Christustag 30.05.2002
Augen sind zum Sehen da. Doch man kann bekanntlich auf recht
verschiedene Weise sehen: etwa in Gedanken versunken aus dem Zugfenster, wenn
der Blick über die Landschaft hinwegstreift. Oder intensiv prüfend und
bewundernd, z.B. im Museum vor einer Statue aus dem Altertum. Oder schnell
wegsehend, weil man merkt: hier muss gerade ein Unfall passiert sein, doch ich
habe es eilig und außerdem bringt das nur Scherereien mit sich. Wie setzen Sie
Ihre Augen ein? Sehen Sie klar?
Sehen wir uns zuerst mal die Blicke der Jünger an: Die sind fasziniert vom
Tempel in Jerusalem. Was für ein Gebäude! Welch architektonische
Meisterleistung! Welch nationale Engagement, schon 50 Jahre an diesem Projekt
zu arbeiten! Jesus, siehst du das auch, das Großartige, das Imponierende an
diesem Bauwerk?
Jesus geht auf die Frage nach dem Sehen ein: "Sehr ihr das alles?",
fragt Jesus. "Seht es euch genau an. Das ist gewiss: Nicht ein Stein von
diesem Tempel bleibt auf dem anderen!" Unsere Augen werden leicht in
Beschlag genommen - von dem, was fasziniert; von dem, was Angst macht; von dem,
was große Leute tun. Jesus hilft seinen Jüngern, klar zu sehen, durchzublicken,
durch Oberfläche und Vordergrund hindurch. Jesus lehrt, mit den Augen des
Glaubens zu sehen, nicht am Äußerlichen festzukleben, sondern mit Gottes Augen
zu sehen. Die Jünger brauchten diesen Seh-Unterricht; und wir brauchen ihn
auch, um klar sehen zu können. "Woran erkennt man, dass die Welt an ihr
Ende kommt und du wiederkommst? Was ist da zu beachten?" So fragen die
Jünger.
Jesus nennt Hinweise: Seht zu!, sagt er. Schaut genau hin! Es gilt, die Augen
offenzuhalten! Auf diese Hinweise wollen wir achten:
Das gab's damals, und das gibt es heute:
Menschen treten auf und sagen: Ich bin's. Ihr braucht euch nicht nach einem
anderen umschauen; vertraut euch mir an; ich bin euer Heilbringer! Damals,
z.Zt. Jesu, wollten diese Führer das Davidsreich wieder aufrichten; dies sollte
mit Gewalt geschehen; dabei hatten sie nicht wenige Anhänger.
Auch heute gibt es eine ganze Reihe solcher Führer: Ich bin der ersehnte
Befreier! Ich bin die Inkarnation Gottes! Ich bin der Retter der Welt!
Wir haben es bei der Jahrtausendwende erlebt: Das Jahr 2000 übte auf
Zeitgenossen eine geradezu magische Gewalt aus. Angesichts von Zukunftsangst
und Existenzsorgen ist die Bereitschaft groß, denen Gehör zu schenken, die
sagen: Haltet euch an mich; ich zeige euch den rechten Weg. Auch im 21.
Jahrhundert sind diese Propheten nicht verstummt und machen mit immer neuen
Zeitangaben und Ankündigungen von sich reden.
Viele solche Messiasse werden kommen, sagt Jesus: eine Flut von
"Ich-bin's-Leuten". Wie unterschiedlich ihre Lehren auch sein mögen,
ob sie im innerchristlichen oder außerchristlichen Bereich werben, ob sie
mitten in der christlichen Gemeinde oder irgendwo im bunten Gemisch der
Religionen tätig sind - eines haben sie alle gemeinsam: sie führen in die Irre.
Und trotzdem bleiben sie auf diesem Irrweg nicht allein. Viele sind es, die
ihnen auf dem Weg der Täuschung folgen.
Warum sind diese "Ich-bin's-Leute" Verführer? Die Antwort ist sehr
einfach: weil da schon ein anderer gesagt hat: Ich bin der Weg und die Wahrheit
und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.
Na, so wenden manche Zeitgenossen heute ein, dann ist dieser Jesus eben auch so
ein Verführer-Typ wie alle anderen. Dieser Vorwurf ist so alt wie die
christliche Botschaft. Denn das hatten bereits die Pharisäer Jesus selbst
vorgehalten: Er verführt das Volk. Es ist richtig: an diesem "Ich
bin's" scheiden sich die Geister: Mit diesem Anspruch hatte Jesus die
Jünger eingeladen: Kommt, mir nach! Kommt und seht!
