Der Messias im Buch der Psalmen

 

I. Einleitung in die Psalmen

Zur Stellung innerhalb des Kanons

Luk 24,44: „Das Gesetz“ (= „Thorah“, 5 Bücher Mose), „die Propheten“ (= „Nevi’im“, Jos, Ri, 1+2Sam, 1+2Kön, Jes, Jer, Hes, Hos-Mal); „die Psalmen“ (= „Ketuvim“; Ps, Spr, Hi, Hohl, Ruth, Klgl, Pred, Est, Dan, Esra, Neh, 1+2Chr)

 

Zum Namen

„Psalmen“ (> griech. „Psalmos“ = Loblied > „psallo“ = [Saiten] rupfen, [zur Laute] singen; vgl. 1Kor 14,15; Eph 5,19; Jak 5,13), als hebr. Name des Buches: „Tehillim“ = Lobpreisungen (> „hillel“ = loben; vgl. Hallelu-jah, Ps 146-150); „Psalmen“ (in den Überschriften, z.B. Ps 4): „Mizmor“ = Gesang mit instrumentaler Begleitung

 

Die Autoren

David (73+2; Ps 3; 2Sam 23,2; Apg 4,25; Heb 4,7); Salomo (1; Ps 127); Asaph (12; Ps. 73); die Söhne Korahs (10; Ps 84); Ethan (1; Ps 89); Heman (1; Ps 88); Mose (1; Ps 90)

 

Zur Struktur: die 5 Bücher

I. Ps 1-41 (vgl. 1Mos)

                Refrain: Ps 41,13

II. Ps 42-72 (vgl. 2Mos)

                Refrain: Ps 72,18-19

III. Ps 73-89 (vgl. 3Mos)

                Refrain: Ps 89,52

IV. Ps 90-106 (vgl. 4Mos)

                Refrain: Ps 106,48

V. Ps 107-150 (vgl. 5Mos)

 

Zur hebräischen Poesie im AT

Der Parallelismus

Die Grundstruktur der Poesie im AT ist der Aufbau eines Verses aus zwei parallelgestellten Verszeilen.

1. Synonymer Parallelismus

In den parallelen Verszeilen wird derselbe Gedanke mit anderen Worten ausgedrückt (z.B. Ps 19,7; 119,105).

2. Antithetischer Parallelismus

Dem in der ersten Verszeile ausgedrückten Gedanken wird in der zweiten ein Kontrast gegenübergegestellt (z.B. Spr. 28,12; Ps 119,67).

3. Synthetischer Parallelismus

Der Gedanke der ersten Verszeile wird in der zweiten ergänzt (z.B. Ps 119,9; Spr 4,18).

 

Themen

- Die Psalmen drücken auf einzigartige Weise die Gefühle und Empfindungen der Erlösten zu allen Zeiten der Heilsgeschichte aus. Gerade deshalb spricht dieses Bibelbuch die Gläubigen im allgemeinen so direkt an. Sie sprechen einem förmlich aus dem Herzen.

- Lobpreis, Bitten, Flehen, Demütigung (Bussgebete), Belehrungen, Geschichte, Prophetie

- Konflikte und Triumphe des Gläubigen

- Der „She’ar Jisra’el“ (= der Überrest Israels) in der Zeit des Antichrists, in der grossen Drangsal und im messianischen Königreich (I. Der Überrest im Land; II. Der Überrest auf der Flucht und im Exil; III. Die 12 Stämme Israels; IV. Die Nationen aus aller Welt; V. Gottes Heilswege von Anfang an bis zum messianischen Königreich)

- Der Messias (seine Leiden und seine Herrlichkeit; z.B. Ps 2; 8; 16; 22; 40; 25; 69; 72; 88; 89; 110; 118

- Historische Aspekte (vgl. z.B. Titel von Ps 3)

- Anwendung für heute (vgl. Heb 13,6-6; Röm 15,4)

 

 

 

II. Messianische Psalmen

Worterklärungen: „Messias“

- hebr. „Maschiach“ (Dan 9,25) = der Gesalbte, griech. Aussprache: „Messias“ (Joh 1,41), griech. Übersetzung: „Christos“, kann für einen gesalbten König, Priester oder Propheten verwendet werden (vgl.1Sam 16,13; 2Mos 29,7; 1Kön 19,16).

- Maschiach: Bezeichnung des von Gott verheissenen Erlösers (König, Priester und Prophet)

 

Zwei Darstellungen im AT

- herrschender Messias (z.B. Dan 7,13-14)

- leidender Messias (z.B. Jes 53)

è rabbinische Auslegungstheorie der zwei Messiasse:

- der Maschiach Ben David (= der herrschende Messias)

- der Maschiach Ben Joseph (= der leidende Messias)

è neutestamentliche Erklärung:

- ein Messias, der in zwei Phasen erscheint:

der Messias muss zuerst leiden und dann in Herrlichkeit herrschen (Luk 24,26; 1Pet 1,11; Jes 53,11-12)

 

Im Judentum messianisch gedeutete Psalmen

Psalm 2; 16; 21; 22; 40; 45; 72; 80; 89; 110; und viele andere, vgl. Alfred Edersheim: The Life and Times of Jesus, the Messiah, Grand Rapids, Michigan 1986, SS. 710ff.

