Gerechtigkeit erscheint, um über die  Erde  zu  herrschen  (1. Thess  4,13-18; Mal 3,20). So wird dem Überwinder Anteil an der Entrückung versprochen. Er verdient dies nicht durch seine Werke, sondern die Werke zeigen die Echtheit seines Glaubens. Weil er wirklich bekehrt ist, wird ihm »der Morgenstern« gegeben.
2,29 In diesem und in den folgenden drei Briefen (Sendschreiben) folgt die entsprechende Formel (»wer ein Ohr hat, höre«) auf die Verheißung an die Überwinder, statt ihr voranzugehen. Das kann darauf hinweisen, dass von diesem Punkt an nur die Überwinder hören sollen, »was der Geist den Gemeinden sagt«. E. An Sardes (3,1-6)
3,1 Sardes bedeutet die Entkommenen oder Erneuerung. Der Herr offenbart sich als der Eine, »der die sieben Geister Gottes und die sieben Sterne hat«. In der Macht des Heiligen Geistes beherrscht er die Gemeinden und ihre Boten. Sardes war die Gemeinde des leblosen Namenschristentums. Sie hatte einen Ruf als christliche Gemeinde, doch ihr »Leben« bestand größtenteils aus festgelegter, langweiliger Routine. Sie floss nicht von geistlichem Leben über. In ihr wurde nicht sichtbar, dass Gott machtvoll am Werk war.
3,2.3 Der Herr rief sie zu neuem Eifer und neuer Anstrengung auf, das zu »stärken«, was noch geblieben war, denn sogar das zeigte schon Anzeichen des Todes. Man hatte viele Projekte für Gott angefangen, sie jedoch nie zu Ende geführt. Christus ermahnte die dortigen Gläubigen, das heilige Gut der Wahrheit zu »bewahren« und angesichts ihrer Leblosigkeit »Buße« zu tun. Wenn sie nicht aufwachen würden, würde er unerwartet »kommen« und zwar als Richter.
3,4 Es gab auch »in Sardes« einen Überrest, der sein christliches Zeugnis nicht verraten hatte. Diese Gläubigen hatten ihre »Kleider nicht« mit Weltförmigkeit »besudelt« und würden mit Christus »einhergehen in weißen Kleidern«.
3,5 Sie waren die Überwinder, deren gerechte Taten sie als echte Gläubige auswiesen. Ihre »weißen Kleider« stehen für ihr gerechtes Leben. Weil sie offensichtlich echte Christen waren, werden ihre Namen nicht »aus dem Buch des Lebens« ausgelöscht werden.
Einige Ausleger sind der Ansicht, dass das »Buch des Lebens« die Namen derer enthält, die leibliches Leben empfangen haben. Nach dieser Ansicht werden diejenigen, die durch ihr Leben beweisen, dass sie wiedergeboren worden sind, nicht aus diesem Buch getilgt, alle anderen jedoch trifft dieses Schicksal. Andere sehen das Buch als ein Verzeichnis derer, die geistliches Leben haben. Ihnen wird verheißen, dass ihre Namen nicht  ausgelöscht  werden,  d. h.  dass  sie ihr Heil nie verlieren. Diese Ansicht bedingt es nicht, dass wie im Falle der zuvor erwähnten Anschauung überhaupt Namen ausgelöscht werden müssen. Die Schrift lehrt durchgängig, dass die Errettung durch Gnade und nicht durch Werke erfolgt. Außerdem gibt es eindeutige Aussagen, wonach der wahre Gläubige ewige Heilsgewissheit hat (Joh 3,16; 5,24; 10,27-29). Aufgrund dessen kann es von Vers 5 her nicht möglich sein, dass ein Kind Gottes wieder verlorengeht. Unser Herr fügt die Verheißung hinzu, dass er die Namen der Überwinder »vor« seinem »Vater« und den »Engeln« des Himmels »bekennen« wird.
3,6 Und wieder werden die Menschen aufgerufen, diese ernste Warnung davor zu hören, ein religiöses Bekenntnis abzulegen, ohne wirklich wiedergeboren zu sein.
Die Gemeinde in Sardes ist oft als Bild für die nachreformatorische Zeit gebraucht worden, in der die Kirche auf Riten bedacht war, sich am Äußeren orientierte, verweltlichte und politisch tätig wurde. Die protestantischen Staatskirchen in Europa und den nordamerikanischen Kolonien (dem Kerngebiet der späteren USA; Anm. d. Übers.) standen bei diesem Abweichen von biblischen Grundsätzen an der Spitze. F. An Philadelphia (3,7-13)
3,7 »Philadelphia« heißt Bruderliebe. Dieser Gemeinde erscheint der Herr als »der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat, der öffnet, und niemand wird schließen, und schließt, und niemand wird öffnen«. Mit anderen Worten, er hat die Macht und die alleinige Kontrolle:
Die geöffnete Tür, die die jüdische Synagoge und die heidnischen Kulte nicht schließen können, ist die von Gott geschenkte Gelegenheit, Christus allen zu predigen, die hören wollen. Der Schlüssel Davids ist eine alttestamentliche Anspielung auf die absolute Souveränität Gottes beim Öffnen von Türen und Verschließen von Mündern. Vgl. Jesaja 22,22.10
3,8 Die Gemeinde in Philadelphia wurde vom Herrn nur gelobt. Die Heiligen waren treu geblieben. Sie hatten eifrig gute »Werke« getan. In ihrer menschlichen Schwachheit hatten sie auf den Herrn vertraut. Infolgedessen war es ihnen gelungen, die Wahrheit zu bewahren, indem sie diese in ihrem Leben verwirklichten. Sie hatten Christi »Namen nicht verleugnet«. Deshalb würde er ihnen die »geöffnete Tür« der Gelegenheit schenken, die »niemand« wieder »schließen« kann.
3,9 Die selbst ernannten »Juden«, die ihnen so erbittert widerstanden hatten, sollten vor diesen einfachen Gläubigen schon bald beschämt werden. Es gab diejenigen, die behaupteten, Gottes auserwähltes Volk zu sein, obwohl sie eigentlich die »Synagoge des Satans« waren. Sie würden gezwungenermaßen zugeben, dass die verachteten Christen in Wirklichkeit die auserwählte Herde waren.
3,10 »Weil« die Philadelphier Gottes Wahrheit festgehalten hatten, indem sie diese den Menschen vorlebten, wird der Herr sie »bewahren vor der Stunde der Versuchung«, die einst »über den ganzen Erdkreis kommen wird«. Dies ist die Verheißung, die Große Trübsal nicht erleben zu müssen, wie sie in den Kapiteln 6 – 19 beschrieben wird. Man beachte, dass sie vor der Stunde der Versuchung bewahrt werden  sollen,  d. h.  vor  der  gesamten Zeitspanne. Auch werden sie aus dieser Zeit (griech. ek) und nicht durch sie hindurch bewahrt werden.
»Die auf der Erde wohnen«, ist ein Fachbegriff, der diejenigen meint, die die Erde zu ihrer Heimat machen. Es sind »Leute, deren Teil im Leben von dieser Welt ist« (Ps 17,14).
3,11 Christi Kommen wird hier den Heiligen als Motiv vor Augen gestellt, standhaft zu erdulden. Sie sollten sich von niemandem den »Siegeskranz« nehmen lassen, den sie schon so bald erhalten werden.
3,12 Der Überwinder wird »zu einer Säule« im Allerheiligsten »Gottes« gemacht werden. Welche Bedeutung dies auch immer haben mag, damit sind jedenfalls Stärke, Ehre und ständige Sicherh eit gemeint. Der Betreffende wird niemals diesen sicheren Freudenort verlassen müssen. Der Überwinder wird drei Namen an sich tragen: »Den Namen … Gottes und den Namen … des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herabkommt von … Gott« und den »neuen Namen« des Herrn Jesus. Man wird also erkennen können, dass er zu allen dreien gehört.
3,13 »Wer ein Ohr hat«, soll auf die Botschaft des Geistes an die »Gemeinden« hören.
Die Gemeinde in Philadelphia wird oft als Symbol für die großen evangelistischen Erweckungen des 18. und 19. Jahrhunderts gesehen. Damals wurde die Wahrheit im Blick auf die Gemeinde und das Kommen Christi neu entdeckt, wobei auch weltweite missionarische Bemühungen einsetzten. Während die evangelikalen Christen eine echte Wiedererweckung in dieser Zeit erlebten, war Satan sehr darauf bedacht, die Gemeinde mit dem Sauerteig der Gesetzlichkeit, des Ritualismus und des Rationalismus zu durchsetzen. G. An Laodizea (3,14-22)
3,14 Der Name »Laodizea« bedeutet entweder das Volk herrscht oder das Gericht über das Volk. Der Herr Jesus nennt sich selbst der »Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes«. Als der »Amen« ist er die Verkörperung von Treue und Wahrheit sowie der Eine, der die Verheißungen Gottes garantiert und sie erfüllt. Er ist auch der Ursprung »der Schöpfung Gottes«, und zwar sowohl der materiellen als auch der geistlichen Schöpfung. Der Ausdruck »der Anfang der Schöpfung Gottes« bedeutet nicht, dass er die erste Person gewesen wäre, die erschaffen wurde, denn er ist von Ewigkeit her. Es bedeutet stattd essen, dass er alle Schöpfung ins Dasein rief. Es heißt hier nicht, dass er einen Anfang hat, sondern vielmehr, dass er der »Anfang« ist. Er ist der Ursprung der Schöpfung Gottes. Und er hat Vorrang vor allem Geschaffenen.
3,15-17 Die Gemeinde in Laodizea war »weder heiß noch kalt«. Sie war »lau« – ein widerlicher Zustand. Dem Herrn wären entweder extreme Abl ehnung oder außergewöhnlicher Eifer lieber gewesen. Aber nein, die Gemeinde war »lau«, und zwar in einem solchen Maße, dass die Menschen zu der Annahme verleitet wurden, es handle sich um eine Gemeinde Gottes. Sie war jedoch so abscheulich »lau« in geistlichen Dingen, dass es den Allerhöchsten mit Ekel erfüllte. Außerdem war die Gemeinde von Stolz, Unwissenheit und Selbstz ufriedenheit geprägt.
3,18 Diesen Menschen wurde nun geraten, vom Herrn »im Feuer geläutertes Gold zu kaufen«. Damit kann göttliche Gerechtigkeit gemeint sein, die man nicht für Geld kaufen (Jes 55,1), aber durch den Glauben an den Herrn Jesus als Geschenk empfangen kann. Dies kann aber auch auf wahren Glauben hindeuten: Wird er »im Feuer geläutert«, wird das zu Lobpreis, Ehre und Anbetung bei der Offenbarung Jesu Christi führen (vgl. 1. Petr 1,7). Auch wurde den Menschen geraten, sich »weiße Kleider« zu kaufen. Dies bedeutet, dass sie praktische Gerechtigkeit im alltäglichen Leben erwerben sollten. Und sie sollten ihre »Augen« mit »Augensalbe  …  salben«,  d. h.  echtes  geistliches Sehvermögen durch die Erleuchtung mit dem Heiligen Geist erstreben. Dieser Rat war besonders angemessen, weil Laodizea als Banken-, Textil- und Pharmam etropole bekannt und besonders für seine Augensalbe berühmt war.
3,19 Die »Liebe« des Herrn zu seiner Gemeinde zeigt sich in der Tatsache, dass er sie ermahnt und züchtigt. Wenn sie ihm gleichgültig wäre, würde er sich die Mühe nicht machen. Mit liebevoller Zuwendung ruft er diese Gemeinde mit dem äußerlichen Bekenntnis auf, »eifrig« zu sein und »Buße« zu tun.
3,20 In den Schlussversen dieses Kapitels finden wir eine Beschreibung dessen, was Scofield »den Aufenthaltsort und die Stellung Christi am Ende des Gemeindezeitalters« genannt hat: Er steht außerhalb der Namenschristenheit, klopft höflich an und lädt Einzelne (nicht mehr die Masse der Menschen) ein, die abgefallene Kirche zu verlassen, um mit ihm Gemeinschaft zu haben.
Trench kommentiert:
Jeder ist Herr im Hause seines eigenen Herzens. Es ist eine Burg, dessen Tore er öffnen muss. Er kann sich traurigerweise weigern, sie zu öffnen. Doch wenn er sich weigert, dann kämpft er in geistlicher Blindheit gegen seine eigene, ihm von Gott zugedachte Glückseligkeit und wird ein unglücklicher Sieger.11
3,21 Dem Überwinder wird verheißen, dass er an der Herrlichkeit des »Thrones« Christi teilhaben und mit ihm über die Welt des Tausendjährigen Reiches regieren wird. Diejenigen, die ihm in der Demut, in der Verwerfung und im Leiden folgen, werden ihm auch in der Herrlichkeit folgen.
3,22 Dann wird der Hörer zum letzten Mal ermahnt, auf die Stimme des »Geistes« zu hören.
Welche Auslegung der Offenbarung wir auch immer bevorzugen, es ist nicht zu leugnen, dass die Gemeinde in Laodizea ein lebendiges Bild für die Gemeinde unserer Zeit abgibt. Überall leben Christen in Luxus, während Menschen verlorengehen, weil sie das Evangelium nicht gehört haben. Christen tragen Kronen, statt ihr Kreuz zu tragen. Wir begeistern uns mehr für Sport, Politik oder das Fernsehen als für Christus. Wir haben kaum ein Empfinden für unsere geistliche Not, wir sehnen uns kaum nach wahrer Erweckung. Wir opfern unsere beste Lebenszeit dem Beruf, und dann übergeben wir die Reste einer verschwendeten Karriere unserem Herrn. Wir pflegen unsere Körper zu Tode, die schon in wenigen Jahren zu Staub werden. Wir häufen an, statt abzugeben, wir sammeln Schätze auf Erden statt im Himmel. Die allgemeine Haltung lautet: »Was kann ich schon mit meinem Dienst im Volk Gottes ausrichten? Wenn ich mich mir nichts gönne, wer wird es dann tun? Lasst uns in der Welt vorwärtskommen und unsere wenige Freizeit dem Herrn geben.« Das ist unser Zustand am Vorabend der Wiederkunft Christi.
III. Was nach diesem geschehen wird (Kap. 4 – 22)
Wir kommen nun zum dritten Hauptteil der Offenbarung. Die ersten drei Kapitel haben das Zeitalter der Gemeinde von der Zeit der Apostel bis zur Entrückung beschrieben. Beginnend mit diesem Kapitel lautet das Thema nun: »Was nach diesem geschehen wird.«
Zwischen den Kapiteln 3 und 4 gibt es einen deutlichen Bruch. Von diesem Punkt an ist die Gemeinde nicht mehr auf der Erde zu finden. Was ist mit ihr geschehen? Wir glauben, dass sie am Ende von Kapitel 3 vom Herrn in den Himmel aufgenommen worden ist.
Wenn die Heiligen dann im Himmel sein werden, wird der Herr sein Handeln am Volk Israel wiederaufnehmen. Dann wird die Trübsal beginnen. Dies ist eine Zeitspanne von 7 Jahren, in denen der Herr die Angehörigen des jüdischen Volkes wegen ihrer Verwerfung des Messias richten wird. Diejenigen, die sich während der Trübsal Christus zuwenden, werden gerettet, um das herrliche Reich Christi auf Erden zu erleben. Diejenigen dagegen, die Christus ablehnen, werden von ihm vernichtet werden. Eine große Zahl von Juden wird zu Beginn der Trübsal im Unglauben in das Land Israel zurückkehren (Hes 36,24.25). Das römische Weltreich wird einen Vertrag mit den Israeliten schließen, bei dem ihnen freie Religionsausübung garantiert wird (Dan 9,27). Die ersten dreieinhalb Jahre der Trübsal werden relativ harmlos verlaufen. Der Herr Jesus hat diese Jahre in Matthäus 24,4-14 beschrieben. In der Mitte der Trübsal wird im Tempel zu Jerusalem ein Götzenbild aufgerichtet werden. Die Menschen müssen es anbeten, weil sie sonst getötet werden (Matth 24,15). Das wird der Beginn der Großen Trübsal bzw. die Zeit der Bedrängnis für Jakob sein – eine Leidenszeit, wie sie die Welt bisher nicht erlebt hat noch je erleben wird (Matth 24,21). Kapitel 4 führt uns in die Zeit am Anfang der Trübsal. Die erste Szene spielt im Himmel, wo Johannes die Herrlichkeit Gottes sehen darf. Der Herr erlaubte seinen Propheten oftmals einen Blick in seine Herrlichkeit, ehe sie die Zukunft vorhersagen durften (Jes 6; Hes 1). In Kapitel 1 sah Johannes die Herrlichkeit Christi, ehe er die zukünftige Geschichte der Gemeinde aufzeichnen durfte. Nun erhält er eine Vision Gottes, ehe er von den Gerichten erfährt, die über das ungläubige Israel und die Heiden ausgegossen werden.
