Inhaltsverzeichnis
Das
apostolische Glaubensbekenntnis auf dem Fabrikhof
„Sie
suchen, was sie nicht finden …“
Ein
Weltanschaulicher Kampf um ein Frühstück
An einer
polnischen Landstraße
„Das
Gewissen … ach ja, das Gewissen!“
„Jetzt geht
wieder die schöne Zeit an!“
Phrase oder
Ewigkeitswort auf dem Friedhof
Seltsam, wie still nachts um
2 Uhr die Grosstadtstrassen sein können, die am Tage mit Lärm erfüllt sind!
Schwarz und schweigend stehen die Häuser. Trübe scheinen die Lampen durch den
dunklen Nebel.
Fröstelnd biege ich ein in
die Strasse, die zu dem Krankenhaus führt. Mitten in der Nacht hat mich das
Telefon geweckt: Ein Sterbender verlangt nach dem Pfarrer.
Aus einem Hause fällt Licht.
Zankende Stimmen stören die Ruhe der Nacht. Um welche Kleinigkeit man sich dort
wohl streitet? Und in dem Krankenhaus schickt sich eine Seele an, in die
Ewigkeit zu gehen.
Es ist so wunderlich: Ich
sollte das Sterben doch gewohnt sein! Wie viele habe ich dahingehen sehen – auf
Schlachtfeldern und auf Krankenbetten! Aber – es ist und bleibt eine
erschütternde Sache, wenn der lebendige Gott ruft: „Kommt wieder, Menschenkinder!“
Ich muss mich beeilen! Bald
stehe ich vor dem großen
Gebäude. Der Pförtner weiß schon Bescheid und weist mich auf die richtige
Station.
Und nun betrete ich das
Krankenzimmer. Im Bett ein noch junger Mann. Seine Frau sitzt erregt bei ihm.
Als sie mich sieht, springt sie auf: „Herr Pfarrer, geben Sie meinem Mann
schnell das Abendmahl!“
Ich schaue auf den
Patienten. Der Tod hat das Gesicht schon gezeichnet. Der Kranke nimmt keine
Notiz mehr von meinem Kommen.
Nein! Ich werde den Mann
nicht mehr mit einer Abendmahlsfeier quälen. Aber es ist meine Überzeugung,
dass die Sterbenden unser Wort noch hören, auch wenn der Leib keine Zeichen des
Verständnisses mehr gibt. Und darum will ich den Mann in die Ewigkeit begleiten
mit meinem Gebet und mit den Worten der Gnade.
Die Frau hält meine Hand
fest: „Herr Pfarrer, schnell! Geben Sie meinem Manne das Abendmahl!“
Ich schiebe sie beiseite.
Ihre Unruhe ist bedrückend. Dann beuge ich mich zu dem Kranken und sage ihm
ganz langsam das Bibelwort: „Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller
Sünde …“
Langsam schlägt er die Augen
auf und sieht mich an. Die Frau packt meinen Arm: „Schnell! Das Abendmahl!“
Wenn ich doch die Frau zur
Ruhe bringen könnte! Ich führe sie auf den Korridor hinaus und versuche ihr
klar zu machen, dass ihr Verlangen sinnlos sei. „Sehen Sie, Ihr Mann ist schon
viel zu elend. Das Abendmahl quält ihn jetzt nur.“
Sie schluchzt auf: „Aber er
soll doch selig werden!“
Was soll man da sagen? „Frau!“
erkläre ich ihr erregt, „meinen Sie denn, eine äußerliche Zeremonie könne vom
Gericht Gottes erretten? Wenn Ihr Mann den Herrn Jesus Christus kennt als
seinen Heiland und an Ihn glaubt, dann ist er errettet – auch wenn er jetzt
nicht das Abendmahl nimmt. Und ohne Jesus – ja, da hilft auch kein Abendmahl!“
Aber sie lässt nicht nach!
Sie erzählt, wie sehr ihr Mann nach dieser Feier begehre. Sie drängt …
Ach, ich war damals ein
junger Anfänger im Amt. Auf der Universität hatte mich kein Mensch auf solche
Fälle vorbereitet. Hilflos stand ich im Zweifel, was zu tun sei. Dann gab ich
nach.
Wir gingen in das Zimmer.
Schnell richtete ich die Geräte. Der Mann war durch die leise Unruhe aufgewacht.
Still und – wie mir schien – gesammelt, war er jetzt ganz bei der Sache.
„Dies ist der Kelch des
neuen Testaments in meinem Blute, das für euch und für viele vergossen wird zur
Vergebung der Sünden …“ In der unendlich stillen Nachtstunde standen diese
gewaltigen Worte wie Felsen der ewigen Errettung …
Betend wartet der
Krankenwärter im Hintergrund. Ich kannte ihn als einen von Herzen gläubigen
Christen.
Als die Feier zu Ende war, sank
der Mann befriedigt zurück in die Kissen. Ich verließ mit dem Wärter das
Zimmer. Nun sollten die beiden Eheleute allein sein, um Abschied zu nehmen.
Aber – ich kam noch nicht
fort. Der Wärter verwickelte mich in ein Gespräch. Und ich ließ es gern geschehen.
Mir war, als sei diese Sache noch nicht zu Ende.
Es verging eine halbe
Stunde. Alles war still.
„Wir wollen nach dem Kranken
sehen“, sagte ich und öffnete die Tür.
Da bot sich mir ein verblüffendes
Bild: aufrecht saß der Mann im Bette. Lachend rief er uns zu: „Ich bin über den
Berg. Es geht besser!“ Und lachend und weinend warf sich die Frau an seinen
Hals.
Es war erstaunlich. Aber warum
sollte das nicht stimmen? Es läuft mancher durch die Strassen, den die Ärzte
einmal aufgegeben hatten. Und die Freude der beiden steckte einfach an. Da musste
man sich mitfreuen.
Ich nahm die Hand des Kranken:
„Wie glücklich bin ich, dass ich das miterleben darf.“ Und nun ergriff mich
dieser Wechsel der Situation mächtig. Ich musste noch ein Wort sagen: „Lieber
Mann, als Sie an den Pforten der Ewigkeit standen, ist der Herr Jesus zu Ihnen gekommen
mit Seiner Gnade. Lassen Sie nun nicht mehr von diesem Heiland!“
Da ging auf einmal ein
abscheuliches Grinsen über das Gesicht des Mannes – es war wie ein Flammenschein
der Hölle. Spöttisch lächelnd sagte er: „Ach, das alles brauche ich doch nicht mehr. Ich lebe ja wieder!“
Erschüttert stand ich. Jedes
Wort blieb mir in der Kehle stecken. Und während ich noch so stand, griff der Patient
plötzlich nach seinem Herzen und – sank langsam zurück. Er war tot!
Da bin ich in die Nacht geflohen
…
Der junge Bauer auf dem
einsamen westfälischen Hof machte große Augen. „Sie wollen Ihre Räder bei mir
abstellen? Natürlich können Sie das! Aber – sagen Sie mal! – was ist denn
eigentlich los? In meiner Scheune stehen sicher schon etwa hundert Fahrräder.
Und – sehen Sie! – dahinten kommt schon wieder ein Trupp!“
Er spähte auf die regennasse
Landstrasse hinaus. Leise fieselte ein Sprühregen. Man konnte nicht weit sehen.
Der Wind trug uns einzelne Töne des Fahrtenliedes zu, das die heranziehende
Schar sang.
„Die kommen zu Fuß!“ sagte
der Bauer. „Einen Wimpel haben sie auch. So geht das nun schon den ganzen
Nachmittag. Und alles zieht hinauf zur Schwedenschanze …“ Er zeigte auf eine nebelverhangene Kuppe des Teutoburger Waldes.
„Kommen Sie doch mit!“ luden
wir ihn ein, während wir die Räder in der Scheune abstellten. Er überlegte
einen Augenblick, ging dann ins Haus und kam in einem Lodenmantel zurück.
„Jetzt kann's losgehen!“ lachte
er. „Nun bin ich aber gespannt!“ Während wir auf steilen, kleinen Wegen in die
Berge stiegen, erzählten wir ihm, die evangelische Jugend habe an alle jugendbewegten
Kreise die Parole aufgegeben: „Wir treffen uns am Sonnabend vor Ostern auf der
Schwedenschanze zu Aussprache und Osterfeuer!“ Diese Botschaft sei nur von Mund
zu Mund durchgegeben worden. Und nun habe sich eben die Jugend aller
Schattierungen aufgemacht.
„Ja, – aber – bei diesem Wetter?!“
meinte er etwas erstaunt. „Das habe ich doch gesehen, dass manche von weit her
kommen.“
Wir lachten. Es war die Zeit
nach dem ersten Weltkrieg, in der eine herrliche und seltsame Bewegung durch die
Jugend ging. Man hatte bei Fahrt und Lager eine neue Welt gefunden. Und in dem
entschlossenen Willen zur inneren Wahrhaftigkeit, in dem neuen Lebensstil und
in der Ablehnung der verrotteten „alten Welt“ verstand man sich mit der Jugend
anderer Färbung tausendmal besser als mit den „Alten“ des eigenen Lagers.
Über solchen Gesprächen hatten
wir die kahle Kuppe der Schwedenschanze erreicht. Fröhliche Rufe empfingen uns.
Der Regenwind peitschte die Wimpel von Pfadfindern, evangelischer Jugend,
sozialistischen Gruppen, „Landsknechten“, Gilden – und was alles so aufbrach in
jener stürmischen Zeit.
Und dann saßen wir unter ein
paar alten Bäumen. Das Gespräch begann. Wir vergaßen Sturm, Regen, Nässe und Nebel
über dem heißen Ringen.
Die neue Welt! Darum ging
es! Und wir Christen sagten, da müsse man davon ausgehen, dass ja morgen der
Tag der Auferstehung Jesu sei. In diesem Ereignis sei die neue Welt
angebrochen. Ohne den lebendigen Herrn Jesus müsse alles, was wir ersehnten wieder
im Alten untergehen. Wir bezeugten das aus unserem Wissen um Jesus, ohne zu ahnen,
wie schrecklich die Zukunft uns Recht geben würde.
Ich weiß nicht mehr, was
alles in jener hereinbrechenden Nacht vor Ostern gesagt wurde. Nur der Schluss
unseres Gesprächs hat sich mir unvergesslich eingeprägt.