 

Im NT durch Zitate ausdrücklich messianisch gedeutete Psalmen

 

Psalm 2: Der Sohn Gottes: Richter und Herrscher der Menschen

- Die Wut der Völker gegen den Messias (2,1-2; Apg 4,25-26)

- Der von Gott gezeugte Sohn Gottes (2,7 - Apg 13,33; Heb 1,5; 5,5; Mat 1,18-20; Luk 1,35; vgl. aber der ewige Sohn in: Heb 7,3)

- Das Gericht des Messias über die Völker (2,9 - Off 2,26-27; 12,5;19,15)

Bemerkungen:

- 2,2: sein Gesalbter = sein Messias/Maschiach

 

Psalm 8: Der Sohn des Menschen: erniedriegt und erhöht über alles

- Das Lob der Kinder (8, 3 - Mat 21,16)

- Die Erniedrigung und Erhöhung des Menschensohnes (8,5-7 - Heb 2,6-8; 1Kor 15,27)

Bemerkungen:

- 8,4: Mensch = „enosch“ = sterblicher, sündiger, böser Mensch (vgl. 1Mos 4,26)

- 8,4: des Menschen Sohn = „ben adam“; „adam“ = Mensch (schon vor dem Sündenfall verwendet; 1Mos 1,27)

- 8,4: Sohn des Menschen = Titel für den von einer Jungfrau geborenen Messias (vgl. Ps 144,3; Dan 7,13); Gegensatz: die Söhne der Menschen (Mark 3,28; Eph 3,4)

 

Psalm 16: Die Auferstehung des Messias

- Die Seele des Messias im Totenreich (16,10)

- keine Verwesung (16,9-10; Apg 2,25-32; 13,34-35)

Bemerkungen:

- Totenreich = hebr. „sche’ol“ (der Verlangende); griech. „hades“ (der Unsichtbare) = generell der Bereich des Todes; = a) das Grab; b) das Totenreich im Jenseits (je nach Stelle!); für Verlorene = „Ort der Qual“ (Luk 16,28), „das Gefängnis“ (1Pet 3,20); für Gläubige und für Christus = „das Paradies“ (Luk 23,43), „der dritte Himmel“ (2Kor 12,2.3), „bei Christus“ (Phil 1,23), der Ort des Tempels im Himmel (Off 6,9; 11,19)

- 16,10: „schachath“ = Grab, Grube, Verderben, Verwesung. Im Kontext hier kann es nur „Verwesung“ bedeuten. Bestätigung durch die Übersetzung in Apg 2,27

 

Psalm 22: Der gekreuzigte und auferstandene Messias

Rabbinische Auslegung: Pesiqta Rabbati, Parasha 37: „Die Erzväter ... werden ihm sagen: Ephraim, Messias, unsere Gerechtigkeit, obwohl wir deine Vorfahren sind, bist du grösser als wir, weil du die Sünde unserer Söhne getragen hast... deine Kraft war vertrocknet wie ein Scherben (vgl. Ps 22,16). All dies ist gekommen wegen der Sünde unserer Söhne...“

 

- Der Schrei seiner Gottverlassenheit (22,1a; Mat 27,45-46; Mark 15,33-34)

- Licht und Finsternis (22,2; Mat 27,45)

- Spott und Hohn (22,6-8; Mat 27,39-44)

- Kreuzigung: wie Wasser hingeschüttet, Gebeine zertrennt, Durst, Vertrocknung, Hände und Füsse durchgraben (22,14-16)

- Teilung und Verlosung der Kleider (22,18; Joh 19,23-24)

- Auferstehung (22,21; Heb 5,7)

- Lob des Auferstandenen inmitten der Gemeinde (22,22; Heb 2,12)

Bemerkungen:

22,1 ist der einzige Satz der Bibel, der in allen drei Bibelsprachen erscheint: Hebräisch (22,1: „eli, eli, lama azavthani“); Aramäisch („eli, eli, lema schabaqthani“, Mat 27,46; „elahi, elahi, lema schabaqthani“, Mark 15,34) und Griechisch („thee mou, thee mou, hinati me engkatelipes, Mat 27,45; „ho theos mou, ho theos mou, eis ti engkatelipes me“, Mark 15,34)

- 22,16: „sie haben durchgraben“, hebr. „ka’ari“ = seltene Kurzform für „ka’arim“; hohle Wortwurzel „kur“ = durchgraben (vgl. Benjamin Davidson, Analytical Hebrew and Chaldee Lexicon); vgl. LXX!

