OTTO RIETHMÜLLER OTTO RIETHMÜLLER Sein Leben und sein Wirken darcjesteüt und ausgewähU von £mil Lauxmann CALWER VERLAG STUTTGART BEGEGNUNGEN 'Pier aus ge geben von Jbeodor Sdblatter und Peter 7Aeinbold BAND 1 Die kleinen Bände dieser Reibe wollen mit der biographischen Darstellung und einer Auswahl aus dem Schrifttum zur Begegnung mit einzelnen Persönlichkeiten führen, die uns helfen, unser Leben und unsere Zeit zu verstehen. Die Herausgabe dieses Buches erfolgt im Einvernehmen mit dem Burckhardthaus. Mit 1 Kunstdrucktafel: Otto Riethmüller 1935 © 1959 by Calwer Verlag. Printed in Germany Alle Rechte Vorbehalten • Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages • Einband und Schutzumschlag von Hansjoachim Kirbach Satz und Druck: J. F. Steinkopf, Stuttgart Am 19. November 1938 wurde Otto Riethmüller, der Leiter des Verbands der evangelischen weiblichen Jugend Deutschlands, kurz vor Vollendung seines fünfzigsten Lebensjahres aus Arbeit und Schaffen abgerufen. Die Stimme des „Lobsängers Gottes", die weithin in deutschen Landen gehört wurde, verstummte. Inzwischen sind zwei Jahrzehnte vergangen, deren Ereignisse so tief eingeschnitten haben, daß die Zeit vor ihnen der älteren Generation zu verblassen droht, der jüngeren schon fast ganz entschwunden ist. Und doch hätte der Frühvollendete gerade der Jugend in ihren mancherlei Ratlosigkeiten viel Richtungweisendes zu sagen. So bedarf der Versuch, Gestalt und Lebenswerk Otto Riethmüllers neu lebendig werden zu lassen, keiner Rechtfertigung. Was von diesem Lebenswerk über die Zeiten hinweg geblieben ist und bleiben wird, das wird, wie ich hoffen möchte, aus der Darstellung selber hervorgehen, wie sie auf den folgenden Blättern versucht worden ist. Doch sei schon hier auf einige Ergebnisse einer Umfrage bei Jugendkreisen und ihren Leiterinnen und Leitern hingewiesen. Die Sprechchorfeiern, die „Zielsätze" und die „Wegzeichen zum Ziel", einst vorbildliche und dankbar benützte Früchte aus Riethmüllers Feder, haben ihre Zeit gehabt. Das Bedürfnis nach einer noch schlichteren, dem Heute angemesseneren Sprache hat sich deutlich gemeldet. Auch bei Monatsspruch und Monatslied scheint da und dort die Bewegung rückläufig zu sein, während Wochenspruch und Wochenlied ihren Platz behauptet haben. Ein Teil seines Liedgutes ist Eigentum der Jungen Gemeinde geworden und wird auch heute gern gesungen. Den Losungen der Brüdergemeine ist es zu danken, daß, durch Aufnahme Riethmüllerscher Liedverse, die besten seiner Lieder nicht in Vergessenheit geraten. Wesentlicher aber ist das andere, das geblieben ist und, will’s Gott, auch bleiben wird: daß die Jugendarbeit sich an Gottes Wort und an die Gemeinde gebunden weiß; daß unsere Jugend die Notwendigkeit einer Lebensordnung erkennt, um das Christsein im Leben bewähren zu können; daß sie zu aktiver Gliedschaft in der Gemeinde aufgerufen wird und auch bereit ist, sich dafür zurüsten zu lassen und daß in ihr die Freude am echten Lied der Kirche lebendig ist. Das alles — und es ist wahrlich nicht wenig — ist eine Frucht der guten Saat, die Otto Riethmüller ausgestreut hat. Gewiß haben daran auch seine Vorgänger im Amt der Jugendführung und seine Mitarbeiter ihren Anteil. Aber gerade ihm war es gegeben, diese Werte so zu prägen und weiterzugeben, daß ihre lebendige Kraft bis heute nicht gestorben ist und auch nicht sterben wird, solange sein Erbe treu bewahrt wird. „Es ist vielleicht doch das Schönste und Größte, was man über einen geistlichen Führer sagen kann, daß er nicht mit seinem Werk irgendwo in sich geschlossen dasteht, sondern daß sein Denken in der Gemeinde Gestalt gewonnen hat und zu einem Teil ihres geistlichen Lebens ge- worden ist", so hat eine Mitarbeiterin Otto Riethmüllers, die ihn als Leiter des Burckhardthaus-Werkes vom ersten bis zum letzten Tag seines dortigen Wirkens erlebt hat, die Frage nach dem „was blieb?" beantwortet. Die Darstellung stützt sich weithin auf das Schrifttum, das im Verlag des Burckhardthauses, Berlin-Dahlem, in den Jahren 1930 bis 1938 erschienen ist. Insbesondere habe ich der nach dem Tode Otto Riethmüllers erschienenen Gedenkschrift „auf der Brücke" Wesentliches zu danken. Die in Klammern angeführten Zitate beziehen sich auf sie. Herbst 1959 Emil Lauxmann OTTO RIETHMÜLLER Mitten im Schwabenland, in Cannstatt am Neckar, hat Otto Riethmüller am 26. Februar 1889 das Licht der Welt erblickt. Wer ihn einige Jahrzehnte später auf einer der großen Jugendtagungen mit erstaunlicher Gewandtheit seines Amtes walten sah, hätte freilich kaum vermutet, daß er ein Schwabe sei. Sein Geburtshaus stand in nächster Nähe der Stadtkirche, im unmittelbaren Bereich ihrer Glocken und Orgeltöne. Als aber das vierte Kind, die Tochter Elisabeth, geboren war, entschloß sich Vater Riethmüller zum Bau eines eigenen Hauses. Nicht weit entfernt fand sich in der stillen Marienstraße, der heutigen Liebenzeller Straße, ein geeigneter Platz. Der Vater, ebenso tüchtig in seinem Beruf als Uhrmacher wie aufgeschlossen für alles Große und Ideale, verband mit dem Bau zwei andere Ziele: Er wollte der Michael Hahnschen Gemeinschaft, der er sich angeschlossen hatte, einen würdigen Raum für ihre „Stunden" schaffen, und er wollte jungen Männern zu einer Bleibe in einer guten und sauberen Atmosphäre verhelfen. Dort wuchs Otto Riethmüller, der Älteste von fünf Geschwistern, in einer behüteten Häuslichkeit und im Frieden einer von keinem Krieg erschütterten Welt heran. Die beiden Jahrzehnte um die Jahrhundertwende waren ja die äußerlich glänzendste Zeit des Bismarckschen Reichs. Seiner Jugend lag das nationale Gefühl im Blut; ihr kam das „Deutschland, Deutschland über alles" noch ohne Hemmungen über die Lippen. Auch das Cannstatt von damals, im wesentlichen die Alt- Stadt dicht um die Stadtkirche und die Vorstadt drüben über dem Neckar, war mit seinen knapp zwanzigtausend Einwohnern ein anderes als der heutige fast viermal größere, in „Groß-Stuttgart" aufgegangene Stadtteil am Neckarhafen. Und während heute nicht weniger als sieben Räume den Evangelischen für den Gottesdienst zur Verfügung stehen, mußten sie sich vor 1900, vom „Vereinshaus" abgesehen, mit einer Kirche begnügen; eben der Stadtkirche, in der Otto Riethmüller getauft, konfirmiert und später zum Predigtamt ordiniert wurde. Wenn dieses Cannstatt um die Jahrhundertwende sich audi nicht mit der Reichsstadtherrlichkeit des benachbarten, etwa gleich großen Eßlingen messen konnte, so war es doch stolz auf seine Vergangenheit: Cannstatt ist der Ort in Württemberg, der am frühesten, schon um das Jahr 700, in Urkunden genannt wird. Für Vater Riethmüller war es keine Frage, daß der Älteste mit seinen reichen Gaben das humanistische Gymnasium der Stadt besuchen dürfe, er sollte doch einmal studieren können! Es war eine treffliche Lernschule alten Stils; die Pflege der alten Sprachen und die Einführung in die Welt des klassischen Altertums ging den „Realien" bei weitem vor. Ein Jugendfreund Otto Riethmüllers zeichnete von ihm, dem Gymnasiasten, dieses Bild: „ln den oberen Klassen kamen seine Talente immer deutlicher zum Vorschein. Er schrieb glänzende Aufsätze, zeichnete, malte, musizierte, war auch ein guter Turner und Mathematiker. Seine Begabung und sein unermüdlicher Fleiß ließen ihn fast ohne Unterricht die musisdien Kenntnisse und Fähigkeiten gewinnen, mit denen er später so viel gedient hat. Hier legten unermüdlicher Fleiß, von den Kindertagen an, innere Zucht und Kraft der Konzentration die gründlichen wissenschaftlichen Fundamente." Spannungen zwischen dem, was Riethmüller auf dem Gymnasium an Erkenntnissen empfing, und dem, was ihm das Elternhaus mitgab, in dem ein vom Wort der Schrift genährtes Christentum Michael Hahnscher Prägung gelebt wurde, konnten freilich nicht ausbleiben. Die Aufstellungen der kritischen Theologie um die Jahrhundertwende, die im Religionsunterricht des Gymnasiums vorgetragen wurden, wollten sich mit dem Glauben der Eltern, den ein streng lutherischer Konfirmandenunterricht noch in ihm gefestigt hatte, nicht so leicht verbinden. Darum hatte der Vater, der diese Not erkannte, verständliche Bedenken, als ihm der Sohn den Wunsch vortrug, Theologie zu studieren. Daß er dennoch seine Einwilligung dazu gab, war dem Zuspruch eines väterlichen Freundes zu danken, des Hahnschen „Bruders" David Kuder, der beiden, dem Vater und dem Sohn, zur rechten Stunde den Mut dazu stärkte. STUDIUM IN TÜBINGEN Im Herbst 1907 begann Otto Riethmüller das Studium an der Landesuniversität in Tübingen. Für jeden jungen Studenten war es eine wichtige Frage, welcher studentischen Verbindung er angehören wolle. Otto Riethmüller löste sie für sich durch den Eintritt in den „Bibelkreis" (BK). Zuerst allerdings scheint er nur schwer zum Kreis der neuen Freunde gefunden zu haben. „Wenn ein ,Spuz' angesagt war" — so berichtet ein Studienfreund aus jenen Tagen —, „ging er nicht mit; er mied auch möglichst den Unterhaltungsabend. „Immer wieder hieß es: ,Ich darf mich nicht zerstreuen.' Wir ließen ihn seinen Weg gehen. — Aber bald blühte er auf, und was für Gaben entfalteten sich da! Gesellige, dichterische, musikalische und vor allem die Freude am Malen. Er sah die Natur und sah seine Seele in sie hinein, was besonders in den Abendstimmungen der Landschaften zum Ausdruck kam." Und ein anderer: „Die Frage, was einem Christenmenschen erlaubt sei und was ihm fromme, war immer um den Weg." Auf Wanderungen mit den Freunden entdeckte er die Schönheit der schwäbischen Heimat; in den Semesterferien war das Hochgebirge ein leuchtendes Ziel. Die Liebe zur Bergwelt hat ihn nie verlassen. Mit Freuden öffnete er sich der Weite des Paulus-Wortes: „Alles ist euer!", vergaß aber darüber seine Fortsetzung nicht mit ihrem mahnenden Ernst: „Ihr aber gehört Christus." ln beglückender Weise wurde an diesem fröhlichen und für alles Schöne dieser Welt empfänglichen Studenten sichtbar, daß ein Christ in der Bindung an Christus ein Freier, nicht ein Gebundener ist. Die Erinnerung an einen abendlichen Alleen-Gang, von dem er nach einem tiefen Gespräch über die „Wiederbringung aller Dinge" den Freund in der Nacht heimbegleitete, hat dieser in den Versen festgehalten: Geh mit mir durch die nächt’gen Gassen, jetzt schweigt das Lärmen, schweigt das Leid; und schallen trunkne Weingesänge, wir wandeln sie in neue Klänge, drin Liebe glüht von Ewigkeit. Wie über den durchbrochnen Giebeln der reine Himmel niederblaut! Mit sanftem, sammetweichem Glänzen hoch über allen Schattengrenzen smaragden ein Palast erbaut. Bin ich ein Kind der Sternenzelte und finde mich nur hier nicht aus? Du aber gehst die stillen Stege, und findest du’s am Ziel der Wege: O grüße mir das Heimathaus! (Q. Lang in den BK-Blättern 1958) Vor der Gefahr, sich in Naturschwärmerei und Romantik zu verlieren, blieb Otto Riethmüller indes bewahrt; dafür nahm er von Anfang an die Aufgabe des theologischen Studiums zu ernst. Er wußte um den Wert der kurzen Studienjahre. Auch damals war es für einen jungen Studenten der Theologie nidit leicht, den Weg zu finden. Es war die Zeit vor jener Wende in der theologischen Arbeit, die durch die „dialektische Theologie" heraufgeführt wurde,- noch war Karl Barths Auslegung des Römerbriefs nicht erschienen, die ja dann anfangs der zwanziger Jahre das Signal zu einer ganz neuen Besinnung vom Worte Gottes aus und zu einer „Theologie des Wortes" geben sollte. Wohl fehlte es auch in jener Zeit nicht an Hörsälen, in denen der junge Theologe zum Verständnis der Bibel und zu dankbarer Freude an Gottes Handeln in Christus angeleitet wurde. Im ganzen aber stand die evangelische Theologie in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg in einem immer schwerer werdenden Abwehrkampf. Es sah so aus, als ließen die Naturwissenschaften, die so mär- chenhafte Fortschritte auf dem Gebiet der Forschung und der Technik möglich gemacht hatten, immer weniger Raum für ein Denken in den Linien der Bibel. Dazu kam, daß in der Theologie selbst Strömungen mächtig wurden, die dem künftigen Prediger der frohen Botschaft schwere Bedenken schaffen mußten: Die „religionsgeschichtliche" Schule stellte mit ihrer vergleichenden Forschung die Einzigartigkeit des Christentums in Frage. Und ein Buch wie Albert Schweitzers „Von Reimarus zu W rede", in dem aus der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, wie er sie sah, das Ergebnis gezogen wurde, machte es zur Frage, ob Jesu Weisungen und Verheißungen darum, weil sie ganz von der Erwartung des nahen Weitendes bestimmt waren, nur eine vorübergehende Bedeutung haben wollten, für uns aber kein verpflichtender Ruf mehr seien. Das konnte einem Theologen, dem es um Klarheit und Gewißheit in den letzten Fragen des Glaubens ging, wohl Not machen und ihn ins Wanken bringen. Doch „Gott läßt es den Aufrichtigen gelingen". Otto Riethmüller bestand das Ringen um die Wahrheit des Glaubens so, daß er nach den Jahren des Studiums mit der frohen Gewißheit ins Amt treten konnte, daß Gott uns in Jesus Christus sein letztes und entscheidendes Wort gesagt hat. Zu diesem positiven Ausgang des Kampfes trug wesentlich der theologische Lehrer bei, der den stärksten Einfluß auf Riethmüller gewann, Adolf SchlaUer. Bald konnte er nach Hause schreiben: „Du brauchst keine Sorge zu haben, Vater: idi habe den rechten Lehrer gefunden!" Unter dem Eindruck dieses Mannes, dem ein großes Wissen zur Verfügung stand und der doch im Glauben der Apostel lebte, verlor Otto Riethmüller die Ängstlichkeit, die er zuerst der theologischen Forschung gegenüber empfunden hatte. Er erkannte, daß der fest im Glauben an Jesus Christus Stehende es nicht nötig hat, sich offenkundigen Ergebnissen der Wissenschaft zu verschließen. Er lernte unter Schiatters Katheder wie unter seiner Kanzel das Neue Testament so lesen und verstehen, daß es sagen durfte, was es sagt. „Sehen, was dasteht, und hören, was gesagt ist!" Das war Schiatters Arbeitsregel; sein dankbarer Schüler hat sie übernommen. Als er die Universität verließ, besaß er ein Neues Testament, das lebendig zu ihm sprach; er stand in einem frohen Glauben an Christus. Daß aus der Reihe seiner akademischen Lehrer gerade Schiatter, dem in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg der größte Teil der im „Stift" lebenden Theologiestudenten noch ohne rechtes Verständnis gegenüberstand, solchen Einfluß auf Otto Riethmüller gewinnen konnte, hing mit dem geistlichen Erbe zusammen, das ihm sein Elternhaus mitgegeben hatte. Dort waren ihm die „schwäbischen Väter" begegnet, vor allem ein Michael Hahn, aber auch ein Johann Albrecht Bengel, ein Friedrich Christof Oetin-ger, ein Philipp Matthäus Hahn. Ihr Wort und ihr Geist hatten in ihm den Boden bereitet, in dem das Denken Adolf Schlatters Wurzel fassen konnte. Was er aber von den schwäbischen Vätern empfing: den biblischen Realismus, den Universalismus und die Ausrichtung auf die Wiederkunft Christi zur Vollendung, das wurde in der theologischen Schulung, durch die er hindurchging, gründlich verarbeitet und geläutert. Mit der Gewißheit, daß „Gott von seinem Ziel nicht weicht, sondern es wartend und eilend zur Vollendung führt" (a. a. O. S. 124), ist Otto Riethmüller von der Hohen Schule ins Amt gegangen. Im Herbst 1912 wurde Otto Riethmüller in der Stadtkirche in Cannstatt für den Dienst in der württembergi-schen Landeskirche ordiniert. Nach der Feier fragte ihn die Mutter — und diese Frage läßt tief in das Mutterherz blicken —, ob er sich dessen auch bewußt sei, daß das von ihm abgelegte Amtsgelübde ihn einmal das Leben kosten könne. Ein freudiges und festes „Ja, Mutter!" war die Antwort. Dann tat er in Stuttgart in der Stiftskirchengemeinde die ersten Schritte in das praktische Amt. Es war die erste Kanzel des Landes, die „goldene", die der junge Vikar zu betreten hatte; von ihr hatte einst Württembergs Reformator, Johannes Brenz, das wiederentdeckte Evangelium von der freien Gnade Gottes in Christus verkündigt, unter ihr liegt er begraben. Ein Jahr darauf wurde er als Pfarrverweser in die Gemeinde Jlein bei Heilbronn gesandt. ln den Dienst, den der nun Vierundzwanzigjährige dort tat, läßt ein Brief hineinblicken, den der Vater aus der Gemeinde erhielt: „Worte des Dankes sind es, welche mich leiten, auf diesem Weg zu Ihnen zu kommen. Denn daß Ihr lieber Sohn von Gott zu diesem herrlichen Amt berufen ist, das haben wir hier in der kurzen Wirkungszeit verspüren dürfen. War das ein Verlangen nach Gottes Wort wie nie zuvor, daß ich meine helle Freude daran hatte! Man freute sich schon im voraus auf eine Predigt oder auf eine Bibelstunde. Es geht von Herz zu Herz. Sein Beruf ist ihm ein heiliger Emst. Er hat etwas im Herzen, den tiefsten Glauben an Gottes Herrlichkeit; das empfindet ein jedes, welches ihm zuhört." Und ein Freund, der ihn einmal in Flein besuchte, erzählt: „Er hatte gerade Konfirmandenunterricht, sagte aber den Schülern: ,So, jetzt schreibt ihr über das und das!' Nach einer halben Stunde kehrten wir zurück, und da war es so stille, daß ich den Verdacht hatte, die Kinder seien weggelaufen. Aber sie waren mäuschenstill und fleißig bei der Arbeit. Wir können nicht sagen: das war eben die alte Zeit; sondern es war etwas von seiner Persönlichkeit, was diese Konfirmanden bezwang." Nach einem kurzen Stadtvikariat in Tieilbronn führte ihn der Weg nach Schöntal im weltabgelegenen Jagsttal. Das Besondere für die Pfarrverweser war dort nicht der Dienst an der kleinen Diasporagemeinde, sondern die Mitarbeit am „evangelisch-theologischen Seminar", einem kirchlichen Internat für eine Klasse von Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen, das seit 1870 in dem ehemaligen Zisterzienserkloster ist. Es wurde für die Seminaristen und ihren jungen Pfarrer Riethmüller ein reiches und bewegtes geistiges Leben. Als 1914 der Krieg ausbrach und die Fachlehrer für Zeichnen und Singen einberufen wurden, übernahm Otto Riethmüller mit Freude diesen Unterricht; daß er selbst „unabkömmlich" geschrieben wurde und nicht mit ins Feld ziehen konnte, blieb ihm auf lange hinaus ein Opfer; so empfand der junge und gesunde Mann jener Jahre diesen „Vorzug". Die Schöntaler Jahre im Frieden des stillen Tales wurden die „romantischen" Jahre in Riethmüllers Leben. Hier konnten sich seine künstlerischen Gaben für Malerei, Musik und Dichtung entfalten. Dankbar schaute er später auf „Schöntal" als auf den Frühling seines Pfarrerlebens zurück. Mit der Romantik war es von der Stunde an gründlich zu Ende, als er in die Mitte des Landes, nach Cannstatt an die Lutherkirche, zurückgerufen wurde. Die „Stadt" hatte ihn wieder, die Stadt am Rande der Großstadt, mit all den Problemen, die im Sturm der Zeit dort aufbrachen. Otto Riethmüllers Herz lebte in der Welt der Ewigkeit; aber die Hand hatte er fest am Pulsschlag der Zeit. So konnte er der Gemeinde das Wort Gottes bezeugen, wie sie es bedurfte; er fand in erstaunlicher Weise ihr Ohr. Wenn er predigte, waren alte und junge, gebildete und einfache Hörer zur Stelle. Die Cannstatter hätten ihn darum auch gerne als ihren Pfarrer behalten. Doch er wurde in eine andere Aufgabe gerufen, die seine Gaben und Kräfte nodi mehr in Anspruch nehmen sollte: Er kam an ein neu errichtetes Pfarramt im Süden von Eßlingen, in einer stark kommunistisch eingestellten Vorstadtgemeinde. Von dem Anfang in der ersten eigenen Gemeinde erzählt er selbst: „Nachdem ich Großstadt- und Kleinstadtgemeinde, auch eine geschlossene evangelische Landgemeinde in längerem oder kürzerem Dienst kennengelernt hatte, wurde mir die große und seltene Aufgabe gestellt, eine Vorstadtgemeinde eines größeren Industrieorts, der zugleich eine eingesessene Bürgerschaft