Sie hatte einen starken Gott
Walter Schäble
Inhalt
Elternhaus und Jugenderlebnisse
Eine Handlangerin des Heilands
Einige Aussprüche von Tante Hanna
Die Menschen, die Gott gebraucht, wachsen allermeist auf ganz natürliche Art und Lebensweise heran — und sind doch immer wie Fruchtbäume gepflanzt an den Wasserbächen der Ewigkeit:
„Die durch das Jammertal gehen und daselbst Brunnen machen."
„Tante Hanna" hat solche Brunnen gegraben. Daraus sind stille-starke Quellströme geflossen. Wenn das Segensgedächtnis der längst heimgegangenen Magd des HErrn sowohl in Wuppertal als auch weit darüber hinaus erstaunlich lebendig geblieben ist, so muß uns doch dieses Frauenleben immer noch viel zu sagen haben.
Es war ein originalgeprägtes Leben, das man nicht nachahmen kann. Man kann aber dessen Ursprung, Wachstum und Reife im Glauben anschauen, um sich selber dem göttlichen Zustrom, der solche Persönlichkeiten schafft, neu zu öffnen. Wer Gottes Reichtum in sich trägt, kann allen Menschen dienen.
Ihr Elternhaus stand am Arrenberg, einem damals noch dorfähnlichen Stadtteil Elberfelds zwischen dem Kiesberg und Wupper-Fluß. Dort wurde sie am 28. September 1825 geboren. Johannes Kessler und Gertrud, geb. Fischbach, waren ihre Eltern. Das Kind erhielt den Namen Johanne Wilhelmine. Es wurde Hanna gerufen. Der Vater war ein einfacher Arbeiter. Es fiel ihm schwer, die auf sechs Köpfe angewachsene Familie zu unterhalten. Trotzdem wurde noch ein bestimmter Teil des kärglichen Einkommens „für die Mission" zurückgelegt. Gottesfurcht und strenge Wahrhaftigkeit bestimmten den Geist des Hauses. Das Erbe, das unsere Hanna da mitbekam, war gut.
Sie stand im 10. Lebensjahr, als ihr Vater starb. Nun galt es erst recht, sich mit Wenigem zu begnügen lernen und der Mutter beizustehen, auf deren Schultern jetzt die ganze Last des Durchkommens lag.
Hanna war gern in die Schule gegangen. Sie hatte sich einen reichen Schatz von biblischen Geschichten, Sprüchen und Liedern angeeignet. Aber nun wollte sie Geld verdienen. Das blasse Mädchen war kaum 12 Jahre alt, als es vor den Lehrer hintrat, um ihn um seine Schulentlassung zu bitten.
Der Lehrer schüttelte den Kopf:
„Ja, was willst du denn anfangen; du kannst ja gar nichts."
Hanna war nicht dumm, jedoch von der Schul- und Weltweisheit hatte sie gerade keine allzu hohe Meinung gehabt:
„O, Herr Lehrer, ich kann meinen Namen schreiben, und damit komme ich schon durch die Welt!"
Sie kam aus der Schule frei und ging auf Stellungssuche. In einer Seidenfabrik fand sie Arbeit. Dort schaffte sie nun mit ihren flinken Händen wie ein Alter. Die Gefahren und Versuchungen für ein Fabrikmädchen waren auch in jenen Tagen schon groß. Aber Hanna blieb nach Leib und Seele bewahrt.
Im Unterricht bei dem gesegneten Pastor und Erweckungsprediger Sander hatte sie unvergeßliche Stunden erlebt. Doch erst in ihrem 18. Lebensjahre wurde sie gründlich erweckt und bekehrt. Bis dahin nahm sie an jedem Vergnügen teil. Sie war wegen ihrer Fröhlichkeit überall gerne gesehen. Daß sie sich dabei von groben Sünden fernhielt, war eine Frucht der Gottesfurcht und Elternzucht im Zeichen vorauslaufender Gnade.
Nach ihrer großen Umwandlung hatte Hanna Kessler nur noch eine Passion: ihren Jesus! An ihm hing sie mit inniger, bräutlicher Liebe. Ihre Weltfröhlichkeit vertauschte sie mit einer noch größeren Freude am HErrn, die allezeit ihre Stärke war. Sie machte keinen Hehl aus dem, was Gott an ihrem Herzen getan hatte. Die Leute mochten sie eine „Fie-ne“ (Fromme) nennen und sie um ihrer „Muckerei” schelten — sie konnte nicht anders; sie mußte von Jesus singen und sagen.
Der lieben Mutter wollte es einmal zu viel werden mit dem Singen ihrer Hanna:
„Hör doch endlich einmal auf mit deinem Gesang!"
„Ja, aber warum denn, Mutter?"
„Ach, die Leute auf der Straße hören deine Lieder, und du wirst sehen, du machst dir und mir noch Feinde mit deinem frommen Gesang."
Ganz erstaunt meinte unsere Hanna:
„Ist das denn nicht gut, wenn die Leute die schönen Jesuslieder hören?!"
Darauf wußte die liebe Mutter nichts Rechtes zu antworten — und Hanna sang weiter.
Sie wußte sich vom HErrn gerufen und begnadigt; das machte hinfort ihr ganzes Leben zielbewußt, entschieden und gottgeweiht. Einen scharfen Kampf sagte sie der Lüge an. Auch jede Eitelkeit und Selbstüberhebung war ihr zuwider. Im Gebetsumgang mit dem Heiland übte sie sich, auf die Winke des Meisters zu achten und den Geist der Gnade, mit dem sie zum ewigen Leben versiegelt war, nicht zu betrüben. Ihre Übergabe an den HErrn war eine bedingungslose; darum konnte sie in ihrem Leben einen Sieg nach dem anderen erfahren.
Ihre alten Weltfreunde hatten natürlich für die Hanna jetzt kein Verständnis mehr. Besonders auf der Fabrik gab’s manchen Spott und manche Stichelei einzustecken. Aber unsere Hanna ließ sich nicht einschüchtern. Es dauerte auch nicht lange, daß sie bei Vorgesetzten und Mitarbeitern mehr denn je geachtet war. Ihre Fröhlichkeit, Demut und Liebe überwand schließlich alle Widerstände.
An einem Abend geht sie ahnungslos über die Straße. Da begegnen ihr drei ihrer alten Gefährten, die furchtbar erbost sind, daß die früher so lustige Hanna jetzt nicht mehr mit ihnen mitmacht. Sie bemerkt, daß sie Stöcke bei sich haben und gegen sie etwas im Schilde führen. Was nun tun? Sie hat in ihrem jungen Gnadenstande die Waffe des Gebets schon oft erprobt — und so schreit sie nun innerlich:
„HErr, laß doch die Jungens merken, wie gut ich’s bei Dir habe!“ Dann geht sie zum Angriff über: „Guten Abend, Jonges!” „Guten Abend, Hanna!“ Sie reicht jedem wie harmlos die rechte Hand. Da müssen sie wohl oder übel ihre Stöcke, die sie hinter ihrem Rücken zu verbergen suchen, von der rechten in die linke Hand wechseln lassen. Und nun sagt Hanna strahlendes Angesichtes von ihrem treuen Heiland, bei dem sie es so herrlich gut habe. Sie möchten doch auch Ihm ihr Leben übergeben und so fort. Unterdessen sind sie an ihrem Hause angekommen. Wieder reicht sie allen treuherzig die Hand: „Gute Nacht!”
„Gute Nacht!"
Und wieder muß der Stock auf dem Rücken von der rechten in die linke Hand wandern.
Doch die Geschichte fängt nun erst recht an:
Kaum ist Hanna in ihrem Zimmer, da fliegt ein Stein durch’s Fenster und noch einer und wieder einer. Die Burschen draußen, die sich überrumpelt fühlen, wollen es nun nachträglich der „Betschwester" heimzahlen:
„Hanna sall erut (heraus) kommen! — De Hanna sall erut kommen!" So brüllen sie unten. Hannas Mutter ist in tödlicher Angst; Hanna selber betet und singt. Sie betet, daß der HErr doch diese Jungens noch herumholen möge.
Endlich wird’s draußen still. Die Frauen legen sich zum Schlaf nieder. Es mochte aber kaum eine Stunde vergangen sein, als heftig an der Türe geklopft wird:
„Hanna, Hanna, komm schnell, ganz schnell; der Karl wird gleich sterben, und der verlangt so nach dir!"
Karl ist einer von den Dreien. Eiligst kleidet sich die Hanna an und geht mit ins nächste Wirtshaus. Dort liegt der arme Karl, furchtbar zugerichtet, durch Messerstiche schwer verletzt. Mit schwacher Stimme bittet er die Herbeigeeilte, ihm doch zu vergeben. Sein Gewissen ist erwacht, und nun muß er sterben.
Hanna sagt ihm von der Wahrheit und Gnade in Jesu, kniet an seinem Lager nieder und ringt um die Seele des jungen Schächers, bis dieser nach schwerem Kampf noch die durchgrabene Heilandshand ergriffen hat — und stirbt! Die beiden andern Freunde, die später auch den HErrn suchten, erzählen, wie nach dem Weggang von Hanna einer dem andern Feigheit und dergleichen vorgeworfen habe. Nachdem man seinem Ärger über die verpaßte Gelegenheit durch die Steinwürfe Luft gemacht, sei man ins Wirtshaus gegangen. Dort tat der Alkohol das seinige, die Köpfe und die Worte wurden immer hitziger — und schließlich griff man zum Messer. Der Teufel hätte dieses böse Spiel gewonnen — wenn nicht hier bei allem Unglück noch die Übermacht der Gnade so wunderbar offenbar geworden wäre.
Solche und andere Erfahrungen stärkten unsere Hanna immer mehr in dem völligen Vertrauen zu dem, Dessen Eigentum sie war und ewig sein wollte.
„O glücklich lebt, wer Frieden hat gefunden
dort unterm Kreuz, wo Jesus starb;
und wer hienieden sich mit Ihm verbunden,
der wandelt auf dem sich’ren Pfad;
Glaub’s, es ist herrlich mit Jesus zu geh’n;
ja, auf dem Wege des Lebens ist’s schön!"
Hanna war noch jung im Glauben, als sie eines Tages schwer krank wurde. Sie selber rechnete mit ihrem Sterben und wollte auch gerne „heimgehen". Sie wartete auf ihres Leibes Erlösung mit täglich wachsender Sehnsucht, sagt sie von jener Zeit großer Schwachheit und Leibesnot. Da trat ihr geistlicher Vater, Pastor Sander, ins Zimmer:
„Hanna, du hast noch einen langen Weg vor dir; der HErr will dich noch brauchen!"
Sie wußte, daß er recht hatte. Denn in der vergangenen Nacht war ihr ein merkwürdiges Erlebnis zuteil geworden. Sie hatte eine göttliche Stimme gehört:
„Ich will dich noch auf Erden brauchen!"