 

Psalm 31: Das letzte Wort des Erlösers am Kreuz

Psalm 31,5 è Luk 23,46; vgl. die 7 Worte des Erlösers am Kreuz in den vier Evangelien

 

Psalm 40: Das Kommen des Messias in die Welt

- Die Ankündigung des Messias im AT (40,7)

- Seine Bildung als Mensch im Mutterleib (40,6; Heb 10,5)

- Das Lebensziel des Messias: Die Erfüllung des Willens Gottes (40,8)

- Der Messias soll die Opfer des AT erfüllen durch Opfer seines Leibes (40,6-8; Heb 10,5-10)

- Der Messias identifizierte sich am Kreuz als Sündopfer mit fremder Schuld (40,12; 2Kor 5,21).

Bemerkungen:

- Heb 10,5 verdeutlicht, dass der Messias die Worte aus Ps 40,6-8 im Moment seines Kommens in die Welt gesprochen hat, d.h. im Moment seiner Geburt (vgl. Gottheit und Menschheit vereint in einer Person).

- 40,6: w. „du hast mir Ohren gegraben“; die Bildung der Gehörgänge beim Embrio gehören zu den ganz frühen vorgeburtlichen Ausgestaltungen; è die freie Übertragung in Heb 10,5 ist ein Volltreffer: „einen Leib hast du mir bereitet.“

 

Psalm 41: Verrat eines Freundes

- 41,9 erfüllt in Judas Iskarioth, anlässlich des letzten Passahs (Joh 13,18-19; vgl. Ps 55,12-14)

 

Psalm 45: Die Gottheit des herrschenden Messias

- Gott spricht den Messias als „Gott“ an (Ps 45,6-7; Hebr 1,8).

 

Psalm 68: Die Himmelfahrt des Messias und seine Gaben für das Volk Gottes

- 68,18 zitiert und erklärt in Eph 4,8

 

Psalm 69: Der als Sündopfer und Schuldopfer leidende Messias

- Der Messias ist schuldlos (69,4), dennoch trägt er Schuld (69,5). è Identifikation mit fremder Schuld am Kreuz: 2Kor 5,21; 1Pet 2, 24.

- Der Unglaube seiner Halbbrüder (69,7; Mark 3,21; Joh 7,5)

- Sein Eifer um das Haus Gottes (69,9; Mat 21,12-17; Joh 2,13-22)

- Der geschmähte Messias (69,9; Röm 15,3)

- Am Kreuz verlassen von seinen Freunden (69,20; Mat 26,56)

- Galle und Essig (69,20; Mat 27,34)

- Gottes Gericht über die Verwerfung des Messias (69,22-23; Röm 11,9-10)

- Das Gericht über Judas (69,25; Apg 1,20)

 

Psalm 102: Die ewige und unveränderliche Existenz des Messias

- Der Messias ist der Schöpfer. Er bleibt ewig, während alles andere vergeht (102,25-27; Heb 1,10-12).

- Als Mensch sollte der Messias in der Hälfte seiner Tage sterben (10,23-24; Ps 90,10: Lebenserwartung nach Mose: 70 Jahre; 70 : 2 = 35; vgl. Jer 17,11)

Bemerkungen:

- 102,27: „Du bist derselbe“ = Du bist der ewig Unveränderliche (ein Hebraismus)

 

Psalm 109: Das Apostelamt des Judas empfängt ein anderer

- 109,8 in Apg 1,20 gedeutet

Psalm 110: Der höchste Ehrenplatz des König-Priesters

- zur Rechten Gottes (110,1; Apg 2,34; Heb 1,3.13; 10)

- Der Messias ist Davids Herr (Ps 110,1; Mat 22,41-46)

- Priester nach der Ordnung Melchisedeks (110,4; Heb 5,6.10; 6,20; 7,1ff; 1Mos 14,16)

 

Psalm 118: Der verworfene Eckstein

- Der von den Bauleuten verworfene Stein ist zum Eckstein geworden (118,22; Mat 21,41; Mark 12,10; Luk 20,17; Apg 4,11; Eph 2,20; 1Pet 2,6-7)

- Hosiannah und der messianische Willkommensgruss (118,25-26; Mat 21,9.15; Mark 11,9-10; Joh 12,13; Mat 21,9; 23,39; Mark 11,9; Luk 13,35; 19,38; Joh 12,13)

Bemerkungen:

- „Bauleute“ = zur Zeit Jesu eine rabbinische Bezeichnung für Gesetzesgelehrte

- „Eckstein“ = Der erste Stein eines Bauwerks, nach dessen Kantenausrichtung alle anderen Bausteine aufgebaut werden

- 118,25: rette doch = hoschianna, griech. Aussprache: hosianna (kein „sch“ im Griech.); gib doch Wohlfahrt = hazlichanna; anna = Bitte; ganzer Vers: „anna, adonaj, hoschianna, anna, adonaj, hazlichanna!“

 

Roger Liebi, September  99