Rolf Scheffbuch

 

Wenn alles bricht...!

 

11.03.2001

 

 

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; «Frevel und Gewalt!» muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: «Schrecken ist um und um!» «Verklagt ihn!» «Wir wollen ihn verklagen!» Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: «Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.» Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.

Jeremia 20, 7-11


Liebe Gemeinde!

Dass das in der Bibel steht. Einfach so! Ohne Beschönigung, ohne Erklärung. Dass da einer nicht mehr weiterleben wollte. Ja, dass er am liebsten gleich gar nicht geboren worden wäre. "Warum bin ich aus dem Mutterleib hervorgekommen!" "Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin" (Jeremia 20, 14.18)! So kam es über die Lippen eines Propheten, mit dem Gott Großes vorhatte, schon bevor er geboren worden war (Jeremia 1, 5). Jetzt aber hatte er es satt, leben zu müssen.

Ach, er wollte nicht nur "den Löffel wegwerfen". Sondern er hatte es satt, von Gott Hilfe zu erwarten, der Prophet Gottes, der Beauftragte Gottes, der uns bis heute das unüberbietbare Trostwort geschenkt hat: "Gesegnet ist der Mensch, der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt... Er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte" (Jeremia 17, 7f). Aber jetzt war dies alles dick durchgestrichen. Nein, "ich will nicht mehr an Gott denken" (20, 9).

Ist es uns eigentlich nicht peinlich, dass so etwas in der Bibel steht, dass auch bei handverlesenen Gottesleuten das Gottvertrauen wegschmelzen kann, weggeätzt werden kann? Es kann sogar sichere und fröhliche Gotteszuversicht im Nu entwurzelt werden, schlimmer als die Eichen droben auf dem Horn beim Orkan "Lothar". Nämlich wenn die Fragen der Anfechtung uns anspringen: "Lohnt sich's denn, mit Gott zu rechnen? Was ist denn bisher herausgekommen bei meinem ganzen Wirken? Mache ich denn mir selbst nur dauernd etwas vor? Was soll denn das Ganze?"

Viele werden es nicht begreifen können, dass mir das nicht peinlich ist, sondern unsagbar tröstlich. Und mit mir wird es manchen auch hier bei uns so gehen. Es ist tröstlich, dass es nicht unnatürlich sein muss, wenn mir Leib und Seele verschmachten. Es ist eminent seelsorgerlich, dass die Bibel mir in meine Verzweiflung hinein sagt: "Du, das haben auch Menschen gekannt, die Gott noch lange nicht aufgegeben hatte!"

Wir tun ja manchmal so, als ob in der Bibel stünde: "Wer auf Gott setzt, der tritt in die zuverlässigste und beste Unfallverhütungsversicherung und Unfallbeseitungs-assekuranz ein!"

Aber das wäre Lüge. Als der Apostel Paulus auf der ersten großen Missionsreise durch Kleinasien unter Mühen Gemeinden aufgebaut hatte, da hielt er zum Abschluss keinen Dankgottesdienst in Derbe, sondern er machte sich noch einmal auf die weiten Wege durch das wüstenähnliche Hochland, um den Gemeindlein einzuschärfen: "Wir müssen durch viel Trübsal ins Reich Gottes gehen!" Das war auch eine Verheißung, die eintraf - so sicher wie das Amen in der Kirche und wie das Leiden auf dem Weg des Heilandes Jesus.

"Lieber Gott, lohnt sich denn das Ganze?" Das hat einst den Jeremia umgetrieben bis an den Rand totaler Verzweiflung; das hat den Apostel Paulus umgetrieben - wir haben es in der Schriftlesung (2. Korinther 1, 8-10) gehört, wie er meinte, er müsste am Leben verzagen.

Das hat etwa den schwäbischen Pfarrer Eytel umgetrieben (ich lese gerade ein wenig in den Aufschrieben über ihn; er hat unser Württemberg geistlich, glaubensmäßig aufgemischt wie wenig andere; aber) als er in Neubulach erste Zeichen von religiösem Wachwerden dankbar registriert hatte und begierig auf ein weiteres Wachstum wartete, da musste er in sein Tagebuch schreiben: "Die Sache hat sich ziemlich verlaufen; ich kann kaum noch sechs Leute als zuverlässig zählen!"

"Lieber Gott, lohnt sich denn dann der ganze Aufwand? Wenn doch alles bricht!" Wenn bei allem gutgemeinten Einsatz uns doch alles am Schluss wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt?

"Ja, aber wer kann denn dann selig werden?", so haben einmal die Gefährten Jesu geradezu verzweifelt-fragend hinausgeschrien (Matthäus 19, 25). Wenn meine fromme Sozialisation nicht durchträgt, wenn meine Frömmigkeit unter den Zweifeln zerbricht, wenn es deutlich wird, dass all meine bisherige Zuversicht unter dem Druck verzischt, - ja wer kann denn dann selig werden, in den Himmel kommen, von Gott ewig angenommen werden? Wer?

Wissen Sie, was damals Jesus seinen verzweifelten Freunden geantwortet hat? "Ja, Menschen schaffen das nicht; aber bei Gott sind alle Dinge möglich" (Matthäus 19, 26)! Das ist dasselbe "ABER", das auch der Jeremia staunend bezeugt hat: " Aber der Herr ist bei mir als ein starker Held; darum" werde nicht ich fallen, sondern eher meine Feinde!

Dies "ABER" spielt im ganzen Wort Gottes eine zentrale Rolle: "Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen, a b e r die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.."(Jesaja 40, 30f)! "Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, a b e r meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer" (Jesaja 54, 10)! Hier jedoch, im Bekenntnis des Propheten Jeremia, strahlt eine ganz besondere Facette dieses "ABER" auf. Ich möchte es einmal so in Worte fassen: Wir dürfen an uns selbst verzweifeln!

