11.03.2001
„HERR,
du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu
stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden
täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien;
«Frevel und Gewalt!» muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und
Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und
nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein
brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen
konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden:
«Schrecken ist um und um!» «Verklagt ihn!» «Wir wollen ihn verklagen!» Alle
meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: «Vielleicht lässt er
sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.» Aber der
HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und
nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt.
Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.“
Jeremia 20, 7-11
Liebe Gemeinde!
Dass das in der Bibel steht. Einfach so! Ohne Beschönigung, ohne Erklärung.
Dass da einer nicht mehr weiterleben wollte. Ja, dass er am liebsten gleich gar
nicht geboren worden wäre. "Warum bin ich aus dem Mutterleib
hervorgekommen!" "Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin"
(Jeremia 20, 14.18)! So kam es über die Lippen eines Propheten, mit dem Gott
Großes vorhatte, schon bevor er geboren worden war (Jeremia 1, 5). Jetzt aber
hatte er es satt, leben zu müssen.
Ach, er wollte nicht nur "den Löffel wegwerfen". Sondern er hatte es
satt, von Gott Hilfe zu erwarten, der Prophet Gottes, der Beauftragte Gottes,
der uns bis heute das unüberbietbare Trostwort geschenkt hat: "Gesegnet
ist der Mensch, der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr
ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt... Er sorgt sich nicht, wenn ein
dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte" (Jeremia 17, 7f).
Aber jetzt war dies alles dick durchgestrichen. Nein, "ich will nicht mehr
an Gott denken" (20, 9).
Ist es uns eigentlich nicht peinlich, dass so etwas in der Bibel steht, dass
auch bei handverlesenen Gottesleuten das Gottvertrauen wegschmelzen kann,
weggeätzt werden kann? Es kann sogar sichere und fröhliche Gotteszuversicht im
Nu entwurzelt werden, schlimmer als die Eichen droben auf dem Horn beim Orkan
"Lothar". Nämlich wenn die Fragen der Anfechtung uns anspringen:
"Lohnt sich's denn, mit Gott zu rechnen? Was ist denn bisher
herausgekommen bei meinem ganzen Wirken? Mache ich denn mir selbst nur dauernd
etwas vor? Was soll denn das Ganze?"
Viele werden es nicht begreifen können, dass mir das nicht peinlich ist,
sondern unsagbar tröstlich. Und mit mir wird es manchen auch hier bei uns so
gehen. Es ist tröstlich, dass es nicht unnatürlich sein muss, wenn mir Leib und
Seele verschmachten. Es ist eminent seelsorgerlich, dass die Bibel mir in meine
Verzweiflung hinein sagt: "Du, das haben auch Menschen gekannt, die Gott
noch lange nicht aufgegeben hatte!"
Wir tun ja manchmal so, als ob in der Bibel stünde: "Wer auf Gott setzt,
der tritt in die zuverlässigste und beste Unfallverhütungsversicherung und
Unfallbeseitungs-assekuranz ein!"
Aber das wäre Lüge. Als der Apostel Paulus auf der ersten großen Missionsreise
durch Kleinasien unter Mühen Gemeinden aufgebaut hatte, da hielt er zum
Abschluss keinen Dankgottesdienst in Derbe, sondern er machte sich noch einmal
auf die weiten Wege durch das wüstenähnliche Hochland, um den Gemeindlein
einzuschärfen: "Wir müssen durch viel Trübsal ins Reich Gottes
gehen!" Das war auch eine Verheißung, die eintraf - so sicher wie das Amen
in der Kirche und wie das Leiden auf dem Weg des Heilandes Jesus.
"Lieber Gott, lohnt sich denn das Ganze?" Das hat einst den Jeremia
umgetrieben bis an den Rand totaler Verzweiflung; das hat den Apostel Paulus
umgetrieben - wir haben es in der Schriftlesung (2. Korinther 1, 8-10) gehört,
wie er meinte, er müsste am Leben verzagen.
Das hat etwa den schwäbischen Pfarrer Eytel umgetrieben (ich lese gerade ein
wenig in den Aufschrieben über ihn; er hat unser Württemberg geistlich,
glaubensmäßig aufgemischt wie wenig andere; aber) als er in Neubulach erste
Zeichen von religiösem Wachwerden dankbar registriert hatte und begierig auf
ein weiteres Wachstum wartete, da musste er in sein Tagebuch schreiben:
"Die Sache hat sich ziemlich verlaufen; ich kann kaum noch sechs Leute als
zuverlässig zählen!"
"Lieber Gott, lohnt sich denn dann der ganze Aufwand? Wenn doch alles
bricht!" Wenn bei allem gutgemeinten Einsatz uns doch alles am Schluss wie
Sand zwischen den Fingern zerrinnt?
"Ja, aber wer kann denn dann selig werden?", so haben einmal die
Gefährten Jesu geradezu verzweifelt-fragend hinausgeschrien (Matthäus 19, 25).
Wenn meine fromme Sozialisation nicht durchträgt, wenn meine Frömmigkeit unter
den Zweifeln zerbricht, wenn es deutlich wird, dass all meine bisherige
Zuversicht unter dem Druck verzischt, - ja wer kann denn dann selig werden, in
den Himmel kommen, von Gott ewig angenommen werden? Wer?
Wissen Sie, was damals Jesus seinen verzweifelten Freunden geantwortet hat?
"Ja, Menschen schaffen das nicht; aber bei Gott sind alle Dinge
möglich" (Matthäus 19, 26)! Das ist dasselbe "ABER", das auch
der Jeremia staunend bezeugt hat: " Aber der Herr ist bei mir als ein
starker Held; darum" werde nicht ich fallen, sondern eher meine Feinde!
Dies "ABER" spielt im ganzen Wort Gottes eine zentrale Rolle:
"Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen, a b e r
die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.."(Jesaja 40, 30f)! "Es
sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, a b e r meine Gnade soll nicht
von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der
Herr, dein Erbarmer" (Jesaja 54, 10)! Hier jedoch, im Bekenntnis des
Propheten Jeremia, strahlt eine ganz besondere Facette dieses "ABER"
auf. Ich möchte es einmal so in Worte fassen: Wir dürfen an uns selbst verzweifeln!
Wir dürfen an uns selbst verzweifeln!
Jesus - und der ist ja die kompetenteste Autorität in allen Fragen und in allen
Bereichen - hat diesem Bekenntnis des Jeremia eine besondere Würde gegeben.
Nach der Auferstehung hat Jesus seinen Freunden die Bibel ausgelegt, gerade
auch bei den Propheten, um ihnen klar zu machen: Beim verzagten Mose und bei
dem um sein Leben rennenden Elia, beim am Boden zerstörten David und beim
verzweifelten Jeremia war doch auch mein Schicksal vorgekerbt. Es gibt gar
niemanden, der über diese Erde ging und dabei unbeirrbar eingehüllt war in eine
100 000-Volt-Wolke von Kraft. Es gehört zu dieser Welt, dass Leute mit einem
Gottestouch abgestoßen werden, ausgegrenzt werden, weggedrängt werden. Merkt
ihr denn nicht beim Schicksal der Propheten, dass Christus leiden
"musste" (vgl. Lukas 24, 26.46)?!
Aber durch das Zerbrochenwerden hindurch schafft Gott souverän einen
unüberbietbaren Neuanfang voll Gottesherrlichkeit.
Ich bin fest davon überzeugt: Als damals nach der Auferstehung Jesus seinen
verzweifelten Jüngern dies entfaltete, dass er dann genau von dieser
Jeremia-Erfahrung sprach. Sie ist doch wie eine Ouvertüre für die
Ostererfahrung: "Man stößt mich, dass ich fallen soll; a b e r der Herr
hilft mir" (Psalm 118, 13).
Wir müssen doch nicht - ja wir dürfen es nicht einmal - vertuschen, dass Jesus
vor Angst bange war, dass er anfing zu zittern und zu zagen, dass seine Seele
betrübt war bis an den Tod. Gott, der Erbarmer ohnegleichen, lässt Verzagte,
Angefochtene, Verzweifelte erfahren: Du, ich brauche für mein Eingreifen bei
dir keinen Zipfel Gottvertrauen, kein Quentchen Religiosität! Du darfst an dir
selbst verzweifeln. Mich geniert das nicht! Das provoziert, das lockt mich eher
zum Eingreifen!
Sören Kierkegaard, der sich den Grenzfragen des Glaubens und der menschlichen
Existenz gestellt hat, sagte einmal: "Die Verzweiflung des Menschen an
sich selbst ist der Ausgangspunkt, das Absolute zu finden" - also Gott zu
finden. Lassen Sie mich's - bei aller Hochachtung für den großen Dänen - etwas
abändern: "Die Verzweiflung an sich selbst ist für Gott das Alarmsignal,
dem Hilflosen beizustehen!"
Das klingt arg akademisch-hölzern-lebensfern. Der Apostel Paulus hat es viel
blutvoller formuliert, so dass wir es über die Jahrtausende hinweg auf Anhieb
verstehen, was wir vorher in der Schriftlesung hörten: "Wir verzagten am
Leben und hielten es bei uns selbst für beschlossen, wir müssten sterben. Das
geschah aber, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzten, sondern
auf den Gott, der die Toten auferweckt" (2. Korinther 1, 8f).
Wir dürfen auf Gotteswunder gespannt sein!
Wir dürfen auf Auferstehungswunder gespannt sein. Im Buch Hiob findet sich die
Auskunft, dass in jedes Menschen Leben zwei- bis dreimal es geschieht, dass
Gott sein Leben zurückholt von den Toten und mit dem Licht der Lebendigen
erleuchtet (Hiob 33, 29f). Ich bin mir eigentlich ganz sicher, dass viele hier
unter uns sind, die solche Wunder der Bewahrung Gottes erlebt haben, vielleicht
sogar schon mehr als dreimal. Unerklärliche Wunder der Gottesbewahrung! Aber
solch ein Wunder ist es auch, wenn Menschen - wie einst Jeremia - mitten in
allergrößter Verzweiflung und lebensmüde erfahren: "Aber der Herr ist ja
da!. Da bei mir, ganz nah bei mir; er ist da als Starker, der mich Schwachen
umfängt!"
Ich habe in meinem Leben schon manchmal referieren dürfen über Seelsorge an
Angefochtenen. Zuletzt vor ein paar Wochen in Göppingen. Ich meinte, ich hätte
genug Stoff, genug Tipps, genug Vorbehalte gegen manche frisch-fromme Hoppla-Hopp-Seelsorge
in meinen bisherigen Manuskripten. Aber dann ging mir bei der erneuten
Beschäftigung auf: Wir alle ahnen ja nicht, wie einsam, wie verwundet, wie
verschlossen für allen gutgemeinten Trost ein Angefochtener sein kann! So dass
er es sich schließlich verbittet, dass Menschen nach ihm fragen, sich um ihn zu
kümmern versuchen. Nein, von Menschen wollen sie keine Anteilnahme mehr, keinen
Trost, keine Ermutigung!
Sollen wir's dann also bleiben lassen, uns um Angefochtene zu kümmern? Nein,
aber wir sollen ihnen nahen in der großen Angst: "Lieber Gott, hilf doch
bitte, dass ich dir nicht im Wege stehe!" Wir sollten hingehen mit dem
Gebet: "Herr Jesus, jetzt lass doch du wahr werden, dass dein Friede mit
uns gehen will, wenn wir in deinem Auftrag zu Menschen gehen! Bereite du die
Situation vor, nimm alle Gesten und Worte in deine Hand und mache du etwas
draus!" "Etwas"?, Was ist mit dem "etwas" gemeint?
Doch einzig das, dass ein verzweifeltes Menschenkind das Wunder erlebt: "Aber
Gott ist ja da!" "Aber der Herr ist bei mir als ein starker
Held!" Das gibt's! "Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht!"
Amen.