Predigt am
Sonntag, 19. April 1998
Pfr. Konrad Eißler
Thema: Gott baut Gemeinde - baut euch ein
1. Petrus 2, 1-10, REIHE VI
Liebe Gemeinde,
Was ist "Gemeinde"? Was bedeutet "Gemeinde"? Was meinen
wir, wenn wir "Gemeinde" sagen? Die Antworten sind sehr verschieden.
Die einen sagen: Gemeinde, das ist ein Baum, ein alter Baum. Seine Wurzeln
reichen tief in die Geschichte hinunter. Aus dem 2000 Jahre alten Stamm sind
viele Äste und Zweige hervorgegangen. In seinem Grün haben sich bunte und
schräge Vögel eingenistet, die nach verschiedenen Kirchentonarten jubilieren.
Zuweilen treibt der Baum tolle Blüten, aber mit seinen Früchten ist es nicht so
weit her. Ob ihm auch das allgemeine Baumsterben zu schaffen macht? Noch aber
lässt sich in seinem Schatten gut leben und vor allem genüsslich ruhen.
Gemeinde, das ist ein Baum, sagen die einen.
Und die andern sagen: Gemeinde, das ist eine Wiese, eine bunte Wiese.
Margeriten und Schierlinge, Gänseblümchen und Brennnesseln, Veilchen und
Kletten gedeihen nebeneinander. "Lasst beides wachsen" hat schon
Jesus gemahnt. Und der gute Hirte hütet seine Herde drauf. Die schwarzen Schafe
hat er nicht ausgemerzt. Die sturen Böcke hat er nicht ausgemustert. Die braven
Lämmer hat er nicht bevorzugt. Buntscheckig, artverschieden, lustig gemischt
ist seine internationale und interkonfessionelle Herde. Gemeinde, das ist eine
Wiese, sagen die andern.
Und die dritten sagen: Gemeinde, das ist ein Platz, ein großer Platz. So wie
der städtische Marktplatz offen ist für jedermann, für Eilige und Bummler, für
Einkäufer und Spaziergänger, für Straßenmusikanten und Feuerspucker, so ist
dieser kirchliche Sammelplatz offen für alle, für Kirchgänger und Naturanbeter,
für Engagierte und Randsiedler, für Begeisterte und Kritikaster. Ob einer nur
durchläuft oder verweilt oder gar die umgestülpte Mütze vor sich aufstellt, ist
sein Problem, denn der blaue Himmel wölbt sich über Gerechte und Ungerechte.
Wer traut sich schon, aus diesem Treffpunkt für viele einen Parkplatz für
wenige zu machen? Gemeinde, das ist ein Platz.
Aber der Apostel sagt etwas anderes, etwas ganz anderes. Gemeinde, das ist kein
Baum und keine Wiese und kein Platz, sondern Gemeinde ist ein Haus. Gott
pflanzt keinen Baum, pflegt keine Wiese, pflastert keinen Platz, sondern Gott
baut ein Haus. Gemeinde ist Gemeindehaus. Und damit wir nicht sofort ans
Landgasthaus oder Rathaus oder Schulhaus denken, fügt er hinzu, dass es ein
geistliches Haus sei, also ein Haus aus besonderem Baumaterial. Dieser Bauherr
verwendet nämlich keine gebrannten Steine. Der Ziegel ist nicht brauchbar. Er
verwendet auch keine gegossenen Steine. Der Beton ist nicht brauchbar. Er
verwendet erst recht keine gebrochenen Steine. Bims oder Marmor sind
unbrauchbar. Gott verwendet lebendige Steine. Der Mensch ist gebraucht. Der
Mensch ist gefragt. Der Mensch ist das Baumaterial seines Gemeindehauses.
Darüber müssen wir mehr wissen, wenn wir auch bauen wollen, hier oder drüben,
im Schwabenland oder Lettland, in Europa oder Asien.
1. Der lebendige Stein ist ein Fundstein.
Ich komme von der Schwäbischen Alb, die ich liebe. Schon vor 35 Jahren nannte
ich meinen ersten Sohn Albrecht, das heißt: "Genieße die Alb recht".
August Lämmle hat nicht übertrieben, wenn er schrieb: "Nirgends in
Deutschland ist eine bessere Heimat als auf der Schwäbischen Alb." Gute
Luft, stille Wege, schöne Aussichten, aber auch Steine, immer wieder Steine.
Jedes Frühjahr neu wird mein Gärtlein zur Fundgrube von Fundsteinen. Deshalb
ist dort oben mehr Stein als Pflanzenkunde gefragt. In Sachen Steine bin ich
also gut drauf.
