Franziska Stocker-Schwarz

Christustag 14.06.2001

 

"Weil keiner uns näher gekommen ist" (Philipper 2, 6-8)

 

 

 

Liebe Geschwister,

der Christushymnus aus dem Philipperbrief soll uns heute sagen: Jesus ist einzigartig!

„Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu
sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode,
ja zum Tode am Kreuz."

Auffallend oft trug einer der Schüler meines Mannes einen ganz bestimmten Pullover. Er trug ihn wohl kaum speziell für seinen Religionslehrer.
Aber er trug ihn fast immer an Tagen, an denen er zum Unterricht kam.

Es war ein tiefschwarzes Sweat-Shirt, auf dem vorne auf der Brust ein großes Emblem prangte, das aussah wie ein Verkehrszeichen. - Auf weißem Grund zeigte es ein schwarzes, stilisiertes Kreuz. Das Verkehrszeichen war rot umrandet und auch das Kreuz war rot durchgestrichen. Ein Verbotszeichen also. Darüber stand in großen, flammendroten Buchstaben: "bad religion" - "schlechte Religion".
Das Kreuz? "Bad Religion", "Schlechte Religion".
Ein grässlicher Pullover für den Religionsunterricht!
Aber auch: ein super Aufhänger für den Unterricht in Religion!
Denn dieser Schüler hatte kapiert, was der Skandal im christlichen Glauben ist:
Der Tod Jesu am Kreuz.

Dass Jesus, der Gottessohn, so weit runter gekommen ist:
Er ließ alle Macht zurück. Er ließ alle Hoheit zurück. Er ließ alle göttliche Power zurück. Er entleerte sich dessen alles und wurde Mensch und starb.
Paulus hebt es deutlich heraus: Jesus starb den Tod, den Tod am Kreuz, den Fluchtod.
Zu so einer Todesart wurden nur Schwerverbrecher und Sklaven verurteilt. Römische Bürger waren von diesem grausamen Urteil verschont, außer sie hätten Landesverrat verübt. Unter den Juden galt diese Todesart als Fluchtod: Ein Todesurteil für Gotteslästerer oder Verräter wurde so vollzogen.

Das Kreuz ist "Bad Religion" sagt der Schüler mit seinem Pulli! "Schlechte Religion", denn wer will schon einen zum Schandtod Verurteilten verehren.
Manche hier werden widersprechen wollen: "Nein, Good Religion. Das Kreuz ist Gute Religion." Sie sehen das Kreuz als Heilszeichen. Aber vielleicht ist uns das Kreuz auch nur schon so vertraut geworden, so schrecklich vertraut, dass wir seine wahre, seine blutige Schrecklichkeit gar nicht mehr wahrnehmen?
Das Kreuz steht im Zwielicht - im Zwielicht zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Ist es ein Heilszeichen oder ein Fanal des Schreckens? Ist es Good oder Bad Religion, Gute oder Schlechte Religion?

Das Kreuz steht im Zwielicht. Und im Zwielicht sehen unsere Augen nicht gut. Sie müssen sich erst einstellen auf das diffuse Licht, damit aus Schemen Gestalten werden. Wir sind heute morgen beieinander, um etwas von diesem Kreuz zu erkennen. Lassen Sie uns diese Zeit benutzen, eine Kreuzigungsgruppe zu betrachten, drei Gestalten, die um das Kreuz stehen. Vielleicht geschieht es dann, dass aus dem Zwielicht von erschreckender Fremdheit und schrecklicher Vertrautheit etwas aufleuchtet vom Geheimnis unseres Glaubens.


I. Der alte Mensch – abgewandt vom Kreuz

Die erste Gestalt , die ich unter dem Kreuz sehe, hat ihr Gesicht nicht dem Gekreuzigten zugewandt, sondern sie dreht dem Kreuz den Rücken zu. Sie ist der alte Mensch. (Paulus redet im 2. Korintherbrief von einer neuen Kreatur. Der alte Mensch ist das Vorherige. „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Korinther 5, 17) Die erste Gestalt ist das Alte, der alte Mensch im Gegensatz zur neuen Kreatur.)

Der alte Mensch schaut nicht zum Kreuz, sondern sein Blick ist gefesselt von der Welt. Gebannt schaut er auf das Diesseits. In der Welt, im Diesseits wird er angelockt und umworben von vielen zauberhaften Bildern. Diesen Bildern gilt sein Einsatz. Diesen Bildern dient er:

Das Bild der Leistung und Gerechtigkeit: Viele verschreiben sich ihm schon in der Jugend. „Wenn ich erst mal mit der Schule fertig bin, dann lerne ich einen Beruf, mit dem ich vielen Menschen helfen kann. Dann bin ich ein guter Mensch und leiste meinen Beitrag zur Gesellschaft und stehe vor Gott gut da.“
Das Bild der Leistung und Gerechtigkeit trägt die Überschrift: Gerecht, gerechter, selbstgerecht.

Das Bild der Eitelkeit umwirbt und umgarnt den alten Menschen:
„Du, Mensch, du bist ein homo sapiens sapiens, du bist ein hochentwickeltes Wesen, aufgewachsen in der westlichen Kultur. Du hast einen inneren Drang zum Guten. Bilde dich, lese viel, entwickle dich zum wahren Menschenfreund! Dann wird deiner äußeren Schönheit auch dein innerer Geist entsprechen!“ Fasziniert starrt der alte Mensch auf das Bild und den Spiegel der Eitelkeit und lässt sich bannen.

Das Bild des Mammon lockt mit dem Klang der harten Münze. Es trägt das Motto: „Zeig mir deinen Lohnstreifen, und ich sage dir, was du wert bist.“ Der alte Mensch nickt zustimmend. Bekannte und Freunde werden nach ihrer beruflichen Position eingestuft. „Was du bist nur Hausfrau?“ heißt es dann zu vielen Müttern! „Was, du schaffst gar nichts - soll heißen - du verdienst gar kein Geld?“ Der alte Mensch weiß, was er wert ist, indem er seine Geldspange mit großen Scheinen fest an sein Herz drückt.
Das Bild der ewigen Jugend lächelt dem alten Menschen schmeichelnd an allen Straßenecken, aus jedem Werbespot und allen Hochglanzillustrierten zu. „Ewig jung und gesund“, wäre das nicht ein lohnendes Ziel? Schon manche Talkshow widmete sich schon der Kosmetik und Bioesthetik.

Gute Werke (Leistung und gerechte Taten), hohe Werte ( die Ideale des Humanismus) und guter Verdienst und super Aussehen, diese bestaunten "Bilder" können zu Götzen werden, wenn ich mein Herz an sie hänge. Wenn sie der Zielpunkt meines Leben sind. Wenn ich sie als mein Lebenswerk betrachte.
Sie sind dann Götzen, deren Aussehen mich in ihren Bann zieht. Der alte Mensch steht zwar um das Kreuz, aber nicht unter dem Kreuz. Er schaut nicht auf zum Gekreuzigten, er schaut weg. Er schaut auf zu den Götzen, die er verehrt.
Götzen, deren Gesichter sich bei längerer Meditation zu grässlichen Fratzen verziehen. Götzen, die Druck und Gewalt auf ein Leben ausüben. Götzen, die Opfer verlangen. Sie verlangen regelrechte Menschenopfer: Opfer an Familie, an Kindern, an Liebe. Sie sind Götzen, denen der alte Mensch sein Leben opfert, ohne etwas Bleibendes dafür zu erlangen.

„Ja, aber“, argumentiert die Gestalt des alten Menschen: „Was bringt mir denn dieses Kreuz mit dem Gekreuzigten anderes als Opfer und Schmerz? Was soll denn daran besser sein als an den Bildern dieser Welt?
Ich sehe kein schönes Leben unter dem Kreuz. Ich sehe keinen Grund, warum ich unter diesem Kreuzeszeichen leben sollte. Ich sehe an diesem Kreuz nur Krankheit der Welt, allen Streit der Welt und tausend Katastrophen. Was hilft da das Kreuz?“



II. Gott selbst steht hinter dem Gekreuzigten

Schauen wir die zweite Gestalt an, die sich aus dem Zwielicht enthüllt. Je länger ein Mensch das Ärgernis des Gekreuzigten betrachtet, desto mehr enthüllt sich diese Gestalt. Sie strahlt sozusagen hinter und um den Gekreuzigten auf.
Ihre Gestalt ist Licht. Ihr Angesicht ist von einem tiefen, anziehenden Lächeln.
Ihre Arme sind weit ausgebreitet, als wollten sie die ganze Welt zu sich ziehen.