Es kostete einen heißen Seelenkampf, bis sie sich in diesen Ratschluß Gottes gefunden hatte. Doch dann willigte sie ein: „HErr, wenn Du mich noch brauchen willst, so laß mich Dir dienen an den gebundenen Seelen, an den Verkommenen!"
Die Kranke genas. Nun ging’s darum, wie die neu ins Leben getretene, erfüllt mit einem heiligen Ruf, am besten an die Herzen der Leute herankommen könne. Da war’s ihr klar: Sie wollte eine Sonntagsschule für die Kinder beginnen!
„Kannst du nicht die Sünder rühren, daß sie dem Gericht entfliehn, kleine Kinder kannst du führen zu dem Sünderheiland hin!" Sie war noch keine 20 Jahre alt, als sie in einem Zimmer auf dem Arrenberg mit jungfräulicher Begeisterung ihren kleinen Zuhörern von Jesus erzählte.
Tante Hanna und die Kinder gehörten bald zusammen. Und sie blieben zusammen, solange sie lebte. Bei den Kindern hat sie ihre Arbeit angefangen, um durch sie die Alten zu gewinnen — und der Arbeit an den Kindern hat sie bis an ihr Ende ihre beste Liebe bewahrt.
Eines Tages machte sie einen Spaziergang nach Kohlfurterbrücke, einem kleinen Ort an der Wupper, unterhalb Elberfeld. Auf dem Heimweg sammelte sie allerlei Kinder um sich, denen sie vom Heiland sagte. Eine Geschichte nach der anderen erzählte das „Fräulein aus der Stadt", und die Kinder wollten noch immer mehr hören. Beim Abschied fragte sie die Kinder, ob sie nicht jeden Sonntag vom Heiland hören möchten. Natürlich möchten die Kleinen. Zuerst versammelte Hanna die Kinder im Freien, bis sich ein Haus für diese neue Sonntagsschule öffnete.
Es müssen nun einige Ereignisse übersprungen werden, um hier die Geschichte von der Sonntagsschule im „Elendstal" anzuschließen. Als Elendstal wurde ein Taleinschnitt westlich des Kiesberges am Ausgang der Stadt Elberfeld nach Sonnborn-Vohwinkel zu bezeichnet, wo sich in jenen Zeiten mancherlei armes, zum Teil auch verkommenes Volk niedergelassen hatte. Es herrschte dort ein rechtes Elend unter jung und alt. Die Leute wohnten in Lehmhütten und Erdlöchern. Ihnen mußte geholfen werden.
Wie aber an diese rohen und oft auch gefährlichen Menschen herankommen?
„Ich wußte, daß im Elendstal so verkommene Leute wohnten, die wie die Heiden dahinlebten; da hat der HErr mir keine Ruhe gelassen, ich mußte hin und sie aufsuchen." So schildert Tante Hanna die Anfänge ihrer Arbeit, die sie immer mehr in ihr Lebenswerk hineinführen sollte.
„Ich dachte, steck dir ein paar Zigarren in die Tasche, und dann in Gottes Namen zu den armen Menschen! Wie ich in den Wald komme, liegen da die Männer am Boden und trinken Branntwein; kaum sehen sie mich, da springen sie auf und wollen auf mich los. Ich sage: ,Laßt mich doch gehen, ich tue euch doch gar nichts!’ — ,Ja, was willst du denn hier oben?’ — ,Ich habe euch lieb!’ — Das wollen nun die Männer nicht glauben. Da sage ich zu ihnen: ,Seht, wenn ihr mich ordentlich auf den Weg bringt, dann schenke ich euch Zigarren!’"
Nachdem die Elendstaler einige Male so ihre Gesinnung kennengelernt hatten, konnte sie den nächsten Schritt unternehmen, nämlich auch im Elendstal eine Sonntagsschule anfangen.
Weil es Sommer war, bestand die Möglichkeit, die Kinder im Walde unter den Bäumen zu sammeln. Da saßen die wahren Elendskinder, die im Leben so wenig Liebe erfahren, — ihnen erzählt nun die Kindertante vom „lieben Heiland“ und vom „guten Hirten” und alle die anderen Geschichten aus der Bibel. Sie verstand es aber auch meisterhaft, den Kindern in einer selbst den Kleinsten verständlichen Sprache den Weg des Lebens zu zeigen. Und dann die schönen Lieder dazu! Die Kinderherzen waren bald gewonnen! Es waren auch widerspenstige Kinder dabei. Aber mit ihnen wurde Tante Hanna besser fertig als irgend ein anderer. Sie spürten ihre Liebe, allerdings auch ihre feste Hand.
Als z. B. im Elendstal die Kapelle erbaut war, die die Sonntagsschule aufnahm, genierte sich eine Anzahl von Kindern, diese zu besuchen, weil sie keine Schuhe hatten, sondern nur „Blotschen“. Was tat Tante Hanna? „Eck well den Blagen ens de Leviten lesen”, sagte sie. Sie erschien am nächsten Sonntag selber in Holzschuhen, so daß die erstaunten Kinder laut zu lachen anfingen.
„Was ist das?!“ rief Tante Hanna, „da ist nichts zu lachen. Meint ihr, ich schämte mich, Holzschuhe anzuziehen? Nein, das tue ich nicht; ich habe aber gehört, daß von euch Kindern ein paar nicht mehr in die Sonntagsschule kommen wollen, weil sie nichts oder nur Holzschuhe anzuziehen haben. Schämt ihr euch nicht? Meint ihr, der HErr Jesus sähe euch an, ob ihr was an den Füßen oder ob ihr Holzschuhe angezogen habt ? Nein, das tut Er nicht; Der sieht nur auf das Herz und fragt: Hast du Mich lieb; und kommst du in die Sonntagsschule, weil du in den Himmel willst?”
Das war die Levitenpredigt, die teils in Hochdeutsch, teils in Plattdeutsch gehalten wurde. Ihre Wirkung blieb nicht aus. Die Kinder fanden sich wieder ein, ob sie nun nur „Blotschen" oder auch gar keine Schuhe anhatten.
Im Anfang gab’s unter der Bevölkerung des Elendstales manche Kinder, die weder eingesegnet noch getauft waren. Bei all diesen Kindern mußte sie Patenstelle übernehmen. Derer waren schließlich so viele, daß sie manchmal lachend sagen konnte: „Ich habe so viele Kinder; ich kenne sie gar nicht mehr alle!" Wie ging sie gerade den ärmsten und verkommensten Kindern nach! Wieviele sie aus dem Verderben errettet hat, das wird erst die Ewigkeit nachweisen.
Die Elendstaler Sonntagsschule hatte inzwischen für den Winter, wo man ja nicht mehr bei „Mutter Grün“ zusammenkommen konnte, eine Bleibe in einer Scheune gefunden, obwohl auch das Gespött der Leute über diesen „frommen Betrieb”, oder wie man sich ausgedrückt haben mag, nicht ausgeblieben war. Doch Hanna bezahlte das Böse, das man ihr anhängen wollte, mit Gutem zurück. Das Wort Gottes und die Tat der helfenden Liebe, die ja hier so nötig war, überwanden die Leute mehr und mehr.
Bald konnten in einem Hause, das sich öffnete, Bibelstunden eingelegt werden. Es fanden sich junge Freunde, die mit warmen Herzen auf diesem „Missionsfelde" mitarbeiteten, das durch die Kinder- und Pionierarbeit von Tante Hanna erschlossen worden war.
Es sollte eines Tages noch die herrlichsten Früchte zeitigen!
Seit den Tagen der geistlichen Erweckung und Wiedergeburt im Leben unserer Hanna war ihr Weg bisher geradlinig gebahnt geblieben: Am Tage saß sie am Webstuhl und sang ihre frohen Glaubenslieder, während die Freistunden ihrem „Hauptberufe" gewidmet waren. Da sammelte sie die Kinder, besuchte Alte und Kranke, und überall gab sie ganz selbstverständlich Zeugnis von der Sünderliebe des Heilands. Für Liebes- und Heiratsgedanken, die so oft auch gläubige junge Mädchen völlig gefangen nehmen wollen, hatte sie noch gar keine Zeit gehabt.
Umso mehr war sie überrascht, als eines Tages ihr geliebter Seelsorger, Pastor Sander, zu ihr kam und erklärte: „Hanna, du mußt heiraten!" Sie hatte sich über diese Rede kaum Gedanken machen können, als ein ehemaliger Schulkamerad um ihre Hand anhielt. Sie gab Wilhelm Faust das Ja-Wort. Aber er war ein Trinkgebundener. Wie konnte sie als gläubiges junges Mädchen sich mit einem solchen verbinden? Sie hätte es jedenfalls niemals getan, wenn sie nicht durch einen eigentümlichen Traum dazu veranlaßt worden wäre:
Sie sah einen armen Menschen an einem Abgrund stehen. Er konnte sich selbst nicht mehr helfen. Ihm reichte sie die Hand zur Rettung. Sie mag wohl erst nach näherer Bekanntschaft mit ihrem Verlobten dessen leidenschaftliche Veranlagung erkannt haben -doch wiederum schaute sie im Traume einen Abgrund. An seinem Rande stand Wilhelm Faust, eben im Begriff, sich hinabzustürzen. Sie springt zu, reißt ihn zurück — und er ist gerettet! Der HErr machte ihr die Deutung des Traumes klar: Du brauchst ihn nicht zu heiraten, aber wenn du ihn nimmst, wirst du ihn vom Untergang erretten!
Damit stand ihr Entschluß fest. Auch die Mutter gab schließlich ihre Einwilligung. Im Jahre 1853 wurde die Ehe geschlossen, die 34 Jahre lang bestanden hat und ohne Kinder blieb.
Ihr Wilhelm hat ihr in dieser langen Zeit unsagbar viel Not bereitet. Er war ein Periodentrinker ! Wenn er im Wirtshaus saß, wo er sich oft tagelang aufhielt, traktierte er seinen Freunden in der freigebigsten Weise. Und seine Hanna mußte sich mit Weben und durch einen kleinen Kaffeehandel abmühen, die Zechschulden ihres Mannes wieder abzutragen. Wie oft kam er im betrunkenen Zustande nach Hause. Dann hatte er nur schreckliche Schimpfworte. Es war, als ob ein böser Geist ihn umtrieb. War er wieder nüchtern, so sah er seinen Jammer ein und bettelte: „Hanna, bleib doch bei mir!"
Und sie blieb bei ihm, ob auch immer wieder Freunde rieten, sich von ihm scheiden zu lassen. Sie warf das Kreuz nicht ab, sondern trug es in der Kraft des Glaubens, der die Welt überwindet, — bis daß diese Leidensschule ihres Lebens aus war.