Fackeln waren angezündet worden.
Und im flackernden Lichte stand ein erregter junger Mann und rief: „Schluss mit
dem Christentum! Das hat 2000 Jahre Zeit gehabt, die Welt zu erneuern. Und was ist
geschehen? In seinem Namen sind Menschen gemartert und getötet worden! In seinem
Namen ist eine Welt von Heuchelei aufgebaut worden! Schluss damit! Ein Neues muss
kommen! Das Christentum ist tot! Das Christentum ist tot!“
Plötzlich stand neben ihm
ein blonder junger Westfale. Ich sehe ihn noch vor mir, wie der Wind an seinem Haarschopf
zerrte. Mit einer entschlossenen Handbewegung gebot er dem anderen Schweigen.
Und dann rief er – und es war ein unendlicher Jubel in seiner Stimme: „Gut! Mag
sein! Es mag sein, dass das Christentum tot ist. Aber – Jesus Christus lebt!“
Auf einmal war tiefes
Schweigen über den Hunderten von jungen Menschen.
Und dann rief einer mit heller
Stimme: „Nun das Osterfeuer!“
Wir liefen zu dem riesigen
Holzstoss. Das Holz war nass, und das Feuer musste sich erst durchsetzen. Aber dann
prasselte es hoch auf.
Und während der Sturm das Feuer
peitschte, sangen wir jauchzend:
Du
hast in dieser armen Welt
Ein
Feuer angefacht,
Und
deine heilge Rechte hält
Noch
immer drüber Wacht.
So
brennt's und lodert's da und dort
Trotz
Wind und Wasser immerfort;
O
schür die Glut, dass Funken sprühn
Lass
auch in uns dein Feuer glühn,
Lass
Funken sprühn, dass unsre Herzen glüh'n!
Heut
zünden wir ein Feuer an
Und
weihen dir die Nacht;
Wir
freuen uns wie Kinder dran,
Dass
du uns Licht gebracht.
Ein
Licht aus unsres Vaters Welt
Bist
du in unsre Nacht gestellt;
Dein
Leben leucht' wie Sonnenschein
In
unsre kalte Welt hinein;
Zieh
uns hinein in deinen Sonnenschein.
A.
Maurer
Es war lange nach Mitternacht,
als wir mit dem jungen Bauern hinabstiegen. Der Regen
hatte aufgehört. Über uns leuchteten die Sterne.
Kein Wort wurde mehr
gesprochen. Nur ganz von ferne hörte man den Gesang einer Schar, die über den
Kamm des Gebirges davonzog. Leise sangen wir mit: „Das Reich ist dein, Herr
Jesu Christ, das Reich, um das wir fleh'n …“
Wenn mein Freund Hans einem
die Hand drückt, dann weiß man, was man hat – sowohl am Händedruck wie an dem
ganzen Mann.
Hans betont manchmal mit
Nachdruck: „Ich bin nur ein einfacher Arbeiter!“ Aber ich wünschte wohl, dass
alle „Gebildeten“ solch einen weiten Blick und solch eine innere Freiheit
hätten wie er.
Hans steht mir sehr nahe. Mit
ein paar andern Männern kommt er an jedem Sonntagvormittag vor dem Gottesdienst
in meine Sakristei. Dann rufen wir zusammen unsern himmlischen Vater an, dass
Er Sein Wort mächtig mache in dem Gottesdienst.
Aber nun wird mein Leser
schon ungeduldig. Denn er will ja nicht den Hans kennen lernen, sondern die Geschichte
hören, die damals auf dem Kruppschen Werkshof sich abspielte.
„Damals“ – das war im Jahre
1934, als die germanischen Religionsunternehmungen in Deutschland
hervorsprossten wie das Gras nach dem Regen. Professoren und Gauleiter,
Generalsfrauen und HJ-Führer wetteiferten darin, ihre abstrusen Ideen als nordische
Religion anzupreisen. Eines schien klar: Das Christentum war abgetan.
Damals also geschah es, dass
in einer Werkspause Hans mit einer großen Schar von Arbeitern im Fabrikhof
stand. Man unterhielt sich. Und bald kam das Gespräch auch auf die Religion.
Da war namentlich einer, der
sich mächtig wichtig nahm. Der redete große Worte. Und
dann ergoss er seinen Spott über Hans, der „immer noch“ zur Kirche ginge. Aber
damit sei es nun bald zu Ende.
Hans antwortete, so gut er
es konnte. Die Diskussion wurde schnell heftig. Immer mehr Arbeiter drängten
sich um die beiden.
Da sagte Hans: „Ich habe den
Eindruck, dass wir aneinander vorbeireden. Jetzt sollte zuerst einmal der von uns
beiden deutlich sagen, was er denn eigentlich glaubt, damit unsere Standpunkte
klar werden. Ich will den Anfang machen. Und dann sagst Du, was Du glaubst.“
Und dann legte Hans laut und
vernehmlich los: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels
und der Erden. Und an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn …“
Es wurde sehr still. In der
Kirche – ja, da war dies apostolische Bekenntnis oft gesprochen worden. Aber
hier! Zwischen Werkshallen auf dem Fabrikhof! Unter rauen Männern im Arbeitskleid!
Hans ließ nichts aus: „… Vergebung
der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen! – So, das ist
mein Glaubensbekenntnis. Und nun kommst Du dran! Sage uns Dein Bekenntnis!“
Der andre fing an zu
stottern: „Hör mal, … pass einmal auf! …“
Aber nun war Hans eiskalt: „Nix
– pass einmal auf! Du sollst uns sagen, was Du glaubst!“
Wieder fing der andre an zu
stottern: „Also – mit dem Christentum – das ist doch – das geht doch nicht – –
–.“
Hans war unerbittlich: „Du
sollst nicht sagen, was am Christentum verkehrt ist. Dass Du gegen uns bist,
haben wir ja nun begriffen. Du sollst uns jetzt positiv sagen, was Du denn
glaubst. Los, fang an!“
Atemlos lauschte ringsum das
Volk dem Wortgefecht. Jetzt kamen ermunternde Stimmen: „Los, Karl! Sag es doch!“
Der stand jetzt mit einem puterroten
Kopfe da. Endlich brach es aus ihm heraus: „Was ich glaube? Was ich glaube! – Ja,
das ist noch nicht ganz raus! Da arbeiten sie noch dran in Berlin!! ...“
Da brach ein Gelächter aus.
Und in das Lärmen und Lachen hinein schrie der Ärmste zornig: „Wenn es aber
heraus ist, dann glaub ich dran! Darauf könnt Ihr Euch verlassen ...!“
Man glaubte es ihm. Das
bezweifelte nun keiner...
Ich habe oft gedacht, man
müsste es mehr machen wie der Hans. Man müsste die Bestreiter des Evangeliums
nach ihrem eigenen Glauben fragen. Da käme es dann schnell heraus, dass die
meisten groß sind im Negativen. Aber wenn es darum geht, etwas Positives vorzubringen,
sind sie meist sehr, sehr arme Leute.
O Hans! Ich würde dir einen
Lehrstuhl für praktische Theologie geben!
Gott hat manchmal seltsame
und wunderliche Prediger. Der Arzt Lukas berichtet uns in seinem „Evangelium“,
dass ein gehenkter Mörder in seiner Todesstunde vom Kreuz herab eine unerhört
eindrückliche Predigt gehalten habe.
Und das Alte Testament weiß,
einmal zu erzählen, dass sogar ein richtiger, vierbeiniger Esel geredet habe.
Manche glauben diese
Geschichte nicht. Ich glaube sie. Denn ich weiß, dass sich Gott oft wunderliche
Prediger Seiner Wahrheit erwählt.
Unter diesen ist mir
besonders eindrücklich ein großes, totes und ausgebranntes Gebäude. So oft ich
daran vorbeikomme, fängt dies Haus an, mir eine Predigt zu halten. Und ich weiß,
dass es eine ganze Nacht lang zu vielen hundert Menschen gesprochen hat.
Dies seltsame, predigende
Gebäude steht mitten in einer lauten Großstadt des Ruhrgebietes.
Hier muss einmal eine reiche
jüdische Gemeinde gewesen sein, dass sie sich solch eine großartige Synagoge
hat bauen können. Es ist ein riesiger Kuppelbau aus grauem Naturstein! Vor
vielen Jahren habe ich den Bau einmal von innen angesehen. Die Pracht dort entsprach
ganz dem wundervollen Äußeren. Man sah, dass ein großer Künstler dies Haus entworfen
und gebaut hatte.
Dann kam jener schreckliche
Tag, der für Jahrhunderte ein dunkler Fleck auf der Geschichte unseres Landes
sein wird; jener Tag, da das deutsche Volk mit einem Male vergaß, dass es einen
Luther, Kant, Bach, Goethe gehabt hat; da es mit einem riesigen Satz aus dem
20. Jahrhundert in das Mittelalter zurücksprang …
Es raste der Pöbel; die
jüdischen Geschäfte wurden geplündert; die Wohnungen der Juden demoliert; Unschuldige
getreten, erschlagen und erschossen …
Ein wüster Haufe drang auch
in die herrliche Synagoge und steckte sie in Brand. Was nur brennbar war, wurde
ein Raub der Flammen. Aber am Ende stand noch der riesige, nun so kahle
Kuppelbau. Die großen Steinquadern hatten dem Feuer getrotzt.
Damals fing dies Gebäude an,
peinlich zu werden. Es redete noch nicht. Aber in seiner toten Schweigsamkeit
begann es, die Menschen zu beunruhigen. Die Lautsprecher dröhnten von dem „deutschen
Kulturwillen“. – Und da stand dies Haus! Über dem Portal konnte jeder es noch
lesen: „Mein Haus soll ein Bethaus sein vor allen Völkern!“ Da stand es mit
seinen rauchgeschwärzten Mauern und seinen leeren Fensteröffnungen.
Man sprach immer wieder
davon, dies Haus müsse abgerissen werden. Aber – es kam nicht dazu. Es war, als
habe man den Mut verloren, noch einmal die Hand an dies stumme, riesige Gebäude
zu legen.
Und die Synagoge schwieg – schwieg
– als warte sie auf den Tag, da sie würde reden können.
Und der kam!