Diese zweite Gestalt im Zwielicht des Kreuzes ist Gott der Vater selbst.
Er ist in dem Gekreuzigten. Er steht hinter ihm. Er fängt ihn auf. Er umgibt ihn. Er verschmilzt mit ihm. Seine Arme wollen den alten Menschen zu sich ziehen. Seine Augen suchen ihn. Seine Liebe und sein Lächeln gilt ihm.
Denn er selbst will durch den Gekreuzigten Frieden in jeden Streit der Welt bringen. Er wird durch den Gekreuzigten eine neue Welt ohne Katastrophen und Kriege schaffen. Er will durch den Gekreuzigten den Kranken Trost bringen.
Darum ist das Kreuz good religion, ja sogar noch mehr: nicht nur good religion, oder good feeling - ein gutes Gefühl, nein das Kreuz ist good salvation: die gute Rettung.
Denn da starb nicht irgendein Mensch am Kreuz, sondern da starb Gottessohn. Gott selbst steht hinter diesem Gekreuzigten, der all seine Macht hergegeben hat.

Und Gottes Licht leuchtet auf in jeder Krankheit, die an dem Kreuz klebt. Gott, der Vater, will trösten mitten in der Krankheit. Gerade in der Schwachheit erweist er seine Stärke und Vollmacht. Sein liebevolles Angesicht geht auf über der Schwachheit des Alters, über der Hilflosigkeit eines Kindes. Das Leid dieser Welt verliert seinen Schrecken, denn Gott der Vater ist durch den Gekreuzigten gerade dort ganz nahe.

Ich brauche Ruhe und Zeit, um diese Gestalt durch den Gekreuzigten zu erkennen. Das Leben des Gekreuzigten Jesus Christus kann mir diese Gestalt aufdecken. Doch dazu brauche ich Einkehr, Ruhe vom Alltag der Welt, Stille.
In der Stille werden meine Fragen nicht verhallen. Sie werden nicht an einem Holzkreuz abprallen. Sondern der Vater selbst wird mir antworten.
Durch kleine Zeichen im Tagesverlauf, durch Begegnungen und Gespräche mit andern Menschen, durch sein Wort in der Bibel wird er selbst zu mir reden.
Und dann wird das Dunkel des Kreuzes sich für mich in strahlendes Licht verwandeln. Denn ich erkenne die Liebe des Vaters im Himmel.
Ich erkenne die Kraft des Gekreuzigten. Ich sehe, er trägt auch alle Schuld der Welt. Er trägt gerade auch meine Schuld. Alles klebt an seinem Kreuz. Und die offenen Arme des Vaters gelten gerade mir.
Dann wird das Kreuz tatsächlich zu einem Heilszeichen. Denn für alle Schuld der Welt, für allen Streit, für alle Krankheit steht hier das Heil aufgerichtet.

Der Gekreuzigte befreit von den Bildgötzen der Welt. Er befreit von der Selbstgerechtigkeit, im Licht der Liebe Gottes können wir uns annehmen, wie wir sind. Er befreit von der Eitelkeit. Im Licht des Gekreuzigten erkennen wir die wahren Werte des Menschseins. Er befreit uns von der Geldgier, vom Mammon. Im Licht des Kreuzestodes lernen wir teilen und verwalten.
Das Kreuz wird tatsächlich zu einem froh machenden Zeichen für den Menschen.



