Gogarten oder der Kampf gegen die Eitelkeit

Von Pastor Heinrich Kemner (1903-1993)

 

Gogarten oder der Kampf gegen die Eitelkeit

In den schwersten aller Konflikte geriet ich aufgrund einer charakterlichen Schwäche, mit der der Herr nun offensichtlich einmal fertig werden wollte, so kräftig stieß er mich darauf: es war eine kleine, aber nicht unwirksame Eitelkeit. Sie führte mich an den Rand einer Selbsttäuschung, die meinem Leben eine völlig andere Wendung zu geben im Begriff war.

Während meines Studiums hatte mich neben Karl Barth besonders auch Gogarten beeindruckt. So versuchte ich nach dem Kriege mit letzterem neue theologische Kontakte aufzunehmen. Aus der Lektüre seiner Schriften glaubte ich schließen zu dürfen, dass er den modernen Menschen in seiner Denknot verstehe und ihn nun so abzuholen und anzusprechen suche, dass es zu einer Begegnung mit der zentralen Mitte des Evangeliums komme. Weil mein eigener Weg in der Klärung der Wahrheitsfrage selber von Nietzsche über Kierkegaard geführt hatte, war ich auch der Meinung, dass es dem Begründer des Existenzialismus, Sören Kierkegaard, weitgehend gelungen sei, die Wirklichkeit des Evangeliums so modern zu bezeugen, dass damit keine Veränderung in der Substanz verbunden war. lch kam mit Gogarten überein, bei ihm über das Thema „Rechtfertigung und Heiligung bei Luther und Bezzel“ zu promovieren.

Schon vor dem Kriege hatte ich von Gogarten ein Thema bekommen: lch sollte über den Unterschied von natürlicher Eschatologie und Glaubenseschatologie schreiben. Weil ich dabei naturgemäß zu Ergebnissen kam, die nicht im Sinne des Dritten Reiches lagen, hatte er ernsthafte Bedenken, die Arbeit der Fakultät vorzulegen. Mit dem Professor gIaubte ich nun, durch eine Arbeit, die die Grundstruktur der Theologie Bezzels mit der Luthers vergleicht, viel Gewinn für die theologische Praxis zu erhalten. Doch ich wurde eines anderen belehrt. Das Ärgernis des Kreuzes in seiner rettenden Struktur wurde in der Dialektik von Bultmann und Gogarten so entschärft, dass es keinen Anstoß mehr zu einer Bewegung gab, die in Buße und Bekehrung Veränderung schafft. Die sogenannte Beseitigung der Denknot ging in Wahrheit auf Kosten der Existenznot.

Als ich das erkannte, fiel mir tatsächlich ein großer Gewinn für meine theologische Praxis in den Schoß. Je mehr ich den größten Sohn der bayrischen Kirche verstehen lernte und zu seinem Schüler wurde, erkannte ich die Gefahr einer Theologie, die in ideologischer Selbsterfassung endet. Hermann Bezzel wurde in meiner theologischen Ausrichtung nächst Luther zu meinem geistlichen Vater, dem ich bis in die Ewigkeit Dank schulde. Das Ergebnis dieser Arbeit liegt in meinem Buch „Christus oder Chaos“ vor, zu dem Professor Radschow das Vorwort schrieb.

Die Frage der Promotion war damit vom Tisch. Der Griff nach den Sternen des akademischen Himmels wurde zum demütigen Dankgebet für die Frucht dieser Arbeit und noch mehr für die weise Führung Gottes aus eitler Selbsttäuschung heraus.

Dennoch – wenn auch bei nächtelangen Besprechungen und Überlegungen die Unterschiede zwischen meiner lutherisch-pietistischen Ausrichtung und der von Fichte mit bestimmten idealistischen des Professors deutlich wurden – die gemeinsame Arbeit war doch recht befruchtend. Gogarten glaubte in mir einen Theologen zu sehen, der, wie er meinte, als Pietist theologisch zu einer kritischen Denkarbeit fähig war. lch verdanke ihm viele Anregungen und Denkanstöße, und ich habe von ihm viel gelernt.