Dieser Tag fing in der
Grosstadt an wie alle andern. Die Kaufleute gingen in ihre Geschäfte die Hausfrauen
hatten Wäsche oder standen in Schlangen vor den Läden, in denen die Waren schon
knapp wurden; die Bergleute fuhren in die Tiefe, und andre kamen herauf … Es
war wie immer. So verging der Tag. Es kam der Abend. Dunkel lagen die Straßen.
Alle Häuser waren verdunkelt, alle Lichter draußen gelöscht. Es war ja Krieg,
und schon war manche Bombe über der Stadt gefallen.
Um 21 Uhr tönten die
Sirenen. Die Menschen liefen in die Keller … und dann kam
der Schrecken!
Der erste große Angriff mit „Bombenteppich“
und „Flächenbränden“. Die Menschen in den Kellern spürten die furchtbare Hitze.
Sie stürzten heraus! Nein! Viele kamen nicht mehr heraus. Sie fanden die
Zugänge verschüttet und verbrannten bei lebendigem Leibe …
Aber die herauskamen,
entsetzten sich. Rings um die Synagoge waren enge, dicht besiedelte Straßen.
Und nun stand alles in Flammen. Wohin man sich auch wandte, – Feuer! Feuer!
Dieser furchtbare Brand schaffte sich selbst den Sturm, der das Feuer brausend weitertrug.
Die Menschen hüllten sich in
nasse Tücher und machten sich auf, irgendwo Schutz zu suchen. Aber die Straßenausgänge
waren mit Trümmern versperrt. Der Rauch nahm ihnen den Atem. Da sank manch
einer um und wurde von stürzenden Mauern erschlagen, vom Rauch erstickt, vom
Feuer verschlungen …
Die sich durchschlugen,
suchten mit vor Angst irren Augen nach einem Ort, der Schutz böte vor dem
Feuer. Sie fanden nur einen: die riesige, kahle, längst ausgebrannte Synagoge.
Hunderte haben in jener schrecklichen Nacht dort Rettung gefunden.
Da saßen sie, eng gedrängt
und zitternd auf dem nackten Boden, während draußen der schauerliche Tod
umging. Da saßen sie und konnten nicht weglaufen, als nun die Synagoge anfing
zu predigen.
Es war eine schreckliche
Predigt. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz: „Irret euch nicht, Gott lässt
sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten.“
Da war manch einer, der
hatte an jenem Frühlingstag mitgemacht, als man das Feuer an diese Synagoge
legte. Und die andern hatten neugierig zugesehen, hatten vielleicht gelacht.
Sicher hatten sie geschwiegen. Aber – wer hatte an Gott gedacht, an Gott, der nicht
schweigt?
Damals hatte das Feuer dies
eine Gebäude verzehrt. Nun ging die Stadt im Feuer unter … Und ausgerechnet dies
Gebäude war nun Zuflucht!
Die Synagoge predigte. Und
selbst der Verstockteste hat in jener Nacht des Grauens die Predigt gehört: „Irret
euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten ...“
Die Geschichte ist aber noch
nicht zu Ende.
Unter den Flüchtlingen war
einer, dem hielt die Synagoge eine besondere Predigt.
Er war ein einfacher Mann,
der einen kümmerlichen Lohn auf einer Kohlenzeche verdiente. Aber er gehörte zu
den Leuten, von denen der Herr Jesus sagte, dass sie „reich sind in Gott“.
Dieser Mann saß unter dem
bestürzten Volk und war weder sehr verwundert noch unruhig. Verwundert war er
nicht, weil er aus dem Wort Gottes längst wusste, dass dies Volk schrecklichen
Gerichten entgegengehen musste. Und unruhig war er nicht, weil er Frieden mit
Gott hatte.
So saß er nun in seiner
Ecke, nachdem er vielen Leuten zurechtgeholfen hatte.
Er war müde. Aber schlafen konnte man ja nicht.
Und da fing die Synagoge an,
ihm ihre besondere Predigt zu halten. Sie fragte: „Weißt du auch, warum ihr
hier geborgen seid vor dem Feuer?“ Und er antwortete: „Ja, weil hier das Feuer
schon einmal getobt und alles, was brennbar war, verzehrt hat.“
„Weißt du auch“, fragte die
Synagoge, „dass es noch ein andres und schrecklicheres Feuer gibt als dies, vor
dem ihr euch hier geborgen habt?“
„Das weiß ich wohl“, sagte
der Mann, „das ist das schreckliche Feuer des Gerichtes und Zornes Gottes, das
einmal entbrennen wird über alles ungöttliche und unheilige Wesen der
Menschen.“
„Da weißt du ja schon viel!“
sagte die Synagoge. „Aber meinst du, dass du dann auch eine Zuflucht finden
wirst, wenn dies Feuer entbrennt? Meinst du, dass dann auch solch eine Stelle
da sein wird, die Zuflucht bieten kann, weil das Feuer schon darüber ging?“
Nun lächelte der Mann
inmitten des erschrockenen und betrübten Volkes und sagte: „O, ich weiß, wo du
hinaus willst. Ja, es gibt einen einzigen Ort, über den das Feuer des Zornes
Gottes schon ging und der darum Zuflucht bietet: Das ist das Kreuz Jesu auf
Golgatha.“
„Du hast recht!“ sagte die
Synagoge. „Sieh mich nur an! Wie sicher seid ihr in meinem Schoße, weil ich
früher das Feuer erlitten habe. Und so ist man sicher unter dem Kreuz Jesu. Wie
hat dort das Feuer gebrannt, als Jesus rief: ,Mein
Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen!' – Jetzt ist man in alle
Ewigkeit dort sicher vor dem Gericht Gottes.“
Da freute sich der einfache
Mann, dass er um diese ewige Zuflucht wusste. Dann legte er sich, so gut es bei
dem Gedränge eben möglich war, zurecht und schlief nun doch ein – er ruhte so
friedlich und getröstet wie ein Kind am Herzen der Mutter.
Engadin! –
Der Name klingt wie ein Gedicht. Wir hatten einen Sommertag lang die Schönheit
dieses herrlichen Landes genossen. Nun war es Abend. Wir bummelten noch ein
wenig durch die Strassen von Pontresina. Kurgäste aus
aller Herren Länder, Hotelburschen, Sennen, Alte und Junge, Reiche und Arme belebten
die Straßen.
Auf einmal schritten zwei
junge Männer an uns vorbei, die aller Blicke auf sich zogen: straff, braungebrannt,
gingen sie mit langen, federnden Schritten gleichmütig durch die Menge.
„Das sind zwei berühmte
Bergführer!“ sagte jemand.
Wir sahen ihnen nach. Ein
Hauch von Abenteuern lag über ihnen. Und dann kam die Rede natürlich auf die
Bergführer.
Während des Gesprächs gingen
meine Blicke immer wieder hinüber zu den weißen Schneegipfeln der Bernina, die
leise im Abend verdämmernd über die dunklen Tannenwälder herübergrüßten.
Mein Schweizer Freund folgte
meinen Blicken. „Ja, sieh dort den scharfen Grat! Das ist der Bianco-Grat. Da hat es ein Bergführer einmal erlebt, dass
Amerikaner schwindlig wurde. Er kauerte sich nieder und war durch alles Zureden
nicht zu bewegen, weiterzugehen. Da erhob der Führer drohend seinen Eispickel
und schrie: „Ich schlag' Sie jetzt über den Grat hinunter, wenn Sie nicht
sofort weitergehen!“ Da erschrak der Amerikaner so fürchterlich, dass er
aufsprang und – um sein Lehen zu retten – die beängstigende Gratwanderung
fortsetzte. Und als sie wieder im Tal waren, da gab der reiche Mann dem Führer
einen Extra-Dollarschein. Denn er hatte begriffen, wie prächtig ihm der Führer
geholfen hatte.“
„Von dem Bianco-Grat
weiß ich noch eine andre Bergführer-Geschichte“, sagte jetzt ein anderer
Freund. „Da geht es steil bergauf durch harten Schnee, rechts und links aber
schauerlich hinunter in endlose Tiefen. Und dann kommt da eine Stelle – da ist
der Grat ausgebrochen ...“
„Da hört es einfach auf?“
frage ich erschrocken.
„Nun ja, es ist nicht so
schlimm. Aber man muss eben doch etwas über einen Meter springen zu der Stelle
hin, wo der Grat weitergeht.“
Uns, die wir aus der Ebene
kommen, schaudert ein wenig hei diesem Bild. Aber mein Freund fährt fort: „Nun,
für geübte Leute ist es nicht gefährlich. Also – dort ist nun die Geschichte
passiert. Da geht eine Gesellschaft über den Grat. Sie kommen an diese Stelle.
Der Führer springt voran. Der Nächste zögert. Da streckt der Führer ihm die
Hand hin.
Der Ängstliche sieht nachdenklich
auf die Hand – er überlegt, ob er es wagen kann. Da schüttelt der Bergführer
nachdrücklich diese seine sehnige, braungebrannte Hand und ruft: „Sie können es
getrost wagen. Diese Hand hat nie jemand
losgelassen!”
Was nun noch weiter
gesprochen wurde, habe ich nicht mehr gehört. Denn meine Gedanken gingen ihre
eigenen Wege. Ich sah im Geist diese starke Hand vor mir und hörte das
unendlich stolze Wort: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“ Aber vor
meinen Augen änderte sich das Bild der Hand. Die Hand, die ich sah, war
durchbohrt.
Mein Leben mit Jesus ist
auch eine Gratwanderung. Seitdem ich mein Leben an Ihn angeseilt habe, ging es
oft über steile und gefährliche Wege. Und immer wieder wollte mir schwindlig
werden. Immer wieder sagte das verzagte Herz: „Man kann nicht einfach gegen
alle Berechnung nur auf Jesus hin leben.“ Aber dann war es immer so, wie dort
am Bianco-Grat. Er streckte mir Seine Hand, die für
mich durchbohrt war, entgegen und sagte: „Diese Hand hat noch nie jemand
losgelassen.“
Ja, so ist es! O, diese
starke Hand Jesu! Man kann sich ihr getrost anvertrauen. Jesus sagt im 10. Kapitel
des Johannes-Evangeliums: „Niemand soll die Meinen aus meiner Hand reißen.“ Und
ich bin gewiss, dass niemand und nichts Ihn zum Lügner machen wird.