A. Die Vision von Gottes Thron (Kap. 4)
4,1 Die »Stimme«, die Johannes in den Himmel einlädt, ist die Stimme Christi (vgl. V. 1-2). Viele Bibelausleger sind der Ansicht, dass das Eintreten des Johannes in den Himmel ein Bild dafür ist, dass die Gemeinde zu dieser Zeit heimgeholt worden ist, um beim Herrn zu sein (1. Thess  4,13-18;  1. Kor  15,51-53).  Der Herr Jesus verheißt Johannes, zu »zeigen, was nach diesem geschehen muss«. Diese Worte entsprechen dem letzten Teil von 1,19 und unterstützen die Verwendung dieses Verses als Zusammenfassung für das Buch.
4,2.3 Der Heilige »Geist« nimmt auf eine besondere Weise Besitz von Johannes. »Sogleich« sieht er den ewigen Gott in Herrlichkeit und Glanz auf seinem »Thron« sitzen.
Viele Texte (darunter der Mehrheitstext) lassen die Worte »und der da saß« aus, sodass die Worte »Jaspisstein und … Sardis« eher den »Thron« als den Herrn beschreiben. Doch diese Edelsteine können auch den Herrn selbst beschreiben. Auf dem Brustschild des Hohenpriesters stand der »Jaspisstein« für Ruben, Jakobs erstgeborenen Sohn, während der Sardis Benjamin, den Letztgeborenen, verkörperte. Der Name Ruben bedeutet: »Siehe, ein Sohn«, und Benjamin bedeutet: »Sohn meiner Rechten«. Walvoord deutet das so, dass die beiden Steine alle anderen einschließen und damit ein Bild für Gottes Volk sind. Das Wesen auf dem Thron deutet er als Gott in seiner Beziehung zum Volk Israel.12
Der Regenbogen, offensichtlich ein grüner Lichtkreis »gleich einem Smaragd« um den Thron herum, ist ein Unterpfand dafür, dass Gott seinen Bund trotz des kommenden Gerichts halten wird.
4,4 Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wer die »vierundzwanzig Ältesten« sind. Sie werden von den Auslegern ganz unterschiedlich verstanden – entweder als Engelwesen, als die Erlösten des AT und NT oder nur als neutestamentliche Heilige. Die Tatsache, dass sie gekrönt werden und auf »Thronen« sitzen, legt nahe, dass es die Heiligen sind, die beurteilt und belohnt worden sind.
4,5 Es ist eindeutig, dass der »Thron« hier ein Gerichtsthron ist, da mit ihm »Blitze und Stimmen und Donner« verbunden sind. Die »sieben Feuerfackeln« stehen für den Heiligen Geist in seiner Fülle und Majestät. Es gibt nur einen Geist Gottes, doch die Zahl Sieben steht für Vollkommenheit und Vollendung.
4,6 Das »gläserne Meer« bedeutet, dass der Thron an einem Ort steht, wo die ruhelosen wilden Wellen dieser Welt nicht stören können, auch nicht der Widerstand der Gottlosen, die wie ein unruhiges Meer sind.
Rings um den Thron waren »vier lebendige Wesen, voller Augen vorn und hinten«. Dies spricht von Klarheit, Weite und Tiefe des Sehvermögens.
4,7.8 »Die vier lebendigen Wesen« lassen sich schwer identifizieren. Mit Sicherheit können wir lediglich sagen, dass sie Geschöpfe sind, weil sie Gott anbeten. Sie scheinen eine Kombination der Cherubim in Hesekiel 10 und der Seraphim in Jesaja 6 zu sein. Vers 7 beschreibt Cherubim und Vers 8 Seraphim. Diese Engelwesen sind die Wächter des Thrones Gottes. Die Cherubim scheinen mit dem Feuer des Gerichts und die Seraphim mit der Reinigung durch Feuer in Verbindung zu stehen.
Die Beschreibung in Vers 7 entspricht der Art und Weise, wie Christus in den vier Evangelien dargestellt wird: »Löwe« – Matthäus – König »Stier« – Markus – Diener »Mensch« – Lukas – Menschensohn »Adler« – Johannes – Gottes Sohn. Die lebendigen Wesen singen unaufhörlich von der Heiligkeit und Ewigkeit Gottes. In den meisten Manuskripte findet sich das Wort »heilig« hier 9-mal, eine Anspielung auf die Dreieinheit.
4,9.10 »Wenn die lebendigen Wesen« denjenigen, »der auf dem Thron sitzt«, anbeten, dann fallen »die vierundzwanzig Ältesten« vor dem ewigen Gott nieder, beten ihn an und werfen »ihre Siegeskränze nieder vor dem Thron«.
4,11 Ihr Lobpreis erkennt den »Herrn« als denjenigen an, der aller »Herrlichkeit und … Ehre und … Macht« »würdig« ist, weil er »alle Dinge erschaffen« hat und sie seines »Willens wegen« existieren. Diese Vision bereitet uns auf das nun Folgende vor. Gott wird als der allmächtige Herrscher des Universums dargestellt, der auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, umgeben von Wesen, die ihn anbeten. Er ist bereit, das Gericht auf die Erde zu schicken.
B. Das Lamm und das Buch mit den sieben Siegeln (Kap. 5)
5,1 Gott wird hier als derjenige dargestellt, der »ein Buch« hält, das »mit sieben Siegeln versiegelt« ist. Das Buch enthält eine Aufzeichnung der Gerichte, die über die Erde kommen müssen, ehe der Herr Jesus sein Reich auf dieser Erde aufrichten kann.
5,2.3 Ein »starker Engel« fragt laut nach jemandem, der »würdig« ist, »das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen«, eines nach dem anderen. Doch »niemand« (ob im Himmel, auf der Erde oder unter der Erde) wurde gefunden, der berechtigt war, das Buch (genauer gesagt, die Buchrolle) zu öffnen und zu lesen. Kein Engel, Mensch oder Dämon hat die Weisheit und das Wissen, um das Gericht auszuführen.
5,4 Johannes »weinte«sehr, als es so schien, dass man »niemand« für »würdig« befinden würde. Sollte das etwa bedeuten, dass die Ungerechtigkeit der Welt ungerichtet bleiben und Gerechtigkeit nicht belohnt würde? Würden die Gottlosen unbestraft bleiben? Bedeutete dies, dass das Reich nicht kommen würde, weil die notwendige Reinigung der Erde verhindert würde?
5,5 »Einer von den Ältesten« tröstete Johannes mit der frohen Nachricht, dass »der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids« (der Schöpfer Davids und zugleich sein Nachkomme) berechtigt war, »das Buch und seine sieben Siegel zu öffnen« und damit das Gericht in Gang zu bringen. Jesus ist zum Gericht berechtigt, weil er unendlich weise ist, weil Gott es so bestimmt hat (Joh 5,22.27), weil er würdig ist und weil sein Werk auf Golgatha vollbracht wurde.
In der Offenbarung wird unser Herr sowohl als Lamm wie auch als Löwe dargestellt. Als Lamm Gottes ist er das Opfer tier, das die Sünden der Welt wegnimmt. Als Löwe ist er der Richter, der seine Feinde bestraft. Bei seinem ersten Kommen war er das Lamm. Bei seiner Wiederkunft wird er der Löwe sein.
5,6 Als Johannes schaute, »sah« er auf dem »Thron«, umgeben von den »vier lebendigen Wesen« und den »Ältesten«, ein kleines »Lamm« stehen, das aussah, als wäre es gerade eben »geschlachtet«. Das Lamm hatte »sieben Hörner« (Sinnbild der Allmacht) und »sieben Augen« (Sinnbild der Allwissenheit). Dass es »die sieben Geister Gottes« besitzt, eri nnert uns daran, dass der Geist dem Herrn Jesus in unbegrenzter Fülle gegeben worden war (vgl. Joh 3,34b; NGÜ). Mit dem hier befindlichen Ausdruck (»die sieben Geister Gottes, ausgesandt über die ganze Erde«) ist die Allgegenwart Gottes gemeint.
5,7.8 Sobald das Lamm das Gerichtsbuch »aus der Rechten« Gottes des Vaters genommen hatte, verneigten sich die »lebendigen Wesen« und die »Ältesten … vor dem Lamm«. Jeder hatte »eine Harfe und goldene Schalen voller Räucherwerk«, die für die »Gebete der Heiligen« stehen. Wahrscheinlich sind es die Gebete der Märtyrer, die zu Gott schreien, dass er ihr Blut rächen möge (6,10). Obwohl sie in Zusammenhang mit den Gebeten genannt werden, wird hier jedoch nicht angedeutet, dass sie diese Gott darbrachten oder irgendeinen Anteil daran gehabt hätten, sie zu beantworten.
5,9.10 In ihrem »neuen Lied« verkündigten sie, dass das Lamm aufgrund seines Erlösungswerks am Kreuz »würdig« sei, das Gericht auszuüben. Hier geht es um die Frage, ob sie sich selbst zu den Erkauften rechnen (Schl 2000: »… hast uns für Gott erkauft«), oder ob man mit ER lesen sollte: »… und hast durch dein Blut für Gott erkauft aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation.«13
Außer der Erlösung hat der Herr die Gläubigen auch noch »zu Königen14 und Priestern gemacht«, damit sie ihn anbeten, für ihn Zeugnis ablegen und mit ihm während des Tausendjährigen Reiches »über die Erde herrschen«.
5,11 Der Chor wurde nun ausgedehnt, als »viele Engel« in das Lied der »lebendigen Wesen« und der »Ältesten« einstimmten. Welch eine Vorstellung: Ein riesengroßer Chor mit Millionen von Sängern, vielleicht sogar Milliarden, die alle in vollkommener Harmonie miteinander sangen!
5,12 Lob und Ehre werden in der Ewigkeit von den Gläubigen dargebracht. »Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen«: »Macht« – über mein Leben, die Gemeinde, die Welt, das Universum; »Reichtum« – all mein Besitz; »Weisheit« – meine besten intellektuellen Fähigkeiten;
»Stärke« – meine körperliche Kraft zu seinem Dienst;
»Ehre« – das ausschließliche reine Verlangen, ihn in jeder Hinsicht zu verherrlichen;
»Herrlichkeit – mein gesamtes Leben, das zu seiner Ehre geführt wird; »Lobpreis« – mein ganzes Vermögen, ihn zu loben und zu preisen.
5,13 Nun wird der Lobgesang noch gewaltiger; es ertönt ein völlig harmonisches Lied. »Jedes Geschöpf … im Himmel und auf der Erde« stimmt in den ewigen »Lobpreis« für Gott den Vater und das »Lamm« ein.
Dieser Vers ist eine Parallele zu Philipper 2,10 und 11. Dort wird ausgesagt, dass sich im Namen Jesu jedes Knie beugen wird und jede Zunge bekennen muss, dass er der Herr ist. Es wird hier kein bestimmter Zeitpunkt genannt, doch dies wird offensichtlich stattfinden, wenn die Geretteten zum ewigen Leben erweckt worden sind. Zu diesem Zeitpunkt sind auch die nicht Geretteten zum ewigen Gericht auferweckt worden. Gläubige werden Jesus bereits als den Herrn anerkannt haben, und die Ungläubigen werden dann gezwungen, ihn zu ehren. Dass der Vater und der Sohn in allumfassender Weise geehrt werden, steht heute schon fest.
5,14 Nun kommt das Finale! Als die lebendigen Wesen »Amen« sagen, fallen die Ältesten nieder und beten den Herrn auf dem Thron an, »der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit« (Schl 2000). C. Die Öffnung der ersten sechs Siegel (Kap. 6)
6,1.2 »Als das Lamm« das erste Siegel »öffnete«, rief »eines von den vier lebendigen Wesen«: »Komm und sieh!« (Schl 2000).15 Als Reaktion darauf kam ein Reiter, eventuell der Antichrist, der »einen Bogen« hält. Er erschien auf einem weißen »Pferd« – »siegend«, und um zu siegen. Dies könnte für dasjenige stehen, was heute als »Kalter Krieg« bezeichnet wird. Der »Bogen« ist eine Kriegsdrohung, doch es wird kein Pfeil erwähnt. Vielleicht ist hier sogar ein Raketenkrieg gemeint, weil der Bogen eine Waffe für den Fernkampf ist. Dieser Reiter löst den Krieg nicht an sich aus, denn erst beim zweiten Siegel wird der Friede von der Erde genommen.
6,3.4 »Das zweite lebendige Wesen« fordert einen zweiten Reiter auf, hervorzukommen. Dieser trägt »ein großes Schwert« und reitet auf einem »feuerroten Pferd«. Ein »Schwert« wird im Nahkampf eingesetzt. Deshalb steht das zweite Siegel für Invasionsarmeen, die Länder im Nahkampf erobern. Der zweite Reiter nimmt »den Frieden von der Erde«.
6,5.6 Auf den Befehl des »dritten lebendigen Wesens« hin erscheint nun ein Reiter auf einem »schwarzen Pferd«, der eine »Waage« in der Hand hält. Dies steht für Hungersnot, die oft auf Kriege folgt. Eine »Stimme inmitten der vier lebendigen Wesen« verkündet, dass »Weizen« und »Gerste« für horrende Preise verkauft werden. Die »Waage« wurde benutzt, um das rationierte Korn zu verkaufen, und war damit ein Symbol für die Hungersnot. Der Satz: »Und dem Öl und dem Wein füge keinen Schaden zu«, ist schwierig zu verstehen. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass es sich hierbei um die Speisen der Armen handelt. Wenn es sich dabei um Hauptnahrungsmittel handelte, dann mussten sie geschützt werden, um das Leben zu erhalten. Doch es ist wahrscheinlicher, dass es hier um die Luxusgüter der Reichen geht: In der Geschichte ist es immer so gewesen, dass die Reichen selbst während entsprechender Hungersnöte noch einige Luxusgüter bekommen konnten.
6,7.8 Das »vierte lebendige Wesen« rief ein »fahles Pferd« herbei, auf dem der »Tod und der Hades« ritten. »Tod« gehört zum Leib, während »Hades« mit dem Geist und der Seele verbunden sind. Durch den Krieg, die Hungersnöte, die »Pest« und »die wilden Tiere« wurde der »vierte Teil« der Bewohner »der Erde« vernichtet. Man könnte meinen, dass Seuchen heute durch die modernen Antibiotika und andere erstaunlich wirkende Medizin keine Bedrohung mehr darstellen. Doch die großen Seuchen schlummern nur und sind noch nicht besiegt. Sie können sich auf der Welt in dem Maße ausbreiten, wie Flugzeuge dafür sorgen, dass die entsprechenden Krankheitsüberträger allerorts hingelangen.
6,9 Nun lernen wir die ersten Märtyrer der Trübsalszeit kennen (Matth 24,9). Es sind jüdische Gläubige, die aufbrechen und das Evangelium vom Reich predigen. Sie werden wegen ihres »Zeugnisses … geschlachtet« werden. Ihre »Seelen« befinden sich »unter dem Altar« im Himmel.
6,10 Sie schreien zum souveränen »Herrscher«16 und bitten darum, ihr »Blut« zu rächen. Wie schon weiter oben erwähnt, sind diejenigen, »die auf der Erde wohnen«, Ungläubige, die die Erde als ihre Heimat betrachten.
6,11 Alle Märtyrer erhalten »ein weißes Gewand« als Symbol ihrer Gerechtigkeit. Ihnen wird befohlen zu warten, bis alle Märtyrer der Trübsalszeit versammelt sind.
6,12.13 Die Öffnung des »sechsten Siegels« verursacht riesige Naturkatastrophen. »Ein großes Erdbeben« erschüttert Land und Meer, und der Sternenhimmel gerät in Unordnung. »Die Sonne« verdunkelt sich, und »der ganze Mond« wird rot »wie Blut«. »Sterne des Himmels fallen auf die Erde« wie reife »Feigen« eines »Feigenbaums«, der heftig »geschüttelt« wird.
6,14 »Der Himmel« verschwindet wie ein Blatt Pergament, das man »zusammenrollt«. Durch die riesigen Bewegungen werden »jeder Berg und jede Insel … von ihren Stellen gerückt«.
6,15 Erwartungsgemäß werden dann Angehörige aller Gesellschaftsschichten in Panik verfallen. Sie erkennen, dass Gott seinen Zorn ausgießt, und verbergen »sich in den Höhlen und« zwischen den »Felsen der Berge«.
