Rolf Scheffbuch, Schorndorf

5. Juni 1980

24. Ludwig-Hofacker-Konferenz

Wir werden die Herrlichkeit Gottes sehen

 

Zu Johann Christoph Blumhardt kam einmal aus der Residenzstadt Stuttgart eine junge Dame. Sie fragte den Gottesmann: „Herr Pfarrer Blumhardt, ist es eigentlich eine Sünde, dass ich so schön bin?“ Blumhardt sagte darauf ganz lieb: „Nein, Kindlein, a Sünd' isch's net, aber a Täuschung.“

Solche Seelsorger sollten auch wir haben. Wenn wir uns in die Stimmung hineinwiegen, wir seien doch ganz rechte Christen, an denen Gott manche Freude haben kann, dann sollten Schwestern und Brüder da sein, die uns liebevoll zurecht bringen: „Du, mit dem, dass Gott an dir Freude haben könnte, ist es nicht weit her.“ – Die eigentliche Spannung eines Christenlebens besteht darin: Wir hoffen, wo nichts zu hoffen ist. Wir sind der kommenden Herrlichkeit bei Gott gewiss, obwohl wir noch mitten in den Armseligkeiten stecken.

Einer der geistlichen Väter des Remstales lag vor Wochen auf der Intensivstation des Krankenhauses, von einem Unfall schwer gezeichnet. Eine einschneidende Operation lag vor ihm. Es war sein Wunsch gewesen, dass wir miteinander das Abendmahl feiern. Das wurde zu einem jener Momente, da wir's mitten in Not greifbar spüren: „In dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesus Christ!“ Beim Abschied hatte ich mit Tränen zu kämpfen. Aber da sagte der Schwerversehrte: „Noch zwei Sachen muss ich sagen, Bruder Scheffbuch: Einmal, in der Heiligung habe ich's nicht weit gebracht. Ich habe mich immer gewundert, wie manche von uns Pietisten viel von der Heiligung zu sagen wissen. Aber ich habe, je älter ich geworden bin, desto mehr Versagen an mir erkannt, – Und das andere: Wenn ich von der Operation nicht mehr aufwache, dann nehmen Sie als Text für meine Beerdigung: ,Habe ich dir nicht gesagt: wenn du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen!'“

Noch einmal: Das ist die eigentliche Spannung eines Christenlebens: Wir hoffen, wo nichts zu hoffen ist, Wenn wir auch immer neues Versagen erkennen, gehen wir doch zuversichtlich der Herrlichkeit Gottes entgegen! Diese Spannung soll unser Christenleben knackig und munter erhalten. An uns ist bis heute nichts Besonderes. Wir sind ganz durchschnittliche Leute. Wir sind nicht besonders geistreich. Wir sind keine Könner. Wir sind nicht erhaben über Krankheit schon ein bisschen Zahnweh kann uns fast um den Verstand bringen. Wir sind nicht unempfindlich gegen Kritik. Wir sind nicht gelassen bei Sticheleien. Wir sind nicht überlegen über Kränkungen. Wir sind keine Engel. Wir sind ganz normale Leute. Aber wir haben Erwartungen für die Zukunft, die sind überdurchschnittlich, kühn, unvergleichlich großartig, majestätisch, souverän, strahlend, einmalig: „Wir werden die Herrlichkeit Gottes sehen!“

Vor exakt dreihundert Jahren (am 31.5.1680) starb in jungen Jahren Joachim Neander. Von Spener beeinflusst hat er im Rheinland die erste „Stunde“ eingerichtet. Ihm verdanken wir die Choräle „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ und „Sieh, hier bin ich, Ehrenkönig“. Als gerade Dreißigjähriger erlag er der Pest. Mitten in den Anfechtungen seines Leidens sagte er: „Lieber will ich mich zu Tode hoffen, als durch Unglauben zugrunde gehen!“ Das ist ein „Wollen“! Ich wünschte, wir nähmen vom heutigen Tag auch solch ein „Wollen“ mit. Dazu möchte ich zwei Vorschläge machen in Anlehnung an das gute Wort unseres Herrn, das er uns durch den Apostel Paulus gegeben hat:

 

1. Wir wollen unserer Armseligkeit nicht zu viel Ehre antun!

 

Von Abraham, dem greisen Beduinenscheich erzählt uns der Apostel Paulus im Römerbrief. Wir sehen den Abraham direkt vor uns: Vom Alter gebeugt, mit welker Haut, das Gesicht gegerbt von Sonnenglut und Wüstenstürmen, ein dürrer Alters-Arm stützt sich auf den Stab, der ihm Halt gibt. Ein erstorbener Leib, aus dem das Feuer der Leidenschaft und die Kraft des Mannes gewichen ist. Das Auge des Abraham schweift hinüber zum Zelt. Da ist Sara. Einst war sie wie eine Gazelle. Die Männer Ägyptens konnten einst die Augen nicht von ihr lassen. Aber nun ist sie eine Greisin. Gewelkt. Nach menschlichem Ermessen hat die alte Frau die letzte Lebensstation erreicht. Da geht dem Abraham durch den Kopf: „Eigentlich bin ich ja ein Träumer! Wir beide sollen noch einen Sohn bekommen?! Ich soll noch ein ,Vater vieler Völker' werden?! Sara soll noch ein eigenes Kind gebären, herzen und aufziehen?!“ Der Blick des Abraham fällt auf seine gichtigen Hände. Am Schatten, den seine eigene Gestalt wirft, sieht er's, wie weit vorn übergebeugt er daherkommt. Das alles schreit ihm entgegen: „Nichts ist es mit deiner Hoffnung!“ Da – wie in einem Krampf – schließt Abraham die Augen. Aber es ist kein Krampf. Es ist heilige Entschlossenheit, „Ich verbiete es mir, länger als unbedingt nötig meinen eigenen erstorbenen Leib anzusehen! Ich verbiete es mir, meine liebe alte Lebensgefährtin anzusehen!“ „Er war nicht schwach im Glauben; er sah nicht an seinen eigenen Leib, welcher schon erstorben war, weil er fast hundertjährig war. Er sah auch nicht an den erstorbenen Leib der Sara. Er zweifelte nicht durch Unglauben an der Verheißung Gottes. Sondern er ward stark im Glauben und gab Gott die Ehre. Er wusste aufs Allergewisseste: Was Gott verheißt, das kann er auch tun. … Er hat geglaubt dem Gott, der die Toten lebendig macht und der dem ruft, was nicht ist, dass es sei.“

Daran erinnert uns Paulus. Und dazu sagt er: „ Was da geschrieben ist, das ist im Blick auf uns geschrieben!“

Wir sind es, die uns an Abraham ein Beispiel nehmen sollten. Wir dürfen unserer Armseligkeit nicht soviel Ehre antun, dass sie schließlich die Hoffnung unseres Glaubens lähmt. Sicher: Unnüchtern sollen wir nicht werden; wir brauchen nicht zu vergessen, dass wir Stümper sind, wenn Menschen an uns nach Herrlichkeit Gottes suchen. Aber man kann auch den Blick so auf die Armseligkeit fixieren, dass man's schließlich gar nicht mehr fertig bringt, das Haupt zu erheben – der kommenden Erlösung entgegen! Darum sollen wir von Abraham lernen: Unsere Unvollkommenheit hat kein Recht dazu, uns die großen Verheißungen Gottes in Frage zu stellen. Wenn die Armseligkeit uns lähmen will in unserer Zuversicht, dann werden wir in Zukunft bewusst unsere Augen zumachen, dann werden wir bewusst die Unvollkommenheit übersehen, dann werden wir uns bewusst vorhalten: Gott hat uns berufen Zu seiner ewigen Herrlichkeit! Gott kann aus Nichts Großartiges schaffen! Gott macht Totes lebendig! Er bildet Vollkommenes aus dem Tohuwabohu! Was Gott verspricht, das kann er auch tun! Was Gott zusagt, das hält er gewiss!

In den letzten Jahrzehnten haben wir Christen ja geradezu einen Kult entwickelt, unsere Pannen wie ein großes Götzenbild vor uns her zu tragen und damit auf die Straßen unserer Welt zu gehen: „Die Kirche ist nichts! Die Mission war nichts! Die Gottesdienste helfen nichts! Der Religionsunterricht bringt nichts! Die Bibel ist unverständlich! Auch die „Stunden“ sind nicht mehr das, was sie einst waren! Wir Christen haben versagt in der Politik, dem Arbeiter gegenüber, dem Studierten gegenüber!“ – Wir haben gemeint, das würde Fernstehende überzeugen, wenn wir so ehrlich von unseren Schwachstellen sprechen. Aber ich weiß nicht von einem einzigen Menschen, den das zu Christus gebracht hat. Dagegen weiß ich von erschreckend Vielen, die dieses Klagelied mutlos und müde gemacht hat. Dass mit uns nicht viel los ist, das haben die anderen doch schon lange gesehen. Zu Recht! Aber das ist doch nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir Armen einen Gott haben, der die Toten lebendig macht.

Lasst uns doch hoffen! Lasst uns hoffen und warten auf eine Erweckung in unserem Land. Ich rechne damit, dass unser Gott noch einmal solches Leben geben kann, dass wir in unseren Kirchen wieder Emporen einbauen müssen, um für alle Platz zu schaffen. Ich bin gespannt darauf, mitzuerleben, wie Gott unsere Stunden und Kreise wieder zu rechten, vitalen Gemeinschaften von Jung und Alt, von Männern und Frauen macht. Ich freue mich auf die Zeit, wo Kollegen wieder bewundernd und eigentlich neiderfüllt auf die Christen neben ihnen schauen, weil sie merken: Die haben einen Trost und eine Zuversicht, die auch ich brauche! Auf dies alles warten wir gespannt. Nicht, weil wir tüchtige Kerle wären. Sondern weil wir einen Gott haben, der Tote lebendig macht. Unser Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Was Gott will, das kann er auch tun! Er hat verheißen: „Ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre“ (Jesaja 44, 3); „ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apostelgeschichte 1, 8). Was Gott verheißt, das kann er auch tun! Wir wollen nicht schwach werden im Unglauben. Unsere Armseligkeit ist nicht die letzte Wahrheit. Unsere missionarischen Fehlschläge sind nicht die letzte Wahrheit. Unsere Ängstlichkeit ist nicht die letzte Wahrheit. Wahrheit ist: Was Gott verheißt, das tut er auch. Gott macht Totes lebendig!

Darauf warten wir auch: Wir werden daheim sein beim Herrn! Jesus wird einmal zu uns sagen: „Komm her, du Gesegneter des Herrn! Ererbe das Reich, das dir bereitet ist!“ Wir fiebern dem Tag entgegen, dass wir einmal vor dem Thron Gottes sein werden, um ihm als seine Mägde und Knechte zu dienen. Darauf gehen wir Zu! Nicht weil wir schon jetzt so brave Leutchen wären. Nein, wir gehen darauf zu, weil Gott uns dazu berufen hat, uns schwache, unvollkommene, haltlose Christenleute. Was Gott verheißen hat, das tut er auch. Er macht Tote lebendig. Er lässt uns hoffen, wo eigentlich nichts zu hoffen wäre. Gott hat zu mir gesagt: „Du bist mein!“ Das wird er einmal bis tief hinein in die letzte Faser meiner Körperlichkeit wahr machen – dass ich mit meinem Denken und Handeln ihm ganz, ganz gehöre. Was Gott verheißt, das tut er auch!

 

2. Wir wollen dem trauen, was bei Gott gilt!

 

Wenn ein Vermächtnis, ein Testament, notariell eröffnet ist – und wenn ich dabei zum Erben eingesetzt wurde, dann gilt das. Es gilt, auch wenn ich die Erbschaft noch nicht in die Hand hinein ausbezahlt bekommen habe. Mir gehört das, was in dem Erbe auf meinen Namen verfügt ist. Mir gehört es, auch wenn es noch auf der Bank liegt und erst noch ausbezahlt werden muss.

In ähnlicher Weise, bloß noch viel ernsthafter, verlässlicher und wertvoller ist das, was Jesus für uns festgelegt hat: „Es ist alles recht mit dir, es ist alles gut mit dir!“

Der Apostel Paulus hat es im vierten Kapitel im Römerbrief in den Satz zusammengedrängt: „Jesus ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt.“

Ich muss bekennen, dass ich lange Jahre meines Lebens – ob im Unverstand oder im Kleinglauben, weiß ich nicht – über die eigentliche packende Feststellung weggelesen habe. Da hat mir schließlich der verehrte, aus dem Baltenland stammende Pfarrer Otto Etzold geholfen. Mit Augen, aus denen die Begeisterung der Glaubensfreude sprühte, sagte dieser Gottesmann, der sein Leben lang auf den Römerbrief gelauscht hat wie wenige andere: „Da lesen die Christen dies ,er ist um unserer Rechtfertigung auferweckt' immer so, als ob da stehen würde: ,Jesus ist auferweckt, damit wir langsam, Stückchen um Stückchen zurechtkommen, richtiger werden'. Aber Paulus hat etwas ganz Großartiges gemeint. Nämlich: Weil wir Sünder sind, ist Jesus gestorben für uns. Und weil sein Tod alles zurecht gebracht hat – fast jubilierend sagte Otto Etzold:

„… hat!“ –, ist Jesus wieder aus dem Tod befreit worden!“

Seitdem lese ich diesen Satz anders. Diesen großartigen Satz: Weil Jesu Tod alles zurecht gebracht hat, ist Jesus aus dem Grab erweckt worden. Weil es nichts mehr zu büßen gibt, auch keinen klitzekleinen Rest mehr, darum ist Jesus aus dem Tod in das Leben geholt worden.

Der göttliche Rechtsakt des stellvertretenden Leidens Jesu ist abgeschlossen. Jesus hat für uns gebüßt. Die Strafe ist auf ihm gelegen. Er ist um unserer Sünden willen dahingegeben! Diese heilige Sache ist zu ihrem Ende gekommen. Der Fall ist geklärt. Darum ist Jesus auferweckt – weil alles zurecht gebracht ist. Seit Jesu Auferstehung steht in unseren Akten, die vor Gott geführt werden, der Vermerk: „Kann, wenn er will, begnadigt werden.“

Ach ja, lieber Herr Jesus, wir wollen deine Gnade haben! Wir wollen begnadigt sein! So sollten wir immer wieder in unseren Gebeten sagen. „Die begnadigte Gemeinde sagt zu Christi Wegen 'JA'! Ja, wir danken deinen Schmerzen; ja, wir preisen deine Treu!“ Wir wollen Leute sein, die dem trauen, was bei Gott gilt. Wir wollen Leute sein, die sagen können: „ Wir sind gerecht geworden durch den Glauben“ (Römer 5, 1). Wir wollen Leute sein, die wissen: Wenn Gott gerecht gemacht hat, dann macht er auch herrlich (vgl. Römer 8, 30).

„Begnadigung kann ausgesprochen werden.“ Das hat Gott festgelegt. Damit zugleich aber hat er auch eine überaus wichtige letzte Zuteilung für uns bereit. Als der verlorene Sohn heimkam und vom Vater in die Arme geschlossen war, als ihm alles verziehen war, da bekam er das beste Kleid, da bekam er einen wertvollen Ring an seine Hand, da wurde aufgetischt zum Fest und aufgespielt zum Freudenkonzert. Gott macht herrlich. Gott macht zerlumpte, abgerissene, verlorene Leute herrlich: Das steht bei uns noch aus. Aber wir können fest damit rechnen: Es kommt! Wir werden die Herrlichkeit Jesu sehen. „Wir werden IHN sehen, wie er ist!“ Und wir werden „IHM gleich sein“ (1. Johannes 3, 2). So reich sind wir!