Nachdem die Dissertation fertig war und wir über das Rigorosum gesprochen hatten, kam es zu einer Entfremdung. Gogarten suchte mich für den akademischen Lehrauftrag zu erwärmen; in vertraulichen Gesprächen stellte er mir sogar vor, ich könne einmal seinen Lehrstuhl einnehmen. Das blieb nicht ohne Eindruck auf mich. Doch schon kurz darauf sah ich wieder klar.

Mehr oder weniger verhüllt ließ mich Gogarten wissen, dass ich als Systematischer Theologe für die Universität nur tragbar sei, wenn es für mich grundsätzlich keinen Heiligen Geist mehr gäbe. Den gäbe es nur für das Volk. Diese Aussage ergänzte er noch am nächsten Tag, als ich mich anschickte, einen Mann meiner Gemeinde zu beerdigen und er mich nach dem Predigttext fragte. lch antwortete etwas ausführlicher und sagte:

„Wir liegen alle im Krankenhaus mit der Krankheit zum Tode, bewusst oder unbewusst, mit gelebter Verzweiflung. Nur mit einem Unterschied: die einen liegen auf der rechten Seite als solche, die eine lebendige Hoffnung haben, die sind auf dem Weg zur Genesung; die anderen liegen auf der linken, sie haben keine Hoffnung. Der Mann, den ich zu beerdigen habe, lag im Leben auf der rechten Seite. So meine ich, den Text auslegen zu können: „Jesus lebt, nun ist der Tod mir der Eingang in das Leben“.“

Aufgeregt erwiderte Gogarten: „Eben das können Sie nicht!“ „Aber was darf denn mit intellektueller Redlichkeit gepredigt werden?“ Bei der Beerdigung von Max Planck habe er im Grunde nur über die Worte gesprochen: Er ruht in Gott.

Weil ich plötzlich die Prämisse seines Denkens erkannt zu haben glaubte, fragte ich: „Sie meinen, Herr Professor, er ruht in der Idee Gottes?“ „Genau das meine ich!“

Damit kam es zum Bruch, und der Graben war auch nicht mehr mit Hilfe der Dialektik zu überbrücken. Ich erwiderte: „Ich verzichte auf die Promotion. Welten liegen zwischen uns. Schon im theologischen Ansatz sind wir verschieden. Nach meiner Meinung bewegen Sie sich in einem großen Irrtum, wenn Sie geglaubt haben, von Fichte zu Luther gekommen zu sein. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie in dieser Selbsttäuschung sehen muss. Sie sind niemals zu Luther gekommen, wenn Luthertum Glaube in getroster Verzweiflung ist, wenn man mit Luther weiß, Gott handelt in allem Geschehen. Wie kann man Gott Gott sein lassen, wenn die Erfüllung unseres Glaubens darin besteht, dass man in der Idee Gottes ruht! Sie stehen immer noch bei Fichte. Wenn das alles ist, dass ich in der Idee Gottes ruhe, dann sehe ich nicht, worin der wesentliche Unterschied zwischen Atheismus und Christentum besteht.“

Dieses Gespräch ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich es so oft wiederholen musste: meiner Frau gegenüber, meinen kirchlichen Vorgesetzten, Freunden und Gemeindegliedern, die ja alle damit rechneten, dass sie es bald mit einem Dr. theol. zu tun hätten.

Ich verdanke es in erster Linie meiner Frau, dass ich standhaft blieb. Sie sagte zu mir, nachdem ich ihr alles berichtet hatte: ,,Wenn du in diesen Zug gestiegen wärst, würdest du in eine falsche Richtung gefahren sein; dann endest du nicht am Ziel, das dir Erfüllung bringt.“

Sie hat recht behalten, denn hätte ich in jener Stunde einen Kompromiss gesucht, wäre vieles nicht geworden, was unser Leben so überaus reich gemacht hat. Wenn wir die Einfalt des Glaubens verlieren, bedeutet Gewinn immer Verlust. Und doch muss ich bekennen: Es war mir nicht leicht, meinen Ehrgeiz zu begraben und dem Herrn mehr zu vertrauen als meinen Gedanken, die Erfolg und Frucht verwechseln wollten.