besaß, in ihrem Gemeindeleben von Grund aus aufzubauen. Und das in einem geschichtlich denkwürdigen und für die Aufgabe äußerst ungünstigen Augenblick. Der Anfang lag wenige Wochen vor der Revolution 1918 ..." Otto Riethmüller hatte sich diesen Auftrag nicht gewünscht, hat ihn aber tapfer übernommen. Die Predigtstätte war zunächst eine Kleinkinderschule, in der ein überdeckter Waschtisch als Altar diente. Eine schwere Überwindung für einen, der gerade auch an heiliger Stätte die Schönheit liebte! Es war ein Anfang, der von dem jungen Pfarrer ganzen Gehorsam forderte, der aber auch all das in ihm wachrief, was er in den Lemjahren seines Lebens an geistiger Energie gesammelt hatte. Von Eßlingen an stand ihm auch die erwählte Lebensgefährtin, Anne von Heider, zur Seite und half ihm getreulich, Freude und Leid in Gottes Namen zu tragen. Riethmüller begann seine Arbeit bewußt mit der Sammlung der Jugend. Von ihr aus wurde die Gemeinde erreicht. Neben den sonntäglichen Gottesdienst trat die wöchentliche Bibelstunde mit gründlicher Einführung in die Schrift. Bald wurde sie stärker besucht als der Gottesdienst; zuletzt sammelten sich jedesmal Hunderte zu ihr. Aus den Scharen der Jugend bildete sidi ein Helferkreis, auf den er sich verlassen konnte. Durch diesen Kreis wurde die Arbeit des Pfarrers erweitert, sie reichte regelmäßig bis in die einzelnen Häuser. Die Kleinkinderschule wurde bald zu klein. Die aufwachende Gemeinde stellte immer stärkere Anforderungen an ihren Pfarrer. Sie empfing und erstarkte, und gleichzeitig reifte und erstarkte ihr Pfarrer für die großen Aufgaben, die seiner noch warteten. Endlich, nach sieben Jahren des Aufbaus aus ersten Anfängen heraus, war es 1925 soweit: Die längst notwendige Kirdte, die „Südkirche", konnte gebaut werden. Nach Otto Riethmüllers Vorstellung sollte sie sehr einfadi sein, ein Denkmal der armen Zeit, und doch zugleidi schön in den Maßen, in Form und Innengestaltung. Er wehrte sich heftig gegen die Meinung, für eine Arbeitergemeinde genüge ein einfadier Saal; er war überzeugt, daß die Kirche sidi gerade hier in einer würdigen Form zeigen müsse. Zusammen mit dem Architekten fand er für das Problem des evangelischen Kirchenbaus eine eigenartige Lösung: unter dem Kirchenraum, in dem sich die Gemeinde zum Hören der Predigt versammelt, wurde ein besonderer Kultraum für gottesdienstliche Feiern geschaffen. Bei der Grundsteinlegung sagte Riethmüller: „Im Glauben an unsern Herrn und Heiland Jesus Christus, den ewigen Grund- und Eckstein der einen wahren Kirche, welche die Pforten der Hölle nicht überwältigen werden, legen wir diesen Grundstein zu unserer Kirche an der Stelle des künftigen Altars, damit hier ein Heiligtum Gottes erstehe, in dem das Wort Gottes rein und lauter gepredigt wird und wir auch heilig als die Kinder Gottes danach leben; eine Stätte, wo die wahrhaftigen Anbeter erstehen, die Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten — im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes." Und in der Urkunde über die Grundsteinlegung heißt es: „Wir bauen aus toten Steinen auf vergänglichem Grund ein irdisches Haus, damit in ihm der ewige Baumeister der bleibenden Kirche auf unerschütterlichem Grund aus lebendigen Steinen ein geistliches Haus erbaue, welches ist das Volk Gottes. Es geht dieser Bau durdi einen Sturm von Menschenmeinungen hindurch. Um so größer ist über ihnen die Stille und Sicherheit göttlicher Führung. Der das Werk angefangen hat, als am wenigsten zu hoffen war, wird es auch vollenden, daß es ein Denkmal seiner Güte sei." Aus den Eßlinger Jahren liegen gedruckte Vorträge vor, deren Themen deutlidi zeigen, daß Otto Riethmüller sich nicht daran genügen ließ, auf der „inneren Linie" zu arbeiten. Mit tapferem Mut stellte er sich den Gegnern der Kirche in öffentlichen Auseinandersetzungen. Wie er es dabei gewagt hat, die brennendsten und aktuellsten Fragen der Zeit aufzugreifen, mag an den Themen dreier dieser Vorträge deutlich werden: „Die Revolution im Licht des Evangeliums", „Hat das Christentum im Weltkrieg Bankrott gemacht?" und „Woher wissen wir, daß Jesus gelebt hat?" In diesen Vorträgen gab er aus gründlicher Arbeit heraus den Draußenstehenden eine Antwort, bei der er sich und den anderen nichts geschenkt hat. Als Beispiel sei ein Stück aus dem zweiten der genannten Vorträge angeführt. „Wir stehen allerdings vor einem Bankrott der Menschheit angesichts des Trümmer- und Gräberfelds, angesichts des Meeres von Leid und Elend, das dieser Krieg zurückgelassen hat. Alles hat Bankrott gemacht, was vorher so hoch im Preis stand und der Mensdiheit als Heilmittel angeboten wurde: die vielgepriesene Kultur mit aller wissenschaftlichen und künstlerischen Bildung; sie hat die tierische Roheit im Menschen nur übertüncht, nicht überwunden. Die Machtpolitik so gut wie die Völkerbundspolitik, Militarismus wie Pazifismus haben Bankrott gemacht; aber so gut wie der Kapitalismus auch der Sozialismus und Kommunismus; denn sie haben auch mit den Waffen der Gewalt ihre Herrschaft aufgerichtet. Bankrott gemacht hat gewiß auch das Namen- und Scheinchristentum der Massen von Getauften. Aber das echte Christen tum, das in aller Stille und doch wirksam auch da ist, hat so wenig Bankrott gemacht, daß es im Gegenteil keine Rettung aus dem Kummer der Menschheit und keine Hilfe aus den Rätseln des Lebens gibt als die Macht des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, die sich in Jesus offenbart." In einer solchen Versammlung redeten einmal die kommunistischen Gegner so häßlich, daß die Gemeinde heftigen Widerspruch erhob. Da sprang Riethmüller auf: „Laßt sie doch und seid froh, daß sie hier bei uns reden! Wir wollen ihnen dann schon das Nötige sagen." So suchte er mit starker Liebe auch die in der Ferne. Zehn Jahre stand Otto Riethmüller im Dienst seiner Eßlinger Gemeinde. Sie waren bis zum Rand mit Arbeit gefüllt, zugleich von tiefer Freude durchleuchtet. Die Gemeinde dankte ihm mit herzlicher Liebe und Anhänglichkeit. 1928 erging der Ruf, die Leitung des großen Zusammenschlusses evangelischer weiblicher Jugendarbeit in Deutschland zu übernehmen, so dringlich an Pfarrer Otto Riethmüller, daß er sich ihm nicht länger entziehen konnte. Beim Aufbruch nach Berlin nahm er von der Gemeinde, der er seine beste Kraft gegeben hatte, mit den Worten Abschied: „Auf Gründungszeiten folgen in einer Gemeinde immer die Bewährungszeiten. Sie haben ihren besonderen Ernst und ihre besonderen Versuchungen in sich. Es ist uns viel geschenkt worden an äußerem Raum und innerer Gemeinschaft. Aber gerade die, welche das Werden und Wachsen unserer Gemeinde miterlebt haben, wissen es am besten: Die schönsten äußeren Räume sind umsonst erbaut, wenn nicht die Gemeinde vorhanden ist, die Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten kann. Die Gemeinde muß in die Tiefe wachsen, sonst verflacht sie, verläuft sich oder wird satt und schläfrig. Und dadurch, daß sie in die Tiefe wächst, muß sie auch in die Weite wachsen .. ." Wie klar ist das gesehen, erkannt von einem nüchternen, mit den Realitäten des Lebens rechnenden Geist! Otto Riethmüller hatte es sich nie anders gedacht, als daß er im Dienst seiner heimischen Kirche bleiben werde. Doch, als er noch mitten in seiner Arbeit am Bau der Kirche in der Eßlinger Südgemeinde stand, erreidite ihn zum erstenmal der Ruf in das Burckhardthaus in Berlin-Dahlem. Pastor D. Jhiele war aus gesundheitlichen Gründen von der Leitung des evangelischen Mädchenwerks zurückgetreten. Nun kam alles darauf an, für ihn den rechten Nachfolger zu finden. War das nicht — Otto Riethmüller? Schon Jahre vorher war ein Blick auf ihn gefallen: „Wenn einmal ein anderer, dann er!" soll Hulda Zamack, die spätere Oberin des Werks, gesagt haben, als sie ihm, dem erprobten, vielgeliebten Leiter des württembergischen Mädchenwerks, auf dem Tübinger Jugendtag des Jahres 1924 zum erstenmal begegnete und sah, wie glücklich er die Jugend ansprach. Auf der Führertagung in Gotha 1927 lernten ihn weitere Kreise kennen,- seine Weise, die „Bibelarbeit" zu treiben, blieb vielen unvergeßlich. Ein zweiter Ruf nach Berlin kam, aber Riethmüller konnte sich nicht zu einem freudigen Ja entschließen; zu stark fühlte er sich seiner Gemeinde verbunden und zugleich dem heimischen Jugendwerk verpflichtet, an dessen Spitze er seit vier Jahren stand. Erst nach dem dritten Ruf, im November 1927, gab er schließlich mit den Worten seine Zusage: „Nach schweren und ernsten Besprechungen sende ich Ihnen nun doch ein banges, menschliches Ja — mit der Bitte zu Gott, daß er sein starkes Amen darauf lege." Worin er den Auftrag bei der Übernahme des großen Amtes sah, sagen seine öffentlich gesprochenen Worte deutlich genug : „Diejenige Kirche wäre nicht mehr Kirche Jesu Christi, welche nicht fähig wäre, die ewige Botschaft jungen Menschen so zu sagen, daß sie aufhorchen und getroffen werden." Einem Amtsbruder aber schrieb er am Tag seiner Einführung ins Gedenkbuch: „Auf dem so schmalen Pfade gelingt uns ja kein Tritt, es geh denn seine Gnade bis an das Ende mit." Es ist verständlich, daß Otto Riethmüller mit seiner Zusage zögerte und vor dem neuen Amte bangte; war es doch ein reiches Erbe, das er übernehmen und, wenn möglich, mehren sollte. Zwei Männer waren ihm in der Leitung des Verbandes weiblicher Jugend vorangegangen und hatten beide dem Werk ihren Stempel aufgedrückt: Pastor Johannes Burckhardt, der Gründer des Verbandes und sein Leiter von 1889 bis 1914, und Pastor D. Wilhelm Thiele, der von 1913 bis 1928 die Arbeit führte. Johannes Burdkhardt war aus Westfalen als Gemeindepfarrer nach Berlin gekommen. Hier stieß er auf die unbeschreibliche Not der weiblichen Jugend in der großen Stadt; das Schlafstellenwesen war schrecklich und schrie nach Abhilfe. Dazu kam ein tiefes Erschrecken über das Maß des Abfalls von der Kirche, den er sich so nicht vorgestellt hatte. Aus der klaren Erkenntnis der Not erwuchs ihm der Entschluß, die Jugend zurückzurufen und ihr nach Kräften zu helfen. Vor allem sollten Häuser gebaut werden, in denen die weibliche Jugend eine Heimat für Leib und Seele finden könnte. Die Anfänge waren bescheiden, doch das Werk wuchs. Schließlich wurde es notwendig, dem in die Weite greifenden Dienst an der Jugend eine Mitte zu schaffen. Kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges erstand sie, mit namhafter Hilfe des Kaiserhauses, in Berlin-Dahlem. Die Vollendung des Baus noch zu erleben, war Pastor Burckhardt nicht mehr vergönnt; ein Herzschlag setzte seinem Leben am 27. Januar 1914 das Ziel. Als sein Nachfolger übernahm Wilhelm 7hiele, bis dahin Diakonissenhauspfarrer in Witten, die Leitung des Hauses und des Werkes, das nun nach seinem Gründer genannt wurde: Burckhardthaus und Burckhardthaus-Werk. Durch Thiele empfing die Arbeit eine spürbare Vertiefung. Die „Bibellese", schon 1893 begonnen, wurde unter seiner Führung ein wichtiges, bald allerseits übernommenes Arbeitsmittel. Auf allen Jugendfreizeiten und Mitarbeiterrüstzeiten, in den Erholungsheimen, bei den Sitzungen und Tagungen wurde sie mehr und mehr das Kernstück der gesamten Arbeit: das biblische Wort sollte in allem die Richtschnur sein. Die Jugend war ja in viel Gären und Brodeln hineingerissen. Die Tradition war erschüttert, alle Anschauungen wandelten sich, eine moderne „Wissenschaft" bedrohte die Fundamente. Jesus von Nazareth war für sie im besten Fall das große Vorbild; aber er war dahingegangen wie alle Großen der Erde. Und die „Jugendbewegung" mit ihrem hohen idealistischen Schwung rief den jungen Menschen zu, „in innerster Verantwortung, aus eigener Kraft das Leben frei zu gestalten" (Losung des „Hohen Meissner"). Dieser dahin und dorthin gelenkten Jugend wollte Wilhelm Thiele dadurch helfen, daß er ihr den Christus der Ewigkeit zeigte. Er gab dem Werk, das Johannes Burckhardt genial begonnen hatte, den Tiefgang, den es bedurfte, um seine Aufgabe unter der deutschen Nachkriegsjugend erfüllen zu können. Nun trat Otto Riethmüller in dieses Erbe ein. Und ihm wurde es geschenkt, das Werk aufwärts zu führen und es, entgegen seiner eigenen Natur, die keine Kampfnatur war, klar und tapfer durch den Sturm des Kirchenkampfs zu steuern. In der Festschrift „50 Jahre evangelische Mädchenarbeit in Württemberg" schrieb 1949 Landesbischof D. Wurm im Rückblick auf die „Ära“ Riethmüller: „Von Anfang an suchten wir Verbindung mit dem Werk, das Pfarrer Burckhardt in Berlin für ganz Deutschland ins Leben gerufen hatte. Er war als ungewöhnlich schaffensfreudiger Geist, schöpferisch in Anregungen verschiedenster Art, die Seele der Arbeit und besonders der großen Versammlungen. Die Verbindung mit ihm und dem Gesamtwerk hat auch der Arbeit in Württemberg viel genützt. Unsren Dank dafür haben wir Schwaben dadurch abgestattet, daß wir dem Werk in der Person von Otto Riethmüller einen Leiter zur Verfügung stellten, der mit derselben inneren Berufung und einer noch vielseitigeren Begabung, besonders auf künstlerischem Gebiet, der inneren Vertiefung wie der äußeren Ausbreitung der weiblichen Jugendarbeit die größten Dienste geleistet hat." Es ist begreiflich, daß Riethmüller in die große Aufgabe erst hineinwachsen mußte. Er ging nicht mit dem Gefühl nadi Berlin, das sidiere Rezept in der Tasche zu haben. Als er, noch in Eßlingen, einen ersten Einblick in den umfassenden Arbeitsbericht des Burckhardthauses gewonnen hatte, sdirieb er: „Das Wort vom Lernen auf meiner Seite ist sehr ernst gemeint. Es tauchen Anliegen bei solchem Überblick auf, die midi fest anpacken und beschäftigen." Und die im ersten Jahr um ihn waren, sprechen von einem „staunenswert langen Sich-zurückhalten, Horchen, fleißi- gen und tiefen Einarbeiten, dem dann aber ein freudiges und festes Ergreifen der Aufgaben gefolgt" sei. Im Rückblick auf jene Jahre durfte in der Geschichte des Werkes gesagt werden: „Es hat sich seines Namens die Bewunderung zum Teil so bemächtigt, daß die Legende gedroht hat. Aber auch derjenige, der jene Zeit nüchtern miterlebt hat, wird Mühe haben, die gebotene Sachlichkeit des Zeugenberichtes walten zu lassen: so wunderschön waren jene Anfangsjahre Riethmüllers, so sehr sprengte dieser schwäbische Pietist und Künstler jeden Rahmen, zumal er mit einem nie versiegenden, strahlenden Humor geradezu gesegnet war." DER JUGENDFUHRER Man schrieb Pfingsten 1928. Die Jugend aus dem ganzen Reich traf sidi in Breslau. Das Treffen hatte seine besondere Bedeutung darin, daß Pastor Riethmüller in sein Amt als verantwortlicher Leiter des Gesamtwerkes der evangelischen weiblichen Jugend eingeführt werden sollte. Die Maria-Magdalena-Kirche war bis zum letzten Platz gefüllt. Der Vertreter des preußischen Oberkirchenrats, der Otto Riethmüller in das Amt einzuführen hatte, legte seinem Wort die Stelle 1. Timotheus 1, 15—17 zugrunde — zehn Jahre danach, am Vorabend seines Todes, sprach dasselbe Wort aus dem Losungsbüchlein der Brüdergemeine noch einmal zu ihm — und mahnte ihn: „Laß immer, mein Bruder, alle Mannigfaltigkeit deines dir befohlenen Dienstes durchdrungen sein von der heiligen Einseitigkeit, die die Kraft aller Verkündigung ist: Ich weiß nichts außer Jesus Christus, und zwar dem Gekreuzigten." Dann nahm Otto Riethmüller — im Anschluß an Jeremia 6, 14 und 16 —selbst das Wort. „An derWende der Zeiten — so steht es über unsrer Tagung. Der Sturm Gottes ist über unsre Zeit und unser Geschlecht dahingebraust und hat zerbrochen über Nacht, was Jahrhunderte gebaut. Wir stehen an der Wende der Zeiten. Die größte Wende der Zeit aber heißt — Ewigkeit. Es ist eine ernste Stunde auch für unser Werk. Wenn der bisherige Leiter die erfahrene Hand, die müde geworden ist, vom Steuerrad wegnimmt und es jüngeren Händen übergibt, so geht wohl auch für einen Augenblick ein Beben durch das Schiff, und viele Augen wenden sich nach der Stelle, wo der Wechsel sich vollzieht, mit der sorgenden Frage: was ist es wohl für eine Wende, die sich da vollzieht? Und er selbst, der mit zagen und unerfahrenen Händen das ungewohnte Rad anfaßt, steht auch an einer Wende, und auch durch ihn geht ein Beben. Wo ist der Weg? Es gibt in dieser Welt nur eine Fußspur, die ans Ende führt: Seine Fußtapfen. Sie suchen, ihnen folgen: das ist unser Weg. Und der Jugend zu helfen, daß das ewige Wort sie loslöst von den Mächten, die sie binden und knechten wollen, und sie hineinführt in den heiligen Bereich des lebendigen Gottes, das ist die Aufgabe, die die Kirche, wenn sie leben soll, sehen und denen anvertrauen muß, die von Gott den Auftrag bekommen haben, gerade der Jugend das ewige Wort zu sagen und ihr zu einer frohen Gliedschaft in der Kirche zu helfen. Was bedeutet also die Kirche für die Jugend? Genau soviel, als die Königsherrschaft Jesu ihr bedeutet." Damit war vor den viertausend Jugendlichen aus allen Gauen Deutschlands der Grundton angeschlagen, auf dem der „Lobsänger Gottes und Christi", wie ihn Fritz von Bodelschwingh gerne nannte, die Sinfonie aufzubauen gedachte, wie sie ihm vorschwebte. „Wenn man die Briefe dieser Jahre liest, spürt man etwas, das man kaum anders bezeichnen kann als ein frohes Beschwingtsein trotz des großen Ernstes, mit dem die Aufgabe angefaßt wurde. Bei großen Jugendtagungen wird der profane Bau einer Stadthalle mit roten Plüschbalustraden unter seiner Verkündigung jeden Tag von neuem zu einem Dom, in dem Gottes Ehre wohnt. Die Garderobefrauen fragen: Was ist das nur für ein Herr? Die Jugend, bis ins Innerste erfaßt, folgt mit Begeisterung ihrem Leiter. Ein junges Mädchen geht unter diesen Eindrücken in das Theologiestudium: „Ich habe bei dieser Tagung zum erstenmal erlebt, was Kirche ist." Er selber aber konnte nach einer solchen Tagung sagen: „Ich habe immer Angst vor Begeisterung. Auf Begeistung kommt es an; darauf, daß Gottes Geist unter uns ist. Sonst sind alle diese Tage vergeblich gewesen." Für Otto Riethmüllers Dienst an der Jugend wurde es bezeichnend, daß er jeweils eine Jahreslosung als richtunggebendes Wort für die gesamte Jahresarbeit ausgab. Die erste für das Jahr 1930, das Jahr des Gedenkens an die Übergabe des Augsburgischen Bekenntnisses, ausgegebene lautete eben deshalb: „Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht." In Erinnerung an das Bekenntnis der Väter vor vierhundert Jahren rief er die Jugend, die in Augsburg zu Tausenden vor dem Ulrichsmünster versammelt war, zum Bekennen auf: „Du liebe deutsche Jugend, weißt du auch, daß du die Welt aus den Angeln heben kannst, wenn du dieses Bekenntnis auslebst: Allein durch Christus, allein durch die Gnade, allein durch den Glauben!?" Auf das Jahr des Bekenntnisses folgte mit der großen Jahrestagung in Hannover das „liturgische" Jahr. Sie brachte die erste öffentliche Spredhdbor-7eier aus Otto Riethmüllers Feder, der neuen Jahreslosung „Dein Reich komme!" entsprechend unter dem Leitwort: „Sein Reich kommt." Es war der Versuch, auf neuem Weg das Evangelium zu verkündigen; die neue Arbeitsweise wurde für das Jugendwerk eine wirkliche Hilfe. Durch zwei Winter hindurch wurde dieser Sprechchor im größten Konzerthaus Berlins, in der Philharmonie, unter stärkster Beteiligung wiederholt. Immer wieder hörten die vielen in tiefer Stille auf das Wort, das die Jugend zu sagen hatte. Eine Teilnehmerin schreibt: „Damals war bei uns fast alles kirchliche Leben tot und die Gemeinden, die zum Wort standen, waren klein; von Glaubensleben war kaum etwas zu spüren. In diese makabre Situation hinein erklang der Ruf: ,Wachet auf!' Und dieser Ruf kam nicht aus einer Kirche, sondern aus einem Konzertsaal und wurde gehört, weil aus der gesamten evangelischen Jugend Berlins junge Menschen gekommen waren, der