Wilhelm Busch

Achor

 

„Und da sie sie gesteinigt hatten, machten sie über sie einen großen Steinhaufen, der blieb bis auf diesen Tag. Also kehrte sich der Herr von dem Grimm seines Zorns. Daher heißt der­selbe Ort das Tal Achor."

Josua 7, 25 und 26

 

Ein alter Bruder aus dem Siegerland kam einst in ein Christenhaus zu Besuch. Als er von der Verlobung des Sohnes hörte, legte er ihm die Hände auf die Schultern und fragte ernst: „Es ist doch wohl nicht eine von den Töchtern der Kanaaniter?"

Die Frage verblüffte zuerst nach Form und Inhalt den jungen Mann. Aber dann konnte er fröhlich in die fragenden Augen hinein ant­worten, dass seine Braut aus einem Christenhause stamme und selbst im Glauben an Jesus als ihren Heiland stehe.

Es ging ihm damals ganz groß auf, dass es ein Volk Gottes gibt. Und dass es eine Auszeichnung ist dazuzugehören.

Inwiefern ist es eine Auszeichnung? Sind Kinder Gottes reicher und gesunder als andere Leute? Nein! — Haben sie weniger Not zu tragen als andere? Nein! — Haben sie weniger Kämpfe als andere? Nein! Sogar mehr! — Worin besteht die Auszeichnung? Hätten wir zu Josuas Zeiten einen Mann aus dem alttestamentlichen Volk Gottes so gefragt, dann würde er uns zum Tal Achor geführt und auf einen riesigen Steinhaufen gezeigt haben: „Darin liegt unser Vorzug!" Um das zu verstehen, müssen wir uns die alte Geschichte vergegenwärtigen.

 

 

Wir sehen uns in Achor um

 

1. Das Denkmal des Verworfenen

Das Gottesvolk des Alten Testaments war in Kanaan eingezogen. Es begann das Land zu erobern. Große und herrliche Siege lagen hinter ihm.

Da kam der Rückschlag: Vor den kümmerlichsten Haufen der Feinde mussten sie fliehen. In der großen Not schrie Josua zum Herrn. Der antwortete: „Ihr könnt nicht siegen. Ihr steht unter einem Bann. Ihr habt einen Dieb unter euch, der sich an dem Gut vergriffen hat, das mir geheiligt war."

Es ist eine spannungsreiche Schilderung, wie nun Josua das Volk zu­sammenruft und das Los wirft, um den Verworfenen zu ermitteln:

Zuerst wird der Stamm Juda getroffen, von den Geschlechtern Judas dann das Geschlecht der Serahiter. Immer engere Kreise zieht das Los, bis es endlich auf Achan fällt. Zitternd gesteht der seine Schuld. Da nimmt man ihn, das gestohlene Gut und all seinen Besitz und was zu ihm gehörte. Man führt ihn in das einsame Tal Achor. Es ist eine schauerliche Szene, wie er mit all dem Seinen gesteinigt wird. Ein riesiger Steinberg verkündet: „Der Bann ist abgetan." Da geht über dem Volke Gottes die Sonne der Gnade Gottes neu auf, und es schreitet von Sieg zu Sieg.

Wir stellten uns eben vor, dass ein Mann uns dorthin führt und er­klärt: „Hier ist der Vorzug von Gottes Volk." Ich höre, wie er sagt: „Sieh, bei den Heiden achtet man die Sünde gering. Die Schuld liegt auf ihnen als Bann; wie eine dunkle Wolke ist Gottes Zorn über ihnen und wird immer dunkler. Über uns aber leuchtet die Sonne der Gnade. Denn der Bann ist hinausgetan. Des sind wir fröhlich!"

 

2. Unser Achan heißt Jesus Christus

Wer den Herrn Jesus Christus lieb hat, der fährt gewiss jetzt innerlich auf und denkt empört: Wie kannst du den schmutzigen Dieb Achan mit dem reinen Jesus vergleichen? Wie kannst du den verworfenen Achan neben den Sohn Gottes stellen, dem der Vater sagte: „Du bist mein lieber Sohn!" —?

Und doch, ich muss es tun. Und wer es versteht, hat das Evangelium verstanden. Auf Achan lag der Fluch, die Schuld, der Bann. Und erst als der Bann, der Fluch, die Schuld in Achan hinweggetan waren, hatte die Gnade das Wort.