Vor einiger Zeit hat es mich bewegt, als mir ein befreundeter Pfarrer in einer stillen Stunde erklärte, worin das eigene Verschulden in seiner Lebensführung läge. Er meinte, dass in seinem Leben vieles anders geworden wäre, wenn er der Führung Gottes unmittelbarer vertraut hätte. Er habe fünfmal in seinem Leben die Pfarre gewechselt, immer mit dem geheimen Gedanken, sich dabei von Schwierigkeiten zu befreien, aber doch auch, Gottes Willen zu tun. Er habe nicht gemerkt, dass der Wunsch der Vater der Gedanken gewesen sei und habe deshalb erleben müssen, dass er immer nur die Schwierigkeiten gewechselt habe.

Auf Grund meiner eigenen Lebensführung glaube auch ich, dass die Gelegenheiten Gottes vor der Haustür liegen. Wenn mich in jener Zeit manche Rufe erreichten, die mir manches Angenehme brachten und die einer Beförderung gleich kamen, so bin ich doch dankbar, dass ich geblieben bin. Es gehört zu den Erfahrungen meines Lebens, dass uns der Heilige Geist, wenn er uns fruchtbar machen will, mehr in Schwierigkeiten und Tiefen als in ein angenehmes und geruhsames Leben führt.

Wenn Brüder vor dämonischen Wänden zerbrechen wollten und wenn die Arbeit ohne jede Freude geschah, dann habe ich ihnen wohl geraten, den Platz zu wechseln. Es kann aber auch sein, dass in den Schwierigkeiten der Herr bei uns zum Zuge kommen will. Nichts fördert die verborgene Eitelkeit mehr, als wenn man uns in unserem Amt und Dienst nur bewundert. Der Heilige Geist verklärt keinen menschlichen Namen, sondern den Namen Jesu. Er offenbart sich mehr in erfüllter Wirklichkeit als in vielen Worten. Nichts steht aber dem Namen Jesus so im Wege wie unser ungebrochenes, selbstsüchtiges und eitles ICH. Nichts bringt uns deshalb der Vollmacht näher als der völlige Zerbruch im Eigenen. Wie ein heiliger Schrecken durchfuhr es mich im Düshorner Wald, aIs ich die Pistole an der Schläfe hatte. War mein Leben wirklich in das Bild Christi verwandelt? War mein Personsein wirklich geschenkte Persönlichkeit? War mein Dienst frei von Eitelkeit und Selbstgefälligkeit? In den Schrecken jener Minute und in den anderen Hiobsstunden meines Lebens habe ich Luther begriffen: „Die Angst mich zum Verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle muss ich sinken.“ Es ist das Paradox des Glaubens, dass sich mitten in der Unheilsgewissheit das Geheimnis der Heilsgewissheit im Kreuz Christi offenbart. Hier wird erfahrbar: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Wir sollten, wenn wir Jesu Jünger sind, uns vor nichts mehr fürchten als vor unserem ungebrochenen ICH. Nur mit Bruchsteinen baut Gott sein Reich. Es sind die Bettlerhände, die das Himmelreich empfangen. Wer nie das Eigene verlor, wird nie fähig zum Opfer.

Bezzel sagt: „Wer an jenem Tage zu Jesus sagen wird, ich habe meine Pflicht getan, dem wird er antworten: „Wenn du nur deine Pflicht getan hast, dann hast du gar nichts getan. In meinem Kreuz suchte ich nicht deine Pflicht, sondern dein Opfer“.“ Nur aus dem Opfer wird die Frucht. Nur im Verlust der eigenen Mitte entdecken wir, dass der Glaube das Geschenk eines großen Herrn ist.

„Aus der Enge in die Weite, aus der Tiefe in die Höh führt der Heiland seine Leute, dass man seine Wunder seh.“

Pastor Heinrich Kemner (1903-1993), „Da kann ich nur staunen“, R. Brockhaus: Wuppertal, 1984.