Der Fundstein ist von Natur aus tot, so wie nur ein Stein tot sein kann. Und er
ist von Natur aus hart, wie nur ein Stein hart sein kann. Und er ist von Natur
aus wertlos, so wie nur ein Stein wertlos sein kann. Findlinge sind übrig, bis
zu dem Tag, an dem einer auf dem Platz auftaucht, dem Steine nicht egal sind.
Der sucht sich einen heraus und säubert ihn von allem Schmutz. Dann behaut er
ihn mit kräftigen Schlägen und gibt ihm eine lebendige Struktur. Schließlich bringt
er ihn auf das richtige Maß, das ihm angemessen ist. Der Fundstein ist nicht
wiederzuerkennen.
So wie der Mensch auch. Liebe Freunde, Gottes Garten, diese Erde, ist ein
Fundgrube von Menschen. Deshalb ist dort vor allem Menschenkunde gefragt. In
Sachen Mensch ist der Apostel gut drauf.
Der Mensch ist von Natur aus tot, so wie nur ein Stein tot sein kann. Er ist
von Natur aus hart, so wie nur ein Stein hart sein kann. Und er ist von Natur
aus wertlos, so wie nur ein Stein wertlos sein kann. Der Mensch ist übrig bis
zu dem Tag, an dem einer auf der Erde auftaucht, dem Menschen nicht egal sind
und sagt: Ich bin gekommen, zu suchen und lebendig zu machen.
Jesus sucht sich einen heraus und säubert ihn mit seinem eigenen Blut von allem
Sündenschmutz, von Bosheit, Betrug, Heuchelei, Neid und übler Nachrede, steht
im Text. Warum verwechseln wir diesen Sammler immer wieder mit einem Schinder,
der uns partout nicht in Ruhe lassen will?
Dann behaut Jesus diesen Gefundenen mit kräftigen Schlägen und gibt ihm eine
eigene, lebendige, unverwechselbare Struktur. Warum verwechseln wir solche
Krankheitsschläge, Familienkrisen, Berufsnöte immer wieder mit unverständlichen
Schicksalsschlägen, die der liebe Gott nicht zulassen darf? Johannes Calvin
sagt: "Es ist ja deine Hand, die mich schlägt. Meine Niedergeschlagenheit,
ist ja deine Hand. Meine Betroffenheit, es ist ja deine Hand. Meine
Traurigkeit, ist ja deine Hand, die mich schlägt."
Schließlich bringt Jesus den Menschen, den er gesäubert und behauen hat, auf
das Maß, das jedem maßlosen Menschen angemessen ist, nämlich das Maß des
Kreuzes, seine unermessliche Barmherzigkeit in seinem Tod. Warum verwechseln
wir dieses Holzkreuz immer wieder mit einem Holzstock, der uns schlagen und
treiben will? Seine Maßnahmen in unserem Leben ist Maßnehmen am Kreuz, das
jeden Menschen so bildet, dass er nicht wiederzuerkennen ist.
Der lebendige Stein ist ein Fundstein.
2. Der lebendige Stein wird zum Baustein
Manche Albwanderer, die an Sonn- oder Feiertagen vom Land heraufkommen, haben
neben dem Rucksack auf dem Buckel einen Hammer in der Hand. Ihr Blick geht
weniger hinaus über den Albtrauf, als vielmehr hinunter in Steinbrüche und
Höllenlöcher. Es sind Sammler, die Freude an einem schönen Gestein haben und es
zu Hause in ihre Steinsammlung legen.
Gott ist kein Albwanderer. Gott betätigt sich nicht als Steinsammler. Gott baut
kein Lapidarium, sondern ein Gemeindehaus. Und dazu benützt er seine
gesäuberten, behauenen und maßgenommenen lebendigen Steine. Wie bei jedem
Hausbau hat jeder Stein seine ganz bestimmte Funktion. Der gehört zur Mauer und
schützt den Raum. Wenn der fehlen würde, hätte das Zimmer ein Loch. Der gehört
zu den Stufen und bildet die Treppe. Wenn der fehlten würde, könnte niemand in
den 1. Stock. Und der gehört zum Giebel und trägt den First. Wenn der fehlen
würde, bräche das Dach herunter.
Jeder noch so kleine Stein hat eine ganz große Bedeutung. Im Verbund mit andern
wird er von andern getragen und trägt er andere. So besteht das Haus Gottes aus
vielen lebendigen Bausteinen. Jeder hat seine Funktion. Der gehört zur
Jungschar und spielt die Klampfe. Wenn der fehlen würde, gäbe es einen miesen
Gesang. Und der gehört zu den Missionsfreunden und gibt monatlich den Zehnten.
Wenn der fehlen würde, hätte die Spendenliste einen Aktivposten weniger. Der
gehört zu den Betern und faltet die Hände. Wenn der fehlen würde, wäre der so
wichtige Gebetsrücken viel kleiner. Jeder noch so kleine Mensch hat seine große
Bedeutung.
Vielleicht fühlen Sie sich gegenwärtig unter Wert verkauft. Vielleicht bedrückt
Sie Ihre bescheidene Rolle im Geschäft. Vielleicht bedrängt Sie Ihr nutzloses
Dasein im Heim. Vielleicht leiden Sie daran, dass Sie mit 25 oder 30 total
übrig sind. Hören Sie, bei Gott sind Sie nie übrig. Bei Gott sind Sie nie
nutzlos. Bei Gott sind Sie nie unter Wert verkauft. Er will Sie als lebendigen
Baustein in sein Haus einfügen. Ohne Sie hat der Missionsbund ein Loch. Dabei
werden Sie merken, dass Sie von andern getragen werden, die allesamt vom Grund
und Eckstein Jesus Christus getragen sind. Und dabei werden Sie spüren, dass
Sie andere tragen können und fähig werden, andere, auch Gemeinden und
Missionen, mitzutragen. Der lebendige Stein wird zum Baustein.
3. Der lebendige Stein bleibt ein Schmuckstein,
auch wenn er jetzt zum Ensemble vieler Bausteine gehört. Erlauben Sie mir, ein
letztes Mal die Schwäbische Alb zu erwähnen. Sie hat ja nicht nur Felsen,
Geröllhalden und Steinbrüche zu bieten, sondern auch Dörfer und Städtchen und
Klöster, zum Beispiel Zwiefalten. Wenn Sie bei Ihrem nächsten Sonntagsausflug
zum Bodensee nicht über die Autobahn, sondern über die Alb fahren, dann steigen
Sie doch einmal dort aus und besichtigen Sie das Benediktinerkloster. Dann
schauen Sie sich einmal die Steine der ehrwürdigen Kirche aus dem 18.
Jahrhundert genau an. Immer wieder werden Sie Steinmetzzeichen entdecken, mit
denen einst der Meister sein Werk unverwechselbar gemacht hat. Der so
gezeichnete Baustein ist damit nicht zum Baumaterial verkommen, sondern ein
Schmuckstein geblieben.
Liebe Freunde, im Ensemble von Gottes Gemeindehaus verlieren wir nicht an
Profil. Keiner wird zur fortlaufenden Nummer, zum gleichförmigen Brocken, zum
völlig unbeachteten Baumaterial, so wie es schon einmal in der Antike gewesen
ist. Ganze Sklavenheere wurden verschlissen, als vor den Toren Kairos die
Pharaonengräber als Pyramiden hochgezogen wurden. Der Apostel unterstreicht den
unverlierbaren Wert des Einzelnen. So wichtig ist jeder, dass der Meister
höchstpersönlich seine Leute mit dem Steinmetzzeichen unverwechselbar gemacht
hat. Es sieht aus wie eine Krone. Petrus weiß um seine Bedeutung. Auserwählt
seid ihr, das auserwählte Geschlecht. Königlich seid ihr, eine königliche
Priesterschaft. Heilig seid ihr, das heilige Volk, sein Eigentum.
Auch im Laufe eines langen Lebens verwittert diese Krone nicht. Da mögen wir
von Sorgen gezeichnet sein, die uns ins Gesicht geschrieben sind. Die Krone
zeichnet stärker. Da mögen wir von Krankheiten gezeichnet sein, die uns ganz
tief beugen. Die Krone zeichnet stärker. Da mögen wir vom Alter gezeichnet
sein, das uns jede Lebenskraft gebrochen hat. Die Krone zeichnet stärker. Das
Steinmetzzeichen Gottes bleibt unübersehbar: auserwählt, königlich, heilig. Das
ist unser Schmuck. Das ist unsere Krone. Halte, was du hast, dass niemand dein
Krone nehme.
Liebe Gemeinde,
"Flaute auf dem Baumarkt" hieß es gestern in der Zeitung. In der
Bibel liest sich´s anders: Konjunktur auf Gottes Bau.
Gott baut, deshalb baut euch ein.