6,16.17 Sie ziehen es vor, sich von zusammenstürzenden »Bergen« und »Felsen« erschlagen zu lassen, als das Gericht Gottes und den »Zorn des Lammes« zu ertragen. Zu spät haben sie erkannt, dass kein Aufrührer vor dem Zorn des Lammes »zu bestehen« vermag. D. Die Geretteten während der Großen Trübsal (Kap. 7)
7,1-4 Kapitel 7 steht zwischen dem sechsten und dem siebten Siegel und stellt uns zwei wichtige Gruppen von Gläubigen vor. Das Kapitel beantwortet die Frage vom Ende von Kapitel 6: »Wer vermag zu bestehen?« Diejenigen, die in diesem Kapitel beschrieben werden, können in dem Sinne bestehen, dass sie bewahrt werden und mit Christus in das Tausendjährige Reich kommen.
Die Vision von »vier Engeln«, die »auf den vier Ecken der Erde stehen« und »die vier Winde der Erde« festhalten, bed eutet, dass bald ein großer Sturm über die Welt hereinbrechen wird. Doch die Engel sollen diese schreckliche Zerstörung noch aufhalten, bis die »Knechte unseres Gottes an ihren Stirnen versiegelt« worden sind. Zwölftausend aus jedem Stamm »Israels« werden »versiegelt«.
7,5-8 Die 144 000 sind eindeutig jüdische Gläubige und nicht Mitglieder einer Sekte unserer Zeit (d. h. der Zeugen Jehovas; Anm. d. Übers.). Diese jüdischen Heiligen werden während der Anfangszeit der Trübsal gerettet. Das Siegel auf ihren Stirnen kennzeichnet sie als zu Gott gehörende Menschen. Es gewährleistet, dass sie während der folgenden sieben Jahre am Leben bleiben werden. Zwei Stämme fehlen in der Liste: Ephraim und Dan. Vielleicht sind sie ausgelassen worden, weil sie im Götzendienst Israels führend waren. Einige Ausleger sind der Ansicht, dass der Antichrist aus Dan stammen wird (1. Mose 49,17). Die Stämme »Josef« und »Levi« erscheinen jedoch in der Liste, wobei »Josef« zweifellos den Platz seines Sohnes Ephraim einnimmt.
7,9 Die Menschen, die in diesem Abschnitt beschrieben werden, sind Heiden aus »jeder Nation und aus Stämmen und Völkern und Sprachen«. Sie stehen »vor dem Thron und dem Lamm, bekleidet mit weißen Gewändern« (die gerechten Taten der Heiligen; s. 19,8). Sie halten »Palmen in ihren Händen«, ein Symbol des Sieges.
7,10 Dies sind Heiden, die während der Großen Trübsal gerettet werden, indem sie ihr Leben Christus anvertrauen. In ihrem Lied besingen sie ihr »Heil« und sprechen es ihrem »Gott … und dem Lamm« zu.
7,11.12 »Alle Engel … und die Ältesten und die vier lebendigen Wesen« fallen in den Lobpreis Gottes ein, obwohl die Erlösung in ihrem Lied nicht erwähnt wird. Ein Liederdichter hat dazu Folgendes verfasst: »Die Engel sind erh oben / zum Dienen und zum Loben, / doch Söhne sind sie nicht. / Kein Tod hat sie gekettet, / kein hoher Preis gerettet, / kein Arm geführt aus Nacht zum Licht.« Doch sie bringen ihm den Lobpreis dar, indem sie dabei sieben verschiedene Aspekte erwähnen.
7,13.14 Als »einer von den Ältesten« Johannes fragt, wer »diese« Menschen in »weißen Gewändern« wären und »woher« sie »gekommen sind«, muss Johannes zugeben, dass er es nicht weiß, es aber gern wissen möchte. Die Ältesten erk lären, dass sie »aus der großen Drangsal kommen« und »ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht« haben »im Blut des Lammes«. »Wenn wir einem unerklärlichen Geheimnis gegenüberstehen«,  sagt  F. B.  Meyer,  »ist  es  doch trostr eich, im vollkommenen Glauben sagen zu können: ›Du weißt es.‹«
7,15 Der Älteste erklärt nun den gegenwärtigen Aufenthaltsort und den Dienst dieser Menschenmenge. Die Ausleger sind sich nicht einig, ob sich diese Menge im Himmel oder auf der Erde des Tausendjährigen Reiches befindet. Die Segnungen, die hier beschrieben werden, gibt es an beiden Orten. Wenn das Tausendjährige Reich gemeint ist, dann ist mit dem »Thron Gottes« und »seinem Tempel« derjenige Tempel gemeint, der während des Reichszeitalters in Jerusalem stehen wird (Hes 40 – 44). Man beachte, welche Segnungen hier beschrieben werden:
Vollkommene Nähe: »Darum sind sie vor dem Thron Gottes.«
Vollkommener Dienst: »… und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel.«
Vollkommene Gemeinschaft: »Der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen.«
7,16 Vollkommene Zufriedenheit: »Sie werden nicht mehr hungern, auch werden sie nicht mehr dürsten.« Vollkommene Sicherheit: »… noch wird die Sonne auf sie fallen noch irgendeine Glut.«
7,17 Vollkommene Führung: »… denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie hüten und sie leiten zu Wasserquellen des Lebens.«
Vollkommene Freude: »Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.« E. Das siebte Siegel und der Beginn der sieben Posaunen (Kap. 8 – 9)
8,1 Nach dem Einschub von Kapitel 7, in dem uns zwei Gruppen von Heiligen der Trübsalszeit vorgestellt wurden, kommen wir nun zum »siebenten« und letzten »Siegel«. Es wird mit einem dreißigminütigen »Schweigen im Himmel« eingeleitet – eine respektvolle Stille, die den immer schlimmer werdenden Gerichten vorangeht.
8,2 Als das siebte Siegel gebrochen wird, wird kein besonderes Gericht erwähnt. Die Erzählung geht sofort in die Beschreibung der sieben Posaunengerichte über. Daraus entnehmen wir, dass das siebte Siegel die »sieben Posaunen« enthält.
8,3.4 Viele sehen in dem »Engel« in diesem Vers den Herrn Jesus. Er wird im AT »Engel des Herrn« genannt (1. Mose 16,13; 31,11.13; Ri 6,22; Hos 12,4.5). »Die Gebete aller Heiligen« steigen durch ihn zum Vater auf (Eph 2,18). Er nimmt »viel Räucherwerk«, um es mit den Gebeten darzubringen. Das »Räucherwerk« spricht dabei vom Wohlgeruch seiner Person und seines Werkes. Wenn »die Gebete« Gott den Vater erreichen, dann sind sie vollkommen makellos und in jeder Beziehung wirksam.
In diesem Zusammenhang handelt es sich bei den »Gebeten« darum, dass die »Heiligen« der Trübsalszeit beten. Sie bitten Gott, ihre Feinde zu bestrafen, obwohl die Aussagen für alle Gebete gelten.
8,5 Als Antwort auf ihre Gebete »warf« »der Engel« glühende Kohlen vom Altar »auf die Erde«, wodurch laute Explosionen, »Donner und Stimmen und Blitze und ein Erdbeben« hervorgerufen wurden. H. B. Swete sagt dazu: »Die Gebete der Heiligen kehren als Bekundungen des göttlichen Zorns auf die Erde zurück.«17 So werden also die sieben Posaunengerichte durch schlimme Naturkatastrophen eingeleitet.
8,6 Wir sind nun in der Mitte der Trübsal angekommen. Diese Posaunengerichte nehmen uns in die Zeit mit, zu der Christus auf die Erde kommt, seine Feinde vernichtet und sein Reich einläutet. Die ersten vier Gerichte betreffen die natürliche Umwelt des Menschen, die letzten drei den Menschen selbst. Viele Exegeten machen auf die Ähnlichkeit dieser Gerichte mit den Plagen aufmerksam, die über Ägypten kamen (2. Mose 7 – 12).
8,7 Als der »erste« Engel »posaunte«, »verbrannte … der dritte Teil der Erde, … der Bäume« und alles »Gras«, durch »Hagel und Feuer mit Blut vermischt«. Es ist am besten, dies wörtlich als furchtbare Katastrophe zu sehen, die über Felder und sonstige Nutzflächen hereinbricht, von denen der Mensch die meiste Nahrung bezieht.
8,8.9 »Etwas wie ein großer feuerflammender Berg wurde ins Meer geworfen«, wodurch sich der »dritte Teil des Meeres« in »Blut« verwandelte, »der dritte Teil« des Lebens im Meer ausgelöscht und »der dritte Teil der Schiffe« zerstört wurde. Damit sind nicht nur die Nahrungsgrundlagen des Menschen vor Ort erheblich eingeschränkt worden, sondern es wird für ihn auch viel schwerer, Nahrungsmittel von entfernteren Orten herbeizuschaffen.
8,10.11 Diese dritte Posaune war ein Signal für den Fall eines leuchtenden »Sternes«, der »Wermut« genannt wurde, wodurch der »dritte Teil« der Wasservorräte »bitter« wurde. Offensichtlich war das »bittere« Wasser auch giftig, denn »viele Menschen starben«. Es ist schwierig zu sagen, was »Wermut« ist. Wenn jedoch diese Posaune ertönen wird, dann werden die Menschen, die auf Erden leben, nur zu genau wissen, worum es sich handelt. Wenn wir die Prophezeiungen studieren, dann ist es gut, sich daran zu erinnern, dass vieles erst dann klar werden wird, wenn es ges chieht.
8,12 Es scheint so, dass »Sonne, Mond« und »Sterne« auf eine Weise geschädigt werden, dass sie nur noch zwei Drittel ihres normalen Lichtes abgeben. Diese vierte Posaune ähnelt der Plage der Finsternis in Ägypten.
8,13 Ein »Adler«18, der »hoch oben am Himmel« fliegt, verkündigt ein dreifaches »Wehe denen, die auf der Erde wohnen«. Damit sind diejenigen gemeint, die völlig weltlich eingestellt sind, deren Heimat die Erde ist und die keine wahren Gläubigen sind. Die drei übrigen Gerichte sind auch unter dem Namen der »drei großen Wehe« bekannt, weil sie so schreckliche Auswirkungen für die Menschen haben.
9,1.2 Der »Stern, der vom Himmel auf die Erde gefallen war«, könnte ein »gefallener« Engel oder sogar Satan selbst sein. Er hatte den »Schlüssel« zur Tür, die zum »Schlund des Abgrundes« führt (das griechische Wort abyssos bedeutet Hölle). Dies ist der Aufenthaltsort der Dämonen. Als er den Eingang des Schlundes »öffnete«, kamen Rauchwolken daraus hervor, die die Landschaft in Finsternis hüllten, als ob es »ein großer Ofen« wäre.
9,3.4 Schwärme von »Heuschrecken« kamen »aus dem Rauch«, die imstande waren, schlimme Schmerzen zu verursachen, indem sie »wie die Skorpione« stachen. Doch ihre Macht ist begrenzt. Sie dürfen die Pflanzenwelt nicht verheeren. Ihre Opfer sind diejenigen »Menschen, die nicht das Siegel Gottes an den Stirnen haben«, d. h. alle Ungläubigen.
9,5.6 Obwohl ihr Stich nicht tödlich war, verursachte er doch eine »Qual«, die »fünf Monate« dauerte. Sie war so schlimm, dass die Menschen gern gestorben wären, es jedoch nicht konnten. Diese Heuschrecken stellen vielleicht Dämonen dar, die von unerretteten Männern und Frauen Besitz ergreifen, wenn sie aus dem Abgrund freigelassen werden. Diese Besessenheit verursacht schlimme leibliche und geistige Qualen, wie die »Legion« von Dämonen in Markus 5,1-20.
9,7 Die Beschreibung der »Heuschrecken« erzeugt den Eindruck, als gehe es um Eroberung und Sieg. Wie »zum Kampf gerüstete Pferde« stellen sie eine Eroberungsarmee dar. Sie tragen »Siegeskränze gleich Gold«, denn sie sind berechtigt, im Leben der Menschen zu herrschen. Mit ihren menschlich erscheinenden »Angesichtern« sind sie intelligente Wesen.
9,8-10 Mit »Haaren wie Frauenhaare« sind sie attraktiv und verführerisch. Mit ihren »Zähnen … wie die von Löwen« sind sie grausam und gewalttätig. Mit ihren rüstungsähnlichen »Panzern« lassen sie sich nur schwer angreifen und töten. Mit ihren »Flügeln«, die sehr viel Lärm machen, sind sie erschreckend und demoralisierend. »Schwänze gleich Skorpionen« rüsten sie aus, sowohl in körperlicher als auch geistiger Hinsicht zu foltern. »Ihre Macht, … den Menschen fünf Monate zu schaden«, bedeutet Leiden ohne Ausweg.
9,11 Sie haben »einen König«, dessen »Name« »auf Hebräisch Abaddon« (Zerstörung), »im Griechischen« jedoch »Apollyon« (Zerstörer) ist. Die Ausleger sind allgemein der Ansicht, dass damit Satan gemeint ist.
9,12 Nun ist das erste der drei »Wehe … vorüber«. Doch das Schlimmste kommt noch, denn die Gerichte werden immer furchtbarer.
9,13-15 Die Erwähnung »des goldenen Altars, der vor Gott ist«, verbindet das folgende Gericht mit den Gebeten des unterdrückten Volkes Gottes. Die sechste Posaune befreit »die vier Engel, die an dem großen Strom Euphrat gebunden sind«. Diese »vier Engel«, eventuell sind es Dämonen, sind für diesen Augenblick in Bereitschaft gehalten worden, um loszuziehen und »den dritten Teil der Menschen zu töten«.
9,16.17 Auf sie folgen zweihundert19 Millionen Reiter auf Pferden mit »Panzern«, deren Farben mit »feuerrot und blau  und  schwefelgelb«  (LU 1984)  angegeben werden. Die »Köpfe« der Pferde gleichen denjenigen von »Löwen«, und aus ihren Mündern kommen »Feuer, … Rauch und Schwefel«.
9,18.19 Diese drei Begriffe (»Feuer … Rauch und … Schwefel«) umfassen die »drei Plagen«, mit dem »der dritte Teil der Menschen« getötet wird. Die Pferde töten nicht nur mit »ihrem Maul«, sondern verwunden auch mit ihren schlangenartigen »Schwänzen«.
Es gibt in diesem Abschnitt viele unbeantwortete Fragen. Sind die vier Engel in Vers 14 dieselben wie in 7,1? Sind die Reiter wirkliche Menschen, oder stehen sie für Dämonen, Krankheiten oder andere Zerstörungsmächte? Worum handelt es sich bei den drei Plagen, die durch »Feuer«, »Rauch« und »Schwefel« dargestellt werden?
Man beachte, dass der Tod durch die Pferde kommt, nicht durch die Reiter. Ein Ausleger schlägt vor, dass die Armee von Reitern ein Bild »für irgendeine unwiderstehliche Verführung des Teufels steht, die von Osten kommt«. Hamilton Smith sagt:
»Die Macht der Rosse ist in ihrem Maul« könnte bedeuten, dass diese Verführung mit überzeugender Redekunst vorgetragen wird. Doch hinter der Verführung steht die Macht Satans, die durch die Schlangenschwänze symbolisiert wird.20
9,20.21 Obwohl zwei Drittel »der Menschen … diese Plagen« überlebt hat, »taten« sie »nicht Buße«, sondern fielen noch immer vor ihren »Dämonen« und leblosen, machtlosen und mit Händen gemachten »Götzenbildern« nieder. Sie wandten sich nicht »von ihren Mordtaten, … Zaubereien«21 (die mit Drogen in Zusammenhang standen), von »Unzucht« und »Diebstählen« ab. Strafe und Leid verändern nicht den Charakter eines Sünders, weil dies nur die Wiedergeburt kann.
F. Der starke Engel und das Büchlein (Kap. 10)
10,1 Johannes sieht nun »einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabkommen«. Die Beschreibung lässt viele Ausleger zu der Ansicht gelangen, dass es sich um den Herrn Jesus handelt. Er hatte einen »Regenbogen auf seinem Haupt«, das Zeichen des Bundes Gottes. »Sein Angesicht war wie die Sonne«, ein Ausdruck für die unverhüllte Herrlichkeit. Seine »Füße waren wie Feuersäulen«, wobei die »Säulen« für Stärke und das »Feuer« für Gericht stehen.
10,2 »Er« hält »ein geöffnetes Büchlein« oder eine Schriftrolle in der Hand, zweifellos eine Aufzeichnung über die kommenden Gerichte. Mit dem »rechten Fuß auf dem Meer, dem linken aber auf der Erde« stehend, beansprucht er sein Recht auf weltweite Herrschaft.
10,3-6 Als er »mit lauter Stimme … rief«, ertönten »sieben Donner«. Offensichtlich konnte Johannes die Botschaft dieser Donner verstehen, doch als er »schreib en … wollte«, verbot ihm der Engel dies. Der Engel »schwor bei« Gott, dem Schöpfer: »Es wird keine Frist mehr sein.«
10,7 »Das Geheimnis Gottes« wird sich während der Zeit der siebten Posaune erfüllen. »Das Geheimnis Gottes« betrifft Gottes Plan, alle Übeltäter zu bestrafen und das Reich seines Sohnes einzuführen.