„Leiden macht in allem gründlich, Leiden macht das Wort verständlich; Leiden, wer ist deiner wert?"
Gott hat Sein Kind ganz besonders auch durch dieses Ehekreuz tüchtig gemacht für ihre Lebensaufgabe. Sie lernte anderer Not verstehen, sie war immer neu auf den HErrn geworfen, und sie blieb dabei vor Gott und Menschen in einer Herzensstellung, die sie vor jedem Anflug von Hochmut bewahrte. Und nur so gestellte Leute kann Gott gebrauchen !
Die Ärzte erklärten, Wilhelm Faust werde entweder im Irrenhaus oder durch Selbstmord enden. Aber Jesus wurde auch noch in diesem Leben Sieger. Frau Faust durfte es erleben, daß ihr Mann noch im wahren Frieden als ein Erlöster Christi heimging. So war sie im tiefsten Sinne des Wortes seine „Gehilfin" zur Seligkeit geworden, wie es ihr der HErr einstmals gezeigt hatte.
In den Zeiten, wo ihr Mann nicht trank, war er gut und freundlich. Hanna konnte im Hause schalten und walten, wie sie Wollte. Auch freute er sich, wenn die sogenannte Kompanei ins Haus kam, junge Männer, die sich zu einer christlichen Gemeinschaft im Hause Riemenstraße einfand. Frau Faust war ihre Vereinsmutter.
Sie kannte jeden einzelnen ihrer „Jongens“ von der „Kompanei” samt seinen persönlichen und häuslichen Verhältnissen. Und mit welcher Hochachtung und Liebe hingen diese an ihr? Niemals wagte jemals einer von den nicht selten recht ungehobelten Burschen, ihr eine ungehörige Antwort zu geben oder sich ihr gegenüber irgendeine Ungezogenheit zu erlauben. Ihr sicheres Wesen, der sanfte klare Blick ihrer Augen hielten sie alle in der Gewalt.
“Da steht das Häuslein, wo sie gelebt und gearbeitet, von dem sie täglich ausgezogen zu ihren Gängen, in dem sie so viel geweint und gestritten, von dem sie auch hinausgezogen war zur letzten Ruhe”, schreibt Pfarrer Dr. Wilhelm Busch in seinem Buch: „Tante Hanna — ein Wuppertaler Original", von jenem Häuslein an der Riemenstraße. Dieses ist nicht nur der Hauswirtin selber, sondern auch für viele hoch und niedrig Gestellte zur Hochschule des Glaubens geworden:
„Ich habe manche Schlösser gesehen mit viel Prunk und Herrlichkeit, viel hohe Dome mit hochragenden Türmen und prächtigen Säulen, manches vornehme Haus mit viel Pracht und Bequemlichkeit, aber selten ein Haus, in dem sich so gemütlich rasten läßt, in dem so viel Reichsgottes- und Gebetsarbeit getan worden ist in aller Stille, wie dieses schlichte Häuschen."
Hier hat die treue Reichsgottesarbeiterin ihren schweren Haus- und Ehestand durchlebt, hier hat sie regelmäßig Versammlungen abhalten lassen, die tiefer in das Verständnis des Wortes Gottes hineinführten, hier pulsierte ein frisches Gemeinschaftsleben von Männern, Frauen, jungen Männern und Mädchen, die alle auf ihre Kosten kamen. So hütete sie sich zum Beispiel vor dem Fehler, bei der Jugend dasselbe geistliche Verständnis vorauszusetzen wie bei den Alten; die Jugend brauchte auch einmal Kurzweil und Zeitvertreib. Hier war außerdem noch Raum für heimatlose Kinder, die von Tante Hanna betreut wurden.
Auch einen unverheirateten Verwandten namens Abraham hatte sie mit in ihr Haus aufgenommen. Er war ein äußerst verkehrter und verdrießlicher Mann, so daß sie, wie sie selber bekennt, seinetwegen „wohl einen Eimer Tränen geweint“ hat. Aber in nimmermüder Geduld und Liebe trat sie ihm durch die Jahre hindurch entgegen. Da findet sie ihn einmal in Tränen. „Was fehlt dir denn, Abraham?” Darauf erfolgt die seltsame, aber wahre Antwort: „Frauenmensch, du hast mich kaputtgeliebt!"
Sogar kleine Gemeinschaftsfeste wurden im Hause abgehalten. Da waren dann die beiden großen Wohnstuben, das kleine Nebenzimmer, der Flur, die Küche, die Treppen, alles besetzt. Aber denke keiner, daß in der „Riemenstraße“ nur gesungen, gebetet und das Wort Gottes gesagt wurde — nein, da waren auch rührige Hände, die flickten, strickten und nähten. Einige Kammern dienten als Kleider- und Lebensmittellager. Tante Hanna hatte ein regelrechtes „Hilfswerk” organisiert. Am Samstagabend kamen die „Kunden“ — das waren die Armen. Fröhlich teilte die selbstlose Sammlerin von ihren Schätzen aus: Fleisch, Brot, Kartoffeln, Gemüse, Kleider und „Winkelsware” aller Art.
Aber die da kamen, nahmen nicht nur, sondern sie luden auch ab. Tante Hanna war eine Seelsorgerin von Gottes Gnaden. Sie fand bald heraus, wo den Leuten „der Schuh drückte". Auch angefochtenen Gotteskindern hat sie oft nur mit ein paar treffenden Worten, die ihr der HErr gab, zurechtgeholfen. Ein Beispiel hier für viele:
Eines Tages saß wieder einmal Prediger Neviandt neben dem Webstuhl von Tante Hanna und vertraute ihr an, was sein Herz an Zweifeln und Anfechtungen bewegte. Heute kramte er auch seine theologischen Bedenken aus:
„Wo fehlt es wohl bei mir, Hanna ?“ „Dat week eck woll, Herr Paschtor, ewer eck sei et nit.”
„Ach bitte sagen Sie es doch, liebe Hanna. Helfen Sie mir doch!"
„Ne, dann weren Se meck böas."
Als er aber immer und immer wieder bat, da sagte sie, ihn mit ihren glücklichen Augen ansehend:
„Ja, sent Se, Herr Paschtor, Se möten noch völ dömmer weren!"
Der Ratschlag, noch viel dümmer zu werden, ist dem lieben Manne erst hart angegangen. Er sagte nicht viel mehr, sondern ging auf und davon.
Aber die wohlmeinenden Worte der klugen Frau ließen ihn nicht los. Bald erschien er aufs neue bei seiner „Professorin", und schon in der Türe rief er ihr zu:
„Ich hab’s, Hanna; ich hab’s!"
Als einfältiger Zeuge des Evangeliums ist Neviandt vielen ein Wegweiser zu Christus geworden. —
Ja, es war nur ein schlichtes, kleines Häuschen, das Haus an der Riemenstraße, aber alle, die dort einmal ein- und ausgegangen, haben daraus unvergängliche Eindrücke mitgenommen.
Tante Hanna wollte das Haus nach ihrem Tode nicht den Verwandten-Erben entziehen — auch ein Anzeichen feiner Klugheit! —, gleichzeitig aber lag ihr daran, daß unabhängig von ihrer Person in der Riemenstraße das Werk des HErrn seinen Fortgang nehme. Deshalb ließ sie noch bei Lebzeiten in ihrem Garten das „Vereinshaus Riemenstraße“ bauen. Sie selber hat sich mit großer Treue darum bekümmert, daß das Geld für dieses Haus zusammenkam. Später sollte es die „Evangelische Gesellschaft” übernehmen, mit der Tante Hanna durch manche persönliche Bande und Bande der Stadtmissionsarbeit eng verbunden war.
Ihr Testament ist ganz in ihrem Sinne vollstreckt worden.
In jedem Menschenleben ist die vorlaufende Gnade
am Werke. Wo diese zur Entfaltung kommen kann, wird Gott verherrlicht und ein wahres
Licht in der Welt aufgesteckt:
„Christen sollen leuchten
in der dunklen Welt,
jedes an dem Plätzchen,
wohin Gott es stellt!"
Ein Licht kann nicht anders als leuchten. Deshalb war es Tante Hanna niemals zuviel, wenn sie im Haus und am Webstuhl schaffte, eigene und fremde Wäsche wusch, Stuben fegte, Betten machte, Arme, Kranke, Alleinstehende besuchte und anfaßte, was ihr nur gerade unter die Hände kam. Sie ließ ihr Licht leuchten vor den Leuten — mit nichten, damit sie gepriesen würde, sondern ihr Heiland und Meister, Dem sie alles verdankte. Auch nachdem sie schon eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden war, wehrte sie jedermann ab, der sie in den Vordergrund stellen wollte: „Ich bin nur eine Handlangerin des Heilands!" Als solche war sie in aller Munde während der Cholerazeit im Jahre 1867. Es war damals eine ernste Gerichtszeit für die ganze Stadt. Die kleine Gebetsstunde an der Riemenstraße konnte die Besucher kaum mehr fassen. Der Ernst der Ewigkeit trieb die Leute zu Gott. Denn morgens noch gingen die Männer gesund zur Arbeit — und abends schon trug man ihre Leichen fort.
Unsere Hanna griff zu, wo sie konnte. Hin und her in den Häusern tat sie Samariterdienste, ging sie in die ekelhaftesten Krankenstuben hinein, tröstete sie, rastlos tätig im Geiste der hingebenden Liebe Jesu. Ein Wunder, daß sie, die oft tage- und nächtelang, ohne Schlaf gehabt zu haben, der furchtbaren Seuche entgegentrat und wochenlang nicht aus den Kleidern kam, nicht selber krank wurde!
Doch eines Abends kommt es über sie; sie fühlt Zuckungen, und es stellen sich alle Merkmale der Cholera ein. Sie geht zu Bett und befiehlt ihre Seele dem HErrn. Nicht lange, da klopft’s an der Türe. Hanna wird zu einem Schwerkranken gerufen, der dringend nach ihr verlangt. In der Kraft, die in dem Schwachen mächtig ist, steht die müde Hanna wieder auf, geht zu dem Kranken und ist bei ihm die ganze Nacht tätig, daß sie gar nicht dazu kommt, an sich selbst zu denken. Und siehe da! — die Krankheit ist überwunden.
Es wäre nun freilich sehr abwegig, zu denken, unsere Hanna sei eben eine so robuste Person gewesen, die durch dick und dünn hindurchgeht, was nun einmal nicht jedermann liegt. Gewiß war sie ein „auserwähltes Rüstzeug“ — aber sie hat sich auserwählt machen lassen! Was sie gewesen ist, ist sie in der Schule des Meisters geworden, der Seine Kinder „im Lande ihres Elends” wachsen läßt. Und wenn sie zur Pocken-, Choleraoder Typhuszeit ihre Todeswege ging — wie hat sie sich da erst in der Stille salben lassen müssen, um mit Mut und Kraft vor die Leute hinzutreten!