Es war eine jener trostlosen
Straßen, wie sie überall in großen Industriestädten zu finden sind: endlose
Reihen geschmackloser Mietskasernen, grau geworden vom Ruß, der aus unzähligen
Schloten quillt, – rasselnde und bimmelnde Straßenbahnen, – Lastautos, die
lärmend über das schlechte Pflaster holpern, – Kneipen, aus denen kreischend
Radiomusik ertönt – – und dazwischen Menschen! Menschen! Dicht gedrängt! Die
Not des Lebens steht ihnen im Gesicht geschrieben.
Und Kinder! Scharen von
Kindern! Sie spielen unbekümmert und bringen es fertig, in dieser traurigen
Umgebung dasselbe Jugendparadies zu finden wie andre „im schönsten Wiesengrunde“.
Ein paar Buben rennen mich
beinahe um. Sie kommen mir gerade recht. Ich bin erst seit kurzem in dieser
Stadt und kenne die Gegend noch nicht genau. Nun soll ich einen Kranken
besuchen, der „Auf der Soldatenwiese“ wohnt. Wo in aller Welt mag hier die Soldatenwiese
sein? So weit ich sehe: nirgends etwas Grünes!
So halte ich nun den Buben,
der beim eifrigen Spiel fest: „Weißt Du, wo die Soldatenwiese ist?“
„Ja, das ist doch das
Barackenlager hinter dem alten Friedhof.“ „Wo ist denn der alte Friedhof?
Kannst Du mir nicht den Weg dahin zeigen?“
Er schaute sich nach seinen
Freunden um. Die haben sich neugierig herzu gemacht. „Geht ihr mit?“ fragte er.
Und ich lerne hier wieder die Macht der „Horde“ kennen. Wenn die andern „Nein!“
sagen, wird er um nichts in der Welt zu bewegen sein, mir den Weg zu weisen.
Aber ich habe Glück: sie wollen alle mit. Und so ziehe ich weiter – nun mit
einem stattlichen Gefolge von 12 Buben.
Sie erwarten offenbar etwas
von mir. Gut! Ich werde sie nicht enttäuschen. „Wollt ihr eine Geschichte
hören?“
„Klar! Fangen Sie an!“
Und während wir uns durch
den Lärm und das Gedränge schieben, erzähle ich ihnen die biblische Geschichte,
wie die Jünger beim Sturm auf dem See Genezareth in große Not gerieten, wie
aber der Herr Jesus dann mit Seinem machtvollen Wort den Sturm stillte.
Buben hören gern von Jesus.
Und so gefiel ihnen diese Geschichte so gut, dass sie noch mehr verlangten. Ich
erzählte. Ärgerlich, erstaunt, lächelnd und auch wütend schauten uns die Leute
nach. Denn ich musste ja recht laut reden, damit ich bei dem Lärm verstanden
wurde. Und jedenfalls war der Name Jesus
auf solch einer Straße nicht gerade etwas Alltägliches.
Inzwischen hatten wir den
alten Friedhof erreicht. Hier bogen wir ab in einen ganz schmalen Weg, der am
Kirchhofgitter entlang führte.
Da hielt auf einmal einer der
Buben an und sagte erstaunt: „Wie still es hier ist!“ Ich musste lächeln:
solchen Großstadtjungen fällt es nicht auf, wenn es abscheulich laut ist,
sondern wenn es still wird.
Aber wir blieben nun alle
stehen und lauschten hinein in die Stille des alten Friedhofs. Man hörte nur
den Wind in den Bäumen rauschen. Und von fern den Lärm der Straße.
„Buben!“ sagte ich, „jetzt
ist es da drin im Friedhof ganz still. Aber es wird einmal ein Tag kommen, an
dem es hier ein großmächtiges Leben und Gedränge gibt.“
„Wenn der Friedhof abgeräumt
wird!“ erklärt einer, der Bescheid weiß.
„Nein! Das meine ich nicht.
Ich denke an den Tag, „wenn einst die Posaun' erklingt, die auch durch die
Gräber dringt.“ Und nun erzähle ich ihnen die unerhörte Botschaft der Bibel,
dass die Toten auferstehen werden; und dass der Herr Jesus als der Erstling
schon auferstanden ist.
Atemlos hören die Buben mir
zu.
„Und dann?“ fragt einer.
„Ja, seht, da war ein Jünger
des Herrn Jesus. Dem hat Gott in wunderbarer Weise gezeigt, was dann kommt. Ich
will es euch in den Worten dieses Johannes sagen: ,Und
ich sah einen großen weißen Stuhl und den, der darauf saß; vor des Angesicht
floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah
die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan.
Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die
Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und
so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward
geworfen in den feurigen Pfuhl'.“
Schweigend haben alle
zugehört. Aber es ist fast, als seien diese gewaltigen Worte der Offenbarung zu
groß für sie. Ich muss es ihnen in ihre Sprache übersetzen:
„Bub, wie heißest du?“ frage
ich einen.
„Ich? Ich heiße Eduard.“
„Also Eduard, pass einmal
auf. Da steht also eine unübersehbare Menge vor diesem weißen Thron. Einer nach
dem andern wird aufgerufen. Auf einmal ruft ein Engel mit starker Stimme: , Eduard!' Und dann steht der Eduard ganz allein vor Gott.
Und da sagt Gott zu dem starken Engel Gabriel: , Sieh
doch nach, ob der Eduard im Buch des Lebens steht.' Und der Engel blättert in
dem großen Buch und sucht – – er schlägt die nächste Seite um – nichts! – er sucht
weiter – die übernächste Seite – – wieder nichts – er blättert weiter – – und
sucht – – –“
Die Buben halten vor
Spannung den Atem an.
Und ich erzähle weiter. Über
dem Erzählen wird es mir selbst von neuem ganz eindringlich groß, dass wirklich
unser ganzes Leben und alle Welt- und Menschengeschichte auf das große Gericht
Gottes zueilen, und wie ernst doch Gott uns nimmt, dass ein jeder sein Gericht
erleben und erleiden muss.
„Immer noch sucht der Engel
Gabriel. Eine gewaltige Stille liegt über der ungeheuren Versammlung. Auf
einmal ruft der Engel Gabriel laut: ,Da steht der
Eduard im Buch des Lebens!'“
„Ha, das wäre großartig!“
sagt aufatmend der Eduard.
„Ja, Eduard“, sage ich, „das
wäre herrlich, wenn dein Name einmal im Buche des Lebens stünde! Und ich will
dir auch sagen, wie das geschehen kann: Schenke du nur dein ganzes Herz dem
Herrn Jesus, von dem ich euch erzählt habe. Dann kann es dir nicht fehlen … Aber
da vorn sehe ich schon das Barackenlager. Das wird ja wohl die Soldatenwiese
sein. Da danke ich euch auch recht herzlich für die Begleitung!“
Und während die Buben laut
rufend davonziehen, geht mir der liebe alte Vers durch den Sinn:
„Schreib'
meinen Nam'n aufs Beste
Ins
Buch des Lebens ein,
Und
bind' mein Seel fein feste
Ins
schöne Bündelein
Der’r,
die im Himmel grünen
Und
vor dir leben frei:
So
will ich ewig rühmen,
Dass
dein Herz treue sei.“
Offen gestanden – ich habe
immer ein wenig Angst vor der alten „Mutter Berger“ gehabt. Denn sie hatte die
Pfarrer im Verdacht, dass es ihnen an dem rechten Eifer für das Reich Gottes
fehle. Sie wird wohl in einem langen Leben ihre Erfahrungen gesammelt haben.
Und weil sie nicht zu den
Leuten gehörte, die hinter dem Rücken kritisieren, so besuchte sie mich ab und
zu und sagte mir ihre Meinung oder gab mir Aufträge. Das war nicht immer ganz
leicht zu ertragen. Aber oft musste ich ihr auch Recht geben. Und wenn sie dann
mit einem betete zum Schluss des Gesprächs, dann war alles gut. Ihre Gebete
waren gewaltig: Da spürte man das Erschrecken vor Gottes Majestät. Da brach
eine brennende Liebe zum Herrn Jesus und zu den Menschenkindern heraus. Da
wurde man erschüttert durch das Eifern um das Reich und die Ehre Gottes.
So ähnlich stelle ich mir
Debora, das Weib Lapidoths, vor, die als Richterin in
Israel die Kanaaniter schlug. Die Kenner der Bibel wissen, dass man im 4.
Kapitel des Richterbuches von ihr lesen kann. Und ich kam mir neben der Mutter
Berger immer wie der Barak vor, von dem dasselbe Kapitel berichtet, dass er
nicht ganz mitkam neben dem gewaltigen Glauben der Debora.
Der furchtbare Bombenkrieg
brach über unsre Stadt Essen herein. Immer häufiger wiederholten sich die
Schreckensnächte, in denen verzweifelte Menschen durch die Strassen irrten und
nicht wussten, wo sie sich vor dem Feuer bergen sollten.
Hunderttausende flohen aufs
Land. Als man der Mutter Berger nahe legte, sie solle sich doch auch evakuieren
lassen, tat sie das kurz ab: „Ich habe hier meine Aufgabe.“
In der Tat, die hatte sie!
Wie viele mögen sich an dieser glaubensstarken Frau aufgerichtet haben in jenen
schrecklichen Jahren!
Eines Nachts saß sie wieder
im Keller mit den anderen Hausbewohnern. Das waren gottlose Leute, die über die
alte Frau nur lächelten.
Dann kam der Angriff. Wer je
solch eine Stunde miterlebt hat, weiß, welch eine Qual das für die Nerven ist:
das Heulen der Sprengbomben, das teuflische Zischen der Brandbomben, das zerreißende
Krachen der Explosionen. Da wird eine Minute zur Ewigkeit. Und solch ein
Angriff dauerte oft 50 Minuten!
Die Leute im Keller schrieen.
Sie klammerten sich aneinander. Jeden Augenblick konnte man verschüttet oder
zerrissen werden.
Da rief auf einmal eine
Frau: „Mutter Berger! Beten Sie doch!“
Mutter Berger, die bisher
gelassen und ruhig dagesessen hatte, fuhr auf: „Wie könnte ich jetzt mit Euch den
Gott anrufen, den Ihr bisher verachtet habt?“
„Mutter Berger, beten Sie!“
schrie die Frau.
„Ich will es tun“, sagte
Mutter Berger, „wenn Ihr von jetzt an den Herrn suchen wollt!“
„Ja, das wollen wir!“ rief
es aus allen Ecken des Kellers, in dem das Entsetzen nun völlig Platz gegriffen
hatte. Das Licht war längst ausgegangen. Der Keller bebte wie ein Schiff im
Sturm. Die Bomben krachten, heulten, zischten. Kalkstaub erfüllte die Luft. Man
saß wirklich im Rachen des Todes.
„Ja, wir wollen Gott suchen!“
riefen die Leute. „Wir werden am nächsten Sonntag mit Ihnen zur Kirche gehen!“
Und dann betete diese arme,
alte, schwache Frau, die im Glauben stark war, und der ihr Gott Ruhe und Gelassenheit
gab, laut und tröstlich. Sie stellte diesen Keller mit all seinen verlorenen
Insassen in die Hand ihres Herrn. Sie dankte Ihm für Seine Gegenwart und rief
Ihn mit starker Stimme um Hilfe, Kraft und Trost an.
Über solchem Gebet des
Glaubens wurde es still. Die Leute erlebten etwas von dem Frieden, „der höher
ist als alle Vernunft“.
Dann war endlich der
schauerliche Angriff vorüber. Still gingen alle in ihre Wohnungen – – –
Und nun kam der
Sonntagmorgen. Mutter Berger ging von Tür zu Tür und lud ein zum Gottesdienst: „Ihr
habt mir versprochen, den Herrn zu suchen. Jetzt kommt mit mir, Sein Wort zu
hören!“
Dann musste sie schließlich
doch ganz allein gehen. In der einen Wohnung schlug man ihr vor der Nase die
Türe zu. In einer anderen stammelte man verlegene
Entschuldigungen. In einer dritten jagte man sie mit einem Fluch weg, und in
der vierten lachte man sie einfach aus – – –
Es war 14 Tage später:
Wieder eine Schreckensnacht! Wieder saßen die Leute im Keller. Wieder war das
Licht verlöscht. Wieder heulten, krachten und zischten die Bomben über einer
sterbenden Stadt.
Die Leute im Keller von
Mutter Berger wollten diesmal stark sein. Sie hatten sich ein wenig geschämt, dass
sie so „die Nerven verloren hatten“. Aber als eine halbe Stunde vergangen war
und der Schrecken sich nur immer mehr steigerte, da war es mit ihrer Stärke
vorbei. Und dann fiel ihnen wohl ein, wie ihre Herzen über dem starken Gebet
der alten Frau ruhig geworden waren.
Die Mutter Berger war ja
wieder unter ihnen. Ja, gelassen und still versunken saß sie in einer Ecke.
Und dann schlug eine schwere
Bombe ganz in der Nähe ein. Man hörte sie heranheulen … eine Schrecksekunde … dann
ein ohrenbetäubendes Krachen, Bersten … Kalkstaub … man meinte, man müsse ersticken
…
Da schrie ein Mann entsetzt:
„Frau Berger! Beten Sie doch!“ Und alle fielen ein: „Mutter Berger! Beten Sie!“
Einen kurzen Augenblick war
es still. Man hörte nur das Getöse des Angriffs. Dann kam die Stimme der Mutter
Berger durch die Dunkelheit – und man wusste nicht, ob sie hart oder traurig
klang: „Mit Euch kann ich nicht mehr beten. Ihr verachtet ja meinen Gott!“
Und sie überließ die Leute ihrem
Entsetzen – –
Debora im Luftschutzkeller! –
–
Mutter Berger wurde später
schwer krebskrank. Lange lag sie im Krankenhaus. Dann schickte man die alte
Witwe als einen hoffnungslosen Fall nach Hause.
Bald nachher trafen wir sie
auf der Straße. Sie war – wie so oft – auf Wegen der Liebe. Sie konnte es nicht
lassen, den Menschenkindern, an denen sie eine Aufgabe hatte, nachzugehen.
Wir waren entsetzt: „Mutter
Berger! Sie sind doch krank! Wie können Sie so herumlaufen! Was macht denn der
Krebs?“
Da winkte sie etwas
ärgerlich mit der Hand und sagte dann gelassen: „Was geht mich mein Krebs an?“
So blieb sie stark und
getrost, bis ihr Herr sie heim rief zur Ruhe der Kinder Gottes. Wir aber
trauerten um eine „Mutter in Israel“.
Beerdigung!
Wir stehen um das offene
Grab. Der Mann, dessen Sarg da langsam in die Tiefe gleitet, war ein erfolgreicher
Geschäftsmann. So wundert es mich nicht, dass eine große Menschenmenge sich
eingefunden hat.
Ein leiser Regen setzt ein.
Die Leichenträger werfen eilig eine Unmenge von nassen Kränzen von den schwarzen
Karren. Dann verschwinden sie.
Nun spricht ein Pfarrer.
Heimlich schaue ich mich ein
wenig um. Lautlos stehen die Leute und horchen zu … Ja, hören sie wirklich? Ich
möchte, ich könnte in die Köpfe und Herzen hineinsehen. Das müsste doch
interessant sein, festzustellen, was jetzt jeder denkt. Ob ich einmal versuche,
es zu erraten?
Der dicke Herr mit dem
spiegelblanken Zylinder (schaut verstohlen auf seine
Uhr): Himmel, wenn der sich da vorne doch ein bisschen beeilen wollte, dann könnte
ich noch eine Stunde auf mein Büro und die Post erledigen. So eine Beerdigung
nimmt schrecklich viel Zeit weg!
Die schlanke Frau an seiner
Seite: Schrecklich, so ein Grab! Nun liegt der arme Kerl da unten! Vor 14 Tagen
hat er noch ein paar Flaschen Mosel mit uns geleert. Und nun …! Brr! Wenn man
denkt, dass sich jetzt die Würmer an ihn heranmachen! Und dass man selber mal
so …! Ich möchte, es wäre zu Ende!
Das junge Mädchen: Der Dr.
X. schaut dauernd zu mir herüber. Und dabei! ... wie sehe ich aus! Schwarz steht
mir einfach nicht! Ob er es wohl merkt?
Die arme Verwandte dort am
Grab: Ja, der hat sich aufs Geschäft verstanden! Aber dass er nur einmal an uns
gedacht und uns etwas hätte zukommen lassen … Nein! Lieber machte er schöne und
kostspielige Ferienreisen! Ha, nun nützt ihm sein ganzes Geld nichts mehr! Ob
er wohl im Testament an uns gedacht hat?
Die alte Frau mit dem zarten
Gesicht: Ich werde wohl die nächste sein, die sie hier heraustragen … Ich freue
mich darauf. Wie schön, dass ich von Jugend auf den Herrn Jesus als meinen
Heiland kenne. Eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens hat Er mir geschenkt.
Eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens – ! Wie schön ist das!
Der Mann mit den verbissenen
Zügen: Da haben wir's! Nun fängt der Pfarrer wirklich wieder mit dem alten
Unsinn an: Auferstehung der Toten! So ein Unsinn! Tot ist tot! Wie der Baum
fällt, so bleibt er liegen. Am liebsten möchte ich unter Protest die Versammlung
verlassen. Aber das geht ja wohl nicht gut …
Der nachdenkliche Mann:
Auferstehung der Toten?! Habe lange davon nichts mehr gehört. Gut, dass man
sich einmal Zeit nimmt für eine Beerdigung. Auferstehung der Toten! Wenn das
wahr wäre? Ja, dann sollte man … dann sollte man … Nun, was denn? Wollen hören,
vielleicht sagt der Pfarrer, was man sollte … Was empfiehlt er? Jesus! Wer ist
Jesus? Doch irgend so ein Religionsstifter! Was sagt der Pfarrer da? Jesus
errettet und macht selig! Dann wäre er doch mehr als ein Religionsstifter? … Wenn
ich nur mehr Zeit hätte, mich um diese Sache zu kümmern! … Aber, wenn es eine
Auferstehung der Toten gibt, dann sollte man sich doch die Zeit nehmen. Dann
wäre das doch wichtiger als alles andre …
Der elegante junge Herr:
Schrecklich! Nun verregnet mir mein gepumpter Zylinder! Mein Nachbar wird schön
schimpfen! Hätte ich doch einen Schirm mitgenommen!
Der einfache Mann dort mit
dem stillen Gesicht: Mein Gott, mein Gott, ich bitt durch Christi Blut: Mach's
nur mit meinem Ende gut!
„Amen!“ sagt da der Pfarrer.
– Eine leise Bewegung geht durch die Versammlung, als nun ein Chor zu singen
beginnt.
An dem langen Bretterzaun
steht eine Gruppe von Männern. Was wird dort schon los sein? Wahrscheinlich
verkauft irgendein „fliegender Händler“ seinen „Gesundheitstee“ oder „Patentkrawatten“!
Diese Burschen können ja so hinreißend reden, dass sich immer eine neugierige
Gruppe um sie versammelt.
Ich will schon vorbeigehen –
da merke ich: diese Sache ist ernster. Auf irgendeiner Erhöhung, die ich nicht
erkennen kann, steht ein hagerer Arbeiter und redet auf seine Genossen ein.
Da ich auf der anderen Straßenseite
gehe, kann ich nur einzelne Fetzen seiner Rede hören: „Dickbäuchige Aussauger … luxuriöse Villen … hungrige Kinder … Ausbeuterlöhne
… arbeitslos … auf die Straße fliegen!“
Das Herz krampft sich mir
zusammen. Das hier ist keine politische Versammlung. Es ist ja so unendlich
viel Not bei uns im Ruhrgebiet beieinander. Und diese Not hat hier eine wilde, hasserfüllte
Stimme bekommen …
Auf einmal schrecke ich
zusammen. Der Redner hat mich erspäht und erkannt: „Ha, da ist ja ein Pfaffe!“
ruft er. „Kommen Sie nur her! Wir müssen auch einmal miteinander reden! Ich
habe Sie was zu fragen!“
Sehr liebenswürdig lautet
die Einladung ja nicht. Aber wenn man nicht empfindlich ist, kann man seine Worte
doch immerhin als eine Einladung ansehen. Also gehe ich auf den Haufen zu.
Die Männer machen mir Platz;
ich gehe durch die Menge, die sich hinter mir wieder dicht zusammenschließt.
Und dann stehe ich vor dem Redner. Jetzt sehe ich, dass er auf einem Erdhaufen
steht. Außerdem ist er ein beträchtliches größer als ich. So muss ich recht zu
ihm hinaufsehen. Nun, es ist einem Pfarrer sehr heilsam, wenn er einmal unten
zuhören muss, und die andern stehen auf der Kanzel.
Da legt er los: „Ich frage
Sie, Sie Vertreter Gottes! Wie kann Ihr Gott schweigend zusehen, wenn so viel Unrecht
geschieht …“
Und nun schildert er die
Elendswohnungen, die Sorgen der Mütter, die ihre Kinder nicht sättigen können;
die Verzweiflung der Erwerbslosen, die ihre Tage unnütz verdämmern müssen; den
Jammer der Bergleute, die in der harten Arbeit eine Gesteinstaublunge bekommen
haben und nun in den besten Mannesjahren elend und arbeitsunfähig dahinsiechen
…
Und daneben stellt er den
Luxus der Besitzenden, den Hochmut der so genannten Gebildeten …
„Nur zu!“ muss ich denken. „Es
ist ja wahr, was du sagst! Es muss ja auch gesagt werden …“
Langsam merkt er offenbar,
dass ich ihm innerlich gar nicht opponiere. Das ist aber nicht der Sinn seiner
Rede. Er hat mich ja als seinen Feind herbeigeholt. Und nun fällt ihm offenbar
auch ein, womit er mich wütend machen kann.
„… Und dazu schweigt Ihr
lächerlicher Gott! Und die Kirche ist nur ein Instrument in der Hand der Ausbeuter!
O, Ihr Gott! Den gibt es gar nicht! Damit machen wir nun Schluss! …“
Ich schüttle den Kopf.
„… Was, Sie meinen, es gäbe
wirklich einen Gott? Dann will ich Ihnen was erzählen! Machen Sie gut Ihre
Ohren auf! Wenn es also Ihren Gott gibt, dann werde ich ihm ja einmal begegnen
nach meinem Tod …“
Ich nicke nur. Zu mehr komme
ich nicht.
„Also, ich werde ihm
begegnen? Gut! Darauf freue ich mich! Da werde ich nämlich auf diesen Gott
zugehen und werde ihm sagen: Du hast gewusst, dass Kinder verhungern, während
andre alles haben, und hast nichts getan! Du hast Kriege zugelassen, in denen die
Unschuldigen leiden mussten, und die Schuldigen brachten lachend ihr Schäfchen
ins Trockene! Du hast geschwiegen zu all dem Jammer, dem Unrecht, der
Bedrückung, der Ausbeutung! Ja, das alles will ich Ihrem Gott unter die Nase
reiben … Und wissen Sie, was ich dann zu ihm sage? Dann heißt es: Du Gott! Hinweg!
Herunter von deinem Thron! Hau ab …“
So! Nun hat er es erreicht,
dass auch ich zornig werde. Ich falle ihm ins Wort: „Gut so! Ich werde mitrufen bei diesem „Herunter von deinem Thron! Hau ab!“ …
Es ist auf einmal ganz
still. Erstaunt sieht mich der Redner an. Er hat wohl das peinliche Gefühl, er
hätte sich irgendwie geirrt und ich sei gar nicht der Pfarrer. Es ist fast zum
Lachen, wie verblüfft alles dreinschaut. Und damit hat sich die Atmosphäre auf
einmal geändert, so, dass man vernünftig miteinander reden kann. Solch eine
Gelegenheit muss ich benutzen:
„Sehen Sie, ein Gott, der
sich von Ihnen so antrompeten lässt, müsste ja wirklich ein lächerlicher Gott sein.
Nein! Den gibt es nun wirklich nicht. Der existiert nur in Ihrem Kopf. Ein
Gott, der sich von Ihnen zur Rechenschaft ziehen lässt, – ein Gott, vor dem Sie
als Richter stehen und Er ist der Angeklagte – … ach nein! Solch einen Gott
gibt es nur in ganz verwirrten Köpfen. Und da kann ich nur sagen: Hinweg mit
diesem Gott! Mit solch einem muss endlich einmal Schluss gemacht werden …!“
„Aber – Sie sind doch
Pfarrer“, stammelt etwas erschrocken der Redner.
„Gewiss, das bin ich! Aber
darum will ich Ihnen sagen …“ – und nun erhob ich meine Stimme, dass alle gut
hören konnten – „darum will ich Ihnen bezeugen: Es gibt einen andern,
wirklichen Gott. Den ziehen nicht Sie zur Rechenschaft. Sondern der stellt uns
vor Sein Gericht. Und da wird Ihnen das Wort in der Kehle stecken bleiben! Es
gibt keinen Gott, zu dem Sie sagen könnten: Hinweg mit Dir! – Aber es gibt
einen heiligen, lebendigen, wirklichen Gott. Und der könnte einst zu Ihnen
sagen: Hinweg mit dir! …“
Nun, es war ein raues und
heftiges Gespräch geworden. Aber den Männern war das recht. Ich sah, dass sie
mir zuhörten. Und daran erkannte ich, dass sie nicht politische Fanatiker
waren, sondern Männer, welche die harte Not drückte.
Darum konnte ich noch ein
paar Worte anbringen: „Ich verstehe nicht, dass Sie Ihren Kampf um soziale Gerechtigkeit
beschmutzen, indem Sie den Kampf gegen Gott aufnehmen. Ich meine vielmehr, wenn
man „Gerechtigkeit“ fordert, dann kann man das eigentlich nur im Namen Gottes
tun. Und damit bekommt die ganze Sache für die Fordernden wie für die Hörenden
ein völlig andres Gewicht!“
Damit nahm ich Abschied, und
die improvisierte Versammlung sich auf …
Es ist wunderlich, wie
einzelne Eindrücke der frühesten Jugend unverlierbar im Gedächtnis haften, während
oft große Erlebnisse der späteren Zeit wie ausgelöscht sind.
So erinnere ich mich, dass
ich als ganz kleiner Kerl meinen Vater auf einem Gang in die Stadt begleiten durfte.
Der Weg führte über einen schmalen Steg, der die Bahnanlage überquerte. Es war
aufregend, weil die Bohlen nicht dicht nebeneinander lagen. Man sah zwischen
ihnen in der Tiefe die glitzernden Geleise.
Mein Vater ging vor mir her,
und ich nahm mein kleines, zitterndes und furchtsames Herz in beide Hände.
Immer hatte ich das Gefühl, ich müsse zwischen den Bohlen durchfallen und
hinabstürzen.
Als eine Rangierlokomotive,
die grauenvoll qualmte, unten durchfuhr, da war es um meine Fassung geschehen.
Es muss komisch gewesen sein, wie ich auf einmal aus dem umhüllenden Qualm
erbärmlich um Hilfe schrie.
Aber dann fasste mich die
starke Hand meines Vaters. – Das ist etwa 50 Jahre her. Und – wie gesagt – ich
war ein so kleiner Kerl, dass ich mich sonst kaum an jene Zeit erinnere. Aber
die unendliche Seligkeit, die ich über der starken, rettenden Vaterhand
empfand, ist mir so gegenwärtig, als sei das gestern gewesen.
Wie oft hat später die
rettende Hand meines Heilandes so in mein Leben eingegriffen, wenn der Qualm des
Lebens mich verzweifeln lassen wollte.
Es war sicher nicht viel
später, als sich jene andere seltsame Geschichte ereignete, die hier berichtet
werden soll.
Da tobte durch meine
Heimatstadt der Karneval. Mein Vater litt als ein treuer Pfarrer seiner
Gemeinde innerlich große Not. Er bekam nachher die erschütternden Folgen dieser
Taumeltage zu spüren, da arme Leute ihre Betten ins Pfandhaus trugen, um mitfeiern
zu können.
Es war am Aschermittwoch. Da
forderte er mich auf: „Komm, du darfst mich auf einem Gang begleiten!“ Es war
noch früh am Morgen. Da und dort sah man in den Straßen die widerlichen,
betrunkenen Überbleibsel der letzten Nacht.
Der Weg führte uns auch in
die Anlagen, die sich in meiner Heimatstadt einen Berghang hinanzogen.
Es war schön dort. Und ich
sehe noch im Geist die morgenfrischen Bäume und Sträucher.
Der Weg ging in Serpentinen
bergan. An jeder Umbiegung des Weges stand unter einem großen Gebüsch jedes Mal
eine Bank, von der aus man einen schönen Ausblick in das Tal hatte.
Gemächlich stiegen wir
höher. Wieder kamen wir an so eine Wegbiegung. Und da – wir stutzten einen Augenblick
– da auf der Bank saß ein blutjunges Paar: Er noch im Harlekinkostüm, sie in
ein Flittergewändchen gekleidet. Ach, es sah das so unsagbar aus an diesem
frischen Morgen! Auf den Gesichtern der beiden lagen die Spuren einer Taumelnacht.
Diese jungen Menschen waren wohl schon alle Tiefen gegangen!
Nun, ich war so ein kleiner
Kerl, dass ich von all dem nicht viel verstand. Was mir aber damals schon auffiel,
war dies: Über diesen Gesichtern lag eine unendliche Traurigkeit, eine
abgrundtiefe Verzweiflung. Welche Gesichter über den Narrenkleidern!
Es war kein Wunder, dass wir
beide betroffen stehen blieben. Aber mein Vater fasste sich schnell und ging
schweigend weiter. Und ich stapfte mit meinen kleinen Beinen hinter ihm her.
Dabei hatte ich das Gefühl, als wenn etwas unsagbar Schreckliches mich gestreift
hätte.
Wir waren kaum um das uns
verdeckende Gebüsch gebogen, da mein Vater stehen und
horchte. Nun hörte ich es auch – die beiden sangen ganz leise ein Lied. Es klang
so seltsam, dass es mir durch Mark und Bein ging.
Damals hörte ich zum ersten
Mal dies Lied, das ich später oft gesungen habe. Wo mochten diese Zwei das herhaben?
Vielleicht kamen sie aus einem frommen Elternhaus. Oder sie hatten es in einem
Kindergottesdienst gelernt, als ihr Leben noch nicht so unsagbar beschmutzt
war.
Ich erlebte das alles etwas
fassungslos. Und als mein Vater weiterging in tiefem Schweigen, ja, in
erschüttertem Schweigen, zog ich bekümmert hinter ihm her. Ich verstand ja
nichts. Es war mir nur, als hätten sich Abgründe vor mir aufgetan.
Später aber, als ich selbst
dies Lied lernte, verstand ich die Bewegung meines Vaters. Das Lied nämlich lautet
so:
„Ich
bin durch die Welt gegangen,
und
die Welt ist schön und groß,
und
doch ziehet mein Verlangen
mich
weit von der Erde los.
Ich
habe die Menschen gesehen,
und
sie suchen spät und früh;
sie
schaffen und kommen und gehen,
und
ihr Leben ist Arbeit und Müh.
Sie
suchen, was sie nicht finden,
in
Liebe und Ehre und Glück,
und
sie kommen belastet mit Sünden
und
unbefriedigt zurück.
Es
ist eine Ruhe vorhanden
für
das arme müde Herz!
Sagt
laut es in allen Landen:
Hier
ist gestillet der Schmerz!
Es
ist eine Ruh gefunden
für
alle fern und nah,
in
des Gotteslammes Wunden
am
Kreuz auf Golgatha.“
Manchmal – ganz unmotiviert –
fallen mir die beiden jungen Menschen ein. Und ich frage mich, ob diese in der
Wüste der Welt Verirrten wohl den Weg „nach Hause“ gefunden haben, von dem sie
hier sangen?
Wie lange ist das nun
eigentlich her – lasst mich zurückrechnen! – Ach, es ist ja gleichgültig, wie
viel Jahre seitdem verflossen sind. Es war jedenfalls nicht sehr lange nach dem
ersten Weltkrieg.
Wer die Zeit noch miterlebt
hat, weiß, dass damals die Menschen nicht so stumpf und müde waren wie nach dem
zweiten großen Krieg. Nein, damals verbissen sie sich mit Leidenschaft und
Fanatismus in politische Ideen.
Also damals war es, als ich
in den Arbeitervorort einer Industriestadt geschickt wurde mit dem schönen Titel
„Hilfsprediger“. Wenn man es richtig verstand, bedeutete dieser schöne Name,
dass ich ein Prediger sei, dem man helfen müsste. Und so war es in der Tat.
Was nützte es mir hier, dass
ich einen Krieg mitgemacht hatte! Und dass ich Theologie studiert hatte, brachte
mich auch nicht weiter! Denn diese verhetzte Bevölkerung, die schon ihrer
westfälischen Natur nach ziemlich dickköpfig ist, war sich völlig einig in der
Ablehnung des Pfarrers und des Evangeliums.
In die Kirche kamen die
Leute nicht. Also fing ich an, tagsüber Besuche in den Häusern zu machen. Weil aber
die Männer in der Fabrik waren und ich nur die Frauen antraf, höhnten sie: „Da
sieht man's! An die Männer wagt sich so ein Pfaffe nicht heran!“
Daraufhin machte ich meine
Besuche am Abend, wenn die Männer zu Hause waren. Für ein paar Tage wurde die
Front verwirrt. Dann stand sie wieder fest gegen mich. Es wurde die Parole
ausgegeben: „Kein Mann darf mit dem Pfaffen sprechen!“
Es war fürchterlich! Ich
ging von Wohnung zu Wohnung. Mit den Frauen gab es ein kurzes, unerfreuliches
Gespräch. Die Männer saßen dabei, grinsten und schwiegen. Kein Gruß! Kein
Handschlag! Sie taten, als sei ich Luft.
Oft war ich tief
niedergeschlagen vor Zorn und Scham, wenn ich nach diesen Gängen in mein
einsames Zimmer zurückkehrte. Manchmal aber habe ich auch gelacht und die
Männer bewundert, die das so konsequent durchhielten. Ja, damals habe ich
Respekt bekommen vor den westfälischen Charakteren. Und ich sagte mir: „Wenn es
dem Worte Gottes gelingt, hier einzubrechen, dann wird etwas Herrliches entstehen.“
Es ist so gekommen! Jesus
wurde Sieger. Und es entstand hier eine Gemeinde, die heute noch blüht.
Langsam, sehr langsam gingen
die Türen auf.
Aus jenen Tagen, als die „Front“
anfing zu wackeln, will ich ein Erlebnis berichten:
„Herein!“ ruft es, als ich
anklopfe.
Ich öffne zaghaft die Tür:
Ein großes Zimmer mit vielen Menschen. Ich sehe die Szene noch deutlich vor mir:
Die Mutter steht am Herd und backt „Pickert“. Neben
ihr kniet der Vater, ein alter Arbeiter, und stochert im Feuerloch. Mitten in
der Stube ein junger Mann. Er hat sich ein Waschbecken auf einen Stuhl gestellt
und vollzieht eine große Reinigung. Um den Tisch sitzen noch ein paar junge
Leute, Kinder, Schwiegerkinder? Ich weiß es nicht! Auch ganz kleine Kinder
kriechen herum. Kurz – eine beachtliche Volksversammlung.
„Guten Abend!“ rufe ich in
das Getümmel. Der Vater schaut auf: „Ach, der Pfaffe!“ Ein Gelächter antwortet.
Und von dem Augenblick ab bin ich Luft für alle. Ich wende mich an die Frau.
Sie tut, als sei sie taub. Sie war meine letzte Hoffnung gewesen.
Eine fürchterliche
Situation! Soll ich unter dem Gelächter des Volkes abziehen? Unmöglich!
In meinem Herzen ruft es unablässig:
„Herr Jesus! Nun hilf mir doch!“ Und Er hilft. Mein Blick fällt auf einen
jungen Mann, der im Winkel sitzt und auf einer Gitarre herumhantiert. Ich
steure auf ihn zu: „Können Sie spielen?“
„Nein!“ brummt er. Und mein
Herz jauchzt. Es war doch immerhin ein menschlicher Laut.
„Geben Sie einmal her! Ich
will Ihnen ein paar Griffe zeigen!“ Entschlossen entreiße ich ihm das Instrument
und schlage ein paar Akkorde an. Interessiert schaut er auf meine Finger. Und
ich bin nebenher überglücklich, dass hier nicht ein Klavier stand. Da hätte ich
mir nicht zu helfen gewusst. Aber auf der Gitarre war ich einigermaßen sicher.
Der Unterricht beginnt. Ich
drehe allem Volk den Rücken und erkläre dem jungen Mann: „Sehen Sie, das ist
der D-Dur-Akkord. Der ist ganz einfach. Damit können Sie schon eine ganze Menge
Lieder begleiten!“
Ich klimpere ihm vor. Er
nimmt das Instrument, probiert. Es geht schief. Ich mache es noch einmal vor.
„Begleiten Sie damit ein
Lied?“ fragt er. „Gewiss!“ Und dann spiele und singe ich: „Alle Vögel sind
schon da …“
Er staunt. Er probiert auch
…
Ich merke, dass hinter
meinem Rücken eine atemlose Stille eingetreten ist. Alles horcht gespannt. Aber
ich wage nicht, mich umzudrehen. So spüre ich nur die Blicke wie ein Prickeln
in meinem Rücken.
Er kann es jetzt schon ganz
gut. Es wird für mich Zeit, dass ich zu meiner Botschaft komme.
„Soll ich Ihnen noch einmal
ein Lied vorspielen?“ frage ich. Er nickt. Jetzt gilt's!
Ich nehme die Gitarre,
stimme sie noch einmal. Und dann singe ich. Nicht schön, o, ich weiß nur zu gut,
dass meine Stimme sehr rau klingt. Aber auf die Schönheit des Gesanges kommt es
jetzt gar nicht an. Es geht jetzt nur um den Text!
„Schönster
Herr Jesu, Herrscher aller Enden,
Gottes
und Marien Sohn!
Dich
will ich lieben, Dich will ich ehren,
Du
meiner Seelen Freud' und Kron …“
Eine große Stille ist im
Zimmer. Noch drehe allen den Rücken und kann nicht sehen, was sie tun. Aber –
es ist still!
So wage ich den zweiten
Vers. Und dann den dritten und den vierten. Niemand unterbricht mich.
Ich singe den Vers von „der
schönen Jugend“: „Sie müssen sterben / müssen verderben – Nur Jesus lebt in Ewigkeit.“
Immer noch sagt niemand ein
Wort. Mein Herz wird so fröhlich. Ich wusste es ja: Mögen sie alles gegen den „Pfaffen“
haben und gegen seine „Kirche“ – der Name „Jesus“ ist eine Macht, der auch
harte Herzen sich beugen müssen.
Hinter mir ist es so still,
als warteten alle noch auf einen weiteren Vers. So singe ich:
„
Wenn einst ich sterbe,
Dass
ich nicht verderbe,
Lass
mich Dir befohlen sein!
Wenn's
Herz wird brechen,
Lass
mich dann sprechen:
Jesus!
Nimm auf die Seele mein!“
Das Lied ist zu Ende. Ich
drehe mich um.
Alle Augen im Zimmer sehen
mich an. Regungslos hat alles zugehört. Der Vater atmet tief auf: „Ein schönes
Lied!“ sagt er.
„Ja, und ein wichtiges Lied!“
erwidere ich.
„Wieso wichtig?“ fragt er
etwas unsicher.
„Das will ich Ihnen
erklären! Aber erst müssen Sie mir einen Stuhl geben! So schnell geht das
nicht!“
Es ist wie ein Wunder. Da
sitze ich dann am Tisch mit diesen Leuten. Und sie hören mir zu, als ich ihnen klar
mache, dass ich nicht Propagandist einer Weltanschauung bin; dass ich nichts
von ihnen will; dass aber Gott durch den Herrn Jesus etwas Großes für sie getan
hat …
Und leise, ganz leise geht
wieder eine Tür auf, die so lange verschlossen gewesen war …
Der Regen strömte. Die Berge
des Sauerlandes waren von Wolken und Nebel verhängt.
Doch meine 150 rauben
Burschen, die unverdrossen hinter mir herzogen, sangen: „Regen, Wind, wir
lachen drüber …“
Es war eine wild zusammengewürfelte Schar. Auf den einsamen Höfen
verschlossen die Bauern erschrocken die Türen. Sie dachten wohl, jetzt sei
wieder einmal eine Revolution ausgebrochen.
Wir lachten. Denn wir waren
in einer ganz friedlichen Stimmung …
Wie soll ich nun mit ein
paar Worten erklären, wie es zu dieser wunderlichen „Fahrt“ kam? Da müssen wir
schon weiter ausholen, und der Leser muss ein wenig Geduld haben:
Es war im Jahre 1932. Unser
Volk war aufgespalten in unendlich viele politische
und weltanschauliche Parteien, die sich mit fanatischem Hass bekämpften. Und
dabei nahm die Not täglich zu. Die Zahl der Erwerbslosen war ins Ungemessene
gestiegen.
Da saß eines Tages ein
junger Erwerbsloser vor mir. Sein Gesicht drückte hoffnungslose Verzweiflung aus:
„Sehen Sie! Wenn ich jetzt in die Ruhr springe, entsteht gar keine Lücke. Jeder
ist nur froh, dass ich weg bin. Dann ist mein Vater mich los, der mich jeden
Tag einen unnützen Esser nennt. Und der Staat spart die Unterstützung. Wissen
Sie, wie das ist, wenn man völlig überflüssig ist?“
Da begann ich zu überlegen:
Es gibt doch noch einen Stand, der in langen Ausbildungsjahren keine produktiven
Werte schafft und der doch dieses entsetzliche Gefühl der Wertlosigkeit nicht
hat: Das sind die Studenten. Wie wäre es, wenn ich diese Erwerbslosen in
Studenten verwandelte? Das wäre immerhin eine seelische Hilfe! Gewiss, sie ist
gering! Aber die Größe der Dunkelheit darf uns nicht hindern, unsre kleine
Kerze anzuzünden.
So gründeten wir die „Universität
für Erwerbslose“. Das wurde eine schöne und fröhliche Sache! Bald versammelten
sich jeden Morgen 500 strebsame junge Männer in den Räumen des großen
Jugendhauses zu ernster Arbeit. Da gab es Gruppen für Englisch, Französisch,
Mathematik, Landwirtschaft, Musik, Stenographie, Esperanto, Jiu-Jitsu,
Architektur, und was man sich nur denken kann. Die Dozenten waren Erwerbslose.
Es war einfach köstlich, zu
beobachten, wie die bedrückten Seelen auflebten.
Den Höhepunkt aber bildete
in jeder Woche eine „ Weltanschauungs-Stunde“. An der nahmen alle Studenten
teil.
Welch eine unerhörte Spannung
lag über dieser Versammlung! Wir begannen jedes Mal damit, dass ich etwa 20
Minuten lang das Evangelium verkündete. Dann folgte die Aussprache.
O, diese Diskussion! Die
jungen Männer waren mit zitternder Erregung an dem Gespräch beteiligt. Da waren
junge Kommunisten, SA-Leute in der braunen Uniform, Stahlhelmer
und sozialistische Falken, Nihilisten und Christen, Narren und Weise, Fanatiker
und Zyniker, Atheisten und Jesus-Jünger, Sektierer und Idealisten.
Oft verwandelte sich der
Saal in ein tobendes Schlachtfeld. Und ich musste wie ein Löwenbändiger dazwischen
springen und den erregten Männern klarmachen, dass sie ja jetzt Studenten
seien, dass sie also nicht mit Stuhlbeinen, sondern nur mit den Waffen des
Geistes zu kämpfen hätten. Da löste sich oft alles in ein fröhliches Gelächter
auf.
In einem aber waren sich
fast alle einig: Das Evangelium wurde in den ersten drei Minuten schon vom Tisch
gewischt. Nun ja, der Pfarrer musste wohl so reden! Aber diese überalterte
Sache hatte ernsthaft nichts zu bedeuten! Und dann kamen die politischen Ideologien!
Die Lehre von Lenin! Die Lehre von Hitler! Die Wirtschaftslehre von Silvio
Gesell! Karl Marx! Das wimmelte nur so von Fachausdrücken, großen Ideen,
wirtschaftlichen Lösungen! Und ich stand ganz klein und dumm da mit meinem
schlichten Evangelium von dem Heiland der Sünder. Was sollte das noch hier bei
dieser Schar! Jeder hatte das Rezept zur Welterlösung fertig in der Tasche!
Und so wäre es wohl
geblieben, wenn sich nicht die Sache mit den Brötchen ereignet hätte. Und das
kam so:
Eines Tages beschlossen wir,
einen zweitägigen Ausflug in das Sauerland zu machen. An dem Morgen, als wir
losziehen wollten, war das Wetter sehr zweifelhaft. So erschienen nur 150
Unentwegte.
Das wurde eine
unvergessliche Fahrt!
Seit ich denken kann, habe
ich solch einen Dauerregen nicht erlebt. Aber wir waren nun einmal
entschlossen, unseren Plan durchzuführen. So ging's von Hagen nach Lethmate. Die herrliche Dechenhöhle
war trocken. Und so waren die seltsamen Tropfstein-Gebilde dort eigentlich das
Einzige, was wir an jenem Tage zu sehen bekamen. Alles andere verschwand im Nebel
und Wasser.
Schließlich landeten wir
singend und pudelnass in einer Jugendherberge. Jeder Fahrtenbruder weiß ja, wie
es nun zuging. Fröhliches Gewimmel! Kleider wurden am dampfenden Ofen getrocknet.
Und nach dem Abendbrot saßen wir gemütlich und leicht müde um den Kamin. Ich
wollte eben von einer Reise nach Amerika erzählen, da erschien ein
Bäckerlehrling:
„Einen schönen Gruß vom
Meister! Und ob einer der Herren morgen früh Brötchen wolle. Er gäbe 4 Stück
für zehn Pfennige ab.“
Nachdenklich saßen meine
Gefährten. Ich konnte auf ihren Stirnen lesen: Ein Groschen! Viel Geld für einen
Arbeitslosen! Dafür konnte man 3 Zigaretten bekommen! Aber so frische,
knusprige Brötchen! Gewiss! Aber – es gab ja doch Brot zum Frühstück. –
Schließlich entschlossen
sich etwa 50 Mann, die Brötchen zu bestellen.
So – nun konnte ich
erzählen! Es wurde sehr gemütlich. Schließlich konnte ich sogar eine
Abendandacht halten. So freundlich war die Stimmung!
Als ich alle im Bett wusste,
atmete ich auf. Friedlich schlief nun der Kommunist
neben dem Nazi, und der zünftige Pfadfinder neben dem Mann, der mit – leider
nun völlig zerstörten – Bügelfalten war.
Ich ging in mein Zimmer und
fiel in einen tiefen Schlaf. Da träumte ich, ich sei in einen Volksaufruhr geraten.
Brüllend wälzten sich die Massen über meine Verzweiflung. Ich fuhr auf. Ich war
ganz wach.
Es war schon Tag. Ich hatte
mich verschlafen. Aber – was war das? Der Volksaufruhr war offenbar schreckliche
Wirklichkeit: Ich hörte tobendes Geschrei, wildes Geraufe
…
Wie ich war – im Schlafanzug
– stürzte ich hinaus und sah die Bescherung: Der süße Friede vom Abend war
völlig dahin. Eine Schlacht aller gegen alle war entbrannt.
Mit Mühe brachte ich in
Erfahrung, was sich ereignet hatte: Da war am Morgen der Bäckermeister mit den
200 Brötchen erschienen. Diese frischen Brötchen hatten herrlich geduftet. Und
überhaupt – am Morgen sah die ganze Sache anders aus. Da hatten sich kurz
entschlossen die Zigaretten-Freunde vom Abend auf die köstliche Ware gestürzt,
hatten dem Bäcker die Brötchen aus der Hand gerissen. Und viele, die am Abend
bestellt hatten, waren leer ausgegangen. Das ließen die sich natürlich nicht
gefallen. Und dann war der Krach da. Und weil man doch schon einmal am Raufen
war, kamen alle andern Spannungen gleich mit zum Austrag. Es ging nun „in einem
Aufwaschen“.
Meine verschlafene Gestalt,
mein wildes Dazwischentreten, meine mir selbst erstaunliche Entschlossenheit
erregten allmählich Aufsehen, und ich konnte mir endlich Gehör verschaffen.
Kategorisch stellte ich die
Forderung: „Jetzt werden zuerst einmal alle Brötchen an mich abgeliefert.“ Es
gab einen kleinen Kampf, stilles Ringen in Jungmänner-Herzen, freundliche Reden
von mir – und dann lag ein Berg von Brötchen vor mir. Es fehlte keines.
Dann die Frage: „ Wer will
nun eigentlich Brötchen?“ Es meldeten sich alle. Ich traf wie ein Feldherr
meine Anordnungen: „Jetzt bekommt erst einmal jeder eins. Und dann holt mir den
Bäcker!“
Der tief erschrockene
Meister wurde irgendwo aufgestöbert. Vor versammelter Mannschaft stellte ich ihm
die entscheidende Brötchen-Frage: „Sind Sie im Stande, uns in einer halben
Stunde noch 400 Brötchen zu verschaffen?“ Er war im Stande! Gepriesen sei der
wackere Mann!
Ach! Dies friedliche
Frühstück! Und dann stellten wir mit Begeisterung fest, dass ein herrlicher Tag
inzwischen angebrochen war: Die Vögel sangen, die Sonne schien, die Blumen
blühten, die Bäume rauschten. Die Welt war doch schön!
Unter einer alten Linde
versammelten wir uns zur Morgenandacht. Das hielten meine rauen Gefährten sicherlich
für einen Spleen ihres Pastors. Aber immerhin gab sich der Mann ja viel Mühe!
Und warum also sollte man ihn nicht anhören! Schließlich war man ja kein
Unmensch!
Die Braven! Sie ahnten
nicht, was ihnen bevorstand.
Ich sprach über das Wort Jesu:
„Siehe ich mache alles neu.“
„Freunde!“ sagte ich. „In
einer Forderung sind wir alle einig: Die Welt muss anders werden. Ja, sie muss anders
werden! Seit einem halben Jahre nun höre ich in jeder „Weltanschauungsstunde“,
wie jeder von Euch ein fertiges politisches und wirtschaftliches Rezept in der
Tasche hat zur Erlösung der Welt. O, ich war oft erstaunt, welch große Ideen
Ihr da habt. Aber – nun bin ich enttäuscht. Ihr, die Ihr meint, die Welt
erlösen zu können mit Euren Ideologien, könnt nicht einmal 200 Brötchen im
Frieden