Rolf Hille

 

Theologie eines Studentenmissionars

Ein Leseanreiz zu Karl Heim

 

Wenn ein Reisesekretär theologische Bücher schreibt, dann brauchen Leser, die aus der missionarischen Studenten­arbeit kommen, kaum eine Lesehilfe. Sie verstehen schnell, worauf es dem Verfas­ser ankommt: die Gebildeten unter den Kritikern des christlichen Glaubens sol­len durch das Evangelium erreicht wer­den. Ganz anders stellt sich die Sache für die Theologen dar, die gewohnt sind, in ihrer Fachsprache und in den besonde­ren Fragestellungen ihrer Disziplin zu for­mulieren und zu argumentieren. Für sie ist und bleibt der Kollege Karl Heim ein Außenseiter, der eine Literatur ganz ei­gener Art verfaßt hat und in die eigens eingeführt werden muß. Verständlich für die Laien, befremdlich für die Fachleute, so zeigt sich die missionarische Theologie Heims.

 

Ein vergessener Autor

 

Heute besteht im Blick auf Heim und sei­ne Theologie eine andere Schwierigkeit: Sein Werk ist weithin unbekannt, obwohl es von jedem geistig aufgeschlossenen Leser verstanden werden kann. Dieser Beitrag soll deshalb dazu anreizen, sich auf die Gedankenwelt dieses vielseitigen Christen, der als Theologe dem interdis­ziplinären Gespräch verpflichtet war, einzulassen. Ist die Neugierde für Heim erst einmal geweckt, braucht man sich um das Verständnis keine Sorgen mehr zu ma­chen.

Welche Besonderheiten des Ansatzes, der Problemanalyse und der inhaltlichen Konzeption sind für die Theologie Heims charakteristisch und machen sie bis heu­te lesenswert?

 

Vom Fortschrittsglauben herausgefordert

 

Heim ist zeitlebens bestimmt durch die ideologischen Herausforderungen, de­nen er sich als Missionar unter Hoch­schülern stellen mußte. 1899 beurlaubte die Evangelische Landeskirche in Würt­temberg den Vikar Karl Heim für den Dienst als Reisesekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV). Damit stellte sie den Fünfund­zwanzigjährigen für die schwierige Auf­gabe frei, Studenten aller Fachbereiche missionarisch zu erreichen und für Chri­stus zu gewinnen.

Studentenmission war um die Jahrhun­dertwende deshalb so mühsam, weil der allgemeine Wissenschaftsglaube und der technische Fortschrittsoptimismus keine Grenzen kannten. Besonders die Natur­wissenschaftler feierten durch ihr empirisch exakt erhobenes und industriell um­setzbares Faktenwissen einen Triumph nach dem anderen. Der christliche Glau­be erschien indessen den Gebildeten und auch den Massen als hoffnungslos überholt.

 

Rückzug in die Innerlichkeit?

 

Die Theologie suchte diesem Problem in der Regel dadurch zu entgehen, daß sie es verdrängte. Weithin zog sie sich in die Innerlichkeit des religiösen Gefühls und auf Fragen nach einer vorbildlichen Mora­lität zurück. Aber mit dieser Aufteilung der Welt in eine äußere Wirklichkeit der naturwissenschaftlichen Forschung und die ganz andere des frommen Glaubens gaben sich junge Akademiker nicht zu­frieden. Dazu waren sie von den ideologi­schen Hypothesen der Erfahrungswis­senschaften, die im Glanz technischer Erfolge eine umfassende materialistische Weltanschauung propagierten, viel zu sehr fasziniert.

Wollte der Studentenmissionar Heim in seinen evangelistischen Hörsaalvorträ­gen an Technischen Hochschulen und Universitäten etwas erreichen, so blieb ihm nichts übrig, als die Theologie, die er in Tübingen gehört hatte, so umzuden­ken, daß sie von Studenten, die mit allen Wassern der Religionskritik des 19. Jahr­hunderts gewaschen waren, zumindest verstanden werden konnte. Die Ver­pflichtung, den Gebildeten ein Gebildeter zu werden, um wenigstens einige für Christus zu gewinnen, motivierte Heim zu einer missionarisch konzipierten Theologie.