Wer auf diese Aufforderung eingegangen ist, wer gekommen und nachgefolgt ist,
wer gesehen hat, der konnte dann auch Auskunft geben: "Wir haben gesehen
und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war
und uns erschienen ist." (1. Johannes 1, 2): In Jesus Christus ist das
Leben unter uns erschienen. Er ist der Messias, der einzige, der uns mit Gott
versöhnt, der uns in die Gemeinschaft mit Gott zurückführt. Jesus ist der
einzige "Ich-bin's-Mann", dem wir vertrauen können. Denn in ihm kommt
Gott selbst zu uns und sagt: Ich bin euer Gott!
Wie ist es möglich, dass Menschen durch andere "Ich-bin's-Leute"
getäuscht und in die Irre geführt werden? Der Grund dafür ist: Ihre Augen
bleiben an der Oberfläche hängen: an der sensationellen Prophetie; an den
staunenswerten Wundern, die einer vollbringen mag; an den großen Massen, die
jemand um sich schart. - Ganz anders Jesus: Er lädt zum Kreuz ein: So wird die
Liebe Gottes offenbar; dort ereignet sich das Heil für die Welt und damit auch
für dich und mich. Doch ein Mann am Kreuz lässt sich nicht vermarkten. Und
seine Truppe, die Gemeinde dieses gekreuzigten Königs ist durch die
Jahrhunderte hindurch eine armselige Schar geblieben. Schauen Sie sich ruhig
mal um! Schauen Sie sich dann mal selbst im Spiegel an! So sieht die Gemeinde
Jesu Christi aus!
Und doch ist Gottes Wort, das hier laut wird, nichts weniger als Dynamit; es
sprengt tote Herzen auf für Gott und sein Leben; es zerbricht Stahlketten der
Gebundenheit und nimmt zentnerschwere Schuld weg. Wer durchblickt, wer klar
sieht, wer mit den Augen des Glaubens sieht, der fängt an zu ahnen: hier (und
nirgendwo anders) tut Gott Wunder; hier wird die Weltgeschichte verändert.
Einer ist euer Messias - darum lasst euch nicht durch die andern an der Nase
herum- und in die Irre führen!
Neulich kam ein alter Mann zu mir und sagte: Wenn man unsere Zeit
ansieht und sie mit einem Wort kennzeichnen will, dann heißt dieses Wort
"Angst". Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, wird diesem Mann
kaum widersprechen. Jeder von uns kennt entsprechende Beispiele. Aber Christen
sollen ja nicht nur mit offenen Augen durch die Welt gehen; sie sollen
durchblicken, tief- und weitblicken.
"Kriege, Erdbeben, Hungersnöte" nennt Jesus hier - das könnte der
gestrigen Zeitung entnommen sein. Aber jetzt geht es weiter. Jesus sagt:
"Seht zu und erschreckt nicht! Lasst euch nicht in Schrecken versetzen und
nicht aus der Fassung bringen!"
Ist das möglich? Zuschauen und dabei nicht in Schrecken geraten?
Manche verstehen das so: Lass diese böse Welt fahren. Wir freuen uns an dem
Guten, das Gott uns noch schenkt. Wir konzentrieren uns auf unseren kleinen
Kreis, auf die heile Welt um uns herum und warten auf Gottes großen Tag. Die
Welt ist sowieso nicht mehr zu retten. Doch wer so redet, hat den Schöpfer
vergessen. Wer so denkt, verleugnet den ersten Glaubensartikel. Als ob Gott
seine Welt einfach zur Hölle fahren lassen würde! Wo wären wir denn, wenn er
uns nicht alle jeden Tag erhalten würde? Was wäre hier eigentlich los, wenn
Gott nicht jeden Tag seine Sonne aufgehen lassen würde über Gerechte und Böse?!
Nein, man kann nicht mit den Händen in den Hosentaschen auf Gottes neue Welt
warten. Wir sollen als Jünger Jesu Licht und Salz sein. Wir leiden und stöhnen
mit der seufzenden Welt mit. Wir sind all dem nicht entrückt. Gott will, dass
wir als seine Kinder leben, und d.h.: als Söhne und Töchter des Schöpfers.
Dort, wo er uns hingestellt hat, dort sollen wir zupacken.