10,8.9 Johannes wurde aufgefordert, das Buch zu essen, d. h. er sollte es lesen und über die aufgezeichneten Gerichte nachsinnen.
10,10 Wie vom Engel vorhergesagt, war die Buchrolle in seinem »Mund süß wie Honig«, doch in seinem »Bauch bitter«. Für den Gläubigen ist es süß, von Gottes Entschluss zu lesen, seinen Sohn dort zu verherrlichen, wo er einst gekreuzigt wurde. Es ist süß und kostbar, vom Triumph Gottes über Satan und seine Heerscharen zu lesen. Es ist süß und kostbar, von einer Zeit zu lesen, wo alles Unrecht dieser Erde nicht mehr besteht. Doch mit dem Studium der Prophetie ist auch Bitterkeit verbunden. Da gibt es einmal die Bitterkeit des Selbstgerichts, das die prophetischen Schriften hervorrufen. Da ist die Bitterkeit, all die Gerichte zu sehen, die schon bald über das abgefallene Judentum und Christentum kommen werden. Und dann gibt es noch die Bitterkeit, die wir empfinden, wenn wir uns das ewige Gericht an all denen vorstellen, die den Erlöser verwerfen.
10,11 Johannes wurde gesagt, dass er »wieder … über Völker und Nationen und Sprachen und viele Könige … weissagen« müsse. Die restlichen Kapitel der Offenbarung erfüllen diesen Auftrag. G. Die beiden Zeugen (11,1-14)
11,1.2 Johannes wurde nun befohlen, »den Tempel Gottes«, »den Altar« und die Anzahl der Anbeter zu messen. Messen scheint hier den Gedanken der Bewahrung zu enthalten. Er sollte nicht »den Hof« der »Nationen« messen, weil er von den Heiden »zweiundvierzig Monate« (die zweite Hälfte der Trübsalszeit; vgl. Lk 21,24) »zertreten« werden würde. Der hier erwähnte »Tempel« ist derjenige, der während der Trübsalszeit in Jerusalem stehen wird. Die Handlung, die Anbeter zu zählen, könnte bedeuten, dass Gott sich einen Überrest an Anbetern bewahren wird. Der »Altar« ist ein Bild für die Art und Weise, wie sie sich Gott nahen werden, d. h. durch das Werk Christi auf Golgatha.
11,3 Gott wird während der zweiten Hälfte der Trübsalszeit »zwei Zeugen« erwecken. Sie sind »mit Sacktuch bekleidet«, einem Symbol für Trauer. Sie werden gegen die Sünden der Menschen predigen und Gottes kommenden Zorn ankündigen.
11,4 Die zwei Zeugen werden mit »zwei Ölbäumen« und »zwei Leuchtern« verglichen. Als »Ölbäume« sind sie mit dem Geist erfüllt (Öl). Als »Leuchter« bezeugen sie die Wahrheit Gottes in einer Zeit der Finsternis. (Eine alttestamentl iche Parallele findet sich in Sacharja 4,2-14.)
11,5 Dreieinhalb Jahre lang werden die Zeugen auf wunderbare Weise vor Schaden bewahrt. »Feuer aus ihrem Mund … verzehrt ihre Feinde«, und schon der Versuch, ihnen zu schaden, wird mit dem Tod bestraft.
11,6 Sie »haben die Macht«, Dürre über die Erde zu bringen, das Wasser »in Blut zu verwandeln und die Erde« »mit jeder Plage« »zu schlagen«. Es ist nicht erstaunlich, dass man sie oft für Mose und Elia gehalten hat. Ihre »Macht«, Wasser »in Blut zu verwandeln« und »die Erde zu schlagen mit jeder Plage« erinnert uns daran, was Mose in Ägypten getan hat (2. Mose 7,14-20; 7,26 – 12,29). Ihre Macht über Feuer und Wasser erinnert uns an den Dienst Elias (1. Kön 17,1; 18,41-45; 2. Kön 1,9-12).
McConkey sagt:
Sie werden die in den Tempel strömenden Menschen vor dem Menschen der Gesetzlosigkeit, den sie anbeten wollen, warnen. Sie werden daran erinnern, wie kurz der Sieg des Antichrists ist. Ferner werden sie an das Kommen Jesu zur Vernichtung des Antichrists, an die mit der Trübsal einhergehenden Gefahren und an die Notwendigkeit erinnern, das eigene Leben nicht zu lieben, wenn es um Leben und Tod gehen wird. Außerdem rufen sie ins Gedächtnis, dass man nicht denjenigen fürchten soll, der nur den Leib töten kann, sondern den, der sowohl Leib als auch Seele in die Hölle werfen kann. Sie erinnern an die Herrlichkeit und das baldige Kommen des Königs sowie seines Reiches, nachdem die Gläubigen eine Weile gelitten haben. Darüber hinaus erinnern sie an die folgende Gewissheit: Die Gläubigen, die jetzt mit ihm leiden, werden auch mit ihm herrschen. Und schließlich rufen sie den ewigen Frieden, die Gerechtigkeit und die Herrlichkeit ins Gedächtnis, die diejenigen empfangen werden, die bis ans Ende aushalten. Diese Güter sind ihnen gewiss, auch wenn dies bedeuten mag, dass sie in der großen Stunde der Versuchung, durch die sie gehen, den Märtyrertod erleiden. Ihr schriftgegründetes Zeugnis wird wirklich vollmächtig sein.22
11,7 »Wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben werden, wird das Tier … aus dem Abgrund … sie töten.« Dieses Tier scheint demjenigen in 13,8 zu entsprechen – das Haupt des wiedererstandenen Römischen Reiches.
11,8 Die »Leichname« der Zeugen werden dreieinhalb Tage »auf der Straße« Jerusalems liegen. Die Stadt Jerusalem wird hier wegen ihres Stolzes, ihres Wohlstands, ihrer Behaglichkeit und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen »Sodom« genannt (vgl. Hes 16,49). Und sie wird wegen ihres Götzendienstes, ihrer Rolle bei der Verfolgung der Gottesboten und ihrer Hörigkeit gegenüber der Sünde und der Ungerechtigkeit »Ägypten« genannt.
11,9 Menschen aus allen »Nationen« sehen die »Leichname« der Zeugen, doch sie »erlauben nicht«, sie zu beerdigen, was in fast allen Kulturen als schreckliche Schmach gilt.
11,10 Große Freude ist überall, weil diese unbeliebten Propheten nun zum Schweigen gebracht worden sind, und die Menschen tauschen sogar »Geschenke« aus, wie man es heute zu Weihnachten tut. Nur tote Propheten werden von den Menschen geliebt.
11,11.12 »Nach« dreieinhalb »Tagen« wird Gott die Zeugen zum Erschrecken der Bevölkerung auferwecken und sie »in den Himmel hinauf« nehmen, während ihre Feinde zuschauen.
11,13.14 Gleichzeitig wird Jerusalem von einem großen »Erdbeben« erschüttert, dem »der zehnte Teil der Stadt« zum Opfer fällt, und »siebentausend Menschen« werden »getötet«. Die Überlebenden geben »Gott« die »Ehre«, doch ist dies keine echte Anbetung, sondern ein widerwilliges Eingeständnis seiner Macht. »Das zweite Wehe ist vorüber.« Das bedeutet nicht, dass alles von 9,13 bis 11,13 zum zweiten Wehe gehört. Ganz im Gegenteil, denn Kapitel 10 und 11,1-13 sind Einschübe zwischen dem »zweiten Wehe« (sechste Posaune) und dem »dritten Wehe« (siebte Posaune). H. Die siebte Posaune (11,15-19)
11,15 Das Blasen der siebten Posaune offenbart, dass die Große Trübsal vorbei ist, und die Herrschaft Christi beg onnen hat. »Das Reich23 der Welt ist unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit.«
11,16.17 Die »vierundzwanzig Ältesten … fielen auf ihre Angesichter« vor Gott und dankten ihm, weil er seine »große Macht« wieder »ergriffen« und seine Herrschaft angetreten hat.
11,18 Die ungläubigen »Nationen« sind »zornig« auf ihn und versuchen, seine Krönung zu verhindern. Doch nun ist die Zeit für Gott gekommen, mit ihnen zornig zu sein. Er wird diejenigen richten, die kein geistliches Leben haben, und die Verderber »verderben«. Und es ist Zeit für den Herrn, die Seinen zu belohnen, die »Propheten und« alle, »die deinen Namen fürchten«, ob sie nun »klein« oder »groß« sein mögen.
11,19 Gott hat seinen »Bund« mit seinem Volk Israel nicht vergessen. Wenn »der Tempel Gottes im Himmel … geöffnet« wird, dann erscheint »die Lade seines Bundes«, ein Symbol dafür, dass alle Verheißungen an Israel erfüllt werden. Es wird dabei »Blitze und Stimmen und Donner« geben, »und ein Erdbeben und ein großer Hagel« werden kommen. I. Die Hauptpersonen der Großen Trübsal (Kap. 12 – 15)
12,1 »Ein großes Zeichen erschien im Himmel«, nämlich »eine Frau, bekleidet mit der Sonne, und der Mond war unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen«. Die »Frau« ist Israel. Die »Sonne«, der »Mond« und die »Sterne« zeigen die Herrlichkeit und Macht, die Israel im kommenden Reich verheißen ist, so wie sie für Josefs Herrschaft über seinen Vater, seine Mutter und  seine  Brüder  stehen  (1. Mose  37,911).
12,2 Die Frau liegt »in Geburtswehen« und erwartet die Geburt eines Kindes. Ein großer Teil der Geschichte Israels wird in diesen Versen betrachtet, wobei nirgendwo angedeutet wird, ob es Zeitsprünge in der Schilderung gibt, oder ob die Vorgänge unbedingt in der richtigen Reihenfolge stehen.
12,3 Ein zweites »Zeichen« am »Himmel« ist »ein großer, feuerroter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner und auf seinen Köpfen sieben Diademe« hat. Der »Drache« ist Satan, doch weil die Beschreibung sehr der Darstellung des wiedererstandenen Römischen Reiches in Kapitel 13,1 ähnelt, kann es sich auch um Satan handeln, der hinter dieser Weltmacht steht.
12,4.5 Mit einem Schlag seines Schwanzes fegt er »den dritten Teil der Sterne des Himmels« hinweg und wirft sie »auf die Erde«, möglicherweise ein Hinweis darauf, dass im Himmel in der Mitte der Trübsal ein Kampf stattfindet. Infolgedessen werden gefallene Engel vom Himmel auf die Erde geworfen werden (vgl. V. 8.9).
»Der Drache« ist bereit, das »Kind zu verschlingen« sobald es »geboren« ist. Dies erfüllte sich in dem Versuch Herodes’ des Großen, einem Vasall Roms, den neugeborenen König der Juden zu vernichten. Der »Sohn« ist eindeutig Jesus, »der alle Nationen hüten soll mit eisernem Stab«. Der Bericht geht nun unvermittelt von seiner Geburt zu seiner Himmelfahrt über.
12,6 Zwischen den Versen 5 und 6 wird das Zeitalter der Gemeinde ausgelassen. In der Mitte der Trübsalszeit flieht ein Teil des Volkes Israel an einen geheimen Zufluchtsort »in der Wüste« (einige Ausleger denken dabei an die Felsenstadt Petra [im heutigen Jordanien; Anm. d. Übers.). Diese Menschen verbergen sich dreieinhalb Jahre lang.
12,7 Ein »Kampf« entsteht »im Himmel«, bei dem »Michael und seine Engel« auf der einen Seite und der »Drache und seine Engel« auf der anderen stehen. Dieses Ereignis markiert die Mitte der Trübsalszeit. Michael, der Erzengel, ist für die Angelegenheiten des Volkes Israel zuständig (Dan 12,1).
12,8.9 Der Drache wird so vollkommen besiegt, dass er jedes Recht auf Zugang zum »Himmel« verliert. Er und seine Untertanen werden »auf die Erde … geworfen«. Dies ist jedoch noch nicht sein endgültiges Schicksal (s. 20,1-3.10). Man beachte, wie Johannes ihn beschreibt: »Der große Drache, die alte Schlange, der Teufel und Satan genannt wird, der den ganzen Erdkreis verführt.«
12,10 Nachdem der Drache aus dem Himmel geworfen ist, folgt ein »lauter« Schrei »im Himmel«, der verkündet, dass Gottes Sieg und der Tag des Sieges seines Volkes gekommen sind. Dies ist eine Vorschau auf das Tausendjährige Reich. In der Zwischenzeit ist es ein wunderbares Ereignis, dass »der Verkläger unserer Brüder … hinabgeworfen ist«.
12,1 »Ein großes Zeichen erschien im Himmel«, nämlich »eine Frau, bekleidet mit der Sonne, und der Mond war unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen«. Die »Frau« ist Israel. Die »Sonne«, der »Mond« und die »Sterne« zeigen die Herrlichkeit und Macht, die Israel im kommenden Reich verheißen ist, so wie sie für Josefs Herrschaft über seinen Vater, seine Mutter und  seine  Brüder  stehen  (1. Mose  37,911).
12,11  Die  in  V. 10  begonnene  Mitteilung geht weiter. Verfolgte jüdische Gläubige haben den Bösen »um des Blutes des Lammes und um des Wortes ihres Zeugnisses willen … überwunden«. Ihr Sieg geschah aufgrund des Todes Christi und ihres »Zeugnisses« im Blick auf den Wert dieses Todes. Durch ihre Treue zu ihm haben sie ihr »Zeugnis« mit ihrem Blut besiegelt.
12,12.13 Der »Himmel« kann »fröhlich« über die Abwesenheit des Teufels sein, doch dies ist eine schlechte Nachricht für »Erde und … Meer«. »Der Teufel … weiß«, dass seine »Zeit« nur »kurz« ist. Er ist entschlossen, seinen Zorn soweit wie nur möglich auszugießen. Der Zorn des Drachen wendet sich besonders gegen Israel, das Volk, aus dem der Messias stammt.
12,14 Dem gläubigen jüdischen Überrest werden »zwei Flügel des großen Adlers gegeben«, wodurch er imstande ist, schnell zu seinem Zufluchtsort in der »Wüste« zu gelangen. (Einige Ausleger nehmen an, dass die »Flügel« Symbol für eine große Luftwaffe sind.) Der Überrest wird dreieinhalb Jahre lang versorgt und vor den Angriffen der Schlange beschützt (»eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit«).
12,15.16 In einem Versuch, Israels Flucht zu verhindern, lässt »die Schlange« einen großen Wasserstrom aus ihrem Rachen hervorschießen, der das Volk verfolgt, doch ein Erdbeben verschlingt das Wasser, sodass das Vorhaben des Teufels misslingt.
12,17.18 Aufgebracht über diese Demütigung versucht er, sich an den Juden zu rächen, die im Land geblieben sind – Juden, die die Echtheit ihres Glaubens dadurch beweisen, dass sie »die Gebote Gottes halten und« für »Jesus … Zeugnis« ablegen.
13,1 Kapitel 13 stellt uns zwei große Tiere vor: ein Tier, das sich »aus dem Meer« erhebt, und ein anderes, das sich aus der Erde bzw. dem Land (d. h. dem Land Israel) erhebt. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese Tiere für Menschen stehen, die während der Trübsal wichtige Rollen spielen. Sie vereinen die Eigenschaften der vier Tiere in Daniel 7,3-7. Das erste Tier ist das Haupt des wiedererweckten Römischen Reiches, das in Form eines Zehn-Reiche-Bundes besteht. Es steigt »aus dem Meer« auf, einem Bild für die heidnischen Nationen. Es hat »zehn Hörner«. Daniel sagte voraus, dass das Römische Reich in Form von zehn Reichen wiedererstehen würde (Dan 7,24). Es hat »sieben Köpfe«. In 17,9.10 wird von diesen ausgesagt, dass es sich um sieben Könige handle, möglicherweise ein Hinweis darauf, dass es sieben verschiedene Arten der Herrscher oder sieben verschiedene Phasen dieses Reiches gibt. Es hat »zehn Diademe … auf seinen Hörnern«. Diese künden von der Herrschermacht, die dem Tier vom Drachen, nämlich Satan, gegeben wird. Es hat »Namen der Lästerung« auf seinen »Köpfen«. Es beansprucht, Gott und nicht nur ein Mensch zu sein.
13,2 »Das Tier« ist »gleich einem Panther«, »seine Füße wie die eines Bären und sein Maul« wie dasjenige eines Löwen. In Daniel 7 steht der »Panther« für Griechenland, der »Bär« ist ein Bild für Medo-Persien, und der Löwe steht für Babylon. Das wiedererweckte Römische Reich ähnelt deshalb seinen Vorgängern, weil es ebenso schnell erobert, wie ein »Panther« seine Beute schlägt, so kraftvoll wie ein Bär ist und so gierig wie ein Löwe in Erscheinung tritt. Kurz gesagt, es vereint alle negativen Eigenschaften der vorhergehenden Weltreiche. Das Reich und sein Herrscher erhalten von Satan ihre übernatürliche Kraft.
13,3 Das Tier hat eine tödliche »Wunde« an einem seiner Häupter. Scofield erklärt: »Teile des alten Römischen Reiches haben immer als einzelne Königreiche fortbestanden. Die Regierungsform eines Weltreiches hatte aufgehört; das eine Haupt wurde tödlich wund (LU 1912).«24 Die »Todeswunde wurde geheilt«. Mit anderen Worten, das Weltreich wird mit einem Herrscher als Haupt, nämlich dem »Tier«, wiedererstehen.
13,4 »Das Tier« wird von den Menschen angebetet. Sie sind nicht nur erstaunt über dieses Tier, sondern verehren es sogar als Gottheit. Sie beten auch den »Drachen« an.
13,5.6 Das Tier tritt in prahlerischer sowie überheblicher Weise auf und »lästert« auf unerhörte Weise. Es darf »zweiundvierzig Monate wirken«. Es spricht abschätzig über »Gott«, »sein Zelt« und die himmlischen Heerscharen.
13,7 Es führt »Krieg« gegen das Volk Gottes und besiegt viele von ihnen. Sie jedoch sterben lieber, als sich dem Tier zu unterwerfen. Die Herrschaft des Tieres erstreckt sich über die ganze Welt – das letzte Weltreich vor dem Reich Christi.
13,8 Diejenigen, die keine wahren Gläubigen sind, beten bereitwillig das Tier an. Weil sie ihr Leben niemals Christus anvertraut haben, stehen ihre Namen auch nicht »im Buch des Lebens des geschlachteten Lammes« geschrieben. Und weil sich ihre Namen nicht unter den Namen der Erlösten befinden, fallen sie dem Irrtum anheim. Sie wollten der Wahrheit nicht glauben, nun glauben sie einer Lüge.
13,9 Dieser Vers sollte eine Warnung für alle sein, das Licht Gottes anzunehmen, solange es noch scheint. Wer das Licht verwirft, dem wird es nun als Folge davon vorenthalten.
13,10 Wahre Gläubige dürfen wissen, dass ihre Verfolger »in Gefangenschaft gehen« und einst »mit dem Schwert getötet« werden. Dies ermöglichte es den Heiligen, in Glaube und Geduld auszuharren.
13,11 Das zweite Tier ist eine andere wichtige Person der Trübsalszeit. Es arbeitet eng mit dem ersten Tier zusammen und organisiert sogar eine internationale Kampagne zur Anbetung des ersten Tiers und eines großen Götzenbildes, das den Herrscher des endzeitlichen römischen Reiches darstellt. Das zweite Tier steigt »aus der Erde« oder aus dem Land herauf. Wenn hier das Land Israel gemeint ist, dann ist diese Führerfigur ganz sicher ein Jude. Es handelt sich um den falschen Propheten (vgl. 16,13; 19,20; 20,10). Dieses Tier hat »zwei Hörner« wie ein »Lamm«, die es äußerlich freundlich und harmlos erscheinen lassen, aber auch nahelegen, dass es das Lamm Gottes ist. Es »redet« jedoch »wie ein Drache«, womit deutlich gemacht wird, dass es direkt von Satan inspiriert ist und von ihm seine Macht erhält.
13,12-14 »Die ganze Macht des ersten Tieres übt es vor ihm aus«, d. h. dass der Regent dieses endzeitlichen Reiches ihm unbegrenzte Herrscherautorität gibt, in seinem Namen zu handeln. Es hat übernatürliche Fähigkeiten, es kann sogar »Feuer vom Himmel … auf die Erde« fallen lassen. Der Zweck dieser Wunder ist natürlich, die Menschen dazu zu bringen, einen Menschen als Gott anzubeten.
13,15 Es lässt das große Bild lebendig werden, den Gräuel der Verwüstung, sodass es wirklich »reden« kann. Wer es nicht anbetet, muss die Todesstrafe erleiden.
13,16 Das zweite Tier besteht darauf, dass die Menschen ihre Treue zu dem endzeitlichen Herrscher bekunden, indem sie das »Malzeichen« des Tieres auf »ihrer rechten Hand« oder auf »ihrer Stirn« tragen.
13,17 Zusätzlich zu diesem »Malzeichen« hat das Tier einen »Namen« oder eine geheimnisvolle »Zahl«. Wenn jemand nicht das »Malzeichen«, den »Namen« oder die »Zahl des Tieres« hat, dann kann er weder »kaufen« noch »verkaufen«. Dies ist der Versuch, Menschen durch ökonomische Mittel zu zwingen, Christus aufzugeben und sich dem Götzendienst zuzuwenden. Das wird eine harte Prüfung, doch wahre Gläubige werden den Tod vorziehen, statt ihren Erlöser zu verleugnen.
13,18 »Die Zahl des Tieres« ist 666. Sechs ist die Zahl des Menschen. Die Tatsache, dass es eins weniger ist als sieben kann heißen, dass der Mensch nicht die Herrlichkeit und Vollkommenheit Gottes besitzt. Die dreifache Sechs steht für die Dreieinheit des Bösen.
Eine der größten Fragen in Zusammenhang mit Kapitel 13 lautet, ob das erste oder das zweite Tier der Antichrist ist. Ist das erste Tier der Antichrist, so lautet die Argumentation, dass es darauf besteht, als Gott angebetet zu werden. Diejenigen, die der Ansicht sind, dass das zweite Tier der Antichrist ist, weisen auf Folgendes hin: Die Juden würden niemals einen heidnischen Messias annehmen, und weil das zweite Tier jüdischer Herkunft sei, müsse es deshalb der Antichrist sein.
14,1 Wir sehen nun »das Lamm … auf dem Berg Zion« stehen, »und mit ihm hundertvierundvierzigtausend« Jünger, die alle »an ihren Stirnen« versiegelt sind. Dies ist eine Vorausschau auf die Zeit, wenn der Herr Jesus auf die Erde zurückkehren und in Jerusalem stehen wird, wobei diese Gruppe von Gläubigen aus allen zwölf Stämmen Israels bei ihm sein wird. Die »Hundertvierundvierzigtausend« sind dieselben, die schon in Kapitel 7 erwähnt wurden. Sie gehen an dieser Stelle gerade in das Reich Christi ein.
14,2.3 Johannes hört nun Musik »aus dem Himmel wie das Rauschen vieler Wasser und wie das Rollen eines lauten Donners« und »wie von Harfensängern, die auf ihren Harfen spielen«. »Nur die Hundertvierundvierzigtausend« konnten dieses »Lied lernen«.
14,4.5 Sie werden als »jungfräulich« beschrieben, als diejenigen, »die sich mit Frauen nicht befleckt haben«. Sie hatten sich von dem furchtbaren Götzendienst und der Unmoral der Zeit ferngehalten und waren dem »Lamm« in bedingungslosem Gehorsam und Hingabe gefolgt. Pentecost sagt: »Sie werden die ›Erstlingsfrucht für Gott und das Lamm‹ genannt, d.   h.,  sie  sind  die  erste  Ernte  der  Trübsalszeit, die in das Tausendjährige Reich kommt, um die Erde zu bevölkern.«25 Sie haben die Lüge des Antichrists nicht angenommen und keinen bloßen Menschen angebetet. Sie waren »untadelig«, soweit es um ihr standhaftes Zeugnis für Christus ging.
14,6.7 Der Engel, der »hoch oben am Himmel« fliegt und das »ewige Evangelium« hat, wird in Matthäus 24,14 erwähnt: »Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem gan zen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.« Das Thema dieses Evangeliums wird in Vers 7 genannt. Den Menschen wird befohlen, »Gott« und nicht das Tier zu fürchten. Sie sollen Gott und nicht einem Götzenbild »Ehre« geben. Außerdem sollen sie Gott und nicht einen bloßen Menschen anb eten. Natürlich gibt es nur ein Evangelium, nämlich die gute Nachricht von der Erlösung durch Glauben an Christus. Doch gibt es in den verschiedenen Zeitaltern unterschied liche Schwerpunkte. Während der Großen Trübsal wird das Evangel ium ver suchen, die Menschen von der Verehrung des Tieres abzuwenden und auf das Reich Christi auf Erden vorzubereiten.
14,8 Der »zweite Engel« verkündet den Fall Babylons. Dies ist eine Vorschau auf die Kapitel 17 und 18. »Babylon« stellt das abgefallene Judentum und das abtrünnige Christentum dar, das sowohl auf finanziellem als auch auf religiösem Gebiet dominieren und im antichristlichen Machtzentrum vertreten sein wird. »Alle Nationen« werden von »dem Wein seiner leidenschaftlichen Unzucht« betrunken sein.
14,9.10 Wir können die Zeit des Kommens des dritten Engels auf die Mitte der Trübsalszeit festlegen, was gleichzeitig der Beginn der Großen Trübsal sein wird. Der »Engel« warnt davor, dass jeder, der auf irgendeine Weise in die Anbetung des Tieres einwilligt, Gottes »Zorn« jetzt und ewig ertragen muss. Der »Wein des Grimmes Gottes« wird während der Großen Trübsal auf die Erde ausgegossen. Doch das wird nur ein Vorgeschmack der Qualen der ewigen Hölle sein, wo die Ungläubigen »mit Feuer und Schwefel gequält werden«.
14,11 Dieser Vers erinnert uns daran, worin die Hölle besteht: Die Betreffenden werden bei vollem Bewusstsein eine ewige Strafe erleiden. Die Bibel lehrt nirgendwo, dass die ungläubigen Toten vernichtet würden. Der »Rauch ihrer Qual steigt auf in alle Ewigkeit«, und es gibt »Tag und Nacht« keine Ruhe für sie.
14,12 Dies ist der Zeitpunkt, zu dem die Heiligen aufgerufen werden, die Grausamkeiten des Tieres geduldig zu ertragen und Gott zu gehorchen, indem sie sich weigern, den Antichristen oder das Bild anzubeten. Außerdem sollen sie ihr Zeugnis des »Glaubens Jesu« bewahren. Die ewige Bestimmung der Ungläubigen  (V. 9-11)  dient  als  Ermutigung  für die Gläubigen, dies alles zu ertragen.
14,13 Gläubige, die während dieser Zeit »sterben«, werden die Segnungen des Tausendjährigen Reiches nicht verpassen. Der Mensch sagt: »Gesegnet sind die Lebenden.« Doch Gott sagt: »Glückselig die Toten, die … im Herrn sterben!«, und: »Ihre Werke folgen ihnen nach.« Alles, was wir für Christus und andere Menschen in seinem Namen tun, wird reich belohnt werden – jede Freundlichkeit, jede Opfergabe, jedes Gebet, jede Träne und jedes Wort des Zeugnisses.
14,14 Wenn wir diesen Abschnitt mit Matthäus 13,39-43 und 25,31-46 vergleichen, erfahren wir, dass die Ernte der Erde bei der Wiederkunft unseres Herrn stattfindet. Hier wird gesagt, dass Jesus selbst erntet, in Matthäus 13,39 sind die Engel die Erntearbeiter. Beides ist wahr, denn Christus erntet mithilfe seiner Engel.
Wir sehen hier, wie Christus auf einer »weißen Wolke« herabkommt. »Auf seinem Haupt« hat er »einen goldenen Siegeskranz und in seiner Hand eine scharfe Sichel«.
14,15 Ein »Engel« aus dem »Tempel« ruft ihm zu: »Schicke deine Sichel und ernte! … Denn die Ernte der Erde ist überreif geworden.« Dies ist kein Befehl, denn Engel haben kein Recht, dem Herrn Jesus zu befehlen. Es ist vielmehr eine Bitte oder eine Nachricht, die von Gott übermittelt wird.
14,16 Man kann diese erste Ernte auf zweierlei Weise verstehen. Zunächst einmal könnte dies ein Bild für die Sammlung der Gläubigen der Trübsalszeit sein: Sie werden in das Tausendjährige Reich kommen. Nach dieser Ansicht entspricht die Ernte dem guten Samen in Matthäus 13, d. h. den Söhnen des Reiches. Es kann sich jedoch auch um eine Ernte des Gerichts handeln. In diesem Fall könnte das Gericht die Heiden betreffen, weil Israel offenbar erst bei der nächsten Ernte im Vordergrund steht (V. 17-20).
14,17 Nun wendet sich der Bericht den letzten furchtbaren Gerichten zu, die den ungläubigen Teil des Volkes Israel betreffen werden, den Weinstock der Erde (s. Ps 80,9; Jes 5,1-7; Jer 2,21; 6,9). Ein »Engel« kommt »aus dem Tempel im Himmel hervor«, ausgerüstet mit einer »scharfen Sichel«.
14,18 »Ein anderer Engel« gibt das Signal zur Ernte. Dieser Engel hat »Macht über das Feuer«, was vielleicht ein Symbol des darauffolgenden Gerichts ist.
14,19 Die reifen Trauben werden gesammelt und »in die große Kelter des Grimmes Gottes« geworfen. Das Keltern der Trauben bei der Weinherstellung wird hier als Bild für zermalmendes Gericht benutzt.
14,20 Dieses Gericht findet »außerhalb der Stadt« Jerusalem statt, vielleicht im Tal Joschafat. Die Ernte wird so groß sein, dass das Blut in einem Strom fließt, der so tief ist, dass er »bis an die Zügel der Pferde reicht« und fast 300 km lang ist. Er würde von Jerusalem bis zum Süden Edoms reichen.
15,1 »Ein anderes Zeichen im Himmel« besteht aus »sieben Engeln, die die sieben … letzten … Plagen hatten«. Wenn sie losgelassen werden, wird mit ihnen der »Grimm Gottes« vollendet werden. Von daher wissen wir, dass es nun auf das Ende der Trübsal zugeht.
15,2 Johannes sieht eine große Gemeinschaft von Menschen im Himmel, die »an dem gläsernen Meer stehen«, das »mit Feuer gemischt« ist. Er erkennt sie als diejenigen, die sich geweigert haben, »das Tier« oder »sein Bild« anzubeten. Zweifellos starben sie als Folge davon den Märtyrertod.
15,3.4 Doch nun sind sie im Himmel und singen »das Lied Moses … und das Lied des Lammes«, das sich fast völlig aus Zitaten des AT zusammensetzt. Sie zeugen im Vorgriff auf sein Handeln an ihren Mördern auf Erden von der Gerechtigkeit des Gerichtes Gottes. Sie preisen »Gott«, den »Allmächtigen«, für seine »Werke« und »Wege«. In diesem Zusammenhang geht es um sein Gerichtshandeln, obwohl das Lob natürlich auch für alle seine Werke und Wege gelten kann. Statt »König der Heiligen« (Schl 2000) sollte »König der Nationen« stehen.26 »Das Lied Moses« besang Gottes Befreiung seines Volkes aus der Sklaverei in Ägypten. »Das Lied des Lammes« rühmt die endgültige Befreiung von Satan und allen Feinden des geistlichen Lebens. A. T. Pierson hat treffend darauf hingewiesen, dass »sie für die beiden wichtigsten Ereignisse der Heilsgeschichte stehen, und zwischen ihnen liegt die gesamte Geschichte des von Gott erkauften Volkes«.27
Gottes Gerichte über die Erde haben ihn als heiligen Gott erwiesen. Sie werden dazu führen, dass »alle Nationen« sich vor ihm »fürchten« und ihn »anbeten«.
15,5 »Nach diesem« sah Johannes, dass »der Tempel des Zeltes des Zeugnisses im Himmel geöffnet wurde«. Dies ist offensichtlich die himmlische Realität, wovon der irdische Tempel ein Abbild war (Hebr 9,23). Es geht hier besonders um das Allerheiligste.
15,6 »Sieben Engel« kommen nun, »bekleidet mit reinem, glänzendem Leinen und um die Brust gegürtet mit goldenen Gürteln«. Dies bedeutet, dass sie ausgerüstet sind, dass gerechte Gericht Gottes zu vollstrecken, wodurch Gott verherrlicht werden wird. Diese »Engel« werden die letzten »sieben Plagen« ausgießen.
15,7 »Eines der vier lebendigen Wesen« gibt jedem Engel eine Schale. Diese »Schalen« enthalten das Endgericht der Großen Trübsal, das alle Feinde Gottes und nicht nur einen Teil treffen wird.
15,8 Die Tatsache, dass »niemand … in den Tempel eintreten« konnte, »bis die sieben Plagen … vollendet« waren, kann bedeuten, dass keine priesterliche Fürsprache nun Gottes Zorn noch zurückhalten kann.
J. Die sieben Zornschalengerichte (Kap. 16)
16,1.2 »Eine laute Stimme aus dem Tempel« befiehlt nun »den sieben Engeln«, dass sie hingehen und »die sieben Schalen des Grimmes Gottes auf die Erde« ausgießen sollen. Diese Gerichte ähneln den Posaunengerichten von ihrer Art und Reihenfolge her, doch sie sind schwerwiegender. Die erste Schale lässt »ein böses und schlimmes Geschwür« an den Menschen ausbrechen, die das Tier »und sein Bild« angebetet haben.
16,3 Die zweite Plage verwandelt das Wasser des Meeres »zu Blut wie von einem Toten«, und alles Leben im Meer erstirbt.
16,4 Die dritte »Schale« lässt alle »Wasserquellen … zu Blut« werden.
16,5.6 An diesem Punkt verteidigt der »Engel der Wasser« die Gerechtigkeit des Gerichtes Gottes. Die Menschen erhalten nur die gerechte Strafe für ihre eigenen Sünden. Sie haben viel »Blut … vergossen«, und nun bekommen sie »Blut« statt Wasser «zu trinken«. »Sie sind es wert.«
16,7 »Der Altar« steht wahrscheinlich für die Seelen der Märtyrer (6,9). Sie haben lange und geduldig darauf gewartet, dass ihre Verfolger bestraft würden.
16,8.9 Die vierte Plage lässt die Menschen unter schlimmen Verbrennungen durch die Strahlen der Sonne leiden. Dies führt jedoch »nicht« dazu, dass sie »Buße« tun. Stattdessen »lästern« sie Gott, dass er ihnen diese Hitze geschickt hat.
16,10.11 »Der fünfte« Engel gießt nun die Plage der Finsternis über den »Thron« oder das Reich »des Tieres« aus. Dies lässt die Menschen noch mehr leiden, weil sie nicht mehr reisen können, um sich vor den folgenden Plagen in Sicherheit zu bringen. Doch ihre Herzen ändern sich dadurch nicht. Sie hassen Gott nur umso mehr.
16,12 Wenn die »sechste … Schale« ausgegossen wird, dann vertrocknet das Wasser des »großen Stromes Euphrat«. Dies gestattet es den Armeen aus dem Osten, in Richtung des Landes Israel zu marschieren.
16,13.14 Johannes sieht »drei« froschähnliche »Geister aus dem Mund des Drachen und … des Tieres … und des falschen Propheten« kommen. Hier haben wir Satans Nachäffung der Dreieinheit. Es handelt sich um dämonische »Geister«, die »Zeichen« und Wunder vollbringen, um die Herrscher der Welt zu betrügen und sie zum großen letzten »Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen«, anzuwerben, der die Entscheidung bringen wird.
16,15 Bei der Erwähnung dieser Schlacht schiebt der Herr einen besonderen Segen für die Heiligen der Trübsal ein. Es sind diejenigen, die auf seine Wiederkehr gewartet und sich vom Götzendienst ihrer Tage rein gehalten haben. Er wird zu den Unerretteten »wie ein Dieb« kommen, unerwartet und mit großem Verlust für die Betreffenden.
16,16 Die Armeen der Welt werden sich an einem »Ort« versammeln, »der auf hebräisch Harmagedon (oder auch Megiddo28) heißt«. Man nimmt allgemein an, dass es sich dabei um die Ebene Jesreel (zur Zeit Jesu hieß sie Esdrelon) handelt, an deren Südrand Megiddo liegt. Es ist überliefert, dass Napoleon diese Ebene als den idealsten Kampfplatz der Welt bezeichnet hat.
16,17 Dass es sich hierbei um das letzte Schalengericht handelt, sieht man anhand der Ankündigung des »siebenten« Engels: »Es ist geschehen.« Der Zorn Gottes, soweit er die Trübsalszeit betrifft, ist nun vollendet.
16,18 Beim Ausgießen der letzten Schale werden furchtbare Naturkatastrophen auftreten: Explosionen, »Donner«, »Blitze« und ein »Erdbeben«, das in der Geschichte nichts Vergleichbares kennt.
16,19 »Die große Stadt … Babylon« wird »in drei Teile gespalten« und muss den »Kelch« des Zornes Gottes trinken. Er hat ihren Götzendienst, ihre Grausamkeit und ihre Religionsvermischung nicht vergessen. Gleichzeitig fallen »die Städte der Nationen«.
16,20 »Jede Insel« und die »Berge« verschwinden, während die Erde in beispielloser Weise in ihren Grundfesten erschüttert wird.
16,21 »Zentnerschwere« Hagelbrocken schlagen auf der Erde ein, doch die »Menschen lästern« lieber »Gott«, als Buße zu tun.
K. Der Fall von Babylon, der Großen (Kap. 17.18)
17,1.2 »Einer von den sieben Engeln« lädt Johannes ein, beim »Gericht über die große Hure« zugegen zu sein. Die Hure verkörpert eine große religiöse und kommerzielle Organisation, die sich im Machtzentrum des Antichrists etabliert hat. Viele glauben, dass Kapitel 17 das religiöse Babylon beschreibt und Kapitel 18 den kommerziellen Aspekt. Zum relig iösen Babylon gehört auf jeden Fall das abgefallene Christentum, ob es nun katholisch oder evangelisch geprägt ist. Es könnte sich sehr wohl um die ökumenische Kirche handeln. Man beachte die Beschreibung: Die »Hure … sitzt … an vielen Wassern« und kontrolliert große Teile der Heidenwelt. »Die Könige der Erde« haben mit ihr »Unzucht« getrieben; sie hat politische Führer mit ihren Kompromissen und Intrigen verführt. »Die Bewohner der Erde sind trunken geworden vom Wein ihrer Unzucht« – viele Menschen sind unter ihren bösen Einfluss geraten und zu schrecklicher Erb ärmlichkeit verkommen.
17,3 Die abgefallene Kirche sitzt »auf einem scharlachroten Tier«. Wir haben schon in Kapitel 13 festgestellt, dass dieses Tier das wiedererstandene Römische Reich ist (manchmal ist der Herrscher dieses Reiches gemeint). Das Tier ist »voll Lästernamen« und hat »sieben Köpfe und zehn Hörner«.
17,4 Für eine Weile scheint die abtrünnige Kirche das Reich zu beherrschen. Sie sitzt in vollem himmlischen Ornat und trägt die Symbole ihres enormen Reichtums. Sie hält einen »goldenen Becher« ihres Götzendienstes und ihrer Unmoral.
17,5 »An ihrer Stirn« hat sie »einen Namen, ein Geheimnis: Babylon, die große, die Mutter der Huren und der Gräuel der Erde«. Dies ist die Kirche, die das Blut der christlichen Märtyrer durch die Jahrhunderte hindurch vergossen hat und es auch jetzt noch tut. Sie ist trunken von ihrem Blut.
17,6 Wie viele andere »wunderte« sich Johannes, als er »die Frau … sah«, die »trunken vom Blut der Heiligen« war. Damit ist das Blut aller Heiligen aller Zeitalter der Kirchengeschichte gemeint, doch besonders dasjenige der »Zeugen Jesu« während der Trübsalszeit.
17,7.8 »Der Engel« bietet Johannes eine Erklärung für »das Geheimnis der Frau und … des Tieres«. Das »Tier«, das Johannes »gesehen« hat, »war« (das Römische Reich existierte in der Vergangenheit), »und ist nicht« (es zerbrach und existiert heute nicht mehr als Weltreich), und es »wird aus dem Abgrund heraufsteigen« (es wird in einer bes onders diabol ischen Form wiederauferstehen) sowie »ins Verderben« gehen (es wird völlig und endgültig zerschlagen werden). Über die Wiedererweckung des Reiches und die Erscheinung seines charismatischen Führers wird sich die Welt der Ungläubigen »wundern«.
17,9 Der Engel sagt nun, dass zum rechten Erfassen all dieser Ereignisse »Verstand« und »Weisheit … nötig« ist. »Die sieben Köpfe sind sieben Berge, auf denen die Frau sitzt.« Eine traditionelle Auslegung lautet, dass die Hure ihr Machtzentrum in Rom hat, das auf sieben Hügeln erbaut ist.
17,10 Einige Ausleger erklären diese »sieben Könige« als sieben Arten der Obrigkeit im Römischen Reich; nach Ansicht anderer verkörpern sie sieben Kaiser im wörtlichen Sinne. Wieder andere sind der Auffassung, dass die Könige für die großen Weltmächte stehen: Ägypten, Assyrien, Babylon, Persien, Griechenland, Rom und das zukünftige wiedererweckte Römische Reich.
17,11 Der »achte« König ist verschiedentlich als Führer des wiedererstandenen Römischen Reiches und als Antichrist gedeutet worden. Die genaue Bedeutung dieser Prophezeiung wird sich wohl erst dann ergeben, wenn sie erfüllt wird.
17,12 »Die zehn Hörner« können Symbole für zukünftige »Könige« sein, die unter dem römischen »Tier« herrschen werden. Sie werden »eine Stunde«, d. h. kurze Zeit, herrschen (vgl. V. 10b).
17,13 Die zehn Könige übergeben einmütig »ihre Kraft und Macht dem« römischen »Tier«. Mit anderen Worten, zehn Länder (oder Regierungen) übergeben ihm ihre nationale Souveränität.
17,14 Dieses Zehnerreich erklärt dem Herrn Jesus den Krieg, wenn er am Ende der Trübsalszeit auf die Erde zurückkehrt. Doch sie werden in dieser Schlacht eine vernichtende Niederlage erleben. Obwohl er »das Lamm« ist, erweist er sich doch auch als der »Herr der Herren und König der Könige«. Seine Jünger sind »Berufene und Auserwählte und Treue«.
17,15 Der Engel erklärt weiter, dass »die Wasser« in Vers 1 »Völker und Völkerscharen und Nationen und Sprachen« sind. »Die Hure sitzt« an den Wassern in dem Sinne, dass sie große Teile der Bevölkerung beherrscht.
17,16 Das wiedererstandene Römische Reich lässt sich offensichtlich von der Hurenkirche eine Zeit lang beeinflussen. Dann jedoch wirft es dieses unerträg liche Joch ab und zerstört sie. Die gehasste »Hure« wird entkleidet, verzehrt und vom Tier, auf dem sie saß, verbrannt.
17,17 Hinter all dem steht »Gott«. Er ist es, der dafür sorgt, dass sich die Reiche unter dem römischen Tier vereinigen und sich gegen die Hure wenden. Dies dient alles dazu, »die Worte Gottes« zu »vollenden«.
17,18 »Die große Stadt« ist das geheimnisvolle Babylon, das »über die Könige der Erde« herrscht. Doch wie wir gesehen haben, hat die Frau ihr Machtzentrum offensichtlich in Rom.
18,1 Kapitel 18 besteht größtenteils aus einem Grabgesang, der den Fall Babylons zum Thema hat. Wie erwähnt, bezieht sich dies auf die Hurenkirche, die nicht nur eine riesige religiöse Organisation darstellt, sondern das vielleicht größte Wirtschaftsunternehmen der Welt umfasst. Offensichtlich kontrolliert sie den Weltmarkt.
Als ein »anderer Engel« mit »großer Macht … aus dem Himmel« kommt, um die Nachricht weiterzusagen, ist es, als ob man das Licht angeschaltet hätte. »Die Erde wurde von seiner Herrlichkeit erleuchtet.«
18,2 »Babylon, die Große«, ist »gefallen«, und ihre Ruinen sind zum Unterschlupf für »Dämonen geworden«, für jeden »unreinen Geist« und für »unreine und gehasste« Vögel.
18,3 Der Grund für ihren Fall ist die völlige moralische Verderbnis, in die sie die Nationen und ihre »Kaufleute« gerissen hat. Sie hat »alle Nationen« mit ihrer »Unzucht … trunken« gemacht.
18,4 »Eine andere Stimme aus dem Himmel« fordert Gottes Volk auf, vor der Zerstörung der Stadt Babylon deren dem Untergang geweihtes System zu »verlassen« (vgl. Ei). Wer Gemeinschaft mit ihr pflegte, würde ihre »Plagen« mit erleiden.
18,5.6 »Ihre Sünden« haben sich »bis zum Himmel … aufgehäuft … und Gott hat ihrer Ungerechtigkeit gedacht«, Nun will er sie bestrafen. Ihr soll »doppelt nach ihren« bösen »Werken« vergolten werden, und zwar nicht durch das Volk Gottes, sondern durch den Engel, der das Werkzeug der Rache Gottes ist.
18,7 Ihre »Qual und Trauer« wird ihrem Hochmut und luxuriösen Lebensstil entsprechen. Sie meint, eine »Königin« zu sein, die über allem thront und vor »Traurigkeit« sicher ist.
18,8 Ihre Strafe wird »an einem Tag kommen«. Dazu werden »Tod und Trauer und Hunger« gehören. Der »Herr, Gott« selbst, wird sie »mit Feuer« richten.
18,9.10 »Die Könige der Erde« werden über den »Brand« derjenigen »wehklagen«, mit der sie früher Unzucht getrieben hatten. Ihre Trauer ist jedoch nicht selbstlos. Sie trauern über den Verlust von Vergnügen und Luxus. Sie »stehen … von fern« und wundern sich über das Ausmaß »ihrer Qual« und über ihr schnelles Ende.
18,11-13 »Die Kaufleute … trauern« im Wesentlichen deswegen, weil ihre Hoffnung auf Gewinn verloren ist. »Niemand kauft mehr ihre Ware.« Die Liste von Produkten und Gütern, womit Babylon gehandelt hat, scheint den gesamten Welthandel zu umfassen: Edelmetalle, Schmuck, Stoffe, »Holz« »Elfenbein«, »Erz«, »Eisen«, »Marmor«, »Räucherwerk«, »Salböl«, »Weihrauch«, »Wein«, »Öl«, »Getreide«, »Vieh«, »Pferde«, »Wagen«, »Leibeigene und Menschenseelen«. Sowohl die abgefallene Kirche als auch die Geschäftswelt haben sich schuldig gemacht, mit »Menschenseelen« zu handeln, die Kirche durch den Verkauf von Ablässen usw. und die Geschäftswelt durch Ausbeutung.
18,14 Die Geschäftsleute sprechen das gefallene System der Hure Babylon an und beklagen sich darüber, dass ihre erhofften Profite zunichtegeworden sind. Die Reichtümer und der Glanz sind plötzlich und für immer verschwunden.
18,15.16 Wie die Könige »stehen … die Kaufleute« entsetzt »von fern«, »weinend und trauernd«, weil sie ihren Gewinn in einer einzigen Stunde verloren haben. Sie erinnern sich an den ehemaligen Luxus der Stadt und daran, wie die Menschen fein »bekleidet« sowie »mit Gold und Edelgestein« geschmückt waren.
18,17.18 Nun ist all dieser Wohlstand zunichtegeworden, und der große Untergang steht unmittelbar bevor. Diejenigen, die im Seehandel tätig waren, stehen »von fern« und schreien: »›Wer‹ konnte sich je mit dieser ›großen Stadt‹ vergleichen?«
18,19 Sie werfen »Staub auf ihre Häupter«, weinen und klagen über die Stadt, die die Werften der ganzen Welt bereichert hat und nun »in einer Stunde« zerstört worden ist.
18,20 Doch während all diese gottlosen Tränen auf Erden vergossen werden, ist im »Himmel« große Freude. Endlich hat »Gott … für« seine »Heiligen und Apostel und Propheten« die Rache »vollzogen«. Er hat Babylon gerichtet, weil es sein Volk misshandelt und verfolgt hat.
18,21 »Ein anderer Engel« wirft »einen Stein … wie einen großen Mühlstein … ins Meer«, ein Bild für das endgültige Urteil über »Babylon«.
18,22 Die Geräusche ihres früheren Treibens gibt es nicht mehr, ob es nun um Musik, um Geräusche in all den Produktionsstätten oder um Mühlengeräusche geht – sie sind für immer verstummt.
18,23 Jedes »Licht« wird verlöschen, und niemals mehr wird es die Freude einer Hochzeit geben. Warum? Weil Babylons Führer »alle Nationen« durch ihre »Zauberei« in die Irre geführt haben.
18,24 Babylon war schuldig des Blutes »von Propheten und Heiligen« sowie all derer, die um ihres Glaubens willen »hingeschlachtet worden sind«. Nun wird ihr voll und ganz vergolten. L. Das Kommen Christi und seines Tausendjährigen Reiches (19,1 – 20,9)
19,1 »Nach diesem« hört Johannes »eine … große Volksmenge im Himmel«, die Gott für seine Gerechtigkeit bei der Bestrafung der großen Hure lobt. Das Lied erhebt den Herrn als »unseren Gott«, von dem das »Heil« ausgeht und dem »Herrlichkeit … und Macht« gehören.
