Martin
Luther
Ein kleiner
Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle
(1522)
[WA
10, 1, 1, 8–18]
Es
ist eine verbreitete Gewohnheit, dass man die Evangelien nach den Büchern
zählet und nennet und sagt: Es gibt vier Evangelien. Daher ist’s gekommen, dass
man nicht weiß, was Paulus und Petrus in ihren Briefen sagen und ihre Lehre
gleichsam als Zusatz zur Lehre der Evangelien geachtet wird, wie auch eine Vorrede
des Hieronymus sich hören lässt. Danach ist es eine noch ärgere Gewohnheit, dass
man die Evangelien und Briefe gleichsam wie Gesetzbücher ansieht, darinnen man
lehren soll, was wir tun sollen, und darin die Werke Christi uns nicht anders
als ein Vorbild vor Augen gestellt werden. Wo nun diese zwei irrigen Meinungen
im Herzen bleiben, da kann weder Evangelium noch Brief mit Nutzen und
christlich gelesen werden, wir bleiben eitel Heiden wie vorher.
Darum
soll man wissen, dass es nur ein Evangelium gibt, aber durch viele Apostel
beschrieben. Ein jeglicher Brief des Paulus und Petrus, dazu die
Apostelgeschichte des Lukas ist ein Evangelium, wenn sie auch nicht alle Werke
und Worte Christi erzählen, sondern das eine sie kürzer und weniger als das
andere enthält. Ist doch auch der großen vier Evangelien keines,
das alle Worte und Werke Christi enthält. Das ist auch nicht notwendig.
»Evangelium« ist und soll nichts anderes sein als eine Rede von Christus.
Gleichwie unter den Menschen (auch) geschieht, wenn man ein Buch von einem
König oder Fürsten schreibt, was er getan und geredet und erlitten hat zu
seiner Zeit: das kann man auf mancherlei Weise beschreiben, der eine in der
Länge, der andere in der Kürze. So soll das Evangelium sein und es ist nichts
anderes als eine Chronik, Geschichte, Erzählung von Christus, wer der sei, was
er getan, geredet und erlitten habe, was der eine kurz, der andere lang, der
eine so, der andere so beschrieben hat. Denn aufs kürzeste umschrieben ist das
Evangelium eine Rede von Christus, dass er Gottes Sohn und Mensch für uns geworden,
gestorben und auferstanden, ein Herr über alle Dinge gesetzt sei. So viel nimmt
Paulus in seinen Briefen vor sich und führt das aus, lässt alle die Wunder und
das Leben Christi, die in den vier Evangelien beschrieben sind, hinten anstehen
und umfasst damit doch genügend und reichlich das ganze volle Evangelium, wie
das im Gruß an die Römer (Römer 1, 1-4) klar und fein zu sehen ist, da er sagt,
was das Evangelium sei, und spricht: »Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen
zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, welches er zuvor
verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift, von seinem Sohn,
der ihm geboren ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch und verklärt ist als
ein Sohn Gottes in der Kraft nach dem Geist der Heiligung aus der Auferstehung
von den Toten, der da ist Jesus Christus, unser Herr« usw.
Da
siehst du, dass das Evangelium eine Erzählung von Christus ist, Gottes und
Davids Sohn, gestorben und auferstanden und zum Herren gesetzt, was die ganze
Summe des Evangeliums ist. Wie nun nicht mehr als ein Christus ist, so ist und
kann nicht mehr als ein Evangelium sein. Weil auch Paulus und Petrus nichts
anderes als Christus auf vorgesagte Weise lehren, so können ihre Briefe nichts
anderes als das Evangelium sein. Ja, auch die Propheten, dieweil sie das
Evangelium verkündigt und von Christus geredet haben, wie Paulus hier (Römer 1,
2) vermeldet und jedermann wohl weiß, so ist ihre Lehre da, wo sie von Christus
reden, nichts anderes als das wahre, lautere, rechte Evangelium, als hätten es
Lukas oder Matthäus beschrieben. Wenn z.B. Jesaja 53, 2 ff. sagt, wie er für uns
sterben und unsere Sünde tragen sollte, hat er das lautere Evangelium
geschrieben. Und ich sage fürwahr: wenn jemand nicht diese Meinung vom Evangelium
fasset, der wird nimmer in der Schrift erleuchtet werden noch den rechten Grund
erfassen können.
Zum
andern (ist zu beachten): dass du nicht aus Christus einen Mose machest, als
tue er nicht mehr, als dass er Lehre und Beispiel gebe, wie die andern Heiligen
tun, so als sei das Evangelium ein Lehr- oder Gesetzbuch. Darum sollst du
Christi Wort, Werk und Leiden auf zweierlei Weise auffassen: einmal als ein Vorbild,
dir vor Augen gestellt, dem du folgen und auch so tun sollst, wie 1. Petrus 2,
21 sagt: »Christus hat für uns gelitten und uns ein Vorbild gelassen«. So wie
du siehst, dass er betet, fastet, den Leuten hilft und Liebe erzeiget, so
sollst du auch dir und deinem Nächsten tun. Aber das ist das Geringste am
Evangelium, wodurch es auch noch nicht »Evangelium« heißen kann. Denn damit ist
dir Christus nicht mehr nütze als ein anderer Heiliger. Sein Leben bleibt bei ihm
und hilft dir noch nichts, und in Kürze: die Weise macht keinen Christen, es
macht nur Heuchler. Es muss noch sehr viel weiter mit dir kommen, obwohl das
jetzt lange Zeit hindurch die allerbeste Weise zu predigen gewesen ist (wenn
sie auch selten genug war).
Das
Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus zuvor, ehe du
ihn dir zum Vorbild fassest, aufnehmest und erkennest als eine Gabe und
Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei. So dass du, wenn du ihm
zu siehest oder - hörest, dass er etwas tut oder
leidet, nicht zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und Leiden dein,
worauf du dich nicht weniger verlassen kannst, als hättest d u es getan, ja als
wärest du derselbe Christus. Siehe, das heißt das Evangelium recht erkannt, das
ist die überschwängliche Güte Gottes, die kein Prophet, kein Apostel, kein
Engel je hat voll beschreiben, kein Herz je genugsam bewundern und begreifen können.
Das ist das große Feuer der Liebe Gottes zu uns, davon wird das Herz und
Gewissen froh, sicher und zufrieden, das heißt den christlichen Glauben
predigen. Davon heißt solche Predigt »Evangelium«, das besagt auf Deutsch so
viel wie eine »fröhliche, gute, tröstliche Botschaft«, von welcher Botschaft
die Apostel die zwölf Boten genannt werden.
Davon
sagt Jesaja 9, 6: »Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben«. Ist er
uns gegeben, so muss er unser sein, so müssen wir uns auch seiner als des Unseren
annehmen. Und Römer 8, 32: »Wie sollte er uns nicht alle Dinge mit seinem Sohn
schenken?« Siehe, wenn du Christus so auffassest, als
eine Gabe, dir zu eigen gegeben, und nicht daran zweifelst, so bist du ein
Christ. Der Glaube erlöst dich von Sünden, Tod und Hölle, macht, dass du alle
Dinge überwindest. Ach, da kann niemand genug von reden, da ist die Klage, dass
solche Predigt in der Welt verschwiegen wird, obwohl das Evangelium doch alle Tage
gerühmt ist.
Wenn
du nun Christus so zum Grund und Hauptgut deiner Seligkeit hast, dann folget
das andere Stück, dass du ihn auch dir zum Vorbild fassest, und dich auch so
deinem Nächsten zu dienen ergebest, wie du siehst, dass er sich dir ergeben
hat. Siehe, da gehet dann Glaube und Liebe im Schwang, ist Gottes Gebot erfüllet,
der Mensch fröhlich und unerschrocken, alle Dinge zu tun und zu leiden. Darum
siehe eben darauf: Christus als eine Gabe nähret deinen Glauben und macht dich
zum Christen. Aber Christus als ein Vorbild übt deine Werke. Die machen dich
nicht zum Christen, sondern sie gehen von dir aus, der du schon vorher zum
Christen gemacht bist. Wie sehr nun Gabe und Vorbild sich voneinander
unterscheiden, so sehr unterscheiden sich auch Glaube und Werke. Der Glaube hat
nichts eigenes, sondern nur Christi Werk und Leben. Die Werke haben etwas
Eigenes von dir, sollen aber auch nicht dein eigen, sondern des Nächsten sein.
Darum
siehst du: »Evangelium« ist nicht eigentlich ein Buch der Gesetze und Gebote,
das von uns unser Tun fordere, sondern ein Buch der göttlichen Verheißungen, darin
er uns alle seine Güter und Wohltat in Christus verheißet, anbietet und gibt. Dass
aber Christus und die Apostel uns viel guter Lehre geben und das Gesetz
auslegen, ist unter die Wohltat zu rechnen, wie ein anderes Werk Christi
(auch), denn recht Lehren ist nicht die geringste Wohltat. Darum sehen wir auch,
dass er nicht gräulich dringt und antreibt, wie Mose in seinem Buch tut und wie
des Gebots Art ist, sondern lieblich und freundlich lehret, nur sagt, was zu
tun und zu lassen sei, was den Übeltätern und Wohltätern begegnen wird. Er
treibt und zwingt niemand, ja, er lehret auch so sanft, dass er mehr aufmuntert
als gebietet, er fängt an und sagt: »Selig sind die Armen«, »selig sind die
Sanftmütigen« (Lukas 6, 20; Matthäus 5, 5) usw. Und die Apostel gebrauchen auch
allgemein die Worte: Ich vermahne, ich bitte, ich flehe usw. Aber Mose, der
spricht: Ich gebiete, ich verbiete, drohet und schrecket daneben mit gräulichem
Strafen und Bußen.
Nach
dieser Unterrichtung kannst du die Evangelien mit Nutzen lesen und hören.
Wenn
du nun das Evangelienbuch auftust, liest oder hörst, wie Christus hier und
dahin kommt oder jemand zu ihm gebracht wird, sollst du darin die Predigt oder
das Evangelium vernehmen, durch welches er zu dir kommt oder du zu ihm gebracht
wirst. Denn das Evangelium predigen ist nichts anderes, als dass Christus zu u
n s kommt, oder wir zu ihm gebracht werden. Wenn du aber siehst, wie er wirkt und
jedermann hilft, zu dem er kommt und die zu ihm gebracht werden, sollst du
wissen, dass solches der Glaube in dir wirke, und er deiner Seele eben dieselbe
Hilfe und Güte durchs Evangelium anbietet. Hältst du hier stille und lässt dir
Gutes tun (d.h., wenn du es glaubest, dass er dir wohl tue und helfe), so hast du
es gewiss, so ist Christus dein und dir zur Gabe geschenkt. Danach ist’s not, dass du dir ein Vorbild daraus machest und deinem
Nächsten auch so helfest und tust, damit du auch ihm zur Gabe und zum Vorbild gegeben
seiest. Davon sagt Jesaja 40, 1-2; »Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer
Gott; redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Dienstbarkeit ein
Ende hat, denn ihre Missetat ist vergeben; denn sie hat Zwiefältiges empfangen
von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden« usw. Diese zwiefachen Güter sind
die zwei Stücke in Christus: Gabe und Vorbild, welche auch durch das doppelte
Stück des Erbteils, welches das Gesetz dem ersten Sohn Mose zueignet (vgl. 5.
Mose 21, 17), und durch viele andere Bildreden angedeutet sind.
Trotzdem
ist es Sünde und Schande, dass es mit uns Christen dahin gekommen ist, und dass
wir so unfleißig im Evangelium gewesen sind, dass wir’s nicht allein nicht
verstehen, sondern auch überhaupt erst bedürfen, dass man uns mit anderen
Büchern und Auslegungen zeige, was drinnen zu suchen und zu erwarten sei,
sintemal die Evangelien und Briefe der Apostel darum geschrieben sind, dass sie
selbst solche Wegweiser sein und uns in die Schrift des Alten Testaments, der
Propheten und des Mose weisen wollen, dass wir allda selbst lesen und sehen
sollen, wie Christus in die Windeltücher und in die Krippe gelegt sei, das ist:
wie er in der Schrift der Propheten enthalten sei. Da soll unser Studieren und
Lesen sich üben und sehen, was Christus sei, wozu er gegeben sei, wie er versprochen
sei, und wie sich alle Schrift auf ihn beziehe, wie er selbst Johannes 5, 46
sagt: »Wenn ihr Mose glaubet, so glaubet ihr auch mir, denn von mir hat er geschrieben«,
ebenso Johannes 5, 39: »Suchet in der Schrift, denn sie ist’s, die von mir