Ich denke an eine Gesprächsrunde mit unseren Studierenden. Was hatten sie von
ihren Aktivitäten zu berichten? Kinderstunde in einem Asylantenwohnheim;
Besuche mit "Mensch-ärgere-dich-nicht-Runde" in einem andern;
Mitarbeit bei einem Alkoholikerkreis oder Chorgesang in der Augenklinik. Keiner
kann sich überall engagieren; nicht jeder hat Gaben für alles. Aber es ist
allemal besser, ein Licht anzuzünden, als über die Finsternis zu klagen. Es ist
nicht nur besser, es ist uns geboten: Gottes Liebe haben wir weiterzugeben,
auch und gerade an die, die unter diesen endzeitlichen Wehen von Krieg, Hunger
und Katastrophen zu leiden haben. Es gilt, in der Fürbitte ihre Not Gott zu
klagen, um seine Hilfe und Barmherzigkeit zu bitten und selbst dort anzupacken,
wo wir dazu in der Lage sind.
"Erschreckt nicht; denn das muss so geschehen!" Hinter diesem
"Muss" steht Gott selbst. Nicht, dass er für all das Böse
verantwortlich gemacht werden könnte. Aber doch so, dass nichts dieser Hand des
Vaters entkommen kann. Wir erklären nicht, warum dies oder jenes geschieht. Es
geht nicht um das Fragen, sondern es geht um das Vertrauen: Weil einer unser
Vater ist, weil er die Welt geschaffen hat und bis heute erhält, weil er durch
Zerfall und Gericht hindurch seine neue Welt schaffen wird, darum lassen wir
uns nicht bange machen. Bei seinen Worten über das Sorgen macht Jesus auf einen
sehr wichtigen Unterschied aufmerksam.
Wer sich zermartert mit den Fragen um Essen, Trinken, Kleidung, den nennt er
einen Heiden. Warum? Ein Heide kennt den Vater nicht. Ihr aber, die ihr einen
Vater im Himmel habt, ihr braucht euch doch über all dem nicht zu quälen. -
Genauso ist es auch mit den bedrängenden Nachrichten unserer Tage. Wir sollen
wissen: der Vater hält alles in seiner Hand. Darum können wir uns
zuversichtlich die Hände schmutzig machen und uns einsetzen. Gewiss werden wir
nicht die neue Welt schaffen. Das tut er. Wir brauchen nicht ein Paradies
zuwege zu bringen. Sondern wir sollen nach seinem Kommen Ausschau halten: Einer
ist euer Vater - darum lasst euch nicht bange machen!
Die Welt brodelt - aber dafür lebt die Kirche in Sicherheit? Nichts
wäre falscher als dies! Der Tempel wird zerstört, sagt Jesus. Und die Gemeinde
Jesu wird unterwandert. Äußerliche Pracht zerbricht, bis hin zur Pracht der
Institution. Die Nachfolge im Zeichen des Kreuzes markiert den Weg der Jünger
Jesu - das gilt auch dort, wo es im Augenblick anders aussehen mag. Es ist
zugleich auffällig und beängstigend, wie oft das kleine Wort "viele"
oder "alle" in diesen Versen vorkommt: alle Völker hassen euch; viele
werden abfallen; viele falsche Propheten kommen und verführen viele; die Liebe
erkaltet in vielen.
Diese Art von Anfechtung kommt von "außen". Dabei hat der Hass einen
ganz bestimmten Ansatzpunkt: "um meines Namens willen", sagt Jesus.
Vor einiger Zeit hörte ich ein Interview mit einem erfolgreichen türkischen
Unternehmer in Deutschland. Er sagte: "Ich bin in einer streng
moslemischen Stadt in der Türkei aufgewachsen; hier in Deutschland musste ich
Toleranz lernen; ich bin Moslem, aber ich bete nicht immer, ich trinke auch
gelegentlich etwas Alkohol. In meinen Firmen arbeiten Menschen aus
verschiedenen Religionen. Wenn wir Frieden wollen, müssen wir einander
tolerieren. Bei mir zählt der Mensch; was jemand glaubt, ist mir egal."
Hat er nicht recht? Ist dies nicht die Haltung, die wir heute bei allen
brauchen? Was den Willen zum friedlichen Miteinander in einem Staatswesen
angeht, hat er unbedingt recht. Aber Christsein gibt es nicht ohne diesen Namen
Jesus Christus, ohne dieses: "Ich bin der Weg"; ohne dieses: "Es
ist kein anderer Name, in dem Menschen gerettet werden".
"Um meines Namens willen werden sie euch hassen und töten." An diesem
Namen setzen Angriffe und Verführung an: Natürlich ist uns Jesus wichtig, aber
daneben gibt's doch auch noch andere, die nicht von allen guten Geistern
verlassen waren, die auch etwas über Gott gewusst haben. - Diese Meinung ist
zwar modern, aber sie verfehlt das Entscheidende. Das Entscheidende ist: Allein
in seinem Sohn Jesus Christus kommt uns Gott nahe. Ausschließlich in seinem
Namen rettet er uns aus dem Tod. Nur durch ihn empfangen wir das wahre, das
neue, das ewige Leben aus Gott. Deshalb entzündet sich immer wieder Streit am
Namen Jesu Christi.
Das Schmerzlichste von allem kommt zum Schluss: "die Liebe erkaltet".
Gottes lebensbewahrende Ordnungen werden ausgehöhlt. Ehe wird zu einer
Institution unter anderen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Im Namen von
Individualismus und Selbstverwirklichung werden Beziehungen zwischen Menschen
platt gewalzt. Sogar innerste Familienbande werden zerstört: "Ein Bruder
wird den andern preisgeben und der Vater den Sohn und die Kinder werden sich
empören gegen ihre Eltern und werden sie töten helfen." (Matthäus 10, 21)
"Bleibt standfest!" Wie soll das angesichts dieser bedrängenden
Aussichten möglich sein? Auch das können unsere natürlichen Augen nicht sehen
und erkennen. Standfest bleiben, das geht nur, weil der Herr zu seinem Jünger
sagt: Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Das geht nur,
weil es einige Verse später heißt: diese Tage werden verkürzt (Matthäus 24,
22). Durchhalten - das geht nur, weil wir selbst durchgehalten und durchgetragen
werden. Das ist die überwältigende Erfahrung der Gemeinde Jesu Christi: In
Situationen, in denen seine Leute am Ende waren, hat Christus oft erstaunliche
neue Anfänge gesetzt. Wann auch immer er kommt: er kommt nicht zu spät. Auf
dieses Ende geht die Gemeinde zu: der Messias kommt, der Herr der Welt, der
sein Reich aufrichtet.
Einer ist euer Messias, einer ist euer Vater, einer trägt euch durch: Dieser
Dreieinige kommt; auf dieses Ereignis sollen unsere Augen ausgerichtet werden,
damit wir klar sehen. Das soll uns nicht aus dem Sinn kommen, wenn wir Zeitung
lesen oder fernsehen, wenn der Hass uns nicht nur berichtet wird, sondern uns
selbst trifft. Denn eines hält sich inmitten dieser unruhigen Zeiten auch
durch, so wahr Jesu Worte nicht vergehen: "Das Evangelium wird in der
ganzen Welt gepredigt." Auch die schwärzeste Dunkelheit kann dieses Licht
nicht auslöschen. Eine von außen und von innen angefochtene Kirche wird dieses
Wort in den hintersten Winkel der Welt tragen; und sei es dadurch, dass ihre
Boten es als Gefangene hinter Gittern weitergeben. So ist es z.B. von Christen
in China berichtet worden, die auf diese Weise geradezu eine Gefängnis-Mission
ausgelöst haben. So haben Christen in Nordsibirien dieses Wort aufgenommen: Sie
machten sich in eine entlegene Stadt mit dem Namen "Ende der Welt"
auf, weil sie sagten: das Evangelium muss auch dort laut werden, am Ende der
Welt! So hören wir es in diesen Monaten aus Ländern Nordafrikas, wo Menschen in
Scharen zum Glauben an Jesus Christus finden. So geschieht es an diesem
heutigen Tag auf der ganzen Welt, wo nicht mehr nur westliche Missionare in der
Zweidrittelwelt unterwegs sind, sondern wo Boten von überall her an allen Orten
unseres Globus die gute Nachricht bekannt machen.
Die Gemeinde verbreitet das Evangelium und zugleich wird sie selbst Tag für Tag
von ebendiesem Evangelium getragen, genährt, gestärkt. Wir selber werden durch
diese Botschaft immer wieder neu zur Begegnung mit Gott gerufen. Wir werden zu
der Rettung gerufen, die uns in Jesus Christus geschenkt wird. Wir werden in
die Gemeinschaft mit dem Gott gerufen, der sein Reich sichtbar aufrichten wird.
"Dann wird das Ende kommen" - Der Lauf des Evangeliums ist die Uhr,
an der die Stunde von Jesu Wiederkunft abgelesen werden muss. Das erfüllt uns
mit gespannter Erwartung. Dann werden wir ihn sehen; dann werden wird endgültig
klar sehen.