19,2 Das Lied rechtfertigt ihn für seine Vernichtung der »großen Hure«. Es entsprach seinen Eigenschaften als wahrhaftiger und gerechter Gott, dass er die Hure für ihre »Unzucht« und den kaltblütigen Mord an »seinen Knechten« bestraft hat.
19,3 Der »Rauch«, der von dem Feuer der Vernichtung aufsteigt, ruft ein weiteres »Halleluja« (oder »Preist den Herrn«) hervor.
19,4 »Die vierundzwanzig Ältesten und die vier lebendigen Wesen« fallen mit einem lauten »Amen« und einem von Herzen kommenden »Halleluja« ein.
19,5 »Eine Stimme … vom Thron« ruft alle »Knechte« Gottes auf, in das Lob Gottes wegen der Vernichtung der widerlichen Hure Babylon einzufallen.
19,6 Nun wird im Himmel ein weiteres Lied angestimmt, so laut »wie ein Rauschen vieler Wasser und wie ein Rollen starker Donner«: »Dort sind die Heil’gen ohne Zahl / vereint beim Herrn zum Hochzeitsmahl / und singen laut: Dem Lamm sei Ehr’, / halleluja, er ist der Herr!« Ein großes »Halleluja« ertönt, um die Herrschaft »Gottes, des Allmächtigen«, zu besingen.
19,7.8 Die Trübsal ist nun vorbei. Babylon ist gerichtet. Nun ist »die Hochzeit des Lammes … gekommen«. Die Gemeinde, das »Weib« Christi, hat sich »bereit gemacht« für dieses wunderbare Ereignis. Sie ist gekleidet in »feine Leinwand, glänzend, rein«. Es wird erklärt, dass dieses Gewand ein Bild für »die gerechten Taten der Heiligen« ist.29
19,9 Ein Engel weist Johannes an, einen Lobpreis für alle zu schreiben, »die geladen sind zum Hochzeitsmahl des Lammes«. Die Gemeinde ist die himmlische Braut, die geladenen Gäste sind die restlichen Erlösten. Der Engel betont die Bedeutung des Segens, indem er sagt, dass es sich um »die wahrhaftigen Worte Gottes« handelt.
19,10 Johannes fällt anbetend vor dem Engel »nieder«, doch die Anbetung wird ihm verwehrt. Nur Gott soll angebetet werden. Der Engel ist nur ein »Mitknecht« des Johannes und aller, die »das Zeugnis Jesu« festhalten. Dann fügt der Engel hinzu: »Denn das Zeugnis Jesu ist der Geist der Weissagung.« Das bedeutet, dass der wahre Zweck der »Weissagung« darin besteht, die Person und das Werk »Jesu« zu bezeugen. »Prophetie«, so sagt C. C. Ryrie, »ist dazu da, die Lieblichkeit Jesu in ihrem ganzen Ausmaß darzustellen.«30
Der Engel möchte, dass die Menschen »Gott« den Sohn anbeten, für den er Zeugnis ablegte.
19,11 Schließlich kommen wir zu dem Ereignis, worauf der Rest des Buches hingewiesen hat. Es ist das herrliche Kommen Christi auf Erden, wenn er erscheint, um seine Feinde zu besiegen und sein Reich zu errichten. Dies ist nicht die Entrückung der Gemeinde, denn dabei kommt Christus in die Luft für seine Heiligen. Hier dagegen kommt er auf die Erde mit seinen Heiligen. Man beachte die Beschreibung unseres Herrn. Er sitzt auf einem »weißen Pferd«. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Schlachtross, weil er kommt, um seine Feinde zu besiegen. Sein Name ist »Treu und Wahrhaftig«. Seine Verheißungen sind »wahrhaftig«, und er ist von seinem Wesen her »treu«. »Er richtet und führt Krieg in Gerechtigkeit.« Er kann nur über ein Reich herrschen, dessen Bürger gern unter einer Obrigkeit der »Gerechtigkeit« leben. Deshalb muss er erst einmal alles beseitigen, das dieser Gerechtigkeit widerspricht.
19,12 »Seine Augen« sind wie »eine Feuerflamme«, was bedeutet, dass sein Gericht wirklich bis zu den Gedanken des Herzens durchdringt. Er kann jede Rebellion und jeden Unglauben aufdecken. »Auf seinem Haupt« trägt er »viele Diademe«. Andere mögen eine Siegeskrone tragen, doch er trägt das Diadem des Königtums. Auf ihm steht ein »Name«, »den niemand kennt als nur er selbst«. Mit der Person Christi sind Geheimnisse verbunden, die kein Geschöpf je wird verstehen können.
19,13 »Er ist bekleidet mit einem in Blut getauchten Gewand«. Es ist nicht das Blut, das er am Kreuz von Golgatha vergossen hat, sondern das »Blut« seiner Feinde, die er in der Weinkelter des Zornes Gottes zertreten hat. Er wird mit dem Namen »das Wort Gottes« genannt. Ein Wort ist ein Mittel, womit man einen Gedanken ausdrückt. In Christus hat Gott sich selbst dem Menschen gegenüber auf vollkommene Weise ausgedrückt.
19,14 Christus wird von den »Kriegsheeren« des Himmels begleitet, die »mit weißer, reiner Leinwand … bekleidet« sind und »auf weißen Pferden« reiten. Diese Heerscharen bestehen zweifellos aus Heiligen, doch es ist bemerkenswert, dass sie nicht kämpfen müssen. Der Herr Jesus besiegt seine Feinde ohne fremde Hilfe.
19,15 »Aus seinem Mund« kommt »ein scharfes Schwert«, womit er »die Nationen« schlägt. Er kommt, um sie »mit eisernem Stab« zu hüten und um »die Weinkelter des grimmigen Zornes des allmächtigen Gottes« (Schl) zu treten.
19,16 »Auf seinem Gewand und an seiner Hüfte« steht ein Name geschrieben:
König der Könige
und Herr der Herren
Unser Jesus ist der höchste Herrscher, alle anderen müssen sich seiner Herrschaft unterstellen.
19,17.18 Das »große Mahl Gottes« ist die Vernichtung der noch übrigen Feinde Gottes, ehe das Reich errichtet wird. Die Geier werden eingeladen, an dem Mahl teilzunehmen! Sie werden von den Leichen derer fressen, die vom Herrn getötet wurden, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, »Kleine« und auch »Große«.
19,19.20 In einem verzweifelten Versuch, Christus davon abzuhalten, die Herrschaft zu übernehmen (Ps 2), verbündet sich »das Tier« mit den »Heeren« der Welt, um »mit dem« Herrn und »seinem Heer Krieg zu führen«. Doch dies ist ein vergeblicher Versuch. Sowohl »das Tier« als auch »der falsche Prophet« werden »ergriffen« und »in den Feuersee geworfen, der mit Schwefel brennt«.
19,21 »Die übrigen« Rebellen werden »mit dem Schwert« des Herrn getötet, und ihre Leiber bieten den Geiern ein reiches Mahl. Das Schwert ist eine Anspielung auf das Wort Gottes (vgl. Eph 6,17; 2. Thess 2,8; Hebr 4,12; Offb 1,16; 2,12.16). Dies bringt uns nun zum Ende der Großen Trübsal.
20,1 Ehe das Tausendjährige Reich beginnen kann, muss Satan in seinen Machenschaften eingeschränkt werden. Um dies zu erreichen, kommt ein »Engel aus dem Himmel herab …, der den Schlüssel des Abgrundes und eine große Kette in seiner Hand hat«.
In gewissem Sinne hat unser Herr Satan schon gebunden, als er auf die Erde kam (Matth 12,29). So ist dies nur eine weitere Phase seiner Fesselung.
20,2 Der Engel ergreift Satan und bindet »ihn tausend Jahre«. Johannes gibt dem Versucher hier vier Namen: »Drachen«, »alte Schlange«, »Teufel« (Verkläger) und »Satan« (Widersacher).
20,3 Während des Tausendjährigen Reiches wird der Erzfeind »in den Abgrund« gesperrt. Der Abgrund wird »versiegelt«, sodass er nicht mehr hervorkommen und »die Nationen« verführen kann. Gegen Ende der Herrschaft Christi wird er »für kurze Zeit« losgelassen werden (V. 7-10).
20,4 Johannes sieht nun, dass Menschen auf »Throne« gesetzt werden, denen die Herrschaft gegeben wird. Dies sind die Heiligen des Gemeindezeitalters, die »mit Christus« als seine Braut herrschen werden. Johannes sieht auch eine Gruppe von Märtyrern, die sich geweigert haben, »das Malzeichen« des Tieres anzunehmen. Dies sind eindeutig Heilige der Trübsal, die um ihres Glaubens willen gestorben sind. Beide Gruppen werden »mit Christus« während des goldenen Zeitalters herrschen, das von Frieden und Wohlergehen gekennzeichnet ist.
20,5 Der erste Teil von Vers 5 muss als Einschub verstanden werden. »Die übrigen der Toten« bezieht sich auf die Ungläubigen aller Zeitalter, die am Ende des Tausendjährigen Reiches auferweckt werden, um vor das Gericht des großen weißen Thrones geführt zu werden. Die dann folgende Aussage (»dies ist die erste Auferstehung«) bezieht sich auf Vers 4 zurück. Die erste Auferstehung ist kein Einzelereignis. Der Ausdruck beschreibt die Auferstehung der Gerechten zu verschiedenen Zeiten. Dazu gehört die »Auferstehung« Christi (1. Kor 15,23), die »Auferstehung« der zu Christus Gehörenden bei der Entrückung der Gemeinde (1. Thess 4,13-18), die »Auferstehung« der beiden Zeugen, deren Leiber auf einer Straße Jerusalems liegen werden (Offb 11,11), und die »Auferstehung« der Heiligen der Trübsal, die hier beschrieben wird (vgl. auch Dan 12,2a). Mit anderen Worten gehört zur »ersten Auferstehung« die »Auferstehung« Christi und die aller wahren Gläubigen, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten auferweckt werden. Die erste Auferstehung wird in mehreren Phasen stattfinden.
20,6 Diejenigen, die »an der ersten Auferstehung« teilhaben, sind »glückselig«, weil sie nicht den »zweiten Tod« erleiden müssen – ganz im Gegensatz zu allen Ungläubigen, die in den Feuersee geworfen  werden  (V. 14).  Wahre  Gläubige »werden Priester Gottes und des Christus sein und mit ihm herrschen tausend Jahre«.
20,7.8 »Wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan aus« seiner Gefangenschaft befreit werden. Er »wird ausgehen« zu »den vier Ecken der Erde«, um »die Nationen zu verführen«, die Christus feindlich gesinnt sind und hier »Gog« und »Magog« genannt werden. Dieser Hinweis auf »Gog« und »Magog« sollte nicht mit einem ähnlichen Hinweis in Hesekiel 38 und 39 verwechselt werden. Dort ist Magog ein großes Land im Norden Israels, dessen Herrscher Gog ist. Hier beziehen sich die Worte auf die Nationen der Welt im Allgemeinen. In Hesekiel befinden wir uns vor dem Tausendjährigen Reich, während es an dieser Stelle schon hinter uns liegt.
20,9 Nachdem er eine Armee gottloser Rebellen aufgestellt hat, marschiert der Teufel auf Jerusalem, »die geliebte Stadt«, zu. Doch »Feuer« vom »Himmel« kommt »herab« und verschlingt das Heer. M. Das Gericht über Satan und alle Ungläubigen (20,10-15)
20,10 »Der Teufel« selbst wird »in den Feuer- und Schwefelsee« geworfen, um dort mit dem »Tier« und dem »falschen Propheten« zusammenzutreffen. Es mag erstaunen, dass Satan am Ende des Tausendjährigen Reiches imstande ist, eine Armee von Ungläubigen um sich zu sammeln. Doch man sollte sich daran erinnern, dass alle Kinder, die unter der Herrschaft Christi geboren werden, in Sünde geboren werden und erlöst werden müssen. Nicht alle werden ihn als rechtmäßigen König anerkennen, und diese werden sich auf der Erde verteilen. Sie werden nämlich versuchen, so weit wie möglich von Jerusalem entfernt zu sein.
Man beachte, dass »das Tier« und »auch der falsche Prophet« nach tausend Jahren noch immer in der Hölle sind. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Lehre von der Vernichtung der in der Hölle Befindlichen nicht stimmt. Eine weitere Widerlegung findet sich in der Aussage: »Und sie werden Tag und Nacht gepeinigt werden in alle Ewigkeit.«
20,11 Als Nächstes wird uns das Gericht am »großen weißen Thron« vorgestellt. Der Thron ist »groß« aufgrund dessen, was dort entschieden wird, und »weiß« wegen der Vollkommenheit und Reinheit der Urteile, die dort gesprochen werden. Der Herr Jesus sitzt hier als Richter (Joh 5,22.27). Der Ausdruck »vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel« zeigt an, dass dieses Gericht in der Ewigkeit stattfindet, und zwar nach der Vernichtung der jetzigen Schöpfung (2. Petr 3,10).
20,12 »Die Toten, die Großen und die Kleinen« stehen vor Gott. Dies sind die Ungläubigen aller Zeitalter. Zwei verschiedene Bücher werden »aufgeschlagen«. »Das Buch des Lebens« enthält die Namen aller, die durch das kostbare Blut Christi erlöst sind. Das andere Buch enthält eine detaillierte Beschreibung aller »Werke« der Ungläubigen. Niemand, der bei diesem Gericht erscheint, steht im »Buch des Lebens«. Die Tatsache, dass sein Name dort fehlt, verurteilt den Betreffenden, doch die Aufzeichnungen seiner bösen »Werke« bestimmt das Ausmaß seiner Strafe.
20,13 »Das Meer« wird die Leiber der Toten wieder hergeben, die dort begraben worden sind. Auch die Gräber, die hier mit »Tod« beschrieben werden, werden die Leiber aller Unerretteten hergeben, die in der Erde bestattet wurden. »Der Hades« wird die Seelen aller hergeben, die im Unglauben gestorben sind. Die Leiber und Seelen werden wiedervereinigt, um vor dem Richter zu erscheinen. So wie es im Himmel unterschiedlichen Lohn gibt, so gibt es in der Hölle unterschiedliche Strafen. Das Ausmaß der Strafe wird durch die »Werke« des Betreffenden bestimmt.
20,14 Wir lesen hier: »Der Tod und der Hades wurden in den Feuersee geworfen«. Dies bedeutet, dass die Betreffenden (also die hier Gerichteten) Personen mit Geist, Seele und Leib sind. Der Text erklärt, dass »dies … der zweite Tod« ist, und es wird hinzugefügt: »der Feuersee«. Es gibt einen Unterschied zwischen Hades und Hölle. Für die unerrettet Gestorbenen ist der Hades ein körperloser Zustand, worin sie bei vollem Bewusstsein Strafe erleiden. Es handelt sich um einen Aufenthaltsort, eine Art Zwischenstadium, worin sie auf das Gericht des »großen weißen Thrones« warten. Für die im Glauben Gestorbenen ist der Hades ein körperloser Zustand des Segens im Himmel, während sie auf die Auferstehung und die Verherrlichung des Leibes warten. Als der Herr Jesus starb, kam er ins Paradies (Lk 23,43), das Paulus mit  dem  dritten  Himmel  (2. Kor  12,2.4) als der Wohnstätte Gottes gleichsetzt. In Apostelgeschichte 2,27 wird der körperlose Zustand des Herrn »Hades« genannt. Gott ließ seine Seele jedoch nicht im Hades, sondern bekleidete sie mit einem verherrlichten Leib. Die Hölle ist das endgültige Gefängnis der ungläubig Verstorbenen. Es ist dasselbe wie der Feuersee, die Gehenna und der zweite Tod.
20,15 Der entscheidende Faktor bei diesem Gericht ist, ob der Name des Betreffenden »in dem Buch des Lebens« steht. Wenn jedoch der Name des Betreffenden an dieser Stelle verzeichnet gewesen wäre, dann hätte er an der ersten Auferstehung teilgehabt. Deshalb betrifft dieser Vers nur diejenigen, die vor dem großen weißen Thron stehen. N. Der neue Himmel und die neue Erde (21,1 – 22,5)
21,1 Es ist fraglich, ob Kapitel 21 und 22 sich nur mit der Ewigkeit befassen, oder ob sie abwechselnd vom Tausendjährigen Reich und der Ewigkeit berichten. Weil sich das Tausendjährige Reich und die Ewigkeit auf vielerlei Weise ähneln, überrascht es nicht, wenn sie in den Schriften des Apostel Johannes zuweilen in einem gesehen werden.
