Weihnachten – was ist denn das?

Konrad Eißler

 

Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, was diese Frage überhaupt soll. Aber: Nicht jeder kann heutzutage sagen, was Weihnachten überhaupt ist. Für den einen ist es eine Geschenkaktion, für den anderen eine Dekorationsaktion und wieder andere machen eine Christbaumaktion daraus. Die Nordmanntanne hat ihren Preis, aber auch ihre Mängel. Fünf Zweige müssen implantiert werden, damit sie nicht mit einem Besen verwechselt wird. Wohl dem, der einen Plastikbaum hat: klappbar, elektrifiziert, aufgerüstet mit Watte und Glitzer. „O Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter." Und dann ist Weihnachten auch noch eine Besuchsaktion. Vier Geschwister kommen auf Besuch und laden zum Gegenbesuch ein. Dann warten Großeltern und Großtanten aufs Vorbeischauen. Schließlich dürfen die besten Freunde nicht vergessen werden. Das sind nach Adam Riese 18 Kaffeetermine mit Lebkuchen, Heidesand und Spritzgebäck. „O du fröhliche und selige" Weihnachtszeit! All diese Aktionen gehören zum Fest wie die Kerzen zum Baum und der Zimt zum Punsch. Trotzdem sind sie angesichts der eigentlichen weihnachtlichen Rettungsaktion erfreuliche, willkommene, aber auch stressige Nebenaktionen.

 

Geboren, um zu sterben

Ich erinnere mich an ein Ereignis, das mir das Wunder von Weihnachten ziemlich deutlich vor Augen führte. Es war an einem kalten Wintermorgen während meiner Tübinger Studentenzeit. Wir schlenderten am Hölderlinturm den Neckar entlang. Plötzlich trieb ein Mann mitten im Wasser. Er kämpfte um sein Leben. Die Wellen warfen ihn hin und her. Die Strömung war zu stark. Seine Lage war höchst lebensbedrohend. Der Mann wäre verloren gewesen, wenn nicht ein Mitstudent seine Kollegmappe weggeschleudert hätte und mit einem Satz ins eiskalte Wasser gesprungen wäre. Er bekam den Ertrinkenden zu fassen und zog ihn ans Ufer. Der Gerettete war dem Tod entrissen, sein Leben war ihm neu geschenkt. Freude, Freude über Freude! Unser Freund - der Retter - hingegen ist einige Zeit später an einer Krankheit gestorben, die er sich als eine direkte Folge der Rettung zugezogen hatte! Das ist Weihnachten: Jesus springt in den Strom der Welt, um uns zu retten und selbst zu sterben.

 

Wir wären verloren, wenn...

Denken wir an den Strom der Zeit, der durch die Jahrhunderte fließt. In den sind wir hineingefallen. Dort treiben wir dem Ungewissen entgegen. Jeder muss um sein Leben kämpfen. „Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn, es schwinden, es fallen die leidenden Menschen blindlings von einer Stunde zur andern, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahrlang ins Ungewisse hinab" (Friedrich Hölderlin 1770-1843). Wir bekommen keinen festen Boden unter die Füße. Die Zeit- und Denkströmungen sind zu stark. Die Mode- und Protestwellen werfen uns hin und her. Die Lage ist höchst bedrohlich. Wir wären verloren, wenn ... ja, wenn uns nicht einer sähe. Ihm schneidet unsere Lage ins Herz. Von ihm singt der Choral: „Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend Übermaßen." Und der ruft nicht: „Kämpfe!" oder „Du schaffst das schon!" Und der wirft uns auch kein Seil aus handgedrehten Ideologien zu. Jesus Christus entledigt sich seiner Kleider. Er wirft Königsmantel, Krone und Zepter ab, die ihn als König aller Könige ausweisen. So springt er uns nach. Der Gottessohn taucht elend, nackt und bloß im Strom unter. Alle Kraft -sein Leben - bietet er auf, um uns zu retten. Er schwimmt gegen den Strom. Er ruft über die Wasser: „Her zu mir!" Er macht die Arme ganz weit auf. Er schwimmt jedem nach und will jeden ans rettende Ufer ziehen.

 

Weihnachten ist eine Rettungsaktion

Jesus ist der Einzige, der die notwendige Kraft dazu hat. Keiner muss im Strom des Leides versinken, niemand im Strom der Tränen untergehen. Jeder hat die Chance zum Leben. Weihnachten - was ist denn das? Eine Rettungsaktion, denn Christ der Retter ist da. Deshalb sollte zu Weihnachten auch die Erinnerung an den nicht zu kurz kommen, der uns zur Rettung ins kalte Wasser sprang.

 

Pfarrer Konrad Eißler (Hülben bei Reutlingen)

Aus idea spektrum special Weihnachten & Jahreswechsel Nr. 7/2010