Wir dürfen an uns selbst verzweifeln!

Jesus - und der ist ja die kompetenteste Autorität in allen Fragen und in allen Bereichen - hat diesem Bekenntnis des Jeremia eine besondere Würde gegeben. Nach der Auferstehung hat Jesus seinen Freunden die Bibel ausgelegt, gerade auch bei den Propheten, um ihnen klar zu machen: Beim verzagten Mose und bei dem um sein Leben rennenden Elia, beim am Boden zerstörten David und beim verzweifelten Jeremia war doch auch mein Schicksal vorgekerbt. Es gibt gar niemanden, der über diese Erde ging und dabei unbeirrbar eingehüllt war in eine 100 000-Volt-Wolke von Kraft. Es gehört zu dieser Welt, dass Leute mit einem Gottestouch abgestoßen werden, ausgegrenzt werden, weggedrängt werden. Merkt ihr denn nicht beim Schicksal der Propheten, dass Christus leiden "musste" (vgl. Lukas 24, 26.46)?!

Aber durch das Zerbrochenwerden hindurch schafft Gott souverän einen unüberbietbaren Neuanfang voll Gottesherrlichkeit.

Ich bin fest davon überzeugt: Als damals nach der Auferstehung Jesus seinen verzweifelten Jüngern dies entfaltete, dass er dann genau von dieser Jeremia-Erfahrung sprach. Sie ist doch wie eine Ouvertüre für die Ostererfahrung: "Man stößt mich, dass ich fallen soll; a b e r der Herr hilft mir" (Psalm 118, 13).

Wir müssen doch nicht - ja wir dürfen es nicht einmal - vertuschen, dass Jesus vor Angst bange war, dass er anfing zu zittern und zu zagen, dass seine Seele betrübt war bis an den Tod. Gott, der Erbarmer ohnegleichen, lässt Verzagte, Angefochtene, Verzweifelte erfahren: Du, ich brauche für mein Eingreifen bei dir keinen Zipfel Gottvertrauen, kein Quentchen Religiosität! Du darfst an dir selbst verzweifeln. Mich geniert das nicht! Das provoziert, das lockt mich eher zum Eingreifen!

Sören Kierkegaard, der sich den Grenzfragen des Glaubens und der menschlichen Existenz gestellt hat, sagte einmal: "Die Verzweiflung des Menschen an sich selbst ist der Ausgangspunkt, das Absolute zu finden" - also Gott zu finden. Lassen Sie mich's - bei aller Hochachtung für den großen Dänen - etwas abändern: "Die Verzweiflung an sich selbst ist für Gott das Alarmsignal, dem Hilflosen beizustehen!"

Das klingt arg akademisch-hölzern-lebensfern. Der Apostel Paulus hat es viel blutvoller formuliert, so dass wir es über die Jahrtausende hinweg auf Anhieb verstehen, was wir vorher in der Schriftlesung hörten: "Wir verzagten am Leben und hielten es bei uns selbst für beschlossen, wir müssten sterben. Das geschah aber, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzten, sondern auf den Gott, der die Toten auferweckt" (2. Korinther 1, 8f).

Wir dürfen auf Gotteswunder gespannt sein!

Wir dürfen auf Auferstehungswunder gespannt sein. Im Buch Hiob findet sich die Auskunft, dass in jedes Menschen Leben zwei- bis dreimal es geschieht, dass Gott sein Leben zurückholt von den Toten und mit dem Licht der Lebendigen erleuchtet (Hiob 33, 29f). Ich bin mir eigentlich ganz sicher, dass viele hier unter uns sind, die solche Wunder der Bewahrung Gottes erlebt haben, vielleicht sogar schon mehr als dreimal. Unerklärliche Wunder der Gottesbewahrung! Aber solch ein Wunder ist es auch, wenn Menschen - wie einst Jeremia - mitten in allergrößter Verzweiflung und lebensmüde erfahren: "Aber der Herr ist ja da!. Da bei mir, ganz nah bei mir; er ist da als Starker, der mich Schwachen umfängt!"

Ich habe in meinem Leben schon manchmal referieren dürfen über Seelsorge an Angefochtenen. Zuletzt vor ein paar Wochen in Göppingen. Ich meinte, ich hätte genug Stoff, genug Tipps, genug Vorbehalte gegen manche frisch-fromme Hoppla-Hopp-Seelsorge in meinen bisherigen Manuskripten. Aber dann ging mir bei der erneuten Beschäftigung auf: Wir alle ahnen ja nicht, wie einsam, wie verwundet, wie verschlossen für allen gutgemeinten Trost ein Angefochtener sein kann! So dass er es sich schließlich verbittet, dass Menschen nach ihm fragen, sich um ihn zu kümmern versuchen. Nein, von Menschen wollen sie keine Anteilnahme mehr, keinen Trost, keine Ermutigung!
Sollen wir's dann also bleiben lassen, uns um Angefochtene zu kümmern? Nein, aber wir sollen ihnen nahen in der großen Angst: "Lieber Gott, hilf doch bitte, dass ich dir nicht im Wege stehe!" Wir sollten hingehen mit dem Gebet: "Herr Jesus, jetzt lass doch du wahr werden, dass dein Friede mit uns gehen will, wenn wir in deinem Auftrag zu Menschen gehen! Bereite du die Situation vor, nimm alle Gesten und Worte in deine Hand und mache du etwas draus!" "Etwas"?, Was ist mit dem "etwas" gemeint? Doch einzig das, dass ein verzweifeltes Menschenkind das Wunder erlebt: "Aber Gott ist ja da!" "Aber der Herr ist bei mir als ein starker Held!" Das gibt's! "Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht!"

Amen.