Gemeinde die Botschaft neu zu sagen: Sein Reich kommt! In den Mittelpunkt war das Lied — Pastor Riethmüllers Lieblingslied — gestellt: /Wachet auf! ruft uns die Stimme'. Welch eine Spannung und ungeheure Steigerung hatte er in den dreimal wiederholten Wächterruf hineingelegt: O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort! Ganz nahe rückte uns allen die Ewigkeit, wenn das Gleichnis von den zehn Jungfrauen in Wort und Lied lebendig wurde, wenn in immer stärker anwachsendem Chor der Ruf ,ermuntert euch, ihr Frommen' in die Gemeinde hineindrang, bis zuletzt das ,Gloria sei dir gesungen' aus allen Ecken gewaltig gen Himmel fuhr — so daß es war, als verschwände der Raum über uns und als öffne sich für einen Augenblick ein Spalt hinein in die Ewigkeit" (a.a.O.S. 35/37). Otto Riethmüllers wachem Blick konnte es nicht entgehen, daß die Jugend in der Kirche oft in einer Weise angesprochen wurde, die auch die Gutwilligen nicht zum Aufhorchen brachte, sondern langweilen mußte und schließlich abstieß. Er sah es, und es ließ ihn nicht mehr los. Er wurde nicht müde, es vor Amtsbrüdern und Mitarbeitern auszusprechen: „Das Evangelium tut unsrer Jugend not, Jesus und sein Werk. Aber meinen wir dodi nicht, daß hiermit eine Antwort gefunden sei, bei der wir uns beruhigen dürften und die alles ungefähr so läßt, wie es seither war. Wir müssen die Botschaft so sagen können, daß es die heutige Jugend hört und fassen kann. Darum laßt uns barmherzig und — anschaulich sein! Wesentlich ist, daß wir mit unsrer Jugend über dem Wort der Schrift und über dem Anliegen ihres jugendlichen Lebens ernsthaft ins Gespräch kommen. Es ist für das Hören der Jugend unerläßlich, daß idi midi mit ihr in eine Reihe stelle, mithorchend auf die Botschaft, die uns da gesagt wird, und auf die Fragen, die uns aus ihrem Leben heraus gestellt werden. Der junge Mensch wird nur bereit sein, mit mir hinzuhorchen, wenn er es mit einem zu tun hat, der nicht auf alles schon eine fertige Antwort hat, sondern selber ergriffen vor dem Geheimnis der Botsdiaft steht." Eine Teilnehmerin eines Jahrestreffens schildert anschaulich, wie er selbst diese Grundsätze verwirklidite: „Da strömen sie herein, manche still und gesammelt, andere schwatzend, lachend, noch ganz unruhig von der Massenspeisung kommend: eine unerkennbare Vielheit, hingegeben an sich und ihre Umwelt. Wie kann das überhaupt still werden? Vor ihnen steht ein Einzelner. Ganz ruhig, die Hände zusammengelegt, schaut er auf das Wogen unter sich, lächelt, wie ein Vater, der seine Kinder kennt und liebhat, und schon redet er sie an und stellt die Verbindung her. Als Gruß hin und her kommt in Frage und Antwort die Jahreslosung, der Monatsspruch, die Stellenangabe; dann wird das Lied gesungen, alle müssen aufstehen. Sie sind voll und ganz dabei, und es kommt ihnen gar nicht der Gedanke, daß man vor diesem Pfarrer ängstlich oder gehemmt sein könnte. Manchmal geht ein befreiendes, frohes Lachen durch den Saal. Schwere, abstrakte Bibelworte gibt es bei ihm nicht; es wird alles zum Bild oder zum Gleichnis, das in die Welt seiner jungen Zuhörer mitten hineintrifft. Er schöpfte aus einem unver-sieglichen Strom von inneren Bildern, auch darin zeigte sich, daß er ein Künstler war. Und eine Ehrlichkeit ging von ihm aus, die das junge Herz bezwang. Wir wissen von Predigten, in denen er die Glocken läuten ließ. Es konnte gesdiehen, daß er selber von der Kanzel herab die Töne in das Gotteshaus hineinsummte und mit der Jugend zusammen zum Anfang der Predigt aus diesen drei oder vier Tönen hervor erst einen Liedvers wachsen ließ, um diesen dann als Predigttext auszuführen" (a. a.O. S. 61). Ein Gemeindepfarrer faßte seinen Eindruck dahin zusammen: „Ein Ordnungsfanatiker war er nicht. Aber er brachte es durch seine liebevolle und bezwingende Art fertig, nach wenigen Worten einen ungeordneten Haufen Menschen in Ordnung zu bringen. Es wurde mir daran deutlich: Man kann nichts Fruchtbares leisten, wenn man nidit seine Gedanken und Sinne vom ersten Augenblick an und schon vor Beginn des Werkes ordnet. Zu Pünktlichkeit, Zucht, Ordnung und Stille muß der persönliche Gehorsam kommen. Es war sein Anliegen, uns die Ganzheit des Anspruchs Gottes einzuprägen. Riethmüller hat uns zwar mehr Arbeit gemacht, aber auch den Weg gezeigt zur Festigkeit und Freudigkeit." Ein weiteres fruchtbares Mittel der Arbeit wurde die Jahresrüste im Januar, mit deren planmäßiger Einführung Otto Riethmüller 1935 begann, überall sollten sich zum Anfang des Jahres die verantwortlichen und tätigen Glieder der Kreise zu stiller Besinnung sammeln: „Wollen wir zum Bau und Werk Gottes gehören, dann muß Ordnung in unser Leben kommen. Unser Verhältnis zur Gemeinde des Herrn bleibt fremd und unklar, wenn wir nicht zu einer geordneten Teilnahme am Gottesdienst kommen. Unser Beten bleibt krank und fruchtlos, wenn es nicht zu einem geordneten Beten wird. Michael Hahn hat gesagt und er hat recht damit: Ein Christ ist ein in Ordnung gebrachter Mensch." Als Ziel der Jahresrüste prägte Otto Riethmüller seinen Mitarbeitern ein, der Jugend Freudigkeit zu bringen und Mut zu machen, im neu geschenkten Jahr ihre Bibeltexte nach der Bibellese täglich zu lesen. „Denn das ist ja das Wertvollste an solcher Rüstzeit, wenn junge Menschen dadurch treuer im Bibellesen werden. Darum braucht jede Schar in unsrem Werk die Jahresrüste: die neuen und noch jungen Scharen, damit sie etwas erfahren von der Kraft und dem Segen einer solchen Gemeinschaftsrüste, und die älteren und reiferen Scharen, damit sie in besonderer Weise Fürbitte tun und sich damit hineinstellen in die große Jugendgemeinschaft unsres Werkes und unsrer Kirche. Denn das ist die andre Aufgabe einer solchen Rüste, daß wir das Beten besser lernen sollen, das Danken, die Anbetung, die Bitte und die Fürbitte. Wo das geschieht, wird auch das persönliche Füreinanderstehen durch ein freiwilliges Opfer von selbst daraus erwachsen. Wir wollen in der ganzen Sache nicht zaghaft und ängstlich sein; denn unsre Jugend ist in den unausweichlichen Kampf der großen, grundsätzlichen Lebensfragen ja doch hineingestellt. Wir dürfen nicht die Schuld auf uns laden, daß wir sie unausgerüstet in ihren Kampf lassen, weil sie entweder selber noch keine Freudigkeit zu dieser Arbeit hat oder uns noch nicht reif dafür erscheint. Das Leben fragt nichts nach diesen Gesichtspunkten." DER LOBSÄNGER GOTTES Das ganz Besondere an Otto Riethmüller war, daß er so vielfältige Gaben in sich vereinigte. Er war Prediger, Jugendführer, Dichter, Musiker, Maler und Lichtbildner in einer Person und in allen diesen Künsten ein Meister. So sehr es ihm am Herzen lag, die Sache, der er sich verschworen hatte, die Botschaft des Evangeliums zur Geltung zu bringen, so sehr fühlte er sidi eben darum getrieben, der Form seiner Darbietung die größte Aufmerksamkeit zu schenken und sich um sie mit allen ihm zu Gebot stehenden künstlerischen Mitteln zu bemühen. Es war ihm innerstes Bedürfnis, ja ein heiliges Anliegen, „goldene Äpfel in silbernen Schalen" darzubieten, wie es im Buch der Sprüche einmal heißt; denn — so empfand er es — für das Heilige ist die beste Form und Gestaltung gerade gut genug. Mit Recht nennt ihn das neue Gesangbuch im Anhang der württembergischen Ausgabe einen „Dichter und Hymnologen". Es hat von Otto Riethmüller ebenso viele Lieder als des Gesangbuchs würdig aufgenommen wie von Rudolf Alexander Schröder und von Jochen Klepper, darunter die zwei schon volkstümlich gewordenen: „Herr, wir stehen Hand in Hand" und „Nun gib uns Pilgern aus der Quelle". Mit besonderem Glück machte er sich an die Aufgabe, Lieder aus dem Gesangbuch der „Böhmischen Brüder" neu zu fassen; eines von ihnen, das Lied „Sonne der Gerechtigkeit", hat sich die Gemeinde schon ganz zu eigen gemacht. Der Gemeinde zu dienen, war sein Ziel; die Gemeinde, voran die Jugend, sollte in den Reichtum des Liedguts der Kirche hineingeführt werden, der gerade in jenen Jahren aus der Verborgenheit wieder ans Licht kam. Riethmüller sehnte sich danach, daß die Gemeinden wieder singende Gemeinden würden, in denen das Lob Gottes lebendig sei und das Lied zugleich untereinander frohe Verbundenheit schaffe. Er hatte recht, wenn er zuerst von der Jugend Aufgeschlossenheit für das kraftvolle alte Lied erwartete. „Ich glaube es nidit, daß die deutsdie christlidie Jugend auf die Dauer an solchen uns anvertrauten Herrlichkeiten und Kleinodien unachtsam und veräditlidi vorübergeht. Diese Torheit wollen wir uns nidit zuschulden kommen lassen, sondern wollen treue Hüter und Wächter der Reichskleinodien unserer Kirche werden, dazulernen und, was wir von den Vätern ererbt haben, erwerben, um es zu besitzen." So gerne Riethmüller aber der Kirche das reformatorische Lied mit seiner kraftvollen Botschaft von Christus erschloß, so stark war sein Verlangen zugleich auf ein neues Lied gerichtet. „Wir brauchen und erwarten ein neues Lied; vielleicht wird es uns wie einst den Vätern unter den Schicksalsschlägen der Zeit geschenkt." Von ihm selbst hätten wir noch manche Proben solch „neuen" Liedes erwarten dürfen, wäre ihm mehr Frist gegeben worden, sie zu schaffen. Um so dankbarer dürfen wir dafür sein, daß ihm zur rechten Zeit, im Herbst 1932, noch vor Beginn des Kirchenkampfes, der große Wurf gelungen ist, für den die evangelische Jugend ihm dankbar zu bleiben allen Grund hat: die Schaffung des Liedbuchs „Ein neues Lied“. Wenn es auch von einer gemeinsamen Kommission des Reichsverbands der evangelischen Jungmännerbünde und des Reichsverbands weiblidter Jugend erarbeitet wurde, ist es doch zu einem wesentlichen Teil Otto Riethmüllers Werk. Er hat auf Auswahl und Anordnung der fünfhundert Lieder maßgebenden Einfluß ausgeübt und hat zugleich — von dem Graphiker Rudolf Koch angeregt — dem Buch mit der geistvollen Verwendung christlicher Symbole seinen Stempel aufgedrückt. Bei dieser Arbeit konnte er sein musikalisches Wissen und Können trefflich verwerten. Er hatte dankbar, weil von der Richtigkeit ihrer Erkenntnisse und Forderungen überzeugt, von der „Singbewegung“ gelernt, die gerade damals, Ende der zwanziger Jahre, ihrem Höhepunkt zuschritt, und übernahm bewußt und entschlossen von ihr, was ihm für das Singen der evangelischen Jugend dienlich schien. Er spricht es im Geleitwort zum „neuen Lied" mit aller Klarheit so aus: „Das Lied der Väter, besonders aus der Reformationszeit, wird gerade heute ganz neu. Unsre Zeit braucht die Botschaft dieses Liedes. Das werdet ihr dann erkennen, wenn ihr lernbegierig aus der Stille und Sammlung heraus diese Lieder singend erwerbt: dann gibt es Entdeckungen, die euch für das ganze Leben reich machen. Darum ans Werk, und hört nicht auf die sauertöpfischen Besserwisser und ewig Bedenklichen! Dies Budi bringt reine und edle Lieder aus allen Gebieten des Lebens zu Trutz und Schutz wider die ,Buhlliederund fleischlichen Gesänge', wider das seichte, leere, undeutsche Getue, von dem jetzt alle Gassen widerhallen. Leset und lernet alle die Worte der Schrift, welche die Lieder einleiten; sie sind Stern, Kompaß, Schild, Schwert und Labsal, eine eiserne Ration für Weg, Kampf und Werk. Drei Bücher stehen im Leben des Christen unbestritten vornean: die Bibel, das Gesangbuch unserer Kirche und der Katediismus. Dies Büchlein hier aber will ein Führer und Gehilfe zu allen dreien sein, ein Führer zur Wahrheit und ein Gehilfe der Freude. Allen bösen Geistern zum Trotz, der harrenden, hoffenden Seele zum Trost, den Suchenden zum Zeichen, den Widersprechenden zum Zeugnis, zu Dank und Preis der täglichen Wunder Gottes: Singet dem Herrn ein neues Lied!" Otto Riethmüllers heißer Wunsch war freilich, daß sich nicht nur die Jugendkreise, sondern die Kirche selbst mit ihren Gemeinden diesem neuen Singen öffne. Er fordert darum, daß ein Lied, das in der Gemeinde gesungen wer- den will, um der Wahrhaftigkeit willen sich die Prüfung gefallen lassen müsse, ob sein Inhalt wirklich dem Evangelium entspreche und ob seine form diesem Inhalt gemäß sei. Dies sein Votum: „Wir müssen dafür endlich ein Empfinden bekommen, daß es an Gotteslästerung grenzt, wenn ein Lied von der Geburt oder vom Leiden des Herrn, das der Gemeinde Jesu Christi auf Erden gehört, nach der Weise eines Gassenhauers gesungen wird. Nicht dieses süßliche Zuckerwerk, sondern starkes, nahrhaftes Schwarzbrot tut not, und die Jugend wartet zutiefst darauf, daß man es ihr reiche. Die Lieder unserer Kirche, die aus ihrer Kampf- und Leidenszeit wie die uns heute neu geschenkten Lieder gleichen Geistes, sind ausgemünztes Gold aus den Bergwerken göttlicher Geschichte. Wir werden dieses Gold in teuren Zeiten nötig brauchen, und wir müssen es unserer Jugend mit auf den Weg geben als unentbehrliche Rüstung für eine Zeit, die ihr Lasten und Entscheidungen des Schicksals von ungeheurem Ausmaß aufbürdet. Wenn sie durch das Lied glauben, beten, bekennen und handeln lernt, so ist das ein unermeßlicher Dienst, der damit unserer Kirche und unserem Volk geschieht. Und selbst aller äußere Schmuck des Buches, die Worte, die die Lieder einleiten, die Zeichen und Symbole, die das Ganze bereichern, wollen Stern, Kompaß, Schild, Schwert und Labsal sein, eine eiserne Ration für Weg, Kampf und Werk." Eine, die es miterlebt hat, schildert uns einen Singegottesdienst unter Otto Riethmüllers Leitung: „Durch einen langen gemeinsamen Tag schon reich beschenkt, sitzen wir im Kirchenschiff und füllen die Emporen, das Glockenläuten wird still. Pfarrer Riethmüller steht auf der Kanzel und spridit uns den ersten Vers eines uns unbekannten Liedes vor. Wir sprechen die Worte im Chor nach, es ist ein dänisches Kirchenlied: Ewig steht fest der Kirche Haus, Türme der Erde zerfallen. Ober das Trümmerfeld nach Haus rufen die Glocken uns allen, laden zum Kreuze jung und alt, rufen Mühselige mit Gewalt heimwärts zur ewigen Stille. Wir antworten mit der biblischen Losung des Jahres: ,Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus' und fahren mit dem Wort Christi fort: ,Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.' Aber wem gilt das, was er tut? Wer gehört zu seiner Kirche? Wir sind das Haus der Herrlichkeit, Kirche aus lebenden Steinen, wenn wir am Kreuze in Lauterkeit Taufe und Glauben vereinen. Aber er selbst baut sidi ein Haus, wählt sich zur Wohnung Seelen aus, die seinem Rufe gehorchen. Pastor Riethmüller wird zum Vorsänger, die Orgel spielt nach. Wir singen, zunächst nur die Melodie mit der Stimme nachzeichnend — und dann klingen die Verse im Chor, mit und ohne Orgel. Hier, in der Bunzlauer Kirche, gewinnt das Gestalt, wovon wir miteinander singen. Und Monate später, im Reisedienst in entlegenen Dorf- gemeinden, merken wir, daß der Gottesdienst nicht vergessen ist. Was war für uns alle das Besondere an dieser Abendstunde des 30. August 1936? Ein fremdes Lied war uns gegeben. Aber das Lied — sein Dichter ist der Däne Grundtvig — blieb nicht fremd und stumm, gebunden an ein gedrucktes Blatt. Es wurde Auslegung des Gotteswortes, stellte Fragen an uns — als Gemeinde und ganz persönlich —, ließ uns gemeinsam Antwort suchen in der Schrift, diese Antworten sagen und singen und wurde damit selbst zu gesungenem und von der Gemeinde bekanntem Evangelium" (a.a.O. S. 55/56). Ein Zeugnis von Otto Riethmüllers Wollen auf dem Gebiet eines neuen Singens sind auch die Blätter „Schöne 7\iusika“, die der Burckhardthaus-Verlag unter seiner Mitarbeit in fortlaufender Folge herausgab. Es sind vierseitige Notenblätter, im Format der „Finkensteiner Blätter", die die Singbewegung unter der Führung Walther Flensels herausgab, das Gegenstück zu ihnen auf dem Gebiet des geistlichen Lieds. Da finden sidi immer wieder Texte und Weisen, die Otto Riethmüller geschaffen hat. Zu vielen von ihnen hat Helmut Walcha den Satz geschrieben; auch Sätze von Gottfried Grote und Alfred Stier, den Bearbeitern des musikalischen Teils des „neuen Liedes", sind darunter. Mit besonderer Bewegung nimmt man das Blatt 85 in die Hand. Auf der Vorderseite steht zu lesen: „Stimme, Gottes Volk, die Saiten zu dem Psalm der Ewigkeiten. Die drei letzten Lieder von O. Riethmüller aus der Herbstzeit 1938." Auf der zweiten Seite: „Diese beiden Lieder (Fürchte dich nicht! und: Der König der Unsichtbarkeit), dem Mitarbeiterkreis im Land und der Jugend besonders zugedacht, seien mein Abschiedsgruß. Den 16. November 1938 O. R." Es war eine Woche vor seinem Tode. Und auf der letzten Seite, datiert „Oktober 1938, Überlingen/ Bodensee", sein Schwanengesang: „Da nun der Herbst die letzte Ernte hält." Er klingt aus in die Worte eines Scheidenden: O Ewigkeit, wie bist du fremd und weit uns Knechten der Vergänglichkeit! Doch ist der Heimweg uns, den Fernen, nah; der Weg und Türe heißt, ist da. Er geht auf unsren Wegen ein und aus, und er bringt dich und mich nach Haus. Wer denkt bei diesem Abgesang des „Lobsängers Gottes" nicht an den des Größten im Bereich der Musica sacra: „Vor deinen Thron tret’ ich hiemit"? Nun singen sie beide im höheren Chor. HOMO sum ... Otto Riethmüller gehört zu den Menschen, die entscheidend nur von ihrem Werk her zu verstehen sind. Wer seiner Persönlichkeit nahe kommen will, muß ihre Ausstrahlungen auf sich wirken lassen. Riethmüller ging bis zur Selbstaufgabe ein in das, was seines Amtes war. Dennoch würde an seinem Bild etwas fehlen, würden nicht auch die Züge deutlich, die ihn uns menschlich näher bringen. Aus frühen Kinderjahren berichten seine Angehörigen: „Schon als Kind ein Meister im Spiel, richtet er, der Älteste, für die jüngeren Geschwister einen eigenen Christtag, kauft sich ein Bäumchen vom Taschengeld und hat für jedes ein besonders ausgedachtes Geschenk. Er hat immer etwas zu erzählen, meist biblische Geschichten. Beim Spielen im Garten findet sich ein totes Vögelein; es wird feierlich zur Erde bestattet, indem er sich als Pfarrer kleidet und eine Ansprache hält. Weil er aber so gescheit und — fügen wir hinzu — raschen, impulsiven Temperamentes ist, ist er bei den Geschwistern anfangs mehr gefürchtet als geliebt." Tonangebende Autorität also im Kreis der Jüngeren; er weiß um seine Verantwortung für sie und ist gewillt, ihr entsprechend auch zu handeln. Zugleich aber ist er auch das belebende Element, der ausstrahlende Mittelpunkt, schon damals. Das Tübinger „Stift" hat Otto Riethmüller nicht durchlaufen. Er hatte eine Studentenbude in einem Gartenhäuschen an der Ammer mit künstlerischem Geschmack so eingerichtet, daß jeder Besucher davon entzückt war; dort gingen seine Freunde, allem Einsiedlertum damit wehrend, mit Freuden aus und ein. Kam er ins Elternhaus zu Besuch, so war das immer ein Ereignis: da wurde gesungen, musiziert — er selber am Klavier — und gespielt nach Herzenslust. Und wie kam seine „Menschlichkeit" erst zum Zug, als in Eßlingen seine drei Kinder Helmut, Werner und Veronika heranwuchsen und später, als er, im Berliner Heim, das Oberhaupt einer großen Familie geworden war! Seine älteste Schwester erzählt davon: „Vater Riethmüller legte bei Tisch aufs Erzählen in Fortsetzungen besonderen Wert. Oft kam er ermüdet vom Amt zum Essen, wußte geschwind keinen Anfang und fragte: Wie war das doch gestern? Bis die Kinder es wiederholten, war der Faden wieder da. Die Feste, voran das Weihnachtsfest, wußte der Hausvater besonders schön zu gestalten. Immer wieder in einer anderen Form, aber stets in dreifacher Gliederung: Zuerst die Verheißungen, mit großen Kerzen neben der leeren Krippe und einer aufgeschlagenen Bibel, gesungen und gelesen von Kindern und Haustöchtern. Dann in einem zweiten Zimmer: der Christbaum mit groß aufgebauter Krippe. Der Hausvater erzählte die Weihnachtsgeschichte an Hand der