 

Theologie als Basiswissenschaft

 

Von seiner Zielsetzung her konnte ihm al­so die Theologie keine Wissenschaft mehr sein, die in vorsichtiger Selbstbe­scheidung fernab der dramatischen Welt­entwicklung auf einem engumgrenzten Spezialgebiet für sich und ihre Fachge­nossen forscht. Heim war klar, daß man dem naturphilosophisch begründeten Materialismus, der mit seinem determini­stischen Vorverständnis alle Ereignisse in Natur und Geschichte zu erklären vor­gab, nur durch eine ebenso universale Gegenkonzeption von Gott, dem Men­schen und der Welt begegnen konnte.

Daß die biblische Offenbarung eine sol­che umfassende Sicht für die gesamte Wirklichkeit eröffnet, davon war Heim zu­tiefst überzeugt. Er ging von der einen und unteilbaren Wahrheit aus, die allen Einzelwissenschaften vorausliegt und sie erst begründet. Mochten die universitä­ren Fachbereiche sich auch aus pragma­tischen Gründen der Wissenschaftsorga­nisation auf Teilbereiche beschränken, Theologie galt es als Grundwissenschaft zu betreiben und im Blick auf die For­schung aller Fakultäten zu bewähren.

Deshalb versuchte Heim, in universal konzipierten Weltmodellen die Strukturen des Seins philosophisch herauszuar­beiten, um damit eine Plattform für den in­terdisziplinären Dialog zu schaffen. Die­ses Anliegen hat Heim immer wieder ge­nötigt, seine Totalschau von der Welt zu präzisieren und dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis anzupas­sen.

 

Die Weit der Dimensionen

 

Seinen letzten und ausgereiftesten Ent­wurf legt Heim in dem Buch „Glaube und Denken“ vor. Hier entwickelt er eine philosophische Ontologie der Räume, durch die nachgewiesen werden soll, daß auch der naturwissenschaftlich gebildete Mensch sowohl in seinem Weltbezug (Ich‑Es‑Verhältnis) als auch in der zwi­schenmenschlichen Beziehung (Ich‑Du­-Verhältnis) Grenzen überschreitet. Heim bezeichnet solche Grenzen als Dimen­sionen und macht deutlich, daß der Über­gang von einem Raum des Seins in einen anderen kaum im Horizont der vereinfa­chenden Ideologie eines platten, deter­ministischen Naturbilds erklärbar ist. Der Aufweis der einander übergreifenden Di­mensionen soll ‑ dies ist Heims theologi­sche Absicht ‑ dem neuzeitlichen Men­schen, der das antike, dreistöckige Welt­bild längst hinter sich gelassen hat, helfen das wahrzunehmen, was die christliche Theologie unter dem Begriff der Tran­szendenz Gottes versteht.

 

Gotteserfahrung ist denkbar

 

Heim geht es demnach in seinem Ringen um die Erkenntnis des Ganzen nicht um ein philosophisches Spiel mit naturwissenschaftlichen Modellbaukästen, son­dern um die Denkmöglichkeit Gottes an­gesichts ihrer säkularen Bestreitung. Damit ist eine weitverbreitete Klischeevor­stellung vom Werke Heims zu korrigie­ren, die davon ausgeht, daß der Tübinger Systematiker die moderne Naturwissen­schaft mit der traditionellen Schöpfungs­lehre verglichen habe. Heim führte keine apologetische Detaildiskussion um die Bestätigung biblischer Schöpfungs‑ und Wunderberichte angesichts naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Ihm ging es vielmehr darum, in einer, nach­christlichen Zivilisation und säkularen Gesellschaft, die sich an der technischen Machbarkeit aller Dinge berauscht und die Frage nach Gott nicht nur für falsch oder unsinnig, sondern für schlechthin ir­relevant beurteilt, den Horizont für die Er­fahrung der Wirklichkeit Gottes wieder aufzuschließen.

 

Intellektuelle Redlichkeit

 

Heims sechsbändiges Haupt‑ und Alters­werk „Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart“ müht sich auf der Ebene des Denkens, die Begegnung mit Gott so vorzubereiten, daß der wis­senschaftlich gebildete Zeitgenosse so­wohl den pseudoreligiösen Anspruch des nihilistischen Materialismus durch­schauen, als auch mit einem guten intel­lektuellen Gewissen die Botschaft von Christus aufnehmen kann.

Das Stichwort „intellektuelles Gewis­sen" benennt einen weiteren Grundzug in der Arbeit Karl Heims. Nichts war dem friedfertigen Schwaben mehr zuwider als intellektuelle Unredlichkeit; auch und gerade in den eigenen Reihen der christli­chen Studenten‑ und Akademikerschaft. In einem programmatischen Vortrag auf der DCSV‑Konferenz im Jahre 1905 be­tonte er, daß um der Würde und geistigen Freiheit des Menschen willen kein intel­lektueller Zweifel vertuscht und verdrängt werden dürfe. Unehrlichkeit in der Be­gründung des Glaubens ist Selbstwider­spruch. „Gott will lieber einen ehrlichen Atheismus, als daß man zu seiner Ehre lügt.“

Die erstaunliche Anziehungskraft, die Heim von seinen Anfängen als Privatdo­zent in Halle bis zu seinen großen Erfol­gen als Ordinarius in Tübingen auf Stu­denten aller Fakultäten ausübte, beruhte wesentlich auf der rückhaltlosen Offen­heit, mit der er sich auf jede In‑Frage­-Stellung des Glaubens einließ und diese von ihren eigenen Voraussetzungen her zu überwinden trachtete. Die Radikalität, mit der er sich dem Zweifel stellte, war in­des für ihn weder Selbstzweck noch Methode, sondern ein Akt intellektueller Dia­konie. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezog er aus seelsorgerlicher Liebe zu seinen Studenten so auf sich, daß er mit dem unter die Anfechtung Ge­fallenen solidarisch werden und ihm durch solide Argumentation aufhelfen wollte.

 

Impulse ‑ trotz geistigem Klimawechsel

 

Inzwischen haben sich die ideologischen Fragestellungen gegenüber dem Glau­ben erheblich verschoben. Nicht mehr die von naturwissenschaftlichen Weltbil­dern ausgelösten Theorien, sondern die möglicherweise verheerenden Wirkun­gen der technisch‑industriellen Praxis stehen heute im Vordergrund der Aus­einandersetzung. Wir sind von der dog­matischen zur primär ethischen Front­stellung übergewechselt. Da Heim sich rückhaltlos auf die Probleme seiner Zeit einließ, scheinen heute viele seiner Ant­worten entweder selbstverständlich oder aber überholt zu sein. Heims Grenzen liegen zudem darin, daß das Potential sei­ner Problemstellungen mitunter erheb­lich über die von ihm aufgewiesenen Pro­blemlösungen hinausgeht und daß ihm über dem vielfältigen interdisziplinären Dialog das Gespräch mit der Theologie und innerhalb der Theologie seiner Zeit nur schlecht gelungen ist.

Dennoch gibt die Heim‑Lektüre mannig­fache Denkanstöße in theologischer, phi­losophischer, missions‑ und religions­wissenschaftlicher Hinsicht, die es ver­dienen, weiterverfolgt zu werden. In er­ster Linie ist es aber die Art und Weise, in der er intellektuell redlich, missionarisch orientiert, seelsorgerlich motiviert, mit weitem Horizont über Gott und die Welt nachdachte, die Schule machen sollte. Wem Mission unter Schülern, Studenten und Akademikern ein Anliegen ist, wird mit Gewinn nicht nur das wissenschaftli­che Hauptwerk, sondern auch die Auf­sätze und Predigten des Tübinger Theo­logieprofessors lesen, der zeitlebens nicht mehr sein wollte als ein leiden­schaftlich denkender Studentenmissionar.

 

Dr. Rolf Hille promovierte an der Theologischen Fakultät in Mainz über Karl Heim. Er ist Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses und Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz.