Es begann mit Schokoladepudding

von Helmut Matthies

 

Gäbe es eine Steigerung von geistlich tot, so gehörte vermutlich auch das Dorf zwischen Hannover und Braunschweig dazu, in dem ich 1950 geboren wurde. Wer in den 50er Jahren in die Schule kam, ging aber selbstverständlich in den Kindergottesdienst. Das gehörte sich einfach so! Wir hatten einen hochintelligenten, wirklich gläubigen Pastor. Da er bei den Erwachsenen kaum „Erfolg“ verzeichnete, konzentrierte er sich mit großer Hingabe auf die Kinder.

 

Seine Frau lud mich ein, bei ihr Schokoladepudding zu essen. Dieses handfeste Zeichen von Liebe hat mich anfangs mehr beeindruckt als der ganze Kindergottesdienst. Und ich folgerte: „Wenn die Frau gut ist, muss die Botschaft ihres Mannes auch gut sein.“ Mein größter Wunsch war dann, eine Kinderbibel zu bekommen. Sie wurde mein erstes Buch überhaupt und der Anfang meines Weges mit Jesus Christus.

 

Wer aber Jesus Christus tatsächlich ist, erschloss sich mir merkwürdigerweise durch das Vorbild meines „heidnischen“ Vaters. Ich habe in meinem Leben niemanden erlebt, der derart viel Leid erfuhr. Eigentlich scheiterte er in allem. Durch eine falsche Diagnose wurde er schon als Zweijähriger zum Krüppel. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Waldgaststätte seiner Eltern zu übernehmen, obwohl er nie gerne Gastwirt war. Er war ein überaus dankbarer Mensch und half trotz unserer eigenen Armut jedem, der ihn darum bat. Meine Eltern führten eine glückliche Ehe und wollten meinen beiden jüngeren Geschwistern und mir den Besuch einer Oberschule ermöglichen. Und ich? Ich versagte völlig! In der siebten Klasse musste ich die Schule verlassen mit einem Zeugnis, das vermutlich einmalig ist: vier Fünfen und vier Sechsen. Der Rektor holte mich in der Klasse mit der Bemerkung ab, er wolle mich persönlich nach Hause fahren, „damit dich dein Vater nicht halbtot schlägt“. Schläge waren damals nur allzu üblich – nicht aber bei meinen Eltern.

 

Ich weiß nicht genau, wie der Rektor in der Tür unseres Gastraumes stand. Meine Mutter ahnte, was er mitzuteilen hatte, und fing an zu weinen. Der Rektor stotterte, auch Einstein hätte Schulprobleme gehabt. Und was macht mein Vater? Er nahm mich in den Arm und sagte nur: „Junge, das werden wir schon schaffen.“ Nach diesem Urerlebnis ging es langsam mit mir bergauf.

 

Mit 17 wurde mir bei einer Evangelisation der sich über Sünder erbarmende Jesus vor Augen gemalt – interessanterweise ähnlich, wie ich meinen Vater nach meiner Schulkatastrophe erlebt hatte. Und so entschied ich mich, fortan einem Jesus zu folgen, der nicht nur in meinem Leben herrschen, sondern auch mein Heiland, mein „Heilmacher“, sein will.

 

Ich bin dankbar, dass sich mein Vater noch, elf Tage vor seinem Tod, mit 73 Jahren für Jesus Christus entschieden hat. Und sehr froh bin ich, dass ich den Pastor meiner Kindheit, der mir als erster die Bibel lieb gemacht hat, an seinem Sterbebett noch einmal sprechen konnte. Er klagte über seine Erfolgslosigkeit: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang bemüht, und dich hat durch mich niemand den Weg zu Jesus gefunden.“ Da konnte ich ihm sagen: „Doch, ich, weil Sie und Ihre Frau mir zum Vorbild wurden.“

 

Helmut Matthies


Erschienen in: "erlebt" 56. Jahrgang, Nr. 14, 2016