Krippe, Kinder und Erwachsene sangen dazu passende Weihnachtslieder. Und schließlich das Gestalten des Schenkens in immer neuen Formen. Dabei ging es sehr lustig und vergnügt zu. Einmal wurden die Geschenke verlost, ein andermal durfte man mit einem Zauberstab auf das gewünsdite Geschenk deuten; oder es trat ein Araber in Tracht auf, der von einer Weltreise Geschenke anbot, die man wählen konnte. Eine für den Gestalter oft reichlich anstrengende Weise des Beschenkens, wie sich wohl denken läßt! Zu Silvester ließ er sich gern von den Kindern überraschen, die sich alle Mühe gaben, ihrerseits Freude zu machen. Einmal mit einer fein angelegten Kegelbahn im großen Gang des Hauses: das gab einen Jubel bei alt und jung und den geladenen Gästen. Dann kam der ernste Teil mit Liedern, Sprüchen und Losen." Nicht immer war dem im engeren Kreis so Fröhlichen, Glücklichen und Erfindungsreichen ums Scherzen und Lachen zumute. Wer ihm näher stand, der wußte auch um die Stunden, da sein Gemüt niedergeschlagen und an-gefochten war bis an die Grenze des „Warum, warum?"; blieben ihm doch durch sein ganzes Leben hindurch Enttäuschungen dieser und jener Art nicht erspart. Gottes Gedanken über ihm waren immer wieder andre als die seinen, und seine Wege nicht selten andre, als die er sich gewünscht hatte. Daß er sich aber immer wieder zu dem „Ja, Vater!" durchringen konnte, war die Frucht seines Glaubens, in dem ihn kein Sturm erschüttern konnte. Eine Gabe kam ihm in gewissen kritisdien Augenblicken sehr zu Hilfe, sein Humor. Zwei Beispiele mögen für viele stehen: Als der Vorsitzende des württembergischen Verbands für die weibliche Jugend nach fünfundzwanzig Jahren seinen Vorsitz niederlegte, wollte der Verbandsleiter dem Scheidenden ein Wort dankbarer Anerkennung sagen. Er erinnerte daran, daß einer seiner theologischen Lehrer den Ausspruch getan habe: „Weisheit ist verbrauchte Kraft." So sei es wohl verständlich, daß er, der weise Gewordene, nun sein Amt abgebe, dem er soviel Kraft geopfert habe. Es entstand eine peinliche Lage nach diesem Satz, stand doch der also zu seinem Mißvergnügen Angeredete noch in seinem beruflichen Hauptamt. Otto Riethmüller rettete als der zur Nachfolgerschaft Berufene die Lage: „Wenn es richtig ist, was da gesagt worden ist, dann fahren wir jetzt mit vollen Segeln ins Reich der Dummheit; denn meine Kraft ist noch ganz unverbraucht." Schallende Heiterkeit füllte den Saal, die Peinlichkeit war überwunden. Im gleichen Jahr hielt der Reichsverband seine Jahrestagung in Tübingen. In der Allee war ein Podium aufgeschlagen, von dem aus die Redner sprechen sollten. Aber der Boden war durch den Regen der Vortage so aufgeweicht, daß die tragenden Pfosten des Podiums auf einer Seite einsanken und das Ganze schief stand. Auch hatten viele ihre Regenschirme aufgespannt, um sich gegen die August- sonne zu schützen. Da tritt Riethmüller auf das Podium und ruft: „Achtung, jetzt werden wir fotografiert!" Im Nu waren die Schirme geschlossen, und das hatte er erreichen wollen. Der fröhliche Grundton für die ganze Nachmittagsversammlung war damit gegeben. Er lockerte auf und machte aufnahmefähig für das ernste Wort, um das es ging. Riethmüllers sonniger Humor war’s nicht zum wenigsten, was ihm die jungen Herzen gewann. Humor seiner Art aber ist das Lächeln durch Tränen. DER VORKÄMPFER DER JUGEND Es war Otto Riethmüllers Schicksal, daß er den Kampf um die Kirche und ihre Jugend, der sich an dem Totalitätsanspruch des Dritten Reiches mehr und mehr entzündete, an verantwortlicher Stelle mit durchzukämpfen hatte. Wohl hatte auch er — wie so viele andre, gerade auch führende Männer der Kirche — beim Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung zunächst heilsame Wirkungen für das deutsche Volk erhofft, und sein ihm damals entströmtes Lied „Ober den deutschen Strom läuten die Glocken vom Dom" zeugte davon, wie sein Herz von dieser Hoffnung bewegt war; dann aber mußte er zu seinem Schmerz mit wachsender Sorge das Verderbliche, ja Dämonische in ihr erkennen und in der Verantwortung, die ihm als Jugendführer der Kirche auferlegt war, die Folgerungen aus dieser Erkenntnis ziehen. Riethmüller war kein Freund des Kampfes; was verbindet, war ihm allezeit wichtiger, als was trennt. Hier aber, wo es um die Treue zur Kirche und zum Evangelium ging, konnte es keine faulen Kompromisse geben, sondern, auf jede Gefahr hin, nur eine entschiedene, dem Evangelium gemäße Haltung. Seine Tübinger Freunde hatten ihm einst den Zunamen „David" gegeben, wohl im Gedanken an sein geistliches Sängertum; nun aber sollte er sich als der andere „David", als Streiter für seines Herrn Sache, beweisen und bewähren. Bald stellte sich heraus, daß der Kampf der Machthaber des „Dritten Reiches" in erster Linie den christlichen Jugendverbänden galt. Nach ihrem Willen sollte es nur noch eine Jugendorganisation, die „Jugend des Führers", geben; in ihr sollten alle anderen Verbände, vor allem die konfessionellen, aufgehen. Als Vertreter der christlichen Jugend in der „Jugendkammer" setzte sich Otto Riethmüller mit aller Energie dafür ein, daß die christliche Jugend innerhalb der Staatsjugend eine gewisse Eigenständigkeit behalte; doch führte dieses Ringen, das ihn viel Herzkraft gekostet hat, nicht zum Siege; die vorwärts drängende Gewalt der politischen Bewegung war nicht aufzuhalten. Um wenigstens etwas von der Dynamik des Kampfes jener Tage — man schrieb das Jahr 1933 — spüren zu lassen, seien ein paar „dramatische" Szenen von damals festgehalten. Jugendkammersitzung. Es geht um die Eingliederung der gesamten Jugend, also auch der christlichen, in die Staatsjugend. Hoch gehen die Wogen. Riethmüller wird schließlich beauftragt, sofort nach München zu reisen und dort zu verhandeln. Er fährt, nachdem die Sitzung bis tief nach Mitternacht angedauert hat, nach München, verhandelt dort bis zum Abend und fährt mit dem Nachtzug wieder nach Berlin zurück. Bei seiner Ankunft am frühen Morgen empfängt ihn ein Brief aus der Reichskanzlei des Inhalts: „Eingliederung festgelegt." Das war zuviel: „So war alles umsonst?" Da konnte der tief Erschütterte nur noch weinen. Oder: Sitzung in einer Sakristei im Westen Berlins. Mitten in der Verhandlung pocht’s an die Türe: Gestapo! Es wird alles durchsucht, dann Verhaftung der Amtsbrüder der Reihe nach — bis zu Riethmüller; bei ihm machen sie halt, eine Bewahrung, die ihm ein Stoßgebet des Dankes entringt. Vor dieser Möglichkeit hatte er sich — wer wollte es ihm verargen? — schon immer gefürchtet. Während er kurz darauf in seiner Sadie in England ist, wird das Burck-hardthaus bis zum Dachfirst besetzt. Tagelang wird alle Privatpost durchwühlt, so daß eine beherzte Bewohnerin die Herren fragt: „Wollen Sie nicht auch noch die Fliesen (den Fußboden) öffnen?!" Auf einem Gemeindeabend in Eßlingen. Die Südkirche ist von der Gemeinde bis auf den letzten Platz gefüllt, um ihren einstigen Seelsorger zu sehen und zu hören. Da trifft aus der Kanzlei des „Reichsbischofs" Müller ein Telegramm ein: „Sofort nadi Berlin zurück!" Zum Entsetzen der Gemeinde reidit es gerade noch zu einer Ansprache von vier Minuten; dann mit Auto auf den Nachtschnellzug. Nach der Ankunft am Morgen Meldung in der Kanzlei. Besdieid: der Herr Reichsbischof ist wegen „Krankheit" (Zahnweh) nicht anwesend. Riethmüller konnte, wieder einmal, unverriditetersache gehen. Reformationsfeier in der Eßlinger Stadtkirche. Die Gegenseite gibt die Parole aus: Wir besdilagnahmen die Kanzel! Daraufhin halten junge Männer des CVJM die ganze Nacht Wadie; je zwei Mann in der Sakristei und an der Kanzeltreppe, in vierstündigem Wechsel. Ergebnis: der Gottesdienst geht ohne Störung vorüber. Jugendabend der Stadtkirchengemeinde Cannstatt. Kurz vor Beginn Anruf vom Postamt von Unbekannt: „Gestapo mit SS will kommen und stören!" Riethmüller wird eine Zeitlang still, dann sagt er: „Dann gestalten wir den Abend als Gottesdienst, ich ziehe den Kirchenrock an." Auch dieser Abend geht reibungslos vorüber. Ein Freund, der ihm in jenen nervenaufreibenden Tagen in Berlin begegnete, fand ihn tief bekümmert: Seine Jugendarbeit werde zerstört, alle Freizeiten würden unmöglich gemacht, die Männer der Bekenntnisfront seien teils im Gefängnis, teils seien sie in den Nerven zusammengebrochen. Kein Wunder bei der ungeheuren Spannung, die der Entscheidung vorausging. Und wie zu fürchten war, so kam es: Bis Weihnachten 1933 hatten die Machthaber ihr vorläufiges Ziel erreicht: die Jugendlichen des evangelischen Jugendwerkes unter achtzehn Jahren wurden in die HJ und ihre Untergliederungen übernommen. Otto Riethmüller mußte mit blutendem Herzen die Vereinbarung mit dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach unterzeichnen. Nun gab es keine selbständige und umfassende Betätigung christlicher Jugend mehr. Was blieb, war die „Jugend der Kirche", die sich im Rahmen der Gemeinde auf das Religiöse im engsten Sinn, auf Abende mit der Bibel, zu beschränken hatte. All die schöne Arbeit der großen christlichen Jugendverbände schien für immer zerschlagen. Aber nun gerade sollte sich Otto Riethmüllers Gabe, Not zu meistern, in erstaunlicher Weise bewähren. „Wir sollen uns nur noch mit Bibel und Gesangbuch beschäftigen? Gut, so halten wir uns an sie!" Was nach dem bösen Willen der Mächtigen zum Tode führen sollte, hat in Wirklichkeit zur Quelle des Lebens geführt. In den Jahren nach 1934 hat sich gezeigt, wie es Riethmüller vor anderen gegeben war, der Jugend, die zur Kirche und ihrer Botschaft stehen wollte, Gottes Wort in der Bibel aufzuschließen und lieb zu machen. Den Ernst, mit dem er die neue Aufgabe ergriff, läßt ein Aufsatz in der „Monatsschrift für Pastoraltheologie", 1934, erkennen, dem er die Überschrift gab: „Die Zukunft der evangelischen Jugendarbeit." Dort sagte er u. a.: „... Zu Pastor Burckhardts Tagen sahen Kirchenleitung und Kirchengemeinderäte die ganze Jugendarbeit meist als einen unnötigen Sport von Leuten an, die nicht viel zu tun haben. Es ist darum ein Fortschritt, der, wenn er auch spät kommt, aufs stärkste zu begrüßen ist, wenn heute die Kirchenleitungen jeder Gemeinde, jedem Pfarrer und jedem Gemeindekirchenrat die Jugendarbeit zur Pflicht machen. Wenn also ,Verkirchlichung' die Pflicht der Gemeinden und des Pfarramts bedeutet, sich um die Jugend zu kümmern und ihr den Zugang zur Wortverkündigung und zum Sakrament mit verständiger Liebe zu öffnen, wenn also evangelische Jugendarbeit als notwendige Lebensfunktion der evangelischen Gemeinden aufgefaßt wird, so ist das nur uneingeschränkt zu bejahen. Es wird aber alle Mühe und Arbeit umsonst sein, man wird immer am ungeformten, hilflosen Anfang stehen, wenn man nicht als tragende Mitte im Aufbau dieser Arbeit die Kerntruppe, die aus den über Achtzehnjährigen bestehen wird, sich bilden läßt. Nach den organischen Wachstumsgesetzen der Kirche, die nidit wir gemacht haben und die nicht von uns geändert werden, können nur um diese feste Mitte die Jahresringe wachsen. Andernfalls ist nichts anderes vorhanden als eine atomisierte Masse, die immer wieder auseinanderfällt. Jugendführer, die auf diese Gesetze nicht achten, bleiben einsame Prediger in der Wüste, geschlagen von ihren Theorien, die mit den Tatsachen des Lebens nichts zu tun haben. Die evangelische Jugend hat ihre Kameradschaft in der Volksjugend, in der sie steht. Aber die Kirche, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, kann und darf nicht darauf verzichten, durch das Evangelium Gemeinschaft der Jugend entstehen zu lassen. Es ist überhaupt nicht verstanden und ist zerstört, wenn es der Befriedigung von ,religiösen Bedürfnissen' als einer besonderen Abteilung im Menschen dienen soll. Darin hat es seinen unwiderleglichen Grund gehabt, warum die evangelischen Jugendverbände sidi nicht damit begnügt haben, dem jungen Menschen die reine Wortverkündigung zu geben, sondern sich bemühten, mit ihm in sein jugendliches Leben hineinzugehen und ihm dort zu helfen, als evangelischer Mensch zu leben. Wie viele junge Mensdien haben es schon ausgesprochen, daß sie die Kraft dazu einfach nicht haben, wenn sie sie nicht immer wieder aus der Gemeinschaft mit dem evangelischen Jugendführer und mit den gleichgesinnten Kameraden bekommen. Die Vorstellung, der Ort der Verkündigung sei die versammelte Volksjugend, widerstreitet völlig dem Wesen des Evangeliums, das ganz auf Freiwilligkeit gestellt ist. Wenn aber die feste Mitgliedschaft für die unter Achtzehnjährigen unter den Ereignissen des letzten Jahres aufgegeben ist, so kann dodi Zudit und Ordnung, Planmäßigkeit und Stetigkeit des Zusammenkommens niemals aufgegeben werden. Ebensowenig kann, aus innersten Gründen, auf das freiwillige Opfer verzichtet werden; denn es besteht keine Gemeinschaft ohne Opfer, und es gibt keine Evangeliumsverkündigung, die nicht zum gegenseitigen Helfen und Mittragen des Ganzen beständig auffordert. Die Sammlung der Jugend um das Wort muß aber so geschehen, daß sie deutlich Glied der ganzen Gemeinde ist. Das kommt praktisch am stärksten darin zum Ausdruck, daß wir Jugendführer immer wieder den Satz deutlich gemacht und eingeprägt haben: Die wichtigste Veranstaltung im Leben der evangelischen Jugendschar ist der Hauptgottesdienst der Gemeinde. Aber wieviel ist hier noch zu lernen! Summa summarum: Nur diejenige Kirche kann wirklich und auf die Dauer ihrem Volk helfen und dienen, die ihren eigenen und nicht fremden Gesetzen folgt, und das gilt auch für die Jugendarbeit der Kirche." AUF DEN SPUREN JESU (Die Palästinareise) „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus" — dies war die Losung, die auf Otto Riethmüllers Vorschlag für das Jahr 1936 ausgegeben wurde. Es wurde ein Jahr, das von ihm folgenschwere Entscheidungen forderte. Die Auseinandersetzung zwischen dem „positiven Christentum" des Dritten Reiches und den Kirchen, die auf dem Grund des Glaubens beharrten, spitzte sich je länger je mehr zu. Das Ringen verzehrte viel Kraft, doppelt bei einem so feinfühligen, wenig robusten Mann wie Otto Riethmüller. Denn — bei aller Bereitschaft zum Frieden — war er zu Kompromissen in Glaubenssachen, geschweige denn zu einer Kapitulation vor den deutschgläubigen Machthabern des Staats und der Partei weder fähig noch bereit. So war es für Riethmüller eine willkommene Entspannung, als sich die Gelegenheit bot, an einer Fahrt ins Heilige Land teilzunehmen. Was sie für ihn bedeutet hat — für den Theologen, der immer wieder um Glaubensgewißheit zu ringen hatte, wie für den schönheitshungrigen Kunstfreund, der das Auge eines geschulten Lichtbildners hatte —, das zeigt sein Reisebericht: „Heute und morgen und am dritten Tag — Stätten der Christustaten." Wie für alle bewußt evangelischen Pilger zum Heiligen Land war auch für ihn das Ergebnis: „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden!" Doch hören wir ihn selbst: „Nach langer Wanderschaft durch alle möglichen Tempel, Kapellen, Heiligtümer und Moscheen kamen wir zuletzt in die schlichte evangelische Kirche von Bethlehem. Da war es wie ein befreites Aufatmen, als wir ein Lied ums andere aus den Schätzen unserer evangelischen Choräle zur Orgel sangen: evangelische Kirche, du bist die ärmste und reichste zugleich! Mir selbst ist ihre Armut und ihr Reichtum bei der schlichten Feier der deutschen evangelischen Gemeinde von Jerusalem in der Nacht des Gründonnerstag im Garten Gethsemane am stärksten zum Bewußtsein gekommen, ln der Erlöserkirche, ihrem Gotteshaus, das auf den Fundamenten einer alten Kreuzfahrerkirche — dank der Stiftung des letzten deutschen Kaisers — im Jahr 1898 erbaut werden konnte, hatten wir das Abendmahl gefeiert. Schweigend zog die Gemeinde durch die engen, dunklen Gassen der via dolorosa, wo bis in die Nacht hinein der Werktagslärm des Kaufens und Verkäufern tobte, nach Gethsemane hinaus. Unterwegs begegneten uns heimkehrende Prozessionen anderer Konfessionen, die zum Teil brennende Lichter aus den Kirchen beim Garten mitbrachten. Unsere Gemeinde hatte nichts als das geschriebene Wort und das daraus geborene Lied. Dieses Wort hörten wir an der Mauer, da, wo der Weg ins Kidrontal hinuntergeht. Hoch stand der volle Mond über Jerusalem wie damals, und drohend ragten die Tempelmauern auf wie einst. Als die Gemeinde am Ende ihres Weges sich auf einer der Terrassen des Gartens im Kreise aufstellte und der Pfarrer der Gemeinde das Neue Testament aufschlug, um die Geschichte von Gethsemane zu lesen, da hielt ein junger Mann das Licht über die Schrift. In der tiefen Nacht unter den ölbäumen entstand dadurch ein Lichtkreis und das Schattenbild einer Hand, die das Neue Testament hielt. Das war ein großartiges Gleichnis: Nichts hat die Kirche des Evangeliums als dieses Wort, das in diesem Garten durch alle Höllen siegreich getragen und unsres Fußes, unsres Lebens und unsrer Kirche Leuchte wurde, dies Wort und sein Sakrament allein .. Otto Riethmüller schließt im Rückblick auf alles, was er im Heiligen Land erlebt und erkannt hatte, sein letztes größeres Werk mit den bedeutsamen Sätzen: „Wie froh und dankbar dürfen wir sein, daß wir nicht, wie es auf dem Himmelfahrtsberg die anderen christlichen Konfessionen zusammen mit den Mohammedanern tun, die greifbaren Fußspuren Jesu vor seiner Himmelfahrt suchen müssen! Das hat bekanntlich dazu geführt, daß man in der Himmelfahrtskapelle auf dem ölberg den Eindruck seines Fußes im Naturfelsen bis auf den heutigen Tag zeigt. Nein, wir treten hier in ein anderes Heiligtum, welches das Allerheiligste des christlichen Glaubens ist. Wir sehen den Weg Jesu vom Kreuz ins Grab, vom Grab zur Auferstehung, von der Auferstehung zur Himmelfahrt, von der Himmelfahrt zur Wiederkunft in Siditbarkeit und Herrlichkeit. Dies ist der Weg, von dem die Kirche ganz allein lebt; er ist aber so wunderbar und geheimnisvoll, daß hier derWider-spruch, der Unglaube, das Ärgernis, der Spott dieser Welt sich immer wieder am kräftigsten zum Wort melden wird. Die Kirche aber hat ihren regierenden Mittelpunkt verloren, wenn nicht alle ihre Verkündigung um diese Mitte kreist: der Gekreuzigte ist der Auferstandene, und der Auferstandene ist der Gekreuzigte. Beides ist in dieser Welt und an diesen Orten geschehen. Wenn sie das nicht mehr als Mittelpunkt aller ihrer Verkündigung zu sagen wagt, dann zerbricht und zerfällt sie und verirrt sich in alle Weiten und Fernen. Es gehen hier verschlossene Türen von der anderen Welt her und zur anderen Welt hin auf: die Leiblichkeit einer Welt mit anderen Dimensionen, die Herrlichkeit einer neuen Sdiöpfung, deren erster Morgen der Ostertag ist. Er ist unsre Wege gewandelt als der Menschensohn und richtete als solcher die Zeichen der Herrschaft Gottes auf. Das war sein gestern. Im Geist wandert er wiederum unsere Wege und sammelt seine Gemeinde. Das ist sein Heule. Und er wird kommen und wird das Ende aller Erdenwege und Erdentage setzen. Dies ist sein Morgen, sein anderer dritter Tag, auf den sein Volk wartet und hofft." Otto Riethmüller war ein Jugendführer von Gottes Gnaden. Er wäre dies aber nicht geworden, wäre er nicht auch ein Theologe von besonderen Graden gewesen. Seinem freien und fröhlichen Wort vor Tausenden lag ein sehr genaues Bibelstudium zugrunde und eine theologische Besinnung, die nicht ruhte, bis sie zur Klarheit in den Fragen des Glaubens und des Lebens durchgedrungen war. Weil all sein Denken von der Bibel ausging und weil er zugleich mit beharrlichem Eifer die „Väter" studierte, vor allem Friedrich Christof Oetinger, dem er sich besonders verbunden wußte, wurde er ein Mann der Hoffnung, der mit lebendigem Verlangen auf das Kommen des Herrn Christus wartete und von daher die Kraft zur Tat und zum Leiden gewann. Freudig und beharrlich auf den großen Tag Christi und auf die Stadt Gottes zu blicken, das war für ihn das Kennzeichen eines Mensdien, der mit Ernst Christ sein will. So konnte er, so gewiß er sich mit ganzem Herzen an der Schönheit dieser Welt freuen konnte, doch im Blick auf das Kommende sagen: „Wer in dieser Haltung lebt, der verliert bei aller Freude an dem Reichtum dieses irdischen Lebens niemals das Wissen darum, daß diese irdischen Dinge nicht das Endgültige sind, sondern daß wir noch zu warten haben auf die neue Welt Gottes. Und erst, wenn sie unter diesem Blickpunkt gesehen werden, kommen die irdischen Dinge in die richtige Ordnung. Unsre Augen sind hier noch gehalten; erst jenseits der großen Grenze wird sich uns die wahre Perspektive auftun. Hier sehen wir noch durch das Fenster der Verheißung in die großen Geheimnisse Gottes hinein." Das Oetinger-Wort: „Wer die Wege Gottes recht kennt, der liebt Jesus nicht nur wegen der Vergebung der Sünden, sondern wegen seiner großen Wege, dadurch er absonderlich die Leiber mit neuen Kräften anziehen wird" — war ihm aus dem Herzen gesprochen. In einer Adventspredigt in der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem hat er selber es mit Nachdruck ausgesprochen: „Das unaufhaltsame Vergehen der Welt ist die ständige Quelle der Müdigkeit und Verzagtheit, für alle nämlich, die den großen Advent nicht kennen. Das unaufhaltsame Kommen unsres Herrn aber ist die unerschöpfliche Quelle unserer Kraft." Und in einer anderen Predigt, vier Jahre vor seinem Tode: „Die Entscheidungsschlacht der Weltgeschichte ist geschlagen. Die Walstatt heißt: Golgatha und das leere Grab in Josephs Garten. Dort ist die Welt überwunden. Und der Überwinder, Jesus Christus, geht in der unsichtbaren, verborgenen Majestät seiner Herrschaft auch durch unser Leben und fragt uns: was willst du werden: überwundener oder Überwinder? Besiegter oder Sieger? Der Stunde der Entscheidung aber folgt die Ewigkeit der Erfüllung. Die Ewigkeit der Erfüllung aber schließt in sich die Erfüllung in Ewigkeit." War es von ungefähr, daß Otto Riethmüller so intensiv aus der Christenhoffnung lebte und in seinem Zeugnis immer wieder so nachdrücklich auf die Vollendung hinwies, auf die wir warten? Oder geschah es in einem Vorgefühl davon, daß er selbst nahe vor den Pforten der Ewigkeit stand? „Ich habe ja noch so vieles, was ich arbeiten und schreiben möchte" — so spricht einer, der in sich die alte Schaffenslust und Schaffenskraft spürt und den dodi schon der Anhauch des nahen Todes berührt hat. Er stand 1938, zehn Jahre nach der Übernahme des Amtes, das alle seine Kräfte in Anspruch nahm, im fünfzigsten Lebensjahr, hatte darum nach menschlichen Gedanken die Aussicht, daß immerhin noch zwei Jahrzehnte des Schaffens vor ihm lagen, wenn Gott der Herr es wollte und ihm die Kraft dazu erhielt. Doch Gottes Wille war ein anderer. Otto Riethmüller war, obwohl er scheinbar in unverwüstlicher Lebenskraft stand und etwas von dem Geheimnis ewiger Jugend um ihn zu schweben schien, in Wirklichkeit ein Gezeichneter, dessen Weg zielwärts eilte. Die ihm nahestanden, wurden durch seine sprühende Lebendigkeit nicht getäuscht; sie sahen ja, wie er seit Jahresfrist oft aus der letzten Kraft arbeitete und den Ansturm der täglich an ihn heranbrandenden Pflichten und Entscheidungen nur mühsam bewältigte. Wiederholte Krankheiten, vor vier Jahren auch eine Operation, waren unüberhörbare Mahner; wie lange würde seine im Grund doch zarte Kraft standhalten können? Lesen wir, was Frau Oberin Zamack für das Erinnerungsheft „Vom Totensonntag zum Advent 1938" unter der Überschrift „Aus dem letzten Jahr" geschrieben hat: „Es kam die Passionszeit und damit der Konfirmationssonntag seiner beiden Söhne, Werner und Helmut. An diesem Tag — Pastor Niemöller war in Haft und sein Vertreter, D. Dibelius, hatte kurz zuvor Kanzelverbot bekommen — stand Pastor Riethmüller zum letztenmal in der Jesus-Christus-Kirdie vor dem ragenden Kreuz, vor dem ein halbes Jahr darauf sein Sarg aufgebahrt werden sollte. Es war der Sonntag Lätare, drei Wodien vor Ostern. Mit Liebe und Ernst predigte der Vater über die Jahreslosung: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.' Die süddeutschen Gäste sahen da zum erstenmal mit Erschrecken, wie abgekämpft dieses müde Herz war. Doch noch hielt er unter Aufbietung seiner letzten Kraft mit den darauf wartenden Reisesekretärinnen die Bibelrüstzeit. Dann folgte die so dringend nötige Ausspannung. Freunde hatten eine Autofahrt nach Italien ermöglicht — nach dem Italien, das er bis dahin noch nicht gesehen und nach dessen Schönheiten er sich insgeheim schon lange gesehnt hatte. Mit reichen Schätzen für seine geplanten Bücher und die Zeitschriften, die er herausgab, kehrte er wieder zurück. Stunde um Stunde war er am Karfreitag in den Kirchen von Florenz, in den Ostertagen in Assisi gestanden und hatte den herrlichen Messen zugehört; so war er entspannt und erfrischt, wie es der Arzt von dieser Reise erhofft hatte. In siebenhundert Bildern hatte er mit seiner ,Leica' das Schönste, das sein Auge sah, festgehalten und eingebracht. Doch die Erfrischung hielt nicht lange vor. Ein Gallenübel meldete sich unter heftigen Schmerzen an und machte eine Kur in Bad Mergentheim notwendig. Sie brachte, wie auch eine Nachkur am Bodensee, keinen Erfolg. Noch entstanden in diesen kritisdien Monaten und Wochen sehr gründlich durchgearbeitete theologische Aufsätze und letzte Gedichte, gestimmt auf die Töne: ,Da nun der Herbst die letzte Ernte hält' und ,Fürchte dich nicht!' Dann kam es zur unumgänglichen Operation im Elisabeth-Krankenhaus in Berlin. Still und getrost ließ er sich am 18. November, dem Freitag vor dem Totensonntag, zum Opera- tionssaal führen; er war zum Leben wie zum Sterben bereit. Der ärztliche Befund war günstig; in kurzer Zeit würde die Gesundung erfolgen. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt. Am Morgen des anderen Tages trat die Wende ein. Ein leises, letztes Wort, schon wie von drüben: ,Der Vater ist da! Der Vater ist da!' — und er war hinüber, drei Monate vor seinem 50. Geburtstag. Bei der Trauerfeier für Pastor Thiele, aus dessen Händen er ein Jahrzehnt vorher die Arbeit übernommen hatte, waren aus seinem Mund die Worte gefallen: ,1m Hebräerbrief ist etliche Male von dem Vorhang die Rede, der Zeit und Ewigkeit trennt. Wenn ein Diener und Bote Gottes, der seinen Lebensweg in Gottes Ruf und Auftrag gewagt hat, heimgerufen wird, dann bewegt sich der Vorhang; er hebt sich nicht, aber er bewegt sidi. Die aber im Glauben wandeln, erkennt man daran, daß sie den Weg durch den Vorhang kennen und täglich gehen. Sie gehen ihn freilich mit verbundenen Augen: wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen; aber mit freudiger Zuversicht treten sie zum Thron der Gnade, Barmherzigkeit zu empfangen und Gnade zu finden bei dem mitleidenden Hohepriester, der seinen Brüdern gleich geworden ist.' Audi nun, an diesem Sarg eines Frühvollendeten und so reich Gesegneten, hat sich der Vorhang bewegt und uns einen Spalt frei gegeben. Als die Orgel der Jesus-Christus-Kirche das große Wächterlied ,Gloria sei dir gesungen' anstimmte, da fielen die Glocken der Kirche, die gerade auf diesen Ton gestimmt sind, mit vollem Geläut ein. Die Pfarrer im Ornat standen um den weiten Platz vor der Kirche, die Gemeinde auf der Treppe. So sahen wir den Wagen aus unserer Mitte fahren hinein in die Nacht, der irdischen Heimat zu." Den Trauerfeiern — in der Jesus-Christus-Kirdie in Dahlem und ebenso dann am Freitag zwischen Totensonntag und Advent in der Lutherkirche in Bad Cannstatt — wies das Wort die Richtung, das der Verewigte als seinen letzten Wunsch niedergeschrieben hatte: „Es soll das Werk bei meinem Tode nur einen Namen unendlich preisen: Jesus Christus, der Sünder rettet und der mich Sünder gerettet hat." Das Gloria, das in beiden Feiern in Wort und Gesang mächtig erklang, galt nicht ihm, Otto Riethmüller, sondern dem, der seinen Diener zu einem auserwählten Rüstzeug gemacht und durch alles Gedränge hindurch gnädig ans Ziel gebracht hat. So bezeugte es Pastor Udo Smidt in Dahlem: „Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein." Und im gleichen Sinne Pastor Johannes Busdh, sein Freund, in Cannstatt: „Es ist das wichtigste Kennzeichen der Jünger Jesu, daß sie immer mehr an sidi selbst arm sind, aber allen Reichtum aus der vergebenden Liebe Jesu schöpfen dürfen, ,als die nichts innehaben und doch alles haben'. Darum war unser Bruder ein so gesegneter Mann, weil ihm die Vergebung der Sünden das Glück seines Lebens war. Darum konnte er so jubilierend singen, darum konnte er Bedrängte und Bedrückte so vollmächtig trösten, und darum war sein Sterben so friedevoll. Wo Jesus arme Sünder rettet, da fängt hier schon das Triumphieren an und geht dort in die Ewigkeit weiter." Wer in Bad Cannstatt den „Uffkirchhof" durchwandert, vorbei an dem altehrwürdigen Uffkirchlein, der hält, wenn er an der Ostseite der Mauer entlang geht, unwillkürlich den Schritt vor einer Grabstätte an, die durdi ihre beson- dere Gestaltung den Blick auf sich zieht, über einer mächtigen Erdkugel, aus Treuchtlinger Marmor gemeißelt, erhebt sich ein schlankes lateinisches Kreuz. Zu seinen Füßen liegt eine schlichte Tafel, auf der zu lesen steht: „Otto Riethmüller, Pastor und Leiter des Burckhardthaus-Werkes. 26.2. 1889 - 19. 11. 1938." Die Kugel selbst aber trägt die Aufschrift: „Seid getrost, Idi habe die Welt überwunden." Hier, an dieser weihevollen, gepflegten Stätte hatte sich am Nachmittag des 25. November 1938 eine ungewöhnlich große Gemeinde von Leidtragenden und Freunden, Landesbischof D. Wurm an der Spitze, versammelt, um von dem so früh Abgerufenen Abschied zu nehmen. Und hier, im Schoß der geliebten Heimat, zu der er sich immer wieder geflüchtet hatte, wenn ihm das Draußen äußerlich und innerlich über die Kraft zu gehen drohte, ruht nun, was sterblich an Otto Riethmüller war, und schläft dem Auferstehungsmorgen entgegen. ERKENNTNISSE WEISUNGEN UND ZEUGNISSE Aus dem Schrifttum von Otto Ri e t bmü 11 er Otto Riethmüller hat ein Schrifttum hinterlassen, das durch seine Fülle wie durch seine künstlerische Gestaltung überrascht. In schneller Folge reiften in den zehn Jahren, in denen er die evangelische weibliche Jugend führte, kleinere und größere Schriften als Früchte seines Sinnens und Ringens um den rechten Weg des jungen Geschlechts. Der Burckhardthaus-Verlag in Berlin war das Werkzeug für seinen literarischen Dienst. Die wesentlichen Bücher seien hier in zeitlicher Reihenfolge aufgeführt: Zielsichere Tabrt, eine Gabe für junge Menschen. 1931 Ein neues Lied, ein Liederbuch für die evangelische Jugend. 1932 TAU QoU wirken, Friedrich Christoph Oetingers Gebete. 1934 Der König aller Gewalten, eine Gabe für die junge Gemeinde einer wahrhaft evangelischen Kirche. 1936 Wegzeidben zum Ziel, eine Erläuterung zu den „Zielsätzen". 1936 JJeut und morgen und am dritten Tag, Stätten der Christenheit im Heiligen Land. 1937 Dem Tag entgegen, 24 Konfirmandenbriefe der Kirche. 1937 Die Bibel erzählt, Briefe der Gemeinde für Kinder. 1938 Des Todes Tod, ein Bibelstudium über die Leidensgeschichte Jesu, 1. Auflage 1939, 6. Auflage 1950 Dazu kommen die zehn Spredhthor-Jeiern: Die Xönigshodhzeit, Feierstunde für Sing- und Sprechchor. 1929 Sein Reich kommt — Feier für Sing- und Sprechchor. 1931, 2. Auflage Wach auf, tvadb auf, du deutsches Land. 2. Auflage 1932 Lukaspassion, für Sing- und Sprechchor. 1932 Cjott loben, das ist unser Amt. Feiern für die Gemeinde und ihre Jugend, sieben Feiern nach der Ordnung der deutschen Messe. 1935 Qeh aus, mein Herz, und suche Jreud. Drei Feiern. 2. Auflage 1935 Der Sohn. Eine Feier über Lukas 15. 1936 5Vun freut euch, liebe Christen gmein. Reformationsfeier. 3. Auflage 1937 Wir sahen seine Herrlichkeit. Zwei Feiern für Advent und Weihnachten. 2. Auflage 1937 Sein Wort bleibt. Ein Schargespräch und eine liturgische Feier. 2. Auflage 1937 Weiter sind zu nennen die Hefte, die unter dem Leitwort Schulungsreihe der jungen Qemeinde im Burckhardthaus-Verlag erschienen sind: Was sagt Christus unsrem Volk? — Evangelische Jugendführung heute — Zuhören und zugehören — Die Stadt auf dem Berge — Die Abschiedsreden Jesu — Der Sieg über den Tod — Kirdie und Jugend — Der junge Mensch und der Glaube. Endlich vier sehr persönliche Gaben: Am Jisd) des Königs. Der Weg evangelischer Jugend zum Abendmahl. 13. Auflage 1952 Wehr und Waffen. Lieder der kämpfenden Kirche. 2. Auflage 1935 Qebete für junge Tdensdben Qedidhte. Herausgegeben von seinem Sohn. 2. Auflage, ohne Jahreszahl Sinzeiworte Was sollen wir denn tun? Etwas ganz Einfaches und etwas ganz Klares: Wir sollen uns nicht so viel betören lassen von dem, was die Menschen und die Stimmen unseres eigenen Herzens sagen. Wir sollen uns zusammenschließen, um auf sein Wort in ganz neuer Weise zu hören, um seine Befehle zu empfangen. In seiner Seelsorge will Jesus den Menschen dazu führen, daß nicht der Mensch recht behalten will, sondern daß er Gott recht gibt. Dazu ist er überhaupt gekommen, und das ist der Sinn seines Werkes einst und heute und in Ewigkeit: verpfuschtes, hoffnungsloses Leben zu einem wahrhaftigen und lebendigen Leben zu machen. Gott gibt Raum zur Buße: dir Einzelnem, dir Volk, dir Christenheit. In diesem Raum hast du dich zu bewegen; ist der Raum geschlossen, d. h. die Zeit vorbei, dann ist Gott an dir vorbeigegangen. Es ist nötig und gut, daß uns das „Zu spät" in seinem ganzen Ernst vor die Seele gestellt wird. Wir sind leicht ein sehr oberflächlidies und leichtfertiges Geschlecht, das immer denkt: es hat noch Zeit. Und plötzlich hat es keine Zeit mehr. Und plötzlich — ist Ewigkeit. . . „Es muß anders werden", das sagen alle Leute. „Du mußt anders werden", das sagt der Herr. „Es muß anders werden", damit sind alle einverstanden. „Du mußt anders werden", das ist die Botschaft, die niemand hören mag. Und doch ist sie unsere einzige Rettung. Unsere Zeit sagt: Allein durch Geld und Verdienst. Die Ewigkeit sagt: Allein aus Gnaden. Die Bücher der Welt sagen: Allein durch eigene Kraft. Das Buch der Bücher sagt: Allein durch Christus. Der Geist des Menschen sagt: Allein durch das Sichtbare und Greifbare. Der Geist Gottes sagt: Allein durch den Glauben. Die Haltung, die wir an den Vätern der Reformation sehen, die sie stark und unüberwindlich gemacht hat, muß auch unsere Haltung in der heutigen Zeit wieder werden: Hören, was der spricht, der das Ohr geschaffen hat. „Wer Ohren hat, zu hören, der höre!" Horchen nidit auf das, was nützlich und bequem, sondern auf das, was wahr ist. Gehorchen nicht dem feigen Rat des eigenen Herzens oder dem schlangenklugen Rat der Menschen. Gehorchen dem Gewissen, das an Gott gebunden ist. Bleiben bei dem, was bleibt. Stehen bei dem, der steht, wenn alles andere wankt und fällt. Knien vor dem, der sich herabbeugt in unsere ganze Not und den Gott erhöht hat auf den Thron der Ewigkeit. Bekennen in einer Welt voll Widerspruch, daß Jesus Christus der Herr sei. Bekennen, daß es keine Revolution auf Erden geben wird, die diesen König wieder absetzt. Bekennen aber audi, daß er eine Reformation aller Welten und aller Herzen begonnen hat und durchführen wird bis zum vollkommenen Ziel. Aus diesem Bekenntnis und dieser Haltung der Väter erwächst das Bekenntnis und die Haltung unserer evangelischen Jugend. Durch das Reden Gottes mit meinem Herzen in der Schrift will ich lernen das Reden meines Herzens mit Gott in meinem Leben. IN MIR HABT IHR FRIEDEN Predigt in Frankfurt an der Oder, Juni 19 34 Bei dem Wort des Herrn: „ln Mir habt ihr Frieden" ist mir der Wettbewerb zweier Maler eingefallen. Sie bekamen den Auftrag, in einem Bild den Frieden darzustellen. Der eine malte einen stillen, verborgenen Alpensee, in allen Gluten des Abends. Bergwände strahlten aus seinem glatten Spiegel wider. Eine Fülle leuchtender Harmonie war in dem Bild. Der andere malte einen tosenden Wasserfall in einer schauerlichen Schlucht. Von einem Baum am Rande breitet sich ein Zweig über den Wasserfall, und auf diesem Zweig sitzt ein Vogel und singt sein Lied. Welcher hat wohl den Preis bekommen? Der zweite! Und warum? Nun, das erste Bild stellt eines dar: Ruhe. Aber nach der Ruhe kommt wieder der Sturm und nimmt allen Glanz weg. Ruhe ist noch nicht Friede. Im zweiten Bild ist tosende Unruhe, Gefahr und unheimliche Lage. Aber der Vogel ist auf seinem Zweig geborgen und fürchtet sich nicht. Das ist Friede . . . Ein drittes Bild macht das noch deutlicher. Der Maler Hans Thoma hat immer wieder eine ganz seltsame Zeichnung seinen Werken beigefügt: ein Ungeheuer mit weitgeöffnetem Rachen. Darin sitzt ein Kind und bläst seelenruhig auf der Flöte sein Lied. Das ist ein Rätsel. Soll das heißen: wir Menschen leben so sorglos dahin, besonders in der Jugend, und wissen gar nicht, von welchen Gefahren wir umdroht sind und schließlich verschlungen werden? Oder ist das schon ein Bild zu unsrem Text? Ja, so meint es wohl Thoma: in aller Angst und Gefahr, die uns in dieser Welt umdrohen, gibt es einen Ort, da wir geborgen und im Frieden sind. Christus der Herr spricht: „In Mir habt ihr Frieden." Keinem einzigen Menschen bleibt es erspart, durch die Angst der Welt hindurchzugehen. Wir sagen so oberflächlich: Glück muß der Mensch haben, damit er überall durchkommt. Es ist aber schon dafür gesorgt, daß wir mit unserem Leichtsinn allein nicht durchkommen. Es geht in jedem Menschenleben um ein ewiges Schicksal. Und deshalb führt der Weg durch Strecken, bei denen es heißt: „In der Welt habt ihr Angst." Er aber sagt uns: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden. In mir habt ihr Frieden." Er hat uns selbst das Bild gegeben, das die drei Bilder, die wir bisher schauten, ergänzt und vertieft und uns erst recht zeigt, was Friede ist. Der Sohn, der vom Vater weggeht, von ihm getrennt lebt, zuerst herrlich und in Freuden, dann im Hunger, im Elend, in der Einsamkeit und im inneren Streit mit seinem Vater, das ist das wahre Bild des Unfriedens. Der Sohn, der heimgekommen ist zum Vater, die Vergebung und Versöhnung gefunden hat, ein neues Kleid im Haus und einen neuen Platz am Tisch des Vaters bekommen hat, das ist das Bild des Friedens, Versöhnung mit Gott, das ist Friede. Und weil allein Christus unsere Versöhnung mit Gott ist, darum ist Er allein unser Friede. Im Krieg saß eine Abteilung Feldgraue am Karfreitag im Unterstand. Seit drei Tagen dauerte das Trommelfeuer an. Es war die Angst und die Qual der Hölle. Längst sprach keiner mehr ein Wort. Aber da zog einer eine Bibel aus der Tasche und las: „Es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände. Und als er das gesagt, verschied er .. ." Da horchten die andern hin. Und der Feldgraue las weiter, bis dahin, wo es heißt: „Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?" Und abermals, wie die Jünger von Emmaus bitten: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt." Er las bis zu der Stelle, wo es heißt: „Da sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch!" Ja, da war er mitten in der Höllen Angst unter diese Feldgrauen getreten. Er, der wie kein anderer mitten durch der Höllen Angst und Qual getragen war. Und da grüßte er als Bruder seine Brüder mit dem Gruß: „Friede sei mit euch." Und obwohl äußerlich die Hölle auch hier siegte und von all denen im Unterstand nur ein einziger übrigblieb und von diesem Karfreitag in der Hölle des Trommelfeuers erzählte, war doch das Wort erfüllt: „ln Mir habt ihr Frieden." Es war erfüllt in einer Weise, die noch viele in der Angst der Welt stärken und trösten wird . . . DIE GESCHICHTE OHNEGLEICHEN Des 7ödes Jod 19 39 Die Menschheitsgeschichte umschließt ungezählte Leidensgeschichten. Aber nur eine heißt „Die Leidensgeschichte" schlechthin. Es wurden viele Kreuze auf dieser Erde errichtet; nur eines ist das Kreuz. Die Geschichte des Todes Jesu ist darum die Geschichte ohnegleichen, weil sein Sterben des Todes Tod wurde. Der, welcher des Todes Tod wurde, ist auch des Lebens Leben . . . Es ist die Geschichte ohnegleichen einfach deshalb, weil sie jeden ganz persönlich angeht, was ja die Passionslieder der Kirche uns besonders eindrücklich machen. Sie geht jeden deshalb an, weil wir in ihr vor uns haben die Offenbarung des Menschen ohnegleichen und gleichzeitig die Offenbarung Gottes ohnegleichen: die Nacht des Menschen und den Tag Gottes, die furchtbarste Tat der Menschheit und die höchste Tat der Gnade Gottes, den Krieg des Menschen mit dem gesammelten Frontalangriff aller finsteren Mächte gegen den Einen, der der Sohn Gottes und der Sohn des Menschen war, und zugleich den Frieden Gottes, der den Feinden Versöhnung und Erlösung bringt in dem Einen, der Priester und Opfer zugleich ist. Der, welcher tot war, nun aber lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, gibt uns Anteil an seinem Leben aus seinem Tod und macht es zu unserem eigenen Bekenntnis: Du meines Lebens Leben, Du meines Todes Tod! DIE KÖSTLICHE PERLE Predigt am V Im er Jugendtag 1934 Diese Worte (Matth. 