Hier nun wird die Ewigkeit »ein neuer Himmel und eine neue Erde« genannt. Sie sind nicht mit dem neuen Himmel und der neuen Erde zu verwechseln, von denen Jesaja 65,17-25 berichtet. Dort geht es um das Tausendjährige Reich, weil es noch immer Sünde und Tod gibt. Diese wird es in der Ewigkeit jedoch nicht mehr geben.
21,2 Johannes sieht »die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel von Gott herabkommen, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut«. An keiner Stelle wird gesagt, dass sie auf die Erde kommt. Dieser Sachverhalt veranlasst einige Ausleger zu der Schlussfolgerung, dass sie über der neuen Erde schweben wird. Die Tatsache, dass die Na men der Stämme Israels auf den To ren stehen, bedeutet, dass das erlöste Israel Zugang zu der Stadt haben wird, auch wenn es nicht Teil der Gemeinde selbst ist. Die Unterscheidung zwischen der Gemeinde (die Braut, das Weib des Lammes,  V. 9),  Israel  (V. 12)  und  den heid nischen Nationen ist ein Gedanke, der in der Bibel durchgängig beibehalten wird.
21,3 Johannes hört eine Ankündigung vom Himmel her, dass »das Zelt Gottes bei den Menschen« ist und »er bei ihnen wohnen« wird. Als »sein Volk« werden sie eine engere Gemeinschaft erleben, als sie es sich je vorstellen konnten. »Gott selbst wird bei ihnen« und ihr Gott sein. Seine Beziehung zu ihnen wird von Vertrautheit und Innigkeit geprägt sein.
21,4.5 Der Ausdruck »er wird jede Träne von ihren Augen abwischen« bedeutet nicht, dass es im Himmel Tränen geben wird. Es ist eine poetische Ausdrucksweise dafür, dass es dort keine Tränen geben wird. Auch wird es weder »Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz« geben. Für Gottes Volk sind diese Dinge dann für immer vorbei.
Der Eine, der »auf dem Thron« sitzt, wird »alles neu« machen. Seine »Worte sind gewiss und wahrhaftig« und werden sich ganz sicher erfüllen.
21,6 Der Beginn der Ewigkeit ist das Ziel der Pläne Gottes für die Erde, auf der wir leben. Wie »Alpha« und »Omega« der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets sind, so ist Gott »der Anfang und das Ende«, der Schöpfer und das Ziel der Schöpfung, der Eine, der den Anfang und das Ende in der Hand hält, der Ewige. Er ist derjenige, der das »Wasser des Lebens« (das Heil) »umsonst« jedem gibt, den danach dürstet.
21,7 Er ist derjenige, der die Überwinder mit einem vollständigen Erbe segnet und ihnen eine neue Vertrautheit in der Beziehung zwischen Vater und Gotteskind zueignet. Wie schon vorher bemerkt, ist ein Überwinder jemand, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist (1. Joh 5,5). Durch den Glauben überwindet er die Welt (1. Joh 5,4).
21,8 Doch nicht alle sind Überwinder. Einige sind »Feige« und fürchten sich, sich zu Christus zu bekennen; »Ungläubige« (nicht  gewillt,  dem  Sünderheiland zu vertrauen); »mit Gräueln Befleckte« (die sich scheußlichen Perversitäten  hingeben);  »Mörder« (die  jemanden  böswillig  töten);  »Unzüchtige« (die Ehebruch und andere sexuelle Sünden begehen);  »Zauberer« (diejenigen,  die mit bösen Geistern Kontakt haben); und »alle  Lügner« (die  gewohnheitsmäßig bet rügen). Diese werden in den Feuersee geworfen, wo sie für immer bleiben werden.
21,9 »Einer von den sieben Engeln« der sieben Zornschalengerichte bot Johannes an, ihm eine weiteren, genaueren Blick auf das neue Jerusalem zu gewähren, das er die »Braut, das Weib des Lammes«, nennt. Das kann bedeuten, dass die Stadt die Wohnstätte der »Braut« ist.
21,10.11 Johannes wurde »im Geist hinweg auf einen großen und hohen Berg« geführt, von wo er »die heilige Stadt Jerusalem, wie sie aus dem Himmel von Gott herabkam«, sah. Sie strahlte von der »Herrlichkeit Gottes« und funkelte wie ein kostbarer Edelstein.
21,12.13 Sie war von einer festen »Mauer« umgeben, die »zwölf Tore« hatte, die von »zwölf Engeln« bewacht wurden und auf denen die »Namen … der zwölf Stämme der Söhne Israels« geschrieben standen. Jeweils »drei Tore« wiesen in eine Himmelsrichtung. Die Zahl Zwölf wird 21-mal in diesem Buch und siebenmal in diesem Kapitel benutzt. Man deutet diese Zahl normalerweise als Zahl der Herrschaft oder Verwaltung.
21,14 Die »zwölf Grundsteine« der Mauer trugen »die Namen der zwölf Apostel des Lammes«. Dies kann ein Hinweis auf die Tatsache sein, dass sie mit ihren Lehren das Fundament für die Gemeinde legten (Eph 2,20).
21,15.16 Mit einem »goldenen« Maß bestimmte der Engel, dass die Stadt »zwölftausend Stadien« (etwa 2200 bis 2400 km) in der »Länge«, »Höhe« und »Breite« misst. Egal, ob es sich dabei um einen Würfel oder eine Pyramide handelt – sie umfasst jedenfalls ein weitaus größeres Gebiet als die Grenzen des wiedererstandenen Israel.
21,17 Die »Mauer« war »144 Ellen« dick. Der Ausdruck »eines Menschen Maß, das ist eines Engels Maß«, bedeutet, dass der Engel in den Versen 9 und 15 Maßeinheiten benutzt, die von Menschen verwendet werden.
21,18 Die Beschreibung der »Mauer« (Jaspis) und der »Stadt« (reines Gold), ist für uns zwar nur schwer vorstellbar, doch ist diese Beschreibung dazu gedacht, uns ein Bild von ihrem Glanz und ihrer Herrlichkeit zu geben. Das erreicht diese Beschreibung zweifellos.
21,19.20 »Die« zwölf »Grundsteine« sind mit zwölf kostbaren »Edelsteinen« geschmückt, ähnlich denen, die auf dem Brustschild des Hohenpriesters befestigt sind und für die zwölf Stämme Israel stehen. Es ist unmöglich, diese Edelsteine genau zu identifizieren oder ihre geistliche Bedeutung zu bestimmen.
21,21 »Die zwölf Tore« sind »zwölf Perlen«, eine Erinnerung daran, dass die Gemeinde die kostbare Perle ist, für die der Heiland alles verkaufte, was er hatte (Matth 13,45.46).
»Die Straße der Stadt« ist »reines Gold, wie durchsichtiges Glas«, was ihre unbefleckte Herrlichkeit darstellt.
21,22.23 Bestimmte Dinge fehlen in der Stadt. »Kein Tempel« ist notwendig, weil »der Herr, Gott, der Allmächtige … und das Lamm« in der Stadt sind. Es gibt weder »Sonne noch … Mond«, weil »die Herrlichkeit Gottes … sie erleuchtet« und das Lamm »ihre Lampe« ist.
21,24 Die heidnischen »Nationen« werden ihre Schönheit genießen und »die Könige der Erde« werden dem Herrn ihre Abgaben bringen.
21,25 Es gibt keine verschlossenen »Tore«, weil man immer sicher ist und stets Zugang hat. Es gibt dort keine »Nacht«, sondern es handelt sich um ein Land des ewigen Tages.
21,26 Wie schon erwähnt, wird der Reichtum »der Nationen« der Stadt zuteilwerden – all ihre »Herrlichkeit und … Ehre«.
21,27 Nichts Unreines wird dort hineinkommen, »sondern nur die, welche geschrieben sind im Buch des Lebens des Lammes«.
22,1.2 Ein reiner »Strom von Wasser des Lebens« fließt vom »Thron Gottes und des Lammes« aus durch die »Mitte« der »Straße«. »Diesseits und jenseits« des Stromes wächst der »Baum des Lebens« mit seinen »zwölf Früchten«, deren Genuss nicht mehr verboten ist. Das bedeutet, dass Gott für jede Jahreszeit unaufhörlich Sorge trägt. »Die Blätter des Baumes sind zur Heilung der Nationen.« Hier handelt es sich um eine symbolische Aussage, dass die Nationen immer gesund bleiben werden.
22,3-5 A. T Pierson fasst wie folgt zusammen:
»Und keinerlei Fluch wird mehr sein« – vollkommene Sündlosigkeit; »… und der Thron Gottes und des Lammes wird in ihr sein« – vollkommene Herrschaft;
»… und seine Knechte werden ihm dienen« – vollkommener Dienst; »… und sie werden sein Angesicht sehen« – vollkommene Gemeinschaft; »… und sein Name wird an ihren Stirnen sein« – vollkommene Ähnlichkeit; »… und Nacht wird nicht mehr sein« – vollkommene Glückseligkeit; »… und sie werden herrschen in alle Ewigkeit« – vollkommene Herrlichkeit.31
O. Abschließende Warnungen, Trost, Einladung zum Glauben und Segen (22,6-21)
22,6 Der Engel, der Johannes alles erklärt, erinnert ihn an die Vertrauenswürdigkeit alles ihm Geoffenbarten. »Der Herr«, »Gott« hatte »seinen Engel gesandt, seinen Knechten« eine Gesamtschau künftiger Ereignisse zu gewähren. Er sollte ihnen »zeigen, was bald geschehen muss«.
22,7 Der Höhepunkt all dieser Ereignisse wird das herrliche Kommen des Heilands sein. Er versichert uns, dass er »bald« kommen wird. Ein besonderer Segen wird über jeden ausgesprochen, »der die Worte der Weissagung dieses Buches bewahrt«. Wir können dies tun, indem wir in der Hoffnung auf sein Kommen leben.
22,8.9 Als »Johannes … diese Dinge hörte und sah … fiel« er zu Füßen des »Engels« nieder, doch dies wurde ihm verwehrt. Der »Engel« ist auch nur ein Geschöpf, und nur »Gott« soll angebetet werden.
22,10 Johannes sollte »die Worte der Weissagung … nicht« versiegeln, weil »die Zeit … nahe« war. »Versiegeln« bedeutet hier, die Bekanntmachung aufzuschieben.
22,11 Wenn die Zeit der Erfüllung kommt, dann werden die Ungerechten in ihrer Unbußfertigkeit bleiben. »Der Unreine« hat keine weitere Chance, sich zu ändern, wenn der Herr auf die Erde wiederkehrt. Doch der »Gerechte« wird weiterhin gerecht leben, ebenso wird der »Heilige« mit seinem geheiligten Leben fortfahren.
22,12.13 Und wieder kündigt der Herr sein baldiges Kommen an, diesmal mit der Verheißung, »einem jeden zu vergelten, wie sein Werk ist«. Und erneut stellt er sich als »das Alpha und das Omega« vor. Derselbe, der alles erschaffen hat, wird den Vorhang auf der Bühne der Zeit fallen lassen.
22,14 Dieser Vers hat zwei Lesarten: »Glückselig, die ihre Kleider waschen«, oder: »Glückselig sind, die seine Gebote halten« (Schl 2000). Keine dieser Lesarten lehrt Werkgerechtigkeit. Vielmehr geht es um Werke als Frucht und Beweis der Errettung. Nur wahre Gläubige haben Zugang zum »Baum des Lebens« und zur ewigen »Stadt«.
22,15 Für immer ausgeschlossen bleiben »Hunde«, »Zauberer«, »Unzüchtige«, »Mörder«, »Götzendiener« und Lügner. »Hunde« kann sich hier auf männliche Prostituierte (5. Mose 23,18), auf unreine Heiden (Matth 15,26) oder jüdische Irrlehrer (Phil 3,2) beziehen.
22,16 Der Herr sandte seinen »Engel« mit dieser Botschaft für »die Gemeinden«. Er nennt sich selbst »Wurzel und das Geschlecht Davids«. Von seiner Göttlichkeit her ist er Davids Schöpfer, von seinem Menschsein her ist er Davids Nachkomme. »Der glänzende Morgenstern« erscheint am Himmel, ehe die Sonne aufgeht. Christus wird für die Gemeinde zuerst als »glänzender Morgenstern« kommen, d. h. bei der Entrückung. Später wird er als Sonne der Gerechtigkeit kommen, mit Heilung unter seinen Flügeln (Mal 3,20).
22,17 Man kann diesen Vers auf zweierlei Weise verstehen. Zunächst einmal kann er ein allgemeiner Ruf hin zum Evangelium sein, wobei »der Geist und die Braut« sowie der Zuhörer die Durstigen auffordern, zu Christus zu kommen, um die Errettung zu erlangen. Das dreifache »Komm« kann jedoch auch ein Gebet sein, dass Christus wiederkommen möge, worauf zwei Einladungen an die Unerretteten folgen, zu ihm zu kommen, um »das Wasser des Lebens« (die Erlösung) zu erlangen und sich damit auf seine Wiederkunft vorzubereiten.
22,18.19 Wenn Menschen zu den Dingen, die in diesem »Buch« stehen, etwas hinzufügen, dann werden sie »die Plagen« erleiden müssen, die darin beschrieben werden. Weil die Themen dieses Buches eng mit der gesamten Bibel verflochten sind, verurteilt dieser Vers letztlich jeden Eingriff in das Wort Gottes. Ein ähnliches Gericht wird über jeden ausgesprochen, der »von den Worten des Buches dieser Weissagung« etwas »wegnimmt«. Dabei geht es nicht um kleinere Einzelheiten der Auslegung, sondern um einen offenen Angriff auf die Inspiration und Vollständigkeit der Bibel. Wer das tut, der wird verurteilt werden. »Gott ... wird ... sein Teil wegnehmen von dem Baum des Lebens.« Es bedeutet, dass er niemals die Segnungen derer erfahren wird, die das ewige »Leben« haben.
22,20 Die Offenbarung schließt mit einer Verheißung und mit einem Segensspruch. Die Verheißung lautet, dass der Herr Jesus »bald« kommen wird. Jeder Erlöste antwortet auf diese wunderbare Hoffnung: »Amen, komm, Herr Jesus!«
Wie das 1. Buch Mose das Buch der Anfänge ist, so ist die Offenbarung das Buch der Abschlüsse. Themen, die im ers- ten biblischen Buch eingeführt werden, werden nun zur Vollendung gebracht. Man beachte das Folgende:
1. Mose Offenbarung Erschaffung der Erde und des Himmels (1. Mose 1,1) Vernichtung der Erde und des Himmels (Offb 20,11b) Erschaffung des neuen Himmels und der neuen Erde (Offb 21,1) Beginn der Herrschaft Satans über die Erde (1. Mose 3,1-7) Satan wird in den Feuersee geworfen (Offb 20,10) Kommen der Sünde auf die Erde (1. Mose 3,1-7) Sünde wird verbannt (Offb 21,27) Verkündung des Fluches über die Schöpfung (1. Mose 3,17-19) Der Fluch wird weggenommen (Offb 22,3) Das Recht auf den Baum des Lebens verwirkt (1. Mose 3,24b) Zugang zum Baum des Lebens wiederhergestellt (Offb 22,2) Vertreibung aus dem Garten Eden (1. Mose 3,24) Wiederaufnahme des Menschen in das Paradies Gottes (Offb 22,1-7) Kommen des Todes in diese Welt (1. Mose 2,17; 5,5) Tod für immer weggenommen (Offb 21,4) Hochzeit des ersten Adam (1. Mose 4,1) Hochzeit des letzten Adam (Offb 19,7) Leid kommt über die Menschheit (1. Mose 3,16) Leid wird weggenommen (Offb 21,4)
22,21 Und nun kommen wir zum Schlusssegen dieses wunderbaren Buches der Offen­barung und des Wortes Gottes. Es ist ein friedvoller Abschluss eines Buches, das erfüllt ist vom Donner des göttlichen Gerichts.
Johannes wünscht, dass »die Gnade des Herrn Jesus« beim gesamten Volk Gottes »sei«. Es gibt hier drei interessante Lesarten in den Manuskripten.
1. Im kritischen Text (NA) wünscht Johannes allen die Gnade Christi (vgl. Menge, Zü und Ei). Dies entspricht jedoch kaum dem Thema des Zornes Gottes über eine Mehrheit.
2. Die traditionelle Lesart (TR [vgl. LU 1912, Schl 2000 und NeÜ]) ist besser. Christi Gnade wird »euch allen« gewünscht – viele der Hörer und Leser der Offenbarung sind wahre Gläubige.
3. Die beste Lesart im Hinblick auf die deutliche Gegenüberstellung von Heiligen und Sündern in diesem Buch findet sich in der Mehrheit der Manuskripte: »Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit allen Heiligen« (vgl. Elb).
»Amen« (vgl. LU 1912, Schl 2000 und Konkordante Übersetzung).