Bis ans Ende hat auch diese gesegnete Frau mit ihren menschlichen Schwachheiten zu kämpfen gehabt, und sie hat alles andere als die Rolle einer „Heiligen“ gespielt. „Keine Fisematentsches!” pflegte sie zu sagen. Damit meinte sie die angelernte Kunst, schöne christliche Redensarten zu führen. Alles Geschraubte und Gemachte war ihr zuwider. Sie war, wie sie war und gab sich, wie es ihr gegeben war nach der Gnade, die sie nicht vergeblich empfangen hatte.
Ihr Lebensziel stand immer klar vor ihr: Sie wollte Gott dienen und zwar in dem „wahrhaftigen Gottesdienst" an den Witwen, Waisen, Armen, Kranken und Elenden. Sie hatte das herzliche Erbarmen Jesu angezogen, das ihr auch an solchen Orten Eingang verschaffte, wo normalerweise kein Pastor, Prediger oder Polizist sich hineinwagen durfte.
Sie war noch ein junges Mädchen gewesen, als sie von dem weit und breit gefürchteten „Kaspar" hörte, daß er krank geworden sei. Hanna fühlte ein tiefes Mitleid mit diesem verkommenen Menschen. Der Arme lag in einer unmenschlichen Behausung ganz verlassen da. Vielleicht war er doch noch für den Heiland zu gewinnen.
Eines Nachmittags sagte sie zur Mutter:
„Mutter, kok van Owend en betschen Supp, eck well dem kranken Kaspar wat brengen."
„Nee, Kengt, dat deult eck nit, dat du na dössen schrecklichen Käl gehst, dän jö Männer te bang sind, optesöken."
Aber Hanna ließ nicht nach, bis daß sie abends mit einem Suppentopf bewaffnet den Kaspar aufsuchen konnte. Mit bangem Herzen öffnete sie die Tür zur Speicherkammer, in der Kaspar hauste.
„Wä böss du, on wat woss du ?" herrschte der Kranke sie an.
„Eck sie et Hanna Kessler, eck woll Ihnen wat Suppe brengen, Kaspar!"
„Watt! Dat fiene Hanna! Van deck well eck niks weten, mak dat de futtkömmst!"
Hannas Liebe hatte über ihre Furcht gesiegt:
„Kaspar, Sie dont meck so leed, dat seck ken Mensch öm önk kömmert, on eck glöw, en betchen warme Supp werd Ihnen got donn."
Damit verließ sie den Raum, herzlich froh, daß der erste Besuch so gnädig abgelaufen war.
Das nächste Mal nahm sie eine ihr bekannte gläubige Frau mit. Sie beiden sorgten nun erst mal für etwas Ordnung und Sauberkeit. Der Kranke ließ diesen Liebesdienst zunächst zwar nur mit Widerspruch gelten. Aber nach und nach wurde er milder. Es kam auch der Tag, wo es Hanna wagen konnte, mit ihm von Gott und von der Ewigkeit zu sprechen. Wie unwissend war dieser Mann! Von Jesus oder den Geboten Gottes hatte er buchstäblich noch nie gehört. Nun lag er da und hatte nur ein Leben der Schuld und Schande aufzuweisen.
Die Pflegerin ist endlich so weit, daß sie mit ihrem Patienten langsam die Gebote Gottes durchnehmen kann. Und der HErr legte auf dieses Tun Seinen wunderbaren Segen. Angst und Ewigkeitsnot überfällt den Kranken. Er erwacht aus seinem Sündenschlaf, und als Hanna eines Abends durch den Geist Gottes wieder zu ihm hingetrieben wird, ruft er der Eintretenden schon entgegen:
„Hanna, wat sall eck maken, wat sall eck anfangen, eck komm en de Höll!"
„Jo, lewe Kaspar, do mötten Se bloß öm-mer beden: ,Lewe Heiland, hölp doch, dat de aule Kaspar nit en de Höll kömmt, vergöw äm sinn Söng on göw äm sinnen Frieden!’"
Gehorsam tat Kaspar nach ihrem Rat unter vielen Tränen und innerer Zerknirschung.
Der Fortgang dieser Geschichte ist kurz folgender: Hanna bat Pastor Kunsemüller, der auch des Plattdeutschen mächtig war, Kaspar zu besuchen. Das geschah. Es dauerte zwar noch wochenlang, bis unser Kaspar nach schweren inneren Kämpfen die Gnadenhand des Heilands ergreifen konnte in der Gewißheit, daß Sein Blut allen Schaden gutmacht. Er wurde ein fröhliches Gotteskind, lebte noch 10 Jahre lang und ist auch anderen noch zum Segen gewesen!
Das innige Mitgefühl mit dem Elend und der Not des Volkes führte Tante Hanna auch zu dem Hause, in dem so manche zusammenkommen, die sich haben verführen lassen von der Macht und der Kraft der Sünde — zum Gefängnis. Sie wußte es fertig zu bringen, daß man ihr ein für allemal Erlaubnis gab, die Gefangenen zu besuchen. Und gerade hier, wo ihr oft die härtesten Herzen entgegentraten, wurde es offenbar, wie der HErr sie sonderlich ausrüsten wollte, mit den Müden zur rechten Zeit zu reden.
Da ist eine Putzmacherin, die durch die Schuld anderer Leute zum Bankerott getrieben und dann ins Gefängnis gewandert war. Sie rast in ihrer Zelle, tobt, schreit, schilt über die entsetzliche Schlechtigkeit der Menschen, derart, daß kein Mensch ihr mit irgendeinem Trostwort nahekommen kann.
Tante Hanna kommt in den Tagen gerade ins Gefängnis, hört von der armen Putzmacherin und gibt sofort ihren Entschluß kund, sie zu besuchen. Der Aufseher rät ihr sehr ernstlich ab; die Person werde ihr ein Leid antun, wenn sie es wage, die Zelle zu betreten. Tante Hanna läßt sich nicht einschüchtern. Sie antwortet gelassen: „Ich gehe mit meinem Heiland hinein; Der wird mir wohl beistehen!"
Und sie geht hinein. Als sie das Gelass der Gefangenen betritt, fängt die Frau an, auf die entsetzlichste Weise Gott und Menschen zu lästern. Tante Hanna ist ganz starr; sie kann nichts sagen; aber wie sich in dem Herzen der ganze Abgrund von Verbitterung und Zorn auftut, da kann sie sich nicht helfen, sie muß weinen. Tränen des innigsten Mitleids laufen ihr aus den Augen. Die Person stutzt; das hat noch niemand getan, für sie geweint, und sie wird stiller und stiller.
Nun kann unsere Freundin reden. Und sie redet zu dem armen, verwundeten Herzen von dem treuen Heiland, Der die Sünder liebt, von dem Weg, auf dem man zu Ihm kommt. Das wirkt. Die Gefangene hört und hört — und fängt an zu reden, redet sich einmal alle Bitterkeit vom Herzen herunter, und das tut solchem verbitterten Menschenkind so wohl.
Lange, lange dauert die Aussprache. Wohl ist das darauffolgende Zwiegespräch ein heißer, harter Kampf zwischen Licht und Finsternis, aber Jesus geht als Sieger hervor. Am Ende geht die Gefangene an ihr Bett, zieht unter ihrer Matratze einen Strick hervor und sagt: „Nehmen Sie den Strick mit; ich wollte mich diese Nacht damit erhängen; jetzt brauche ich ihn nicht mehr".
Da war ein anderes Mädchen aus Unterbarmen, das von Jugend auf unter schlechten Einflüssen der Eltern stand. Tante Hanna lernte es in dem Gefängnis kenen und ließ es fortan nicht mehr aus den Augen; sie nahm es bei sich auf, sorgte für ihre Stellung, holte es einmal persönlich aus einem öffentlichen Hause heraus, nahm es trotz aller Rückfälle immer wieder auf. Das Mädchen wurde später noch eine ordentliche Ehefrau, ihrem Manne zum Segen gesetzt, und hat es zuletzt auf ihrem Sterbelager der Tante Hanna offen bekannt, daß sie ohne die treue Liebe der mütterlichen Freundin nimmermehr gerettet worden wäre.
Über die Anfänge im Elendstal hat der geneigte Leser bereits einige Kenntnisse empfangen. Wir hörten, daß Tante Hanna mit der Sonntagsschule in einer Scheune Unterkunft gefunden hatte. Als die nicht mehr reichte, ging’s durch die Häuser hindurch. Es kamen nicht nur die Kinder, sondern auch manche Eltern. Die jungen Freunde von der „Kompanei" in der Riemenstraße konnten nun auch im Elendstal Bibelstunde halten — kurz, das Wort der HErrn wuchs mächtig und versprach eine reiche Ernte.
Weil nun kein Raum mehr groß genug war, wünschte Tante Hanna sehnlichst, ein eigenes Lokal zu besitzen, und wenn es nur eine Baracke wäre, Aber auch eine Bretterbude kostete Geld. Und es war keins da. Hanna lag diese Not schwer auf dem Herzen. Sie konnte darüber mehrere Nächte lang nicht schlafen.
„In der dritten Nacht um zwei Uhr sagte der HErr zu mir: ,Du fängst an zu bauen’.
(Das ist die klare Wahrheit; manch einer glaubt das nicht.) Da sagte ich: ,HErr, ich habe keinen Pfennig’. ,Fang du an, denn ich will Meinen Namen dort groß machen.’ Da sagte ich wieder: ,HErr, willst Du Deinen Namen dort groß machen, so mußt Du meinen klein machen. Du weißt, wie es mit uns Menschen ist, daß wir uns gern etwas einbilden.’ Weil es mir aber noch nicht sicher war, sprach ich: ,Dann mußt Du mir aber noch etwas zukommen lassen, weil doch die Frau in der Stille wirken soll.’
Dann bin ich zu zwei Sachverständigen gegangen, zwei alten Freunden N. und V., und habe zu ihnen gesagt: so und so, und ob sie es für passend hielten, daß ich als Frau baute. Da sagten sie: ,Hanna, fang du nur an zu bauen, wir lassen dich nicht sitzen.’ Da wurde mir alles klar gezeigt, wie ich es machen sollte (das sind keine ,Blümchen’, das sind Tatsachen, klar wie ein Buch).