13, 45 und 46), welche die ganze klare Einfachheit unseres Herrn und Meisters an sich tragen und zugleich seine unermeßliche Tiefe in sich bergen, wurden zum erstenmal an zwölf junge Männer gerichtet, mit denen Jesus nachher die Welt eroberte. Das war und ist — rein menschlich besehen — ein schlechthin unbegreifliches Ereignis. Was war denn Besonderes an diesen Männern? Warum bleibt ihr Werk bestehen, so daß heute auf ihre Botschaft mehr Menschen horchen als je in den vergangenen 1900 Jahren, während Alexanders und Cäsars und Napoleons Reich verging und aller größten Menschen Werk veraltet wie ein Gewand und vergeht, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub? Was war an diesen Männern Besonderes? Weltlich besehen weniger als nichts. Keine Bildung, keine Wissenschaft, kein Geld, keine Macht! Nichts, gar nichts, was man braucht, um weltlicherweise auch nur hundert Zuhörer zu sammeln, geschweige denn die Welt zu erobern. Es waren arme, elende Men- sehen, wie wir’s im tiefsten Grunde alle sind, ohne Kraft zum Guten und ohne Kraft zur Treue in sich allein, so daß im entscheidenden Augenblick alle untreu wurden. Sie verließen ihn alle und flohen. Nur ein paar Frauen blieben noch bei ihm an seinem schwersten Tag. Das ist auch so ein Geheimnis. Während vorher bei Juden und Griechen die Frau ein Geschöpf nur zweiten Ranges war, hat sie Jesus sofort in die vordersten Reihen seines Heeres gestellt und mit schwachen Frauen größere und bleibendere Taten vollbracht als alle Schwerter und Federn der Welt — im Lidit der Ewigkeit besehen! Woran liegt das? Es waren lauter Menschen wie wir, aber sie besaßen die eine köstliche Perle. Dieselbe, die auch uns angeboten wird, uns allen und von neuem in eben dieser Stunde. Wie kommt man in ihren Besitz? Der Kaufmann suchte sich müde. Aber er ließ nicht nach. Auf das Suchen hat unser Herr die große Verheißung gelegt: „Suchet, so werdet ihr finden!" Eines Tags, als der Kaufmann wieder einmal einen Perlenhändler enttäuscht gefragt hatte: Nichts Besseres? Ist das alles?, sah ihn dieser prüfend und durchdringend an, und als er einen aufrichtigen Mann vor sich sah, hieß er ihn warten. Dann brachte er die Perle, die sie in schweigendem Entzücken miteinander betrachteten. Der Freudenstrom ging durch den Kaufmann: endlich die Perle, die eine, die alles wert ist! Ein Gleichnis, durchsichtig wie Glas . . . Die große Entdeckung heißt: Es gibt nicht nur ein Erdreich, sondern ein Himmelreich, nicht bloß eine Zeit, sondern eine Ewigkeit, nicht bloß gefangene Menschen, sondern auch einen Erlöser. Ihm gehören, ihn lieben, ihm dienen — das ist der Schatz über alle Schätze, die eine Perle; die ganze selige Entdeckung und Wende eines Lebens ruht in dem einfachen Satz: Ich folge Jesu nach! Aber dem Wert entspricht — der Preis. Der Kaufmann muß alles drangeben. Und das ist ein Wagnis, vor dem jeder erbebt. Ganz oder gar nicht — darin ruht das Herzbeben der Entscheidung. Am Preis wird nicht gemarktet. Man kann nicht gesund werden, wenn man gleichzeitig krank bleiben will. Man kann nicht die Seligkeit des Himmelreichs haben, wenn man gleichzeitig die Unseligkeit der Sünde behalten will. Es bleibt unerbittlich dabei: wir müssen alles verlieren, was wider Gott ist, um alles zu gewinnen, was aus Gott ist. Wer die Perle noch nicht hat, kann sie heut noch finden, und wer sie heute hat, kann sie morgen verlieren. Wenn viele die Perle nur ansehen oder mit unechten sich begnügen, so ist daran die echte Perle nicht schuld. Wer sich mit leeren Entschuldigungen in die Ewigkeit hinüberbetrügen will, hat dazu freilich reichlich Gelegenheit und viele Kameraden. Aber es ist eben ein Betrug an uns selbst. Nun weißt du, tatendurstige Jugend, wie man Taten vollbringt, die helfen statt verwirren, bessern statt zerstören, bleiben statt vergehen. „Ohne midi könnet ihr nichts tun", spricht der Herr. Amen. ZUM WEG DER JUGEND »V ns er Jugendwerk• i 9 28 Heute wächst der junge Mensch in ein Volk voll grenzenloser Zerrissenheit hinein. Die Merkmale sterbender Kulturen treten uns immer offener auch im deutschen Volk entgegen: Auflösung des Familienlebens, Auflösung aller sittlichen Begriffe, Klassenkampf und Klassenhaß, Parteihader und Gruppenegoismus ohne einheitliche Führung des Volkes und dabei der verborgene Siegeszug des Mammons und seiner Dämonen, der die niedrigsten Triebe im Menschen klug zum Gelderwerb ausnützt; eine Luft des Hasses und des Spottes gegen alles Religiöse und, was schlimmer ist, wachsende Gleichgültigkeit gegen alles Geistige; es wird bald so sein, daß unser Geschlecht im allgemeinen kaum mehr fähig ist, ein ernsthaftes und tiefgründiges Buch zu lesen. Die Schatten über Europa werden länger und länger, und wie eine dunkle Wolke liegt über uns das Wort vom Untergang des Abendlandes. Die Schule, aus der unsre Jugend kommt, trägt alle Nöte dieser Zeit in sich selbst, und woher soll ihr die Kraft kommen, dieselben aus sich selbst heraus zu überwinden? Die evangelische Kirche, durch den Gang der Ereignisse genötigt, selbständig einen Neubau aufzuführen, steht vor einer Überfülle an Aufgaben. Selbst gebunden durch mancherlei Schwäche und Schuld, steht sie in einem riesigen Zweifrontenkrieg: Hie Atheismus und Gleichgültigkeit gegen alle letzten Fragen — hie Sekten und Schwärmerei ohne Zahl! Es ist eigentlich kein Wunder, daß für eine Jugend, die den Krieg selbst nicht mehr mit Bewußtsein erlebt hat, immer mehr sich folgendes Bild ergibt: Aus einem starken und natürlichen Lebenstrieb heraus sucht sie sich der Verworrenheit der Zeit gegenüber dadurch zu helfen, daß sie alles auf die Seite schiebt, was nach Problemen und Kämpfen aussieht. Geld verdienen und Vergnügen haben, sich äußerlich die Zukunft sichern und sich nicht viel den Kopf zerbrechen; heute sind wir jung, das Morgen kümmert uns wenig und das übermorgen schon gar nicht, das ist heutiger Jugendstil. Die Voraussetzung für alle Jugendarbeit ist, daß wir die Welt sehen, wie sie ist, ohne schwarze und ohne rosen-farbene Brille. Wir Christen stehen nicht vor einem unabänderlichen Schicksal, sondern wir stehen vor einem lebendigen Herrn, der richtet und rettet. Und daß unsre Jugend mit Willen und Bewußtsein und in freier Entscheidung das Eigentum dieses Herrn mit ihrem ganzen Leben wird, weil sie sein Eigentum ist, ob sie es weiß oder nicht, das ist unser erstes und letztes und einziges Ziel. EVANGELISCHE JUCENDFOHRUNG • Evangelische Jugendjübrung beute• i 9 3 6 Die Sammlung evangelischer Jugend um Wort und Sakrament, die Wegbereitung für sie in die lebendige Gemeinde ist eine Lebensfrage der evangelischen Kirche überhaupt. Es handelt sich bei dieser Sammlung nicht um platonische Ideen und Träume von Schwärmern. Es ist eine junge Gemeinde da, die auf eine erneuerte Kirche wartet und selbst schon einen Teil von ihr bilden möchte. Das Wort Gottes bewährt unter den größten Schwierigkeiten seine Leben schaffende und Gemeinde sammelnde Kraft. Es ist nach außen hin eine kleine, vor Gott und für die Kirche aber eine gewaltige Tatsache, wenn Tausende von jungen Menschen jeden Morgen deshalb eine Viertelstunde früher aufstehen, damit sie nach ihren Ordnungen das Bibelwort für den Tag lesen können. Alle, die zur Leitung der Kirche berufen sind, mögen sich der Verantwortung dieser jungen Gemeinde gegenüber wohl bewußt sein. Sie will nicht zurück in eine alte Kirche. Sie will vorwärts in eine erneuerte Kirche. Sie hat kein Verständnis dafür, wenn in der Kirche Streit über Nebensachen ausbricht. Sie ist aber mit ganzer Entschlossenheit dabei, wo um das Zentrum des Glaubens gekämpft wird. Eine Jugend, die glaubt und dient, betet und kämpft, von der Vergebung lebt und sich für ihren Stand in Volk, Familie und Kirche heiligen läßt, braucht die evangelische Kirche, wenn sie leben soll. Evangelische Jugendarbeit ist in der Tat keine zusätzliche, sondern eine grundsätzliche Angelegenheit der Kirche. Oft ist in entscheidenden Stunden der Kirche diese grundsätzliche Bedeutung nicht gesehen worden. Oft sind aber die grundsätzlichen Entscheidungen des kirchlichen Lebens gerade auf dem Gebiet der Jugendarbeit gefallen. Darum soll unsre Kirche darum beten und darum kämpfen, daß der Weg bereitet und der Raum geschaffen wird für die Sammlung der Jugend um das Wort, für ihren freudigen und tapferen Dienst in der lebendigen Gemeinde. 19 32 Der Herr ist unser Richter. Der Herr ist unser Meister. Der Herr ist unser König. Der hilft uns. Jesaja 33, 22 Mein ganzes Leben steht im Licht der frohen Botschaft von dem Herrn und König, Jesus Christus, der auch für midi gekommen und gestorben und auferstanden ist. Er schenkt aus freier Gnade mir ein neues Leben, das über Tod und Sünde siegt. Er schafft das neue, letzte Reich und ruft auch mich zu seinem Volk. Diesem König will ich folgen, sein Reich sei meines Lebens Ziel, sein Geist die Kraft, in der ich wandle. Die Bibel, das Gebet, der Gottesdienst und die Gemeinde und unsere Jugendschar soll mir zur Heimat werden; darin mein Herr mich täglich rüstet, aus Dank und Liebe ihm zu dienen im Haus und im Beruf, in meinem Volk und meiner Kirche, in allen Nöten, die uns treffen. Und tapfer will ich dazu helfen, daß mit uns viele junge Menschen für Christus und sein Reich gewonnen werden. Der Herr ist unser Ridhter. Der Herr ist unser Tfeister. Der Herr ist unser König. Der hilft utis. EINER IST UNSER MEISTER »Wegzeichen zum Ziel • 1932 Einen Meister haben, heißt: in der Lehre sein, ein Lernender sein. Meisterlosigkeit ist eins der Merkmale unserer Zeit. Suchende Menschen gibt es heute viele. Sie suchen da und suchen dort. Sie werden Nachfolger bei dem Menschen und bei jenem System und bei dieser Sache und kommen nirgends zur Ruhe. Und wenn sie sagen: „Ich habe gefunden, was ich möchte", so ist es doch Schein und Trug, der bald genug zu Tage kommen wird. Darum ergeht durch das Evangelium unablässig der Ruf: „Einer, nur einer ist euer Meister, Christus." Nirgends sonst als bei ihm lernen wir die Sinnesänderung, die uns endlich zur Ruhe und zum Frieden bringt. Er macht uns Gott groß und den Menschen klein. Er macht uns Gott heilig und zeigt uns unsre Unheiligkeit. Er macht die Zeit zu einem Teil der Ewigkeit. Er macht Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, zu den tragenden Grundkräften unseres Lebens. Er lehrt uns, aus der Vergebung und Versöhnung leben, die er schafft. Das ist die Sinnesänderung, die wir bei ihm lernen. Hier wird uns das Kleine klein und das Große groß. Wir haben nichts nötiger als diese Schule der Sinnesänderung. Jeder Tag kommt und will uns das Kleine groß machen. Aus unsrem eigenen Herzen kommen die argen Gedanken, die aus dem Abgrund stammen und in den Abgrund ziehen. In unendlicher Treue kommt aber auch der eine Meister, Christus, stellt uns in seine Schule, macht uns Tag für Tag zu Lernenden, ist bei uns in den Versuchungsstunden, ist bei uns auf lichten Höhen und im dunklen Tal. Nur eines will er von uns, daß wir ihn lieben, so, wie er uns liebt. Und wir lieben ihn, wenn wir ihm gehorchen. Das vom Ewigkeitslicht durchleuchtete Auge des Meisters richtet sich auf uns mit der Meisterfrage, die er dreimal wiederholt: „Hast du mich lieb?" Das ist der rechte Lernende, der rechte Jünger, der, wie Petrus am See Genezareth, antworten kann: „Herr, Du weißt alle Dinge; Du weißt, daß ich Dich lieb habe." ... DER HILFT UNS • Wegzeichen zum Ziel • 1 9 3 2 Es ist durchaus nicht so, wie im Spott viele sagen, daß Christus nur der Seele helfen wolle, oder daß wir nur auf ein besseres Jenseits vertröstet werden. Das Gegenteil ist der Fall. Weil uns ganz geholfen werden soll nach Geist, Seele und Leib, und weil die gefallene Schöpfung zu der von Gott gewollten Vollendung gebracht werden soll, darum geht Gott einen ganz anderen Weg mit uns als den oberflächlichen Weg, den die Menschen sich vorstellen. Qanze Hilfe, das ist das Regierungsprogramm Gottes. Er hilft uns, indem er unser Richter ist und die Dinge unter das Gericht stellt, in welchem alle unsre Not ihre Wurzel hat; er schenkt uns aus der Buße heraus den Qlauben. Er hilft uns dadurch, daß er unser Meister ist; er stellt uns in die Liebe zu ihm und zu den Brüdern. Er hilft uns dadurch, daß er unser König ist; er stellt uns in die Hoffnung auf sein Königtum und auf die neue Welt. So hilft er uns. „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen" — und über allem der eine Herr ... Deine Gedanken sind nicht unsere Gedanken, und unsere Wege sind nicht Deine Wege, o Herr. Aber sie sind voll verborgner Herrlichkeit und Gnade, voll Hilfe und Friede, über all unser Bitten und Verstehen. Lehre uns das erkennen und Dir ganz vertrauen. Wir haben niemand, der uns helfen kann. Du bist unsre einzige Zuflucht und Hilfe, und Du hilfst uns ganz. Dein heiliger Name sei ewig gelobt! Amen. TÄGLICHE BIBELLESE, DIE GRUNDLAGE EVANG. JUGENDARBEIT 1 Eine lebendige Gemeinde wird es immer da geben, wo die Sonntagspredigt nicht das einzige Hören auf das Wort ist, sondern die Bibel zum täglichen Brot wird. Darum ist das Helfen und Mahnen zum täglichen Bibellesen und dem Antworten auf das Bibellesen im täglichen Gebet ein Wesensbestandteil unseres Amtes in der Gemeinde. 3 Alle Arbeit an der Jugend hat nur dann eine Verheißung, wenn sie die Jugend so unter das Wort stellt, daß sie sie helfend und mahnend zum täglichen Bibellesen und täglichen Gebet hinführt. 4 Es ist um der Ordnung willen zu bitten und zu wünschen, daß die Bibellese mit Jahreslosung, Monatssprüchen und Monatsliedern in allen Teilen der Arbeit der Kirche die gleiche ist. 5 Zur Bibellese gehören die Schriftlese (lectio continua) und die Kirchenjahrlese (lectio propria). Beide fordern einander, wie das Ganze der Schrift und das Ganze der Lehre der Kirche einander fordern. 6 Von dieser Grundlage der geordneten täglichen Bibellese kann die Jugendarbeit der evangelischen Kirche nicht abgehen; mit ihr steht und fällt sie. Wo diese Grundlage oder ein Teil davon angegriffen wird, da wird die Kirche Jesu Christi angegriffen. ARBEITSHILFE Ich will mich stets an das Grundgesetz des Lebens erinnern: Wer viel ausgibt, muß viel einnehmen. Auf Nichtbeachtung dieses Gesetzes steht die Todesstrafe des inneren Lebens. Ich will mir immer Vorhalten, daß das dritte Gebot für mich nicht aufgehoben ist, aber seiner besonderen Anwendung bedarf. Ich brauche die Zeit, da ich zu mir selber komme, damit ich weg von mir zum Vater komme. 3 Dienst ist Befreiung vom Ich, aber nicht Flucht vor mir selbst. Was hülfe es mir, wenn ich durch meinen Dienst die ganze Welt für Christus gewönne und nähme doch Schaden an meiner Seele? 4 Ich will an das Dichterwort denken: „Das Leben ist kurz, der Tag ist lang" — und neu lernen, die Zeit auszukaufen. 5 Wir wollen nicht Sklaven eines Gesetzes, aber Menschen der Ordnung werden; denn ein Christ ist ein wieder zur Ordnung gebrachter Ein geordneter Tag ist ein verlängerter Tag. [Mensch. Systemlosigkeit ist Zeitraub. 6 Ordnung heißt: Das Erste an den ersten Platz. Dahin gehört also nicht die Zeitung oder die Post oder die Zeitschriften, sondern die Schrift. „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?" Das ist für mich die Tagesfrage und die Lebensfrage. 7 Durch das Reden Gottes mit meinem Herzen in der Schrift will ich lernen das Reden meines Herzens mit Gott in meinem Leben. In der kraftverzehrenden Unruhe unserer Zeit ist die Ruhe der Anbetung ein Kraftzustrom aus der Ewigkeit. 9 Das Danken läßt uns wie Adler mit Flügeln emporfahren über die Talnebel zum reinen Morgenglanz, über die Menschengedanken zum Vaterherzen. 10 Das Bitten erst macht letzten Ernst mit dem Vaternamen und mit dem Kindesredit. „In Jesu Namen" — das ist für unser Bitten der reinigende Feuerring um Gottes Thron. 11 Die Treue der Fürbitte stellt uns hinein in die wahre Kirche Gottes, die sich täglich an seinem Thron trifft, und erlöst uns von der Vereinsamung — auch mitten in der Einsamkeit. 12 Ich soll aber nicht in meiner Einsamkeit verharren, sondern mit Fleiß um die zwei oder drei bitten, mit denen ich so eins werden kann, daß Er mitten unter uns ist. 13 Ich will die körperlichen Dinge, wie Essen, Schlafen, Atmen, Körperpflege, Gehen nicht so behandeln, als stünden sie außer Gottes Ord- Der Haushalt der Natur zeigt uns [nungen. Gottes unverbrüchliche Ordnung; der Leib aber ist ein anvertrautes Teil davon. 14 Zu einem geraden Weg mit gewissen Tritten braucht es ein festes Herz. Das schmiedet nicht der Hammer unserer Anstrengung auf dem Amboß irdischer Härten. Ein festes Herz ist ein Geschenk aus der festen Burg. 15 Nicht auf die Erfolge, auf die Nachfolge kommt es an. Das Kreuzeszeichen bleibt das Vorzeichen. Gottes Siege sehen oft aus wie Niederlagen vor der Welt. 16 Demütigungen und Anfechtungen sind auch Geschenke Wenn er uns demütigt, macht er uns groß, [Gottes, und Anfechtung lehrt aufs Wort merken. 17 über alles aber die Liebe! Aus seiner Liebe, mit der er für uns ganz persönlich sorgt, ob wir’s gleich nicht sehen, kommt Freudigkeit und Geduld, Zucht und Furcht unserer Liebe. Sie ist des Geistes edelstes Geschöpf. Denn wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. KRAFT UND WEG UNSERER GEMEINDEN Vortrag vor kirchlichen Jmtsträgern Die Kraft unserer Gemeinden ist seine (fegenwart. Es gibt keine einfachere, aber auch keine tiefere Beschreibung der Gemeinde Jesu als Matth. 