Zeugnis gibt«. Das meint Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefs, wo er gleich
zu Anfang im Gruß sagt (Vers 2), das Evangelium sei von Gott durch die
Propheten in der heiligen Schrift verheißen. Daher geschieht’s,
dass die Evangelisten und Apostel uns immerdar in die Schrift (hinein) verweisen
und sprechen: »so steht’s geschrieben «, ebenso: »das ist geschehen, dass die
Schriften der Propheten erfüllet würden« usw. Und Apostelgeschichte 17, 11, da
die Thessalonicher das Evangelium mit allem Verlangen hörten, sagt Lukas, dass
sie Tag und Nacht in der Schrift studiert und geforscht hätten, ob’s so wahr
wäre. Mitten in der Einleitung seines Briefes (1. Petrus 1, 10-12) sagt Petrus
ebenso: »Nach dieser eurer Seligkeit haben die Propheten geforscht, die von
dieser Gnade in euch geweissagt und gesucht haben, auf welche und welcherlei
Zeit der Geist Christi deutete, der in ihnen war, und durch sie die Leiden, die
in Christus sind, zuvor bezeuget hat, und die Herrlichkeit danach, welchen es
offenbaret ist. Denn nicht ihnen selbst, sondern uns haben sie solche Dinge
dargetan, welche jetzt unter euch durch den heiligen Geist gepredigt sind, der
vom Himmel gesandt ist; welche Dinge auch die Engel zu schauen begehren«. Was
will Petrus hiermit, als uns in die Schrift (hinein) führen? Als wollte er
sagen: Wir predigen und öffnen euch die Schrift durch den heiligen Geist, dass ihr
selbst lesen und sehen könnt, was drinnen ist, und von welcher Zeit die
Propheten geschrieben haben, wie er auch Apostelgeschichte 3, 24 sagt: »Von
diesen Tagen haben alle Propheten geredet, von Samuel an, die da jemals
geweissagt haben«. Darum sagt auch Lukas 24, 45, dass Christus den Aposteln das
Verständnis aufgetan habe, dass sie die Schrift verstanden. Und Christus sagt
Johannes 10, 2 ff.: Er sei die Tür, durch ihn müsse man hineingehen, und wer
durch ihn hineingeht, dem tut der Türhüter (der heilige Geist) auf, dass er
Weide und Seligkeit findet. So dass (schließlich und) endlich wahr ist, dass
das Evangelium selbst Wegweiser und Erklärer in der Schrift ist; gleichwie ich
mit dieser Vorrede gern das Evangelium zeigen und Unterricht (darin) geben
wollte. Aber siehe zu, wie feine, zarte, fromme Kinder wir sind! Auf dass wir
nicht in der Schrift zu studieren und Christus allda zu lernen brauchten,
halten wir das ganze Alte Testament für nichts, als das nun zu Ende sei und
nichts mehr gelte; obwohl es doch allein den Namen hat, dass es »heilige
Schrift« heißt, und Evangelium eigentlich nicht »Schrift«, sondern »mündlich
Wort« sein sollte, das die Schrift vortrüge, wie Christus und die Apostel getan
haben. Darum hat auch Christus selbst nichts geschrieben, sondern nur geredet,
und seine Lehre nicht »Schrift«, sondern »Evangelium«, das ist: eine »gute
Botschaft« oder »Verkündigung« genannt, das nicht mit der Feder, sondern mit
dem Munde betrieben werden sollte. So sind wir schnell bereit und machen aus
dem Evangelium ein Gesetzbuch, eine Gebotslehre, aus Christus einen Mose, aus
dem Helfer nur einen Lehrer. Was sollte nicht Gott über solch dummes,
verkehrtes Volk verhängen? Es ist billig, dass er uns in des Papstes Lehre und
Menschenlügen hat kommen lassen, weil wir seine Schrift fahren ließen, und
anstatt heiliger Schrift eines lügenhaftigen Narren
und bösen Betrügers Dekretalen lernen mussten. O
wollte Gott, dass bei den Christen doch das lautere Evangelium bekannt wäre,
und diese meine Arbeit nur möglichst bald nutzlos und überflüssig würde, so
wäre gewiss Hoffnung, dass auch die heilige Schrift in ihrer Würdigkeit wieder
hervorkäme.
Das
sei zur Vorrede und zum Unterricht aufs kürzeste genug gesagt, in der Auslegung
wollen wir mehr davon reden. Amen.