Da ging ich zuerst zu meinem Vetter Fischbach; der hatte einen Platz im Busch (Wald), der ihm gehörte. Ich sagte zu ihm: ,Wilhelm, ich muß bauen, und du mußt mir den Busch geben zu einem Platz dafür.’ Darauf sagte der: ,Das will ich gern tun, aber wo willst du das hinhaben? Wir wollen einmal zusammen gehn.’ Da gingen wir am Nachmittag in den Busch, und da sagte er: ,Hanna, ich weiß aber nicht, ob das noch mir gehört; wir wollen einmal sehen, wo der Grenzstein ist, du hier und ich da.’ Wir suchten; ich hatte aber den Stein zuerst und rief: »Wilhelm, da ist der Stein.’ Da gab er mir den Bauplatz und sagte: ,Hanna, da oben ist die Steingrube; da kannst du so viele Steine holen zu den Fundamenten und auch einen Keller bauen.’ Am anderen Morgen ging ich um sechs Uhr nach Vohwinkel zum Herrn G r e e f f und brachte Kaffee hin. Da war Herr Blum-h a r d t beim Herrn Greeff; da sagte ich: ,Herr Blumhardt, haben Sie nicht einen Ringofen?’ ,Ja!’ ,Ich muß bauen, Herr Blumhardt.’ ,Or das ist aber schön; da erzählen Sie mir einmal, wie Sie das machen wollen.’ ,Ja, und dann sind Sie so gut und liefern die Ziegelsteine.’ ,Ja, das geht gut, und der Herr Greeff hat ein Fuhrwerk, der fährt sie Ihnen hin.’
Am anderen Morgen kam ein Brief von Herrn Blumhardt: ,Frau Faust, bauen Sie so massiv, wie Sie wollen; die besten Ziegelsteine gebe ich Ihnen umsonst, und der Herr Greeff fährt sie Ihnen hin.’
Nun mußte ich auch einen Baumeister haben; ich ging zum Herrn Bramesfeld und sagte: ,Herr Bramesfeld, ich muß bauen. Wollen Sie mein Baumeister sein?’ Darauf sagte er: ,Ja, für einen Maurermeister müssen Sie aber selber sorgen.’ Da ging ich zum Maurermeister Kaufmann, und der nahm’s an.
Da ging ich am Samstag nach Mülheim am Rhein und bestellte Holz beim Holzhändler W i r t z. Und er sagte, ja, er wolle das Holz liefern, der Baumeister solle ihm die Maße schicken. (Ich wußte aber nicht, daß ich alles geschenkt bekam; ich habe alles getan, wie es mir gezeigt wurde.) Und da hat er das Holz geschickt, das beste Holz, was er hatte. Nun hatte der Herr Wirtz einen Freund in Benrath, der Leysiefer hieß. Nun sagte der Herr Wirtz zum Herrn Leysiefer: ,Hörmal, sollen wir der Frau Faust das Holz nicht schenken?’ Und da haben sie mir das Holz geschenkt, und ich bekam keine Rechnung. Gedeckt war der Bau mit Pappe, und die schenkte mir Herr Zimmermann, der auch aus Mülheim war.
Nun fingen sie an auszuschachten. Da sagte ich zu den Kindern: ,Kinder, wir kriegen ein Haus, und dann muß auch der Grundstein gelegt werden; und wenn der Grundstein gelegt wird, dann müßt ihr alle kommen und singen.’ Und da kamen sie alle in Sonntagskleidern, und da sangen wir: ,Lobe den HEr-ren, den mächtigen König der Ehren!’ Und ein Arbeiter sprach ein Gebet, der HErr solle uns bewahren vor allem Unfall, und das hat Er auch getan.
Da ging ich zum Pastor Rinck; dem brachte ich ein Büchlein. Da sollte er mir etwas hineinschreiben, damit wollte ich zu den Freunden gehen, damit sie mir da etwas einzeichneten. Und da gaben mir die Herren, die ich alle kannte, und die alle in den Verhältnissen waren, alle fünfundzwanzig Taler. Und die das nicht hatten, die zeichneten alle N.N. und gaben so viel, wie sie konnten. Und da kam ein Arbeiter — es war ein Heizer, ein alter Freund von mir —, der brachte fünf Taler und sagte: ,Von dem Segen, den ich in eurem Hause gehabt habe, aus Dankbarkeit.’
Und da haben wir flott gebaut, und am 13. Oktober 1872, da wurde es eingeweiht. Ich wollte es nennen: ,Sonntagsschulhaus, aber der Baumeister sagte: ,Nein, das nennen wir Elendstaler Kapelle’.
Zur Einweihung kamen sehr viele Leute, und auch Pastor Rinck und Pastor Krafft. Nach dem feierlichen Akt gingen wir alle nach der Königshöhe, und das Wetter war herrlich; es war der schönste Tag vom ganzen Oktober. Und da hatte ich auch den Kom-merzienrat Boeddinghaus und den Kom-merzienrat M e c k e 1 eingeladen. Und ich hatte mir alles aufgeschrieben, was ich erhalten hatte, jeden Pfennig, und alle Möbel und alles. Bänke bekam ich noch aus der Kinderlehre (Kanfirmandensaal) des seligen Pastor Rauschenbusch und auch aus der reformierten Kinderlehre; und einen Katheder aus der Friedländerischen Schule und auch noch einen Ofen. Nun war bald alles fertig, nun fehlten mir nur noch die ,Häuschen’. Da schickte Dr. Feldmann, ob ich nicht drei Häuschen gebrauchen könnte; sie brauchten sie nicht mehr, und da war alles Notwendige da.
Es war eine teure Baugeschichte. Aber es fehlten uns nur noch 700 Taler, dann war das ganze Werk bezahlt. Da gab ich das Verzeichnis meinem alten Freund Herrn N. aus Barmen und sagte, er solle das vorlesen. Und als der sah, daß das noch 700 Taler waren, da sagte er: ,Hanna, das ist aber noch eine große Schuld!’ Und da sagte ich: ,Aber ich habe einen reichen Gott!’ Und da sagte Herr N.: ,Wir wollen aber eine Kollekte halten, daß dein Glaube nicht zuschanden wird.’ Und da ging ein Teller herum, und da kamen 142 Taler ein. Da lagen auch noch 2 Zettelchen darauf, da standen auf jedem 100 Taler vom Kommerzienrat Boeddinghaus und 100 Taler vom Kommerzienrat Meckel, und da waren das 342 Taler.
Am anderen Tage ging ich mit den Zettelchen zum Kontor des alten Herrn Boedding-haus und des alten Herrn Meckel, denn die hatten gesagt: ,Frau Faust, Sie müssen aber zum Kontor kommen und das Geld holen.’ Und als ich zum Kontor kam und gab die Zettelchen dem Kassierer, da guckte der mich an, und da kam eine Stimme aus dem Nebenkabinett: ,Richtig, Richtig! ausbezahlen!’ Da ging ich mit dem Geld zum Baumeister, der war mein Kapitalist, und da sagte ich: ,Das Geld bringe ich zu Ihnen, und meinen Sie nicht, daß wir an der Seite nach Sonnborn Schiefern decken sollten? Da steht das Haus an der Windseite, und wenn wir noch Schlagläden machen ließen von dem Geld. Und da taten wir das.
Und alle Frühjahre lud ich meine Freunde ein, und die brachten immer etwas mit, so daß wir die Schuld im Verlauf von ein paar Jahren abtragen konnten. Da hatten wir aber noch keine Glocke; und da wollte der Mann, den ich als Küster hatte — es war ein armer Mann —, Deckel nehmen und damit klopfen, weil die Leute nicht wußten, wieviel Uhr es war, wegen der Sonntagsschule. Und da kam ein auswärtiger Freund; da sagte mein Küster: ,Ich hätte so gerne ein paar Deckel, damit ich die Leute könnte zusammentrommeln.’ Und das rührte den Freund, und da ließ er mit einmal eine Glocke gießen. Da hatte der Glockengießer meinen Namen vergessen, und wo die Glocke hin sollte. Und er schickte die Glocke an seine Bekannten in Elberfeld und schrieb dazu: ,Hier ist die Glocke für das irdische Jammertal’ (anstatt Elendstal)."
So erzählte Tante Hanna einmal selbst von dem Werden der Elendstaler Kapelle — allerdings nicht in Hochdeutsch wie hier, sondern in ihrem urwüchsigen bergischen Platt. Ihr Biograph hat die prächtige Originalgeschichte der Nachwelt erhalten.
Über 80 Jahre ist die Elendstaler Kapelle droben gestanden, ein Idyll und Wahrzeichen lebendiger Glaubensgemeinschaft. Der Aufstieg aus der Talsohle der Wupper hinauf zu jenem Bergeshang glich immer wieder einem Pilgerweg für jung und alt — besonders am Himmelfahrtstage und 2. Pfingsttage. Welch ein fröhliches Grüßen im Schatten der traulichen Buchen oder drinnen in den zwar primitiven, aber festlich geschmückten Sälen! Fröhliche Glaubenslieder schallten durch Berg und Tal, bis der Abend zum Heimweg mahnte. Unvergeßlich ein solcher Aufenthalt in diesem „Tal" mit dem merkwürdigen Namen, wo Leib und Seele erquickt wurden und man dem Himmel ein gut Stück näher gerückt war.
Bei den Festen sah man Tante Hanna in ihrem Element. Ihre Augen strahlten, wenn das Menschengewühl recht groß war. Sie grüßte hier und da, fragte diesen oder jenen Bekannten nach der Familie, sorgte dafür, daß jeder einen guten Platz bekam, beförderte die Redner zum traulichen Rednerstübchen hinauf — niemals ruhte und rastete sie an solchen Tagen. Auch während der Ansprachen war sie unterwegs; sie spähte nach „Zaungästen draußen herum, daß auch sie unter den Schall des göttlichen Wortes kamen. So lag alle Sorge für einen guten inneren und äußeren Verlauf auf ihren Schultern.
Pastor O h 1 y, der nachmalige Hofprediger, berichtet beispielsweise von einem Sonntagsschulfest mit 800 Kindern und zahlreichen Angehörigen. Das Wetter war schon unsicher gewesen. Nun drohte ein Gewitter. Alle suchten das schützende Dach des Elendstales. Sie sind eben da, als es draußen losbricht. Unaufhörlich zucken die Blitze. Ein Wolkenbruch geht nieder. Da verbreitet sich das Gerücht, ein Blitz sei in der Kapelle eingeschlagen. Es entsteht eine Panik. Die Erwachsenen sind noch aufgeregter als die Kinder. Alle Bemühungen, Ruhe zu halten, sind vergeblich. Da kommt Tante Hanna. Sie ist ebenfalls innerlich erregt, aber sie hat hier wieder das rechte Wort: „Wir müssen uns innerlich am Gebet halten; der HErr is treu!" — Die Gemüter beruhigen sich. Das Wetter ließ nach, und niemand hatte Schaden genommen. Nun stieg ein Danklied nach dem andern zum Himmel für alle gnädige Bewahrung.
Beim Abschied der Leute legte sie wohl manchem Besucher die Hand auf die Schulter und fragte: „Hat der Heiland dir etwas geben können?" Und nach dem Fest versammelte sie sich mit ihren Freunden und den Festrednern, um ihnen noch einmal die Sorge für die einzelnen Seelen auf’s Herz zu binden.
„Hier im Elendstal — dort im Himmelssaal! In Jesu bleiben wir vereint!" so rief Frau Faust Pastor Ohly zu, als er vor seinem Weggang nach Berlin im Elendstal schweren Herzens seine Abschiedsrede gehalten hatte.
Es erschienen auch regelmäßig „Nachzügler" zu den Festen. Das waren die Landstreicher und Obdachlosen, die nachts im Walde ihre Lagerstätten suchten. Sie kamen, wenn alles zu Ende war, und setzten sich ganz still, ohne ein Wort zu sagen, an den Tisch. Und dann kam Tante Hanna, bediente sie auf’s freundlichste mit Kaffee und Zubrot und versäumte nicht, ihnen noch ein Wort der Liebe Jesu als Ewigkeitsspeise mit auf den Weg zu geben. —
Nun darf die treue Magd des HErrn schon lange die Himmelsfrüchte ihrer Werke genießen. Wir aber dürfen ihren äußeren Segensspuren folgen und auch ihr Lebenswerk, das Elendstal — sie hat es ebenso wie das „Vereinshaus Riemenstraße“ der „Evangelischen Gesellschaft” zum Vermächtnis übergeben — weiter auf betendem Herzen tragen.
Die alten Wahrzeichen der Wirksamkeit jener „Heiligen aus dem Volk" sind vor der Zerstörung des 2. Weltkrieges bewahrt geblieben. Aber schließlich ist der Saal der Elendstaler Kapelle altersschwach geworden, war er doch mit einfachsten Mitteln erstellt.
Um den alten Mittelpunkt geistlichen Lebens im Wuppertal und darüber hinaus zu erhalten, ist im Wagnis des Glaubens ein Wiederaufbau und Neubau entstanden. Außerdem wurde im Jahre 1961 hinter dem alten Elendstaler Wohnhaus eine Ausbildungsstätte für Reichsgottesarbeiter errichtet, das Wuppertaler Bibelseminar. Viele christliche Kreise im ganzen Lande haben die Verantwortung dafür mit auf ihre Schultern genommen. Ja, möge sich der HErr auch in unseren Tagen ganz neu zu der Elendstaler Erinnerungs- und Sammlungsstätte im Sinne ihrer ursprünglichen Segensbestimmung bekennen! —
Unsere Hanna war noch ein Kind — da trieb es sie schon, andern zu helfen und Gutes zu tun. Mit Eimer, Putztuch und Schrubber bewaffnet zog sie in die schmutzigsten Hütten hinein, schickte die Leute heraus, und sie durften nicht eher wieder hereinkommen, als bis drinnen alles sauber und ordentlich war. Mit diesem ihrem besonderen „Pfund“ hat sie bis in ihr hohes Alter hinein gewuchert. Die Triebfeder ihres Handelns war die rettende Heilandsliebe, die sie selbst erfahren, und das Ziel ihrer Arbeit kein anderes als die Rettung der Seelen und die Verherrlichung Gottes in Christus Jesus. „Laßt uns Gutes tun und nicht müde werden!” ist eines ihrer letzten Worte gewesen.
Von dem Zeitpunkt ihrer Bekehrung an war ihr Leben von dem Verlangen erfüllt, sich von dem HErrn gebrauchen zu lassen, wie, wann und wo es nötig wäre. Und Er hat dieses Werkzeug, das der Meisterhand so gerne folgte, auf mancherlei Weise gebraucht. Das meiste ist nur in den Annalen der Ewigkeit angeschrieben, aber selbst viele stille Wege und Liebesgänge konnten so verborgen nicht bleiben, daß deren Segensspuren im Winde verweht wären.
Wenn wir hier einigen von ihnen noch einmal nachgehen, so geschieht es durchaus nicht zum Ruhme eines Menschen — nichts hätte unserer Hanna ferner gelegen als Ruhm und Ehre vor Menschen! —, sondern es geschieht einmal: um allein Dem die Ehre zu geben, Der solche Originale beruft und bildet, wie es uns vor Augen steht, zum anderen: um alle, die diese Geschichte lesen, zu einer fröhlichen Dienstbereitschaft in der Nachfolge Jesu zu ermutigen: „Tu doch die Arbeit, von Gott dir gegeben, tu sie mit Liebe, die Zeit eilt dahin! Was bleibt denn übrig, o sag, von dem Leben? Nur’s Werk der Liebe getan um uns hin. Nichts ist hier bleibend, nichts ist hier bleibend, alles, wie schön auch, muß einmal vergehn. Nur was getan ist aus Liebe zu Jesus, das behält Wert und bleibt ewig bestehn!"
Wer sich im Dienste des Meisters übt, bekommt ein feines Gemerk für die Aufträge, die Er den Seinen zuteilt. So war es auf einem Jahresfest des „Rettungshauses“ für verwahrloste Kinder in Elberfeld, das Tante Hanna auch sehr am Herzen lag. Noch kaum die Hälfte des Festes ist vergangen, als es sie nach Hause treibt. Sie wehrt sich gegen den Gedanken, wird ihn aber nicht los. Es ist, als ob eine Stimme riefe: „Hanna, du mußt nach Hause! Hanna, geh nach Hause!” Schließlich macht sie sich auf und geht.
Was ist das denn für ein Lärm und Gedränge vor ihrem Hause! ? Sie beschleunigt ihre Schritte und merkt nun, daß da eine furchtbare Schlägerei im Gange ist.
„Mischen Sie sich nur nicht ein, sonst kriegen Sie auch noch was mit!" sagt die Frau, die sie gerade gefragt hat, was denn da los sei.
„Ach wat, eck häv en starken Gott!"
Sich durch die Menschenmenge durchzuzwängen und auf die Streitenden zugehen, ist eins für die kleine mutige Person. Ein junger Mann hat ein Messer in der hocherhobenen Faust.
„Gustav, wat mackst du?!" Mit diesen Worten legt sie die Hand auf seinen Arm. Da erwacht der Mensch wie aus einem bösen Traum; seine Hand sinkt herab. Tante Hanna faßt ihn an und führt ihn wie ein willenloses Lamm zu seiner Wohnung. Mit Tränen in den Augen dankt er ihr, daß sie ihm vor einem Mord bewahrt hat.
Ein anderes Mal wieder eine solche Unruhe, die die treue Magd des HErrn überfallen hat. Sie war an eine Familie aus ihrer früheren Nachbarschaft erinnert worden. Seit Jahren wußte sie nichts mehr von den Leuten. Obwohl es schon Abend geworden ist, macht sich unsere Hanna auf den Weg. Als sie zu dieser Familie kommt, merkt sie gleich, hier stimmt was nicht!
Der Mann brütet finster vor sich hin, die Kinder sind schützend zur Mutter geflüchtet. Niemand bietet ihr einen Stuhl an. Sie aber setzt sich neben den Mann und hebt an: „Hör mal, dir ist auch nicht nett zu Mut!“ „Lassen Sie mich in Ruhe, Frau Faust!” ist seine abweisende Antwort.
„Nein, ich laß dich nicht in Ruhe!“ „Frau Faust, lassen Sie mich in Ruhe!” „Das tu ich nicht; ich will dir was erzählen. Du kennst die Geschichte, aber hör mal zu!“ Und nun erzählte sie ihm ohne Umschweife die Geschichte vom „Verlorenen Sohn” aus Lukas 15. Währenddessen treten dem Manne die Tränen in die Augen. Sie kann nun länger mit ihm sprechen und ihm das Versprechen abnehmen, in seine Kammer zu gehen und Gott auf den Knien um Gnade anzuflehen. Dann geht sie.
Da kommt ihr die Frau nach und berichtet ihr, wie es mit ihnen immer mehr bergab gegangen sei und der Mann sie oft geschlagen habe. An diesem Abend noch habe er seine Frau, seine Kinder und sich selbst umbringen wollen. Frau Faust beruhigte die Geängstete und sagte ihr, daß Gott helfen werde. Der Mann kam auch wirklich in die nächste Bibelstunde, wurde durch das Wort tief berührt und begann ein anderes Leben. In dem Hause wurde alles neu —.
Ihre Besuche führten Tante Hanna bis in die verrufensten Straßen und Quartiere hinein. Von daher kommt einmal ein Mann mitten in der Nacht zu ihr, um sie zu seiner sterbenden Frau zu bitten. Frau Faust möge sich jedoch gefallen lassen, daß er sie mit zugebundenen Augen in seine Wohnung bringe. Es werde ihr nichts geschehen. Und sie geht mit. Wer-weiß-woher führt der Weg zu der Kranken; zuletzt geht’s sogar noch mit verbundenen Augen über eine Leiter an den Ort von Sünde und Jammer! Dort liegt eine Sterbende, die beichten will. Es sind schaurige Sündentiefen, in die Tante Hanna hineinsehen muß. Wie ist sie da in ihrem Abscheu gegen alles Sündenwesen bestärkt worden — aber auch in der Zuneigung zu den armen Sündengebundenen am Abgrund des Verderbens !
An einem Nachmittage kommt sie gerade den Weg durch den Wald vom Elendstal zum Arrenberg herunter. Ihr scharfes Auge erkennt in der Nähe des Bahndamms eine Frau. Sogleich heißt es in ihr: Du mußt zu der Frau hingehen! Sie hat sich nicht getäuscht. Es ist eine Lebensmüde, die sich vor den nächsten Zug werfen will. Tante Hanna nimmt sie mit in die Riemenstraße, gibt ihr zu essen und redet so freundlich auf sie ein, daß die Unglückliche endlich auftaut. Was war das für eine traurige Geschichte, die unsere Retterin da zu hören bekommt!
„O, es wär’ zum Weinen, wenn kein Heiland wär’!" —
So viele Hilfsbedürftige — und so wenig Helfer! der lieben Hanna will’s über all der Not fast zu viel werden. In Gedanken darüber steht sie am Grabe ihrer Entschlafenen, als sie in einiger Entfernung eine schwarzgekleidete junge Dame bemerkt. Sie macht sich an sie heran und hört aufmerksam zu, wie jene klagt, sie sei so einsam, komme sich recht unnütz vor und habe keinen Menschen mehr, der sie nötig brauche. „O“, ruft Tante Hanna aus, „der HErr hat mich zu Ihnen gesandt. Ich suche Hilfe; da können Sie mir ja helfen!” Sie erzählt von ihrer Arbeit, die sie nicht mehr allein tun könne, und bittet die Fremde, gleich zum Arrenberg mitzugehen. Sie ist der Frau Faust eine treue Stütze geworden. —
Zum Schluß ein Ereignis, das seinerzeit in Wuppertal gewaltiges Auf sehen gemacht hat:
Da wohnte am Arrenberg ein Mann, der lange Jahre nach Amerika geflohen war. Er hatte bei dem Attentatsplan auf Kaiser Wilhelm I. zur Einweihung des Niederwald-Denkmals eine Rolle gespielt. Dieser Mann — ein teuflischer Spötter und anarchstischer Fanatiker — wurde krank. Als Tante Hanna davon hörte, war es für sie eine ausgemachte Sache, daß sie zu ihm hingehen müsse. Der Mann mag über den unerwarteten Besuch erstaunt gewesen sein, doch die Handreichung der Liebe mußte er sich schon gefallen lassen. Der Besuch kam immer wieder. Von religiösen Dingen wurde kein Wort gesprochen — bis eines Tages der Mann mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck fragt:
„Frau Faust, was halten Sie von der menschlichen Seele?"
Sie kannte die verblendete Ansicht der „Genossen“. Einer von ihnen hatte ihr ja die „neueste wissenschaftliche Entdeckung” enthüllt, daß nämlich die menschliche Seele nichts weiter sei als ein erbsengroßes schwarzes Körperchen in der Magengegend. — Aber ihre Zeit sah Tante Hanna noch nicht gekommen:
„Das müssen Sie als erfahrener Mann viel besser wissen als ich unwissende Frau", gab sie zur Antwort.
Es verstrichen weitere Wochen. Und Tante Hanna betete und wirkte still weiter. Da stöhnte der Kranke endlich auf:
„Warum tut ihr das alles an mir? O Gott, o Gott!"
„Wie, ihr glaubt an Gott? Bisher habt ihr doch immer das Gegenteil behauptet!"
„Doch, doch, es gibt einen Gott! O schreckliche Ewigkeit!"
„Steht es so mit euch, dann kann euch geholfen werden. Hier ist eine Bibel; lest einmal Lukas 15!"
Tante Hanna ist zufrieden. Nun hat der Geist Gottes angefangen, an dem armen Menschen zu arbeiten.
Nach einigen Tagen tritt sie wieder an sein Lager. Er hat die Bibel aufgeschlagen im Bette liegen.
„Habt ihr die Geschichte von dem ,verlorenen Sohn’ gelesen?"
„Jawohl, die ist recht schön. Aber für mich gibt es keine Rettung mehr!"
Dann bricht’s aus dem Herzen des Mannes in Tönen der schrecklichsten Verzweiflung:
„O Gott! O schreckliche Ewigkeit!"
„Es gibt doch noch Gnade!" will ihn Tante Hanna trösten.
„Gnade? Wenn Sie wüßten, was ich für ein Mensch bin, wie ich andere verführt und vom Glauben abgebracht habe, dann würden Sie nicht mehr sagen, daß es noch Gnade gibt. O, ich muß Ihnen meine Schandtaten bekennen !"
„Nein, nein“, sagte Tante Hanna, „nicht mir! Schicken Sie zu einem Pastor!”
„Von den Pfaffen will ich nichts wissen, aber helfen Sie mir doch! Da drinnen brennt’s wie höllisches Feuer. O Gott! O schreckliche Ewigkeit!"
Tante Hanna weiß sich nicht anders zu helfen, als daß sie die Frau des Kranken bittet, mit ihr zu beten. Auf den Knien liegend ringt sie um die Seele des Sündenverzweifelten. “Jesus ist Sieger!” ruft sie ihm ermunternd zu. Und Er hat auch diesen Starken zum Raube genommen. Tagelang wogte noch der Kampf zwischen Licht und Finsternis; die drüben im Wirtshaus gegenüber wurden Ohren-zeugen der Angstschreie ihres Genossen und Führers. Umso herrlicher brach endlich die Macht der Gnade durch:
Der Mann kam zum lebendigen Glauben! Als seine Frau Tante Hanna bat, doch einen Seelsorger kommen zu lassen, wehrte sie ab: „Ihr habt ja Kinder; schickt selber zum Pastor!” Sie wollte jeden falschen Schein vermeiden; es, waren ja so viele auf den außerordentlichen Fall aufmerksam geworden. Die Leute holten nun selber einen Pastor. Ihm schüttete der Mann sein ganzes Herz aus. Begierig lauschte er der Botschaft vom Heiland, dessen Erbarmen auch den schnödesten Sünder umfängt. Der verlorene Sohn war heimgekommen.
Mit seinen alten Freunden wollte er nichts mehr zu tun haben. Er sagte ihnen offen heraus:
„Ihr habt mich und andere nur belogen und betrogen. Was mir Frau Faust gebracht, das hat mir Heil und Frieden gegeben!"
Und als er sein letztes Stündlein herannahen fühlte, da wandte er sich zu der, die ihm Wegweiserin und mütterliche Freundin geworden:
„Die Gesellschaft hat mich ausgestoßen, aber der Heiland hat mich begnadigt. Ich bin frei!" —
Wahrlich: „Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei!"
Unter starkem Polizeiaufgebot fand das Begräbnis statt; denn mehr als tausend Parteigänger geleiteten den Verstorbenen zum Grabe. Hier durfte der Seelsorger und treue Zeuge des Evangeliums allen sagen, wie dieser Brand so wunderbar aus dem Feuer geholt worden sei:
„Jesus kann reißen aus des Satans Macht, Er ist’s, der Sünder frei und fröhlich macht: Öffne dein Herz Ihm, laß heute Ihn ein — und ewiglich wird Er dein Erretter sein!" Viele Herzen sind durch diesen offenbaren Triumph Jesu beeindruckt worden, darunter mancher ehemalige Freund und Gesinnungsgenosse des Heimgegangenen. Einer von ihnen fragte, ob nicht Frau Faust auch ihn mal besuchen könne. Sie kam. Der Erfolg war der, daß sie das nächste Mal den Pastor mitbringen konnte. Der Betreffende fand ebenfalls Heil und Frieden im Glauben an Jesus!
Oder jener andere schwer verbitterte Mann und Familienvater. Eines Sonntags sagte er: „Der Gott muß der rechte sein, Den diese Frau anbetet!", um seiner Frau Bescheid zu geben, daß er in die Kirche gehen wolle — es mochte wohl seit seiner Konfirmation zum ersten Mal sein! —, überwunden durch die erfinderische, nachgehende, unermüdliche Liebesgeduld unserer Tante Hanna!
„Der Gott muß der rechte sein!" das ist in jenen Tagen gnädiger Heimsuchung des Wuppertals vielen, vielen wieder neu zum Bewußtsein gekommen. —
Tante Hanna war eine einfache Frau aus dem Volke; sie darf jedoch zu den Großen im Reiche Gottes gezählt werden. Was sie „groß“ gemacht, — Elias Schrenk, der bekannte Evangelist, hat sie einmal eine Großmacht des Wuppertals genannt! —, war ihr in der Liebe rastlos tätiger Glaube. Sie hat eine umfassende soziale Aufgabe erfüllt, wiewohl es ihr nur um eins ging: „Jesum groß zu machen!” Die Leute sollten „unseren HErrn Jesus" kennenlernen. Wenn sie Ihn kannten und hatten, wurde ja alles gut im Leben.
Was sie war, das war sie ganz. Sie hat es gewagt, das christliche Schema, das es auch zu ihren Zeiten schon gab, zu durchbrechen. Sie tat, was Jesus getan haben würde und rechnete beständig mit Seiner Gegenwart! J a, sie hatte einen starken Gott...
Dabei blieb sie ganz einfach die „Tante Hanna".
„Eine schlichte Frau aus dem Volke, trug sie etwas von dem königlichen Adel des Volkes Gottes an sich. Kampf, Nöte und Schwierigkeiten hat sie auch in ihrem Leben reichlich gehabt. Aber sie hat sich durchgefunden, indem sie ihren Willen eins sein ließ mit dem Willen Gottes. Sie glaubte, d. h. sie ließ Gott machen. Wir sind nicht ein Spielball des Teufels, wir sind nicht den Launen oder dem Willen böser Menschen preisgegeben, sondern unser Leben ruht in Gottes Hand. Er hat uns so lieb, Er macht keine Fehler mit Seinen Führungen. So, wie wir zu Ihm stehen, gestaltet sich unser äußeres Leben. Alles gehört zur Erziehung mit in meinen Weg." So schreibt Antonie Winterberg zum 25. Jahresgedächtnis ihres seligen Heimgangs.
Oft hat Tante Hanna gesagt, daß man sehr wohl in die Kirche und zur Gemeinschaft gehen und alles fromme Wesen mitmachen könne, — ohne dabei wirklich einen Heiland nötig zu haben! Sie war eine wahre „Rebe am Weinstock“, die der Vater im Himmel gereinigt hat, auf daß sie „viel Frucht” bringe.
Ihre Berufung geschah ohne menschliches Dazutun. Deshalb galt ihr Menschenwort wenig, Gottes Wort aber alles. Ihr Amt war ein freies Amt, dessen Siegel Gott Selber, durch böse und gute Gerüchte hindurch, aufprägte. Sie hat sich nicht gescheut, den Nächsten offen ihre Fehler zu sagen, aber sie wusch anderen nicht den Kopf, sondern die Füße — nach dem Vorbilde ihres geliebten Meisters.
„Einer trage des anderen Lästigen; ich bin auch ein Lästiger in den Augen Gottes!" konnte sie dann wohl sagen.
Schwer lag es ihr auf, daß Gotteskinder noch nach Jahren die alten Charakterfehler oder sogar Lieblingssünden an sich trugen und oft gar nicht kämpften, um davon frei zu werden. „Wem Weisheit mangelt, der bitte Gott!", damit ermunterte sie immer wieder, mit allen Schwachheiten zu Jesus zu kommen. Sie konnte nicht vertragen, daß solche, die sich Christen nannten, anderen einen Anstoß gaben.
Sie, die des Schreibens kaum mächtig war, hatte im Umgang mit der Hlg. Schrift ein so hohes Maß von geistlicher Weisheit empfangen, daß sowohl die schlichten Leute von der Straße als auch Gebildete und geistig Hochstehende von ihrer Persönlichkeit angezogen wurden. Weil sie alle Dinge im Lichte der Ewigkeit schaute, vermochte sie auch über schwierige Fragen mit sicherem Takte zu entscheiden.
„Ihr Bild steht mir von Jugend an vor Augen", berichtete gelegentlich eines Festvortrages im Elendstal Pastor Herrn. K r a f f t, Barmen-Gemarke: „Mit zwei schwerbeladenen Körben kam sie in das Haus meiner Eltern und verkaufte Kaffee. Das war ihr Broterwerb. Als kleiner Knabe fiel mir schon auf, wenn sie keuchend heraufkam, daß sie ein so leuchtendes Angesicht hatte. Es leuchtete etwas vom Licht aus der Höhe in ihren Augen. Hatte sie sich ein wenig in meinem Elternhause ausgeruht, so erzählte sie von ihrer Arbeit im Elendstal, von ihren Kämpfen und von ihren Siegen. Das tat sie auch in den Häusern der Fernstehenden und bezeugte:
„Jesus ist Sieger, auch in den Kämpfen und Nöten der Gegenwart!"