18, 20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin idi mitten unter ihnen." In dem Maß, als die Glieder der Gemeinde dies glauben, hat sie, die Gemeinde, Kraft und Macht; in dem Maß, als sie damit nicht ernst macht, ist sie kraftlos und ohnmächtig. Denn Er, Jesus Christus, der erhöhte Herr der Kirche, ist der Inbegriff, die Zusammenfassung, die Verwaltung und die spendende Quelle aller Kraft und Macht. Alles Gemeindeleben kann und darf darum nichts anderes sein als die Sammlung um diese Mitte. Ob wir uns zum Gottesdienst der Erwachsenen oder der Kinder versammeln, ob wir im Namen Jesu an ein Krankenbett treten und dort zu zweien sind, ob wir einem Organisten die Orgel in unserer Kirche übergeben oder einen Kirchenältesten zur Mitarbeit in der Gemeinde berufen, all das ist sinnlos, zwecklos, ja verderblich, wenn es nicht aus der Sammlung um diese Mitte herkommt und wiederum der Sammlung um sie dienen soll. Alle Herrlichkeit und Kraft des Gottesreiches aber kann und will da sein, wo nur zwei oder drei armselige Menschen versammelt sind, ausgerichtet auf diese Mitte, in der er selber ist. Dieses Handeln des gegenwärtigen Christus an uns ist die einzige, aber auch unerschöpfliche Fülle der Kraft, die der Gemeinde gegeben ist. So werden die Gemeinden gestärkt. In dem Maß, als sie dies von der Mitte erwarten, um die sie sich versammeln, sind sie gesegnet und ausgerüstet mit Kraft; mit Kraft der Wahrheit, Kraft des Friedens, Kraft der Freiheit, Kraft der Hoffnung . . . Wehe uns, wenn wir das nicht mehr zu glauben und zu bezeugen wagten! Aber welches Gericht ist damit über unsere Gemeinden, über uns selbst ausgesprochen! Welch erschütternder Widerspruch zwischen der verkündigten Wirklichkeit des gegenwärtigen Christus und der anschau- liehen Wirklichkeit unserer Gemeinden und ihres Christentums! Hat ein Fremder, wenn er in irgendeinen Gottesdienst hereinkommt, den Eindruck einer Versammlung um jene gewaltige Mitte der Gnade, oder nimmt er den Eindruck mit hinaus: Worte, Langeweile, gähnende Leere, nicht nur des Raumes, sondern auch des inneren Gehalts? Und dann kommt diese erdrückende Anklage auf uns selber zu: wieviel mehr Kraft des lebendigen Christus, Kraft der Wahrheit, des Friedens, der Freude hätte von dir ausgehen können in den Jahren, die der lebendige Herr dir gegeben hat, wenn du mit ihm und der Wirklichkeit seiner Gegenwart anders ernst gemacht hättest! Wie vieles sagen wir, was wir nie gesagt hätten, wenn wir nicht aufs tiefste beeinflußt wären von der Riesenmacht des „Erfolgs" in dieser Welt! Und wieviel verschweigen wir, was wir nie verschweigen würden, wenn wir nicht zitterten vor dieser Riesenmacht. Wer von dem allem nichts weiß, der danke Gott! Aber Grund zum Verzweifeln wäre erst dann, wenn Er den Kreis verlassen hätte. Das wäre aber erst dann der Fall, wenn auch nicht mehr zwei oder drei in seinem Namen versammelt wären. Solange das nicht der Fall ist, hat Er verheißen, dazubleiben und die Hoffnung über uns nicht aufzugeben . . . Der Weg unserer Gemeinden ist sein Auftrag. Das erste ist immer das Wort. Es sei einmal grundsätzlich ausgesprochen: wie eine Gemeinde mit der Bibel umgeht, so hört sie. Wie sie hört, so predigt sie. Wie sie predigt, so betet sie. Wie sie betet, so singt sie. Wie sie singt, so opfert sie. Wie sie opfert, so ist sie. Wie sie ist, so handelt sie. Und wie sie handelt, so wird sie gerichtet. Ich fange immer bei der ganz primitiven Frage an: wieviel Teilnehmer am Hauptgottesdienst werden wenigstens dazu bewogen, den ausgelegten Text vom Sonntag noch einmal zu Hause zu lesen? Wie viele wissen auch nur die Stelle, wo der Text steht? Andachten und Feiern in allen Ehren — sind sie aber nur Erfüllung eines Gesetzes, dann sind sie tot und töten. Die Gemeinde kann ohne Bibelhilfe die Bibel nicht lesen. Und ohne Gebetshilfe kann sie nicht beten. Wir müssen es in ganz anderer Weise in Angriff nehmen, der Gemeinde zum einen und anderen zu verhelfen .. . Aber damit das recht geschehe, ist heute eines der dringendsten Anliegen, daß die Arbeit verteilt, die Gemeinde aus ihrer Passivität herausgeführt und das berufene Amt von Helferkreisen umgeben wird. Die zwei und drei, die mit dem Pfarrer im Dienst der Gemeinde stehen, müssen gerufen und gefunden, das heißt aber erbeten werden. Und wenn das neuentstehende, aus dem Wort gezeugte und geborene Leben wiederum Gefahren mit sich bringt, was bei jedem Leben der Fall ist, so kann man diesen Gefahren nicht dadurch entgehen, daß man die Gemeinde im Tode läßt. Hier ist noch unendlich viel zu tun. Der Herr, der überreich ist an Kräften und Gaben, öffnet uns auch die Augen und füllt uns die Hände bei der Fülle der Aufgaben, mit denen die Kirche und jede einzelne Gemeinde nie zu Ende kommt. Wir stehen mittendrin in der Schlacht und merken, wie schlecht wir ausgerüstet sind, wie wenig bewegungsfähig die Gemeinden sind, wie mangelhaft unsere Munition. Ganz besonders schwer ist die Lage dadurch, daß wir uns in Schladiten befinden ohne eine einheitliche Füh- rung in der Kirche, und Nöte unter uns selber auszutragen haben, während der Antichrist an den Pforten donnert. Aber Christus, der Herr, ist da und ist dort mit seiner ganzen Macht, Gewalt und Kraft, wo der Antichrist mit seiner Macht, Gewalt und Kraft am Werke ist. Und gerade darum läßt er die Gemeinde immer wieder ihre eigene Armut, Ratlosigkeit, Führungslosigkeit erkennen, daß ihre Augen, Herzen und Hände nirgends anders hingewandt seien als stracks nach der Mitte, zu ihm allein . . ." DIE WELT DES CEBETS >Mit Qott wirken, Triedricb Christoph Oetingers Qebete. 19 3 4 Das Gebetsrecht ist das herrlichste und mächtigste Recht der Christenheit. Soweit dieses Recht ausgeübt wird, so weit ist eine lebendige Christenheit da. Weithin aber ist das Recht zu einer Not geworden. Wir können nicht mehr hören, darum können wir nicht mehr beten. Zum Hören aber gehört Stille. Der Mangel an Stille rächt sich in der Unfähigkeit zum Gebet. . . Es wird sehr viel Mühe auf die Vorbereitung der Predigt verwandt. Solange nicht derselbe Ernst auf die Vorbereitung des Gebets mit der Gemeinde angewandt wird, wie auf die Predigt, ist all unser Bemühen um „Belebung" des Gottesdienstes zur Erfolglosigkeit verurteilt, und zwar mit innerster Notwendigkeit. Wie soll am gleichen Körper ein Teil leben, wenn der andre tot ist? Unsre evangelische Kirche stirbt, wenn sie es nicht ganz anders lernt, mit der Gemeinde zu beten . . . In der ganzen Geschichte der Kirche ist wohl kaum eine Beschreibung des Gebets gefunden worden, die einfacher und tiefer, kürzer und umfassender wäre als Oetingers Formel: „Beten heißt mit Qott wirken.“ Mit diesem einfachen Satz ist sofort eine Unsumme von falschen, abergläubischen und unterchristlichen Vorstellungen über das Gebet verscheucht. Viele, die das Gebetals unmöglich, ja unmoralisch ablehnen, haben eine Vorstellung, die mit dem Gegenteil von Oetingers Beschreibung bezeichnet werden kann; sie meinen, Beten heißt gegen Gott wirken. Oder auch: Gott wirken lassen. Sören Kierkegaard sagt: „Beten ist nicht sich selbst reden hören, sondern verstummen, so lange verstummen und warten, bis der Betende Gott hört." Und doch führt er selbst mit dem Wort darüber hinaus: „Der archimedische Punkt außerhalb der Welt ist eine Betkammer, wo der wahre Beter in aller Aufrichtigkeit betet — er soll die Erde bewegen." Genau auf diese Stelle legt Oetinger das Gewicht: Die Erde bewegen, Berge versetzen, mit Gott wirken — das ist der vollmächtige und machtvolle Sinn des Gebets. Die Schrift sagt: „In ihm leben, weben und sind wir." Hier stehen wir vor dem lebendigen, personalen Gott, der uns zur lebendigen, verantwortlichen Person gemacht hat, weshalb der Sinn und die Entscheidung unseres Lebens darin ruht, daß wir als lebendig personale Potenzen innerhalb seines Werkes stehen oder fallen, für ihn oder gegen ihn, und, weil er uns das Leben als Frage der Entscheidung gegeben hat, Antwort zu geben haben, das heißt aber Verantwortung haben. Das eigentliche Geheimnis der Person aber ist nicht das Denken und nicht das Fühlen, sondern das Wollen. Dort ist das Schlachtfeld in jeglichem Menschenleben, wo die eigentlichen Entscheidungen fallen, und darum ist das eigentliche Geheimnis, der Sinn und das Ziel der Schöpfung durch die Erlösung, daß der Wille Gottes auf Erden bei der Kreatur geschieht, die ohne Bruch und ohne Revolte seinen Willen willig und mit Freuden tut. Dadurch vollendet sich seine Herrschaft, und dadurch wird sein Name geheiligt, daß sein Wille geschieht. Wir sollen Gottes Willen tun, so wie er im Himmel getan wird. Das meint Oetinger mit der Erklärung: Beten heißt mit Gott wirken. So fällt die Entscheidung über das Wesen des christlichen Gebets nicht beim Dank und nicht bei der Anbetung, so grundlegend und wesentlich diese sind, sondern bei der Bitte, vielleicht am deutlichsten bei der Fürbitte. Denn hier wird am deutlichsten, daß der persönliche Einsatz des vor Gott stehenden Menschen von Gott erwartet und von ihm selbst in sein Werk als Maditfaktor eingefügt wird. Es wäre freilich Gotteslästerung, zu meinen, wir müßten durch unser Gebet Gott zu einem Wissen oder guten Willen verhelfen, den er ohne uns nidit hätte. Aber es ist, von der biblisdien Verkündigung aus gesehen, Unnatur, wenn das Kind mit dem Vater nicht redet, nicht auf dem Weg des Bittens empfängt und mit dem Vater an einem Werk steht. Wir sind „Gottes Mitarbeiter", sagt Paulus. „Beten heißt mit Gott wirken", sagt Oetinger. „Vater über alles, dir gebühret die Größe, die Stärke, die Schönheit, die Überwindung, die Verklärung, der unbeweglidie Bestand. Sei du unser Führer und leite uns mit deinen Augen, führe uns durch den Unglauben dieser Zeit hindurch und gib uns Flügel, uns darüber hinaus zu dir zu schwingen. Zeige uns, wie wir wirken und dir doch in allem stille halten sollen, daß wir in dir und nicht in uns selbst leben, wirken, forsdien, suchen. Mit dir umgehen ist unseres Herzens Freude. Diese Liebe führe uns in alle Wahrheit. Amen." AM KREUZ DES HERRN Ein Qebet • Auf der Brücke• 1939 Vater unseres Herrn Jesus Christus! Du hast uns errettet von der Obrigkeit der Finsternis und uns versetzt in das Reich deines lieben Sohnes. Du hast in uns den Glauben gewirkt und uns geoffenbart das Geheimnis, Christus, die Hoffnung der Herrlichkeit. Herr Jesus Christus, du Erstgeborener vor allen Kreaturen, Du Erstgeborener von den Toten, das Wort der Wahrheit ist auch zu uns gekommen. Du hast uns mit dir in der Taufe begraben. Du hast uns mit dir im Glauben auferweckt. Du hast uns alle Sünden geschenkt und durch dein Blut Frieden gemacht. Laß uns nun wandeln in dir und das suchen, was droben ist, da du bist, sitzend zur Rechten des Vaters! Hilf, daß uns niemand das Ziel verrücke durch Menschengebote und falsche Geistlichkeit! Laß uns in dir gewurzelt sein, fest im Glauben und reichlich dankbar! Hilf uns weise wandeln gegen die, die draußen sind! Hilf uns die Zeit auskaufen und einem jeden so antworten, wie dein Heiliger Geist es will und befiehlt! Den Glauben, die Liebe und die Hoffnung erhalte, stärke und mehre uns! Ja, stärke uns mit aller Kraft nach deiner herrlichen Macht zu aller Geduld und Langmut mit Freuden! Hilf uns würdiglich wandeln dir zu allem Gefallen und fruchtbar sein in allen guten Werken! Amen. DIE ENTSCHEIDUNG AUF LEBEN UND TOD • Der König aller Q e w a 11 en • 1936 Die meisten Menschen meinen, es handle sich beim Evangelium um einen Schmuck des Lebens, auf den man auch verzichten könne. Aber das Evangelium ist die Entscheidung des Lebens, von der die Gestaltung deiner Zeit und deiner Ewigkeit abhängt. Mit ihm gehen, das ist eine Entscheidung auf Leben und Tod. Mit ihm gehen, das ist der Weg wider die Vernunft und wider die Natur; das heißt nein sagen zu den eigenen Lieblingsgedanken, Lieblingsplänen und zu aller weichen Empfindlichkeit. Mit ihm gehen deshalb nur todesbereite Männer und Frauen. Sie müssen bereit sein, nicht auf dem Feld der Ehre, sondern am Pfahl der Schande ihr Leben einzusetzen. Denn ihre Ehre ist bei Gott, nicht bei den Menschen. Dies sagt das Wort: sich selbst verleugnen und das Kreuz auf sich nehmen und ihm nachfolgen. Nicht der denkbar größte Erfolg, daß seine Nachfolger die ganze Welt erobern oder die ganze Menschheit mit ihrer Botschaft gewinnen, ist der Gottesbeweis für ihren Weg oder die Rechtfertigung für ihre Person. Wenn Welterfolg mit Schaden an der Seele, also mit Sünde und Schuld erkauft ist, ist er vor Gott null und nichts, keinerlei Ersatz für den von ihm allein geforderten Gehorsam. So eisenhart sehen in Wirklichkeit die „knieweichen Lehren von Nazareth" aus, von denen immer wieder gefabelt wird . . . Diese eisenharte Entschlossenheit, dieser letzte Einsatz des Lebens ist in dieser Welt unerläßlich. Nur so kann die Kette der Schuld zerbrochen und das Todesgefängnis gesprengt werden. Es gibt für den Befreier der Welt und den Erlöser der Mensdrheit keinen anderen Weg. Es muß sein. Und diese Bereitsdiaft, sich ganz einzusetzen, diese Entscheidung auf Leben und Tod, kann auch den Jüngern nidit erspart werden . . . ZUGVOGEL »Zielsichere 7 abrt• 19 3 1 Wie im Menschen sich alle Tierarten wiederfinden, der Wolf, der Fudis, die Katze, so hat er audi zum Glück den Trieb der Zugvögel in sich. Das ist der Trieb, den Goethe mit den Worten beschreibt: Dodi ist es jedem eingeboren, daß sein Gefühl hinauf und aufwärts dringt, wenn über ihm, im blauen Raum verloren, ihr schmetternd Lied die Lerche singt, wenn über schroffen Fichtenhöhen der Adler ausgebreitet schwebt und über Flächen, über Seen der Kranich nach der Heimat strebt. Auch C. F. Meyer hat mit besonderem Nadidenken dem Wanderzug der Vögel nachgesehen. Er läßt seinen Helden, Johannes Hus, wie er am Fenster seines Gefängnisses in Konstanz steht und durch die Gitterstäbe auf die blaue Flut des Bodensees hinausschaut, sagen: Dort lenkt ein Zug von Reihern dem ewgen Lenze zu. Sie wissen Pfad und Stege, sie kennen ihre Wege; was, meine Seele, fürchtest du? Hus hatte in der Tat nichts mehr zu fürchten, auch den Tod nicht. Er war auf dem rechten Wege. Zielsicher ging er in den Tod. Uns ist etwas anerschaffen, das mit keiner Zeit und mit keiner Sichtbarkeit auszufüllen ist. Das ist die größte Tiefe und die größte Leere in uns. „Du hast uns zu dir hin erschaffen, darum ist unser Herz ruhelos, bis es ruhet in dir", ist der erste Satz in den Bekenntnissen Augustins. Unablässig wandert ein Zug von solchen über die Erde, von denen die Schrift sagt: „Sie haben die Verheißung von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden seien. Wer solches Be- kenntnis ausspricht, der beweist, daß er sidt nach der Heimat sehnt. Hätten sie dabei die irdische Heimat im Auge gehabt, aus der sie auf Gottes Befehl ausgezogen waren, so hätten sie wohl Gelegenheit zur Rückkehr gefunden. Nun aber sehnen sie sich nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen. Darum schämt sich auch Gott ihrer nicht, sondern läßt sich ihren Gott nennen; denn er hat ihnen eine Stadt bereitet." WARTEN UND NICHT MÜDE WERDEN! • W eibnacbtsgruß des Burckbardtbauses• i 9 37 Es gibt viererlei Zeiten in der Geschichte der Kirche. Es gibt Zeiten, da der Sturm Gottes durchs Land geht, da das Wort Gottes wie Leuchtfeuer brennt, da die Scharen herzukommen, still werden, hören, beichten, umkehren, heimkehren zu ihrem Gott: Zeiten der Erweckung. Wie, wann, wo solche Zeiten kommen, weiß Gott allein. Uns ist das Gesetz ihres Kommens verborgen, aber ihre Gefahr offenbar. Das Gebot dieser Zeit heißt deshalb: tief graben und gründen! Es gibt manche Landschaft, auch bei uns, die nur christianisiert, nie evangelisiert wurde. Unter einer verhüllenden Decke ist das Heidentum lebendig geblieben, bereit, wieder hervorzubrechen, wenn seine Zeit gekommen ist. Hier heißt Gottes Gebot: warten, bis seine Zeit und Stunde gekommen ist! Und dieses Warten auf den Herrn heißt Stellungen halten und einen Mut auf lange Sicht haben. Dann gibt es Zeiten der geringen Dinge: Sturmstille, Windstille, so wie es uns Offenbarung 7, 1 beschrieben ist: lOO keine Propheten, kein Durchbruch des Wortes, aber doch die Möglichkeit stiller und stetiger Aufbauarbeit, zugleich die Gefahr von Laodizea und verstärkt die beständige Gefahr der Christenheit: „Jeder sah auf seinen Weg." Wieder eine andere Zeit: Sturm des Antichristentums, Einengung, Verkümmerung, Verfolgung. Diese Zeit beginnt meistens mit einem guten Anfang des Bekennens, Leidens, Höffens. Aber die Zeit dehnt sich. Dann kommt die Gefahr, die der Hebräerbrief uns so eindrücklich klar macht: Müdigkeit, lässige Hände, müde Knie, Straucheln, Irrewerden, aufwachsende bittere Wurzeln. Dazu die Gefahr, die jeder Brief des Neuen Testaments mit so tiefem Ernst uns vor Augen hält: Verirrung und Verwirrung durch Irrlehre und Irrlehrer. Endlich die vierte Zeit, die am Anfang und am Ende steht: Eingriff Gottes in den Weltlauf. Diese Zeiten sind für uns bezeichnet durch die Namen Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Jüngster Tag. Und zwischen Pfingsten und dem Jüngsten Tag liegt der lange und schwere Weg des Evangeliums um die Erde zu allen Völkern. Denn erst, wenn das Evangelium zu allen Völkern gekommen ist, wird das Ende kommen. Darum wechseln zwischen Pfingsten und dem Jüngsten Tag in einer uns verborgenen Oekonomie der Zeiten jene drei anderen Zeiten ab. Die Christenheit darf und muß die Zeitverwaltung Gottes durch Jahrhunderte hindurch erst lernen. Es ist schlechthin entscheidend, daß wir glauben und wissen und mit nichts anderem rechnen, als daß das Warten der ersten Wächter auf den Tag des Herrn erfüllt ist im Kind und in der Krippe zu Bethlehem. Da ist der Tag Gottes angebrochen, der von keiner Nacht mehr abgelöst wird, sondern vorwärtssdireitet, bis daß es voller Tag über allen Völkern und aller Welt geworden ist. Gerade an diesem Glauben freilich will uns vieles irre machen. Denn ist dieser Glaube uns genommen, daß das Warten der ersten Wächter erfüllt ist, daß in Jesus Christus der Tag Gottes ein für allemal angebrochen ist, dann werden wir mit unserm Glauben, Lieben und Hoffen bald zuschanden. Darum heißt das dringende Gebot aller Zeiten, insbesondere aber dieser dritten Zeit: Warten, wachen, beten, rüsten! EWIGKEIT — IHRE ANTWORT AN DIE ZEIT „Man hat midi in einen Kahn gesetzt, ich weiß nicht mehr wann, man hat mich von einem mir unbekannten Ufer abgestoßen, man hat mir die Richtung nach dem andern Ufer gewiesen, Ruder in die unerfahrenen Hände gelegt und mich allein gelassen. Ich hatte mit den Rudern, so gut ich konnte, gearbeitet und war vorwärts gekommen; je weiter ich aber hinausgedrängt war, desto reißender war die Strömung geworden, die mich dahin trug, fort vom Ziel, und desto häufiger begegneten mir Ruderer, die, wie ich, von der Strömung fortgerissen wurden. Und je weiter idi fuhr, desto mehr vergaß ich, während ich stromabwärts den Fahrenden nachblickte, die mir gewiesene Riditung. Es trug midi weit fort, so weit, daß idi das Geräusch der Stromschnellen hörte, in denen ich scheitern mußte, und sah, wie die Kähne dort zersdiellten. Lange Zeit konnte ich nicht begreifen, was mit mir geschehen war. Vor mir sah idi nur die Verniditung, der idi entgegeneilte und die ich fürchtete, nirgends sah ich die Rettung und wußte nicht, was ich tun sollte." ln diesem Gleichnis Leo Tolstojs ist mit großer Wahrhaftigkeit unser Leben abgebildet, wenn das Schifflein auf dem Strom ohne Richtung, Ziel, Steuer und Fährmann getrieben wird. Unsre Zeit ist voll von Versuchen, hinter die Geheimnisse der Ewigkeit zu kommen, die uns rings umgibt. Es ist das kein Wunder,- denn der Krieg und was aus ihm folgte, hat der Menschheit so viel Gräber und in Trümmer geschlagene irdische Hoffnungen gebracht, daß mit Urgewalt die Frage nach der Ewigkeit auftauchen mußte. Und eben darum schlägt ja der Hammer Gottes so unbarmherzig ganze Welten in Scherben, darum braust der Sturm Gottes über alles Hohe und Erhabene der Menschen so mächtig hin, daß wir nach der Ewigkeit fragen lernen, das heißt aber, fragen nach dem Herrn der Ewigkeit, der zugleich der Herr der Zeit ist. Man muß jene Stromschnellen gehört haben, in denen das Schiff scheitert, von denen Tolstoj spricht. Man muß gründlich erschrocken sein und in die Abgründe hineingesehen haben, um gründlich nach der Ewigkeit zu fragen. Es gibt freilich auch Menschen, die in leichtsinniger Absichtlichkeit an diesen Fragen vorübergehen. Wir aber wollen ja gerade zu diesen Menschen nicht gehören; wir