III. Der neue Mensch: mit dem Gekreuzigten verbunden – der Welt zugewandt

Und hier entdecken wir die dritte Gestalt um das Kreuz. Es ist der neue Mensch. Die neue Kreatur. Der neue Mensch hält sich am Kreuz fest. Der Gekreuzigte ist für ihn Kraft und Halt. Der neue Mensch ist wie ein Trieb an einem Weinstock. Von alleine hat er keine Lebenskraft. Aber der Weinstock, der Gekreuzigte, gibt die Kraft.
Mitten im unaufhörlichen Geklingel des Telefons die Kraft, freundlich zu antworten.
Mitten im Termindruck die Ruhe und den kühlen Kopf! Mitten im Kindergeschrei und auf das Hundertste "MAMA!" schenkt der Weinstock die Kraft zum Durchhalten.
Das Kreuz ist ein kraftvoller Weinstock. Selbst in Dürrezeiten hält er seine Triebe am Leben. Der neue Mensch hält sich mit der einen Hand ganz fest am Kreuz fest.
Mit der anderen Hand streckt er sich jedoch nach der Welt und den Menschen aus. Er ist dazu beauftragt, anderen die Hand zu reichen.
Jesus Christus, der Gekreuzigte, selbst hat ihn beauftragt und gesandt.
Und genauso wie die Kraft des Heiligen Geistes ihn zur eigenen Stärkung durchfließt, genauso sendet diese Dynamik ihn auch hinaus zu den anderen Menschen.
So wie es Paulus in seinem Brief sagt: „Seid unter euch so gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht!“
Selbst mit dem Tod vor Augen, in Rom im Gefängnis, wünscht er sich nur: „Christus, der Gekreuzigte, soll verherrlicht werden an meinem Leibe, sei es durch Leben oder Tod. Denn Christus ist mein Leben, und Sterben mein Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen durch das Evangelium. Und so weiß ich nicht, was ich wählen soll.“

Paulus ist ein Getriebener, „die Liebe Christi drängt uns“. Das ist alles, was sein Leben bestimmt. Das Kreuz ist ihm so wichtig, dass daneben alles andere zurücktritt: Die Anfeindungen, die Verfolgungen, die Krankheit, die Schmerzen und die Sorge um alle Gemeinden und viele Mitarbeiter.

Und um ihn herum ist die Welt genauso, wie sie auch heute ist. Es gab damals so viel Not wie heute, soviel Krankheit, soviel Sterben. Paulus hatte auch das im Ohr: Den dröhnenden Marschtritt der römischen Legion, die Schritt für Schritt die Völker unterwarf. Das Schreien der Geknechteten und Unterjochten, von deren Ausbeutung Rom satt wurde. Paulus verdrängte das nicht: aber mitten in dem tausendfachen Tod, war da der Tod des Einen. Und in diesem einen Tod wird die Liebe sichtbar.
Diese Liebe will er weitergeben: die Kraft der Vergebung! Gottes rote Liebe soll vielen Menschen den inneren Frieden bringen.
Unter dem Kreuz, dem Kreuz zugewandt können wir Licht und Hoffnung für unseren Alltag finden. Da bricht klares Licht in alte, trübe, eingefahrene Streitverhältnisse!
Bringen wir den Streit zum Kreuz! Lassen wir den Gekreuzigten Versöhnung stiften!
Da strömt Kraft zum Geben: Neue Menschen sind großzügige Menschen. Sie geben gerne, weil Christus alles gegeben hat.
Da wärmt die kraftvolle Ewigkeitssonne den müden Leib des Kranken! Bitten wir für unsere Kranken, legen wir sie mit unserem Gebet in die Sonnenwärme des Heilandes!
Unter dem Kreuz, dem Kreuz zugewandt leben wir als erneuerte Menschen.

Das Kreuz erscheint uns nun nicht mehr im Zwielicht. Sondern das helle Licht des ewigen Gottes lässt es uns als Rettungszeichen rot leuchten.
Und was könnten wir dem Schüler für einen Kleidervorschlag machen? -- Vielleicht ein weißer Pulli? Gerne auch weiß mit einem roten Kreuz. Denn im hellen Licht Gottes erkenne ich, dass der Tod Jesu am Kreuz good salvation ist, einfach einzigartig! Rotes Kreuz auf weißem Grund! Ein Zeichen, das für Rettung steht!