Als junger Mann habe ich manchmal an den Festen im Elendstal teilgenommen. Ich erinnere mich noch vieler teurer Gestalten aus der Vergangenheit des christlichen Lebens. Vor mir steht der selige Pastor Rinck, wie er über die Waffenrüstung der Christen nach Epheser 6 sprach. Ich denke an Pastor Barner, der in die tiefen Zusammenhänge der Bibelabschnitte einführen konnte. Ich denke an Pastor Conrad aus Cronenberg, der immer mit einer Schar Jünglinge und Jungfrauen erschien und dann so manches kräftige, ernste Wort redete.
Auch gläubige ,Laien’ zog Tante Hanna heran. Es ist mir noch eine Rede des Kaufmanns Daniel Hermann in Erinnerung über Offenbarung 21. Der konnte über das Neue Jerusalem besser reden als mancher Pastor, denn der beschäftigte sich an jedem Morgen von 6 bis 8 Uhr mit der Bibel und hatte dadurch einen Vorrat gesammelt, aus welchem er schöpfen konnte. Das Schönste bei den Festen war, daß Tante Hanna im Kämmerlein zu Gott schrie, daß Er das Wort doch an den Herzen segnen möchte zu Entscheidungen für die Ewigkeit.
In späteren Jahren trat ich in ein besonderes Verhältnis zu ihr. Sie hatte in einem der schlimmsten Viertel der Stadt, in der Anilinstraße, eine Bibelstunde angefangen. Dazu suchte sie gern die Kandidaten zu gewinnen und kam auch zu mir. Es paßte mir damals nicht so recht, und doch konnte ich es ihr nicht abschlagen. Ich bin ihr heute noch recht dankbar, daß sie mich angeworben hat. Das war die beste homiletische (kanzelrednerische) Vertiefung, die ich empfangen habe. Denn in diesen Bibelstunden war ich genötigt, ganz einfach zu reden. Sie fanden in dem Zimmer einer Arbeiterfamilie statt. Schlaf-und Wohnzimmer wurden zusammengenommen und Bretter über mehrere Böcke gelegt. Da drängten sich 40—50 Zuhörer zusammen.
Ich fing mit der Auslegung von 1. Mose 3, also mit der Geschichte des Sündenfalls, an. Tante Hanna sagte zu mir: ,Herr Kandidat, Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß mal ein Stein ins Fenster fliegt; aber maken Se sich nicks drus.’ War die Stunde aus, dann gab sie noch allen die Hand und begleitete den Kandidaten zur Pferdebahn. Dann ging sie nach Hause. Unvergeßlich für mich. Als ich später in der Gemarker Kirche noch einmal über 1. Mose 3 fortlaufend predigte und die Leute sich über die Einfachheit meiner Rede wunderten, da habe ich ihnen sagen müssen: ,Das habe ich in der homiletischen Stunde in der Anilinstraße gelernt!’"
Ebenso bezeugt Pastor Dr. Busch in einem Kapitel über „Tante Hanna als Seelsorgerin“, daß man von der einfachen und demütigen Frau viel lernen konnte in der Behandlung aller Art Menschen. „Sie war eben eine Meisterin in der Seelsorge, die Gott selbst ausgerüstet hatte mit reichen Gaben, den Seelen zu dienen und sie dem Heiland zuzuführen.”
Und zwar war ihre Seelsorge außerordentlich praktischer, einfacher Natur. In vielen Fällen ließ ihre L i e b e sie den Schlüssel zu Herzen finden, die völlig verschlossen und unzugänglich schienen. Das Geheimnis ihrer Seelsorge lag aber nicht darin, daß sie so viele ungewöhnliche Gaben von Natur besaß, sondern daß sie gelernt hatte, daß Beten und immer wieder Beten die Grundlage aller Seelsorge sein muß.
Sie stand in stetem Umgang mit dem HErrn und hatte sich daran gewöhnt, Ihm alles zu sagen, was sie bewegte. So tat sie es auch für die Seelen, die noch fern vom Heiland waren. Dabei ist sie geblieben bis zum letzten Tage ihres Lebens, und sie hat wunderbare Erfahrungen gemacht von der Macht unseres Gottes, der Gebete erhört.
Im letzten Jahre ihres Lebens fiel es ihr schwer auf die Seele, daß sie so wenig von der Bekehrung einer Seele hörte. Sie sagte es ihrem Heiland, Er möge es doch beweisen, daß Er Sünder erretten könne aus der Macht der Finsternis; Er möge es auch einmal wieder sehen lassen. Und siehe da: ganz kurz darauf kommen einige ganz junge, noch nicht lange konfirmierte Mädchen zu ihr mit freudestrahlenden Gesichtern: „Wir haben uns dem HErrn Jesus übergeben!" Wir können uns denken, wie das die Tante Hanna ganz besonders gefreut hat; wußte sie doch aus eigener Erfahrung, von wie großem Wert eine frühzeitige Bekehrung der Jugend ist.
Dann kam wieder eine Frau, die sehr gedrückt und traurig aussah. Sie hätte gerne einmal bei der Tante Hanna ihr Herz ausgeschüttet, aber die Verhältnisse ließen es nicht zu. Tante Hanna merkte wohl, was ihr fehlte und befahl sie im Gebet dem treuesten Seelsorger, dem HErrn, wie sie es denn immer für besser hielt, viel mit dem HErrn über die erweckten Seelen zu reden, als viel auf sie einzureden.
Nicht lange danach kommt jene Frau wieder, aber diesmal mit sehr fröhlichem Gesicht: Der HErr hatte ihre Last weggenommen, und sie konnte sich ganz ihres Heilandes freuen. Tante Hanna hat sich herzlich mitgefreut.
In den langen Jahren ihres Haus- und Ehekreuzes ist sie nicht müde geworden, anzuhalten mit Gebet und Flehen für ihren krankhaft gebundenen Mann. Als sie einmal gefragt wurde, wie sie denn die ganze eigene und fremde Not tragen könne, gab sie zur Antwort:
„Eck hall meck am Smieten (Schmeißen = Werfen)!"
Selig, wer es lernt, alle Last und Sorge auf Den zu werfen, Der allein helfen kann!
Wenn ihr Mann wieder seine „Touren" kriegte, hat sie manche schlaflose Nacht durchgebetet, — bis daß er kam oder heimgebracht wurde. So fühlte sie sich in einer Nacht ganz besonders angetrieben, für den Armen zum HErrn zu schreien. Sie wußte nicht, daß Wilhelm Faust an der Wupper stand, um da hineinzuspringen. Im letzten Augenblick wurde er von einem Vorübergehenden zurückgehalten und heimgeführt.
Es war immer der Wunsch der treuen Beterin und Mitstreiterin Christi gewesen, einmal unmittelbar aus dem irdischen Kampf und Dienst in die himmlische Feierabendruhe einzugehen. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Nur drei Tage hat sie krank gelegen — dann war die müde Magd beim HErrn. Am 16. Dezember 1903 ging sie in Frieden heim.
Oben im ärmlichen Kämmerlein an der Riemenstraße wurde die sterbliche Hülle aufgebahrt, und unten im Hause lagen die Weihnachtspakete und Gaben für ihre Armen, die nicht fassen konnten, daß ihre „Tabea" von ihnen genommen sei. Aber nicht nur sie trauerten, sondern hoch und niedrig, jung und alt, viele Freunde in der Nähe und Ferne!
Am 20. Dezember erwiesen sie ihr die „letzte Ehre". Es war ein Leichenbegängnis, wie es den Großen dieser Welt nur selten zuteil wird. Das Wuppertal hatte ein solches noch nicht gesehen!
Nach der Trauerfeier in der Trinitatiskirche bewegte sich ein gewaltiger Menschenzug durch die Straßen bis zum lutherischen Friedhof hin. Tausende standen Spalier oder hatten die Fenster und Dächer besetzt. Polizei mußte den Eingang des Friedhofes freihalten. So groß war der Andrang.
„Eck well äwer to mine Hanna Faust!" sagte ein altes Mütterchen, das man erst nicht mehr durchlassen wollte. Hier schlug noch einmal das Herz der Menge zu dieser Frau aus dem Volke, deren Leben aus einer einzigen Tat der Liebe bestanden hatte!
Pastor Niemöller, der der Trauerrede in der Kirche 1. Mose 12, 2: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!" zugrunde gelegt hatte, sprach am Grabe über Psalm 91, 15 - 16:
„Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil!" Längst schon darf sie vollendet schauen, was sie geglaubt hat; sie ruht von ihrer Arbeit — aber ihre Werke folgen ihr nach!
Es wurden ihr für die Armen viele Gaben anvertraut. Sie verteilte diese sorgfältig und gewissenhaft. Wenn trotzdem Verleumdungen im Blick auf die Verwendung der Gaben ihr Herz beunruhigen wollten, so sagte sie: „Jesus weiß alles; da mach ich mir so viel daraus, als wenn unsere Katze ,Miau’ sagt!"
Für einen abscheulichen Mann, der Frau und Kinder mißhandelte, legte sie folgende Worte ein: „Denkt einmal nicht an seine böse Art, sondern denkt einmal nur daran, wie teuer und wert seine Seele noch vor Gott erachtet ist, und wie lieb ihn trotz allem und allem unser Heiland noch hat."
Eine Gemütskranke, die sich für die Hölle bestimmt hielt, tröstete Hanna: „Wollen Sie das (in die Hölle kommen)?“ Die Kranke verneinte. „Dann” — fuhr Hanna fort — „brauchen Sie nicht bange zu sein; die Leute, die zu Jesus wollen, kann der Teufel nicht brauchen; die schmeißt er aus der Hölle heraus."
Einen ängstlichen Kandidaten, der mit ihr zur Bibelstunde unterwegs war, ermutigte sie: „Nur auf den HErrn sehen, nicht auf dich selber. Er soll wohl durchhelfen. Mußt nicht bange werden, Junge !"
Für eine Gabe, die ihr mit verdrießlicher Gebärde für die Armen überreicht wurde, dankte sie mit den Worten: »Nein, Sie geben nicht gerne, und deswegen danke ich für die Gabe."
Wie von Herzen demütig sie den Leuten gegenüberstand, zeigt folgender Ausspruch an: „Wir müssen werden wie ein Fußwisch; und wenn sie sich tüchtig die Füße auf uns abkratzen, dann ist es richtig!"
Tante Hanna pflegte im Blick auf damalige Zeitläufte zu sagen: „Et es ene krabbelige Welt!" Wie würde sie die Dinge heute wohl beurteilen?