wollen denken, suchen, graben, forschen, wir wollen stille werden und lauschen, horchen auf eine Antwort an die Zeit, wir wollen hören! Es ist eine ganz allgemeine menschliche Lage und Tatsache, die unbestreitbar ist: IMensdb sein beißt vor die Trage der Ewigkeit gestellt sein. „Mensch sein heißt: zwei Welten angehören" (Goethe) — „Mensch sein heißt: Wanderer zwischen zwei Welten sein" (Walther Flex). Die sichtbare Welt, die uns rings umgibt, führt uns überall auf geheimnisvolle Türen, durch die wir in eine Unendlichkeit hineinschauen, die hinter diesen Türen liegt; aber unser mensdtlicher Blick ergründet und erforscht ihr letztes Geheimnis nicht mehr. Die Naturforscher haben sich sehr viel mit den kleinsten Teilen des Stoffes, dem Atom, abgegeben, und das letzte Ergebnis, bis zu dem man bis jetzt vorgedrungen ist, ist ein wunderbar großartiges und geheimnisvolles: Jedes allerkleinste, nicht mehr teilbare Stoffteilchen, das man mit dem gewöhnlichen Auge überhaupt nicht mehr sehen kann, enthält ein ganzes Sternen-system von einzelnen Körpern, die sich nach ganz ähnlichen Gesetzen umeinander bewegen wie die Sterne am Himmel. Also beim Allerkleinsten genau dieselbe unfaßliche Unendlichkeit wie beim Allergrößten, dem Weltall. Und zwischen diesen Unendlichkeiten der Mensch, mit seinem Herzen, mit seinem Verstand, mit seinem Gewissen; ein unfaßlich kleines Stäublein, und doch mit der Fähigkeit begabt, alle diese Unendlichkeiten suchend und fragend zu durcheilen! Und diese ganze sichtbare und unendliche Welt ist in ständigem Werden und Vergehen, aber so, daß über das Sichtbare die Vergänglichkeit den Sieg davonträgt. Alles Sichtbare kommt aus einem geheimnisvollen, ewigen Grund und geht zu einem verborgenen, jenseits der Zeit liegenden Ziel. Mensch sein heißt vor die Frage der Ewigkeit gestellt sein. Christsein heißt aber audh in die Antwort der Ewigkeit hineingestellt sein. Und die Ewigkeit gibt uns soweit Antwort, als der ewige Mund zu uns spricht, so weit die gewaltige Hand des ewigen Gottes an uns und für uns han- clelt, soweit das Herz der Ewigkeit, das Vaterherz Gottes, sich uns aufschließt. Kurz gesagt: die Offenbarungen Gottes sind die Antwort der Ewigkeit. Es ist eine Ewigkeitsgeschichte, die Gott mit uns begonnen hat. Darum wissen wir, daß sie weitergeht; alle Widerstände können im letzten Grunde nur zur Förderung werden. Und sie geht der Vollendung entgegen. Aber diese Vollendung liegt jenseits der Zeit in der Ewigkeit. Alles Irdische wird deshalb für den Christen ein Einstweilen, das Leben wird zum Vorabend des großen Tages, des wir warten. So ist der Mensch ein Wanderer zwischen zwei Welten, die beide um ihn kämpfen und ringen. Die Zeit will ihn ganz, und die Ewigkeit will ihn ganz. Und zwischen den beiden Einladungen hat der Mensch zu wählen. Die Annahme der Einladung der Ewigkeit bedeutet freilich ein gänzliches Umdenken und Umlernen, eine Umkehr und Umwandlung des ganzen Menschen im tiefsten Sinn. Darum sagt Jesus ausdrücklich, daß den schmalen Weg zum Leben nur wenige finden werden. Der Christ muß den Mut haben, zu diesen wenigen zu gehören. DAS LETZTE WÄCHTERLIED 1930 Es ist eigentlich mit Worten gar nicht zu beschreiben, was alles in einem evangelischen Christen, der in seiner Bibel und in seiner Kirche zu Hause ist, aufwacht, anklingt, bildhaft wird bei diesem Lied. Es ist etwas von der ragenden Majestät unserer Dome in den Worten und Klängen; die hochgebaute Stadt mit ihren Mauern und Türmen taucht auf. Der Aufbruch ohnegleichen, der Aufbruch all derer, die den Ruf der Ewigkeit vernommen haben und in dem immer größer werdenden Zug mitwandern in das eine Haus mit den vielen Wohnungen und in den hellerleuchteten Hochzeitssaal, erweckt die tiefste und beste Sehnsucht in uns. Die stärksten Farbenunterschiede flammen auf, vom Samtblau der Nacht bis zum flammenden Gelb und Rot des erleuchteten Saales, ja, die zwölf Perlen funkeln im Morgenglanz der Ewigkeit, die Tore der letzten Stadt. Einem ragenden Dom gleicht schon der Strophenbau. Die langen Strophen mit ihren ganz verschieden langen Zeilen, von denen die erste den Wächterruf, die zweite den Aufbruch und die dritte das große Gloria im Hochzeitssaal beschreibt. Hier ist mit wenig Worten ganz ungekünstelt unglaublich viel gesagt und angedeutet. Die ganze Herrlichkeit der Melodie kommt natürlich nur in ihrer ursprünglichen, rhythmischen Form zur Geltung. Mit breiten, einfachsten Fanfarensignalen: C-E-G hebt die Weise an. Wir haben uns die Wirkung dieses Signals schon manches Mal dadurch verdeutlicht, daß den Wächterruf eine ganze versammelte Schar sang: „Wachet auf!", während die Erläuterung dieses Rufes nur wenige Stimmen sangen: „ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne." Alle fahren fort: „Wach auf, du Stadt Jerusalem! Mitternacht heißt diese Stunde"; die einzelnen Stimmen: „sie rufen uns mit hellem Munde", alle Stimmen: „Wo seid ihr klugen Jungfrauen? Wohlauf, der Bräutgam kömmt." Mit diesem „Wohlauf" kommt zweimal das zweite aufreizende Signal. Es ruft in die schlafende Welt hinein: „Es ist höchste Zeit! Wachet auf! Macht euch bereit! Ihr müsset ihm entgegengehn!" Es ist nidit zu verwundern, daß die größtenTonmeisterimmer wieder zu dieser Melodie zurückgekehrt sind und sie in immer neuen Tonsätzen verherrlicht haben. Aber nichts reicht auch nur von ferne an das Tonwerk heran, das Johann Sebastian Bach über diesen Choral geschaffen hat. Es ist wie ein sich steigerndes Läuten von vielen Glocken, untermischt mit großen Wecksignalen, bis plötzlich die Soprane mit langgezogenen Tönen einsetzen: „Wachet auf!" Dann kommen jene mystischen, mit Worten nicht zu beschreibenden Zwiegesänge zwischen dem Bräutigam und der Braut, der Gemeinde. Zuerst das bange: „Wann kommst du? Ich warte mit brennendem öle." „Ich komme, idi komme! Komm, liebliche Seele! Ich öffne den Saal zum himmlischen Mahl." Die ganze überschwengliche Seligkeit ist dann in dem Duett zwischen Sopran und Baß ausgedrückt, das kaum seinesgleichen hat. „Mein Freund ist mein, und ich bin sein. Die Liebe soll nichts scheiden." Das „Gloria" schließt in einfacher Choralform die Kantate ab. Aber was ist das für ein Satz mit seinen mächtigen Baßgängen, mit seinen geheimnisvollen Pausen, mit seinen lang angehaltenen Schlußtönen; der erste Teil schließt mit ganzer Kraft: „der Engel hoch vor deinem Thron", und dann kommt wieder jene Pause, worauf der Chor im zartesten Piano das Geheimnis ausspricht: „Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört solche Freude", hier steigert sich von Note zu Note der Jubel: „Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für." An 7 r au Oberin Zar nack , geschrieben am Bußtag, 16. November 19 3 8 Im übrigen soll das Werk bei meinem Tode nur Einen Namen unendlich preisen, Jesus Christus, der Sünder rettet und der midi Sünder gerettet hat. Alle, die einen Vorwurf oder eine Anklage gegen mich im Herzen haben, bitte ich um Vergebung, wie ich allen vergebe von Herzen. Alle im Werk, in der Jugendkammer, in den Bruderräten, denen ich angehörte, bitte idi zuletzt mit meinem letzten Gruß: „Bleibt bei der Kirche des lauteren Evangeliums! Das ist die einzige Hilfe, die ihr unsermVolk leisten könnt. Dieser Weg führt scheinbar immer mehr ins Dunkle und in die Drangsal hinein. Aber dieser Weg hat einen Ausgang. Alle Kompromisse mehren nur das Chaos und verhüllen uns den Ausweg und Ausgang, ln der evangelischen Kirche sind alle menschlichen Versuche am Ende. Er wird ein Neues schaffen zu Seiner Zeit, wenn ein Rest bei ihm bleibt." Alle im Haus und in den beiden Bibelschulen grüße ich nochmals herzlich. Niemand unter Euch soll die Wunder der Gnade vergessen, die wir in den Jahren des Kampfes und der Gefahr erlebt haben. Ich befehle Euch Gott und dem Wort Seiner Gnade, der da mächtig ist, Euch zu erbauen und zu geben das Erbe unter allen, die geheiligt sind. Ich glaube nicht, daß Gott das Werk einfadi zerschlägt. Es wird Opfer kosten, aber nicht einfach untergehen. Das Anvertraute treu bewahren und benutzen, für neuen Dienst offen bleiben —das wird eine brauchbare Regel sein. Das Königsbanner zieht voraus, ihm folgt das ganze Königshaus; es kennt das Zeichen in der Fahn, das Kreuz geht Gottes Heer voran. Am Kreuz starb Gottes ein’ger Sohn, das war der Sünde Sieg und Lohn. Das Kreuz ist Gottes Heil und Sieg in aller Welten schwerstem Krieg. Nun zieht der Kirche still voran das Kreuz als Sieg- und Friedensfahn; und wer dies Zeichen sich erwählt, der ist zu Gottes Heer gezählt. Und wem dies Zeichen auferlegt, der König selbst zum Ritter schlägt; und heimlich steht bei ihm im Feld der Friedefürst und Siegesheld. Sei wach und kühn und streite recht! Es ziert den Kriegsmann wahrlich schlecht, wenn er verzagt den Plan verläßt. Wer siegen will, steh stark und fest! Dich, Kreuzheer, grüßt der Zinnenkranz von Gottes Stadt in Glut und Glanz: das Kampfziel über Leid und Streit, des Reiches Krön’ und Herrlichkeit. Ewig steht fest der Kirche Haus, Türme der Erde zerfallen, über das Trümmerfeld nach Haus rufen die Glocken uns allen. Laden zum Kreuze jung und alt, rufen Mühselige mit Gewalt heimwärts zur ewigen Stille. Irdische Tempel braucht Gott nicht; Dome, die Meister erbauen, Schatten sind sie vor seinem Licht, welches kein Auge kann schauen. Aber er selbst baut sich ein Haus, wählt sich zur Wohnung Seelen aus, die seinem Rufe gehorchen. Wir sind das Haus der Herrlichkeit, Kirche aus lebenden Steinen, wenn wir am Kreuze in Lauterkeit Taufe und Glauben vereinen. Wo auch nur zwei zusammen flehn, warten auf sein Vorübergehn, kommt Jesus in ihre Mitte. Kehrt in die ärmste Hütte ein, läßt uns dem Königswort lauschen, seiner Verklärung Zeuge sein, — wer wollte Welten drum tauschen? Leben und Geist ist da zur Stund, göttliches Wort aus seinem Mund heiligt die Hütte zum Tempel. Dort ist der Kirche sichtbar Haus, da er ans Herz nimmt die Kleinen, — uns wie ein liebes Vaterhaus, Zuflucht und Freistatt der Seinen. Herrliche Wahrheit wird hier kund, hier schließt mit uns der Herr den Bund, schenkt uns des Königreichs Erbe. Hier sagt der Taufstein: „Du bist sein", hier der Altar ruft zum Mahle, hier ruft das Wort: „Und er ist dein, bei dir im finstersten Tale." Jesus, der Herr in Ewigkeit, schenkt der Gemeinde allezeit Glaube und Hoffnung und Liebe. Laß unsern Herzen nirgends Ruh, wo auch die Glocken erklingen, daß wir mit deinem Volk herzu kommen zum Beten und Singen. Wenn dich die Welt nicht kennt nodi sieht, an deinem Volk dein Werk geschieht, Gnade und Friede grüßt alle. (Nadb einem dänischen Kirchenlied) Die schlafenden Heere sind bald besiegt, verrostete Wehre von selbst erliegt. Wir haben dein Warnen wohl oft gehört, des Feindes Umgarnen hat uns betört. Nun aber erwecken die Christenheit die tödlichen Schrecken der letzten Zeit. Oft wird zum Verräter ein Herz, das zagt; schaff du, Herr, den Täter, der’s Glauben wagt. Hilf recht uns nun streiten, wir sind erwacht, lehr selber uns leiden in deiner Macht. Was klug wir erschaffen, hält nirgends stand, die eigenen Waffen nimm unsrer Hand. Parole im Kriege: „Der Herr ist da." Am Kreuzweg zum Siege steht „Golgatha" . . . Wo alle am Ende mit ihrem Rat, da schaffst du die Wende der Ostertat. In deinen Händen liegt die Gewalt, das Reidt zu vollenden, o komme nur bald! Und will uns oft bangen — es bleibt dabei: den Sieg wir erlangen. Herr, mach uns frei! Keins der Rätsel, die uns schrecken, löst der erdgebundne Geist. Keiner wird den Weg entdecken, der zum Herz der Welten weist. öffnen sich auch Tür um Türen mit dem Schlüssel eigner Kraft, — zum Geheimnis, das wir spüren, führt uns keine Wissenschaft. Das Geheimnis aller Zeiten, aller Dinge Ziel und Grund tut in alle Ewigkeiten durch zwei Herzen nur sich kund: Wenn des Vaters Herz voll Gnade meines Herzens Bann durchbricht, wo sich Gott dem Menschen nahte, da ward aus dem Dunkel Licht. Und aus dieser Gnade handeln, heißt zu neuem Lichte gehn. Lind in diesem Lichte wandeln läßt den Vater uns verstehn. Sein ist das Reich in Ewigkeit. Verhüllt geht Er durch unsre Zeit, geht bis zu meines Herzens Tür: „Tu auf, dein König kommt zu dir. Ich öffne dir den Freudensaal und teile dir mein Abendmahl." Sein ist die Kraft in Ewigkeit. Allmächtig geht Er durch die Zeit; Er schickt die Stürme durch das Land, zerbricht das Haus auf flachem Sand, löscht tausend irre Lichter aus, führt die Verirrten selbst nach Haus. Sein ist die große Herrlichkeit. Mit Sonnenkraft der Ewigkeit verwandelt Er die dunkle Flut des Weltmeers voller Sdimutz und Blut. Er läßt die neue Welt erstehn und was kein Auge je gesehn. Sein Reidt der Kraft und Herrlichkeit, das heimlich Sehnen aller Zeit, kommt still, wo Babels stolzer Turm zerbricht in Gottes heil’gem Sturm. Wir sdirein nach dir aus Fron und Haft Komm, o du letztes Reich der Kraft! DAS WORT GEHT VON DEM VATER AUS (A b e ndm a b l s l i e d, Q es. -Buch, Nr. 1 6 i) Das Wort geht von dem Vater aus und bleibt doch ewiglich zu Haus, geht zu der Welten Abendzeit, das Werk zu tun, das uns befreit. Da von dem eignen Jünger gar der Herr zum Tod verraten war, gab er als neues Testament den Seinen sich im Sakrament, gab zwiefach sich in Wein und Brot; sein Fleisch und Blut, getrennt im Tod, macht durch des Mahles doppelt Teil den ganzen Menschen satt und heil. Der sich als Bruder zu uns stellt, gibt sich als Brot zum Heil der Welt, bezahlt im Tod das Lösegeld, geht heim zum Thron als Siegesheld. Der du am Kreuz das Heil vollbracht, des Himmels Tür uns aufgemacht, gib deiner Schar im Kampf und Krieg Mut, Kraft und Hilf aus deinem Sieg! Dir, Herr, der drei in Einigkeit, sei ewig alle Herrlichkeit! Führ uns nach Haus mit starker Hand zum Leben in das Vaterland! (Nadb einem lat. Hymnus des Jbomas von Aduino, Lebendig Wasser quillet aus Gottes Brünnlein klar, die Durst’gen labt und stillet, heilt alles Volk fürwahr. Der Herr hat angesdiauet, die saßen im Elend; sein Reich er wieder bauet durchs Wort und Sakrament. (Strophe 3 des Liedes ,Lobt Qott, ihr frommen ChristenQes.-dudb, 7ir. 202) Herr, wir stehen Hand in Hand, die dein Hand und Ruf verband, stehn in deinem großen Heer aller Himmel, Erd und Meer. Wetter leuchten allerwärts, schenke uns das feste Herz. Deine Fahnen ziehn voran, führ auch uns nach deinem Plan. Welten stehn um dich im Krieg, gib uns teil an deinem Sieg. Mitten in der Höllen Nacht hast du ihn am Kreuz vollbracht. In die Wirrnis dieser Zeit fahre, Strahl der Ewigkeit! Zeig den Kämpfern Platz und Pfad und das Ziel der Gottesstadt. Mach in unsrer kleinen Schar Herzen rein und Augen klar, Wort zur Tat und Waffen blank, Tag und Weg voll Trost und Dank. Herr, wir gehen Hand in Hand, Wandrer nach dem Vaterland; laß dein Antlitz mit uns gehn, bis wir ganz im Lichte stehn. Von deinen Quellen leben wir, aus deinen Strömen geben wir die Schalen dankerfüllt zurück. Dein junges Volk an den Altären kniet vor dir, König aller Ehren, und dankt dir für sein Heil und Glück. Auf deiner Straße geben wir, in deinem Leben stehen wir, solang dein Tag uns wirken heißt. Die Welt lebt nur von deinem Schenken; du kannst wie Wasserbäche lenken der Menschen Herz nach deinem Geist. Von deiner Gnade singen wir, und Dankesopfer bringen wir zu deinem Kreuz auf den Altar. Wärst du nicht unsern Tod gestorben, wir wärn im andern Tod verdorben. Nun sind wir deine freie Schar. Die Schar, die sich zu dir bekennt, lebt durch dein Wort und Sakrament, ein Spott der Welt, doch deine Zier. Laß sie als Priester vor dir stehen, für Volk und Land um Gnade flehen und um der Jugend Weg zu dir. Du Schöpfer aller Wesen, du Lenker aller Zeit, die Woche, die gewesen, kehrt heim zur Ewigkeit. Lichthell den Tag du kleidest mit sonnengoldner Pracht, in Schlafes Garten weidest du Leib und Seel zur Nacht. Und lösest müde Glieder, den Geist von Gram und Plag, und rüstest beide wieder zum Werk am neuen Tag. Anbetend, Herr, wir singen das Lied der Ewigkeit, zu dir zurück wir bringen die anvertraute Zeit. Dir sind wir ganz verschrieben, ein bleibend Eigentum. Hilf, daß wir rein dich lieben, rein künden deinen Ruhm! Wenn es jetzt um uns dunkelt, sei selber unser Licht; und wenn das Irrlicht funkelt, laß uns verirren nicht! Laß unter Lebensbäumen den Geist im Traum ergehn und in den selgen Räumen bei deiner Thronwacht stehn. Jesaja 4 3, t Fürchte dich nicht! Die Furcht hat Qual und Pein, läßt ohne Hoffnung dich allein. Doch du bist nicht allein, ich selber will bei dir sein. Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht! Ich habe längst vollbracht das Werk, das dich frei macht. Ich habe dich erlöst, gewonnen, du aber bist der Pein entronnen. Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht! Ich habe dich gerufen zu meines Thrones Stufen. Ich siegle deinen Namen gültig mit Ja und Amen. Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht! In der Sternenunendlichkeit, in Wettersturm und Herzeleid sollst du geborgen sein, du bist daheim: auf ewig mein. Fürdite dich nicht! Da nun der Herbst die letzte Ernte hält, geht stark das Heimweh durch die Welt. Auf Erden ist so schwer und tief kein Leid als letzte Heimatlosigkeit. Das Gras ist zum Propheten uns bestellt: „Du gleichst der Blume auf dem Feld, ein Lüftlein haucht, so ist sie nimmer da." O Ewigkeit, wie bist du nah! O Ewigkeit, wie bist du fremd und weit uns Knechten der Vergänglichkeit. Unstet und flüchtig geht die Seele hin, kennt nicht des Weges Ziel und Sinn. Doch ist der Heimweg uns, den Fernen, nah; der Weg und Türe heißt, ist da. Er geht auf unsern Wegen ein und aus, und er bringt dich und mich nach Haus. (Oktober i938) Nun gib uns Pilgern aus der Quelle der Gottesstadt den frisdien Trank, laß über der Gemeinde helle aufgehn dein Wort zu Lob und Dank. Gib deiner Liebe Lichtgedanken mit Vollmacht uns in Herz und Mund, mach, woran Leib und Seele kranken, durch deine Wunderhand gesund. Schließ auf, Herr, über Kampf und Sorgen das Friedenstor der Ewigkeit, ln deiner Burg sind wir geborgen, zum Kampf gestählt, zum Dienst bereit. Zeig uns dein königliches Walten, bring Angst und Zweifel selbst zur Ruh. Du wirst allein ganz recht behalten. Herr, mach uns still und rede du! Nur einmal geboren heißt blind geboren und ewig verloren für Gottes Reich. Doch wiedergeboren heißt eingeboren und auserkoren für Gottes Reich. Und neugeboren heißt frei geboren, zum Erbteil erkoren in Gottes Reich. Zum Geleit 5 Der Lobsänger Qottes: Das Leben Otto Riethmüllers Heimat und Elternhaus 11 Studium in Tübingen 13 Auf schwäbischen Kanzeln 18 Der Leiter des Burckhardthauses 25 Der Jugendführer 29 Der Lobsänger Gottes 36 Homo sum ... 43 Der Vorkämpfer der Jugend 47 Auf den Spuren Jesu 53 Dem Ziele zu 57 Erkenntnisse, “Weisungen und Zeugnisse: Aus dem Sdbrifttum von Otto RielhmüUer Der literarische Nachlaß 67 Wer Ohren hat, zu hören, der höre! 70 In mir habt ihr Frieden 72 Die Geschichte ohnegleichen 75 Die köstliche Perle 76 Zum Weg der Jugend 79 Evangelische Jugendführung 80 Die Zielsätze 82 Einer ist unser Meister 83 . .. der hilft uns 84 Tägliche Bibellese, die Grundlage evang. Jugendarbeit 85 Arbeitshilfe 86 Kraft und Weg unserer Gemeinden 89 Die Welt des Gebets 93 Am Kreuz des Herrn 96 Die Entscheidung auf Leben und Tod 97 Zugvögel 98 Warten und nicht müde werden! 100 Ewigkeit — ihre Antwort an die Zeit 102 Das letzte Wächterlied 105 Abschiedswort 108 Das Kreuzheer 109 Ewig fest steht der Kirche Haus 110 Herr, mach uns frei! 112 Der Weg zum Licht 114 Sein Reich kommt 115 Das Wort geht von dem Vater aus 116 Lebendig Wasser quillet 117 Herr, wir stehen Hand in Hand 118 Dankopferlied jjg Wochenschluß 120 Das letzte Lied 122 Ernte 123 Nun gib uns Pilgern 124 Der neue Mensch 125