Genauso ist es mit unserm Herrn Jesus Christus. Auch auf Ihm lag die Schuld. Aber hier ist nun der große Unterschied zwischen Ihm und Achan: Achan trug seine eigene Schuld. Der reine, unschuldige Sohn Gottes trug unsere Schuld. Man muss recht fassen, was Got­tes Wort in Jesaja 53, 6 sagt: „Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn." Im Galaterbrief (3, 3) steht: „Er ward ein Fluch für uns." Auf Jesus lag nun aller Bann, alle Schuld, aller Fluch. Und dieser Schuldbeladene wurde hinausgetan. Er wurde mit allem, was zur Sünde gehört, weggeworfen — wie Achan. Von den Menschen wurde Er an das Kreuz genagelt. Und von Gott wurde Er verworfen, dass Er entsetzt schrie: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!" In Römer 8, 3 heißt es, dass Gott „in seinem Fleisch die Sünde verdammte". Und in 2. Korinther 5, 21: „Gott hat ihn für uns zur Sünde gemacht."

Als unser Achan Jesus starb, ging das Verheißungswort aus Sacharja 3, 9 in Erfüllung: „Ich will die Sünde des Landes wegnehmen auf einen Tag."

Der alte „Posaunengeneral" Kuhlo hat einmal gepredigt über die Frage des Pilatus: „Was soll ich denn tun mit Jesus?" Und da hat er das Unerhörte und doch so Richtige ausgesprochen: „Wenn ich dort unten beim Volk gestanden hätte und Pilatus hätte mich so gefragt, dann hätte ich mitgeschrieen: ‚Kreuzige Ihn!' Denn auf Ihm lag nun alle Schuld, alle Sünde und aller Fluch. Und wenn Er gekreuzigt wurde, dann war aller Bann hinweggetan."

Wie dankt es Gottes Volk dem Sohne des lebendigen Gottes, dass Er für uns zum Achan wurde!

 

3. Unser Achor heißt Golgatha

In unserem Text heißt es von dem großen Steinhaufen: „Der blieb bis auf diesen Tag." Ein ewiges Denkmal in Israel, dass der Bann hinweggetan wurde und die Gnadensonne aufging! Dies seltsame Wort brachte mich darauf, dass hier ein Hinweis auf das Kreuz Christi ist. Denn das Kreuz steht als Denkmal der weg getanen Schuld durch alle Jahrtausende.

Wie manches Mal hat wohl später ein israelitischer Vater sein Söhn­lein an die Hand genommen, ist mit ihm hinaus nach Achor gegan­gen, hat ihm den Steinhaufen gezeigt und bewegt gesagt: „Hier wurde die Schuld aus Israel getan, hier wendete sich Gottes Zorn, von hier aus begann unser Siegesleben."

So dürfen wir nach Golgatha hinausgehen, nach unserm Achor. Wir Sünder, die wir es genau wissen, dass wir unter Gottes Fluch stehen, wollen nach Golgatha gehen und den Gekreuzigten ansehen, bis wir im Gewissen erfahren: „Der Bann wurde von mir genommen. Der Grimm des Zornes Gottes hat sich in Gnade verwandelt." Vielleicht sind auch Christen unter uns, die — wie Israel — nicht mehr siegen können. Sie taumeln von einer Glaubenslosigkeit und von einer Niederlage zur ändern. Gehe nach Achor und „wirf dem Sündentilger zu Füßen deine Last". Lass allen geheimen Bann unter Sei­nem Kreuze mitbegraben sein! Dann verspricht Gottes Wort dir Sieg.

„Achor" heißt „Betrübnis". Ja, betrübte Leute zogen nach Achor. Aber zurück kehrten fröhliche Sieger. So ist es mit Golgatha. Ein Strom von beladenen Gewissen, unglücklichen Herzen, schwermüti­gen Seelen, friedelosen Gemütern zieht nach Golgatha. Aber der Mann am Kreuz hat alles auf sich und in Seinen Tod hinein-genommen. So kehren begnadigte, fröhliche, friedvolle Leute von Golgatha zurück. Auch dafür finden wir wundervolle Andeutungen im Alten Testament. Da steht bei Jesaja (65, 10), dass das Tal Achor = „Betrübnis" ein herrliches Weideland werden soll. Und in Hosea (2, 17) heißt es, dass es ein „Tor der Hoffnung" sein soll. Ja, in der Tat! Golgatha — Achor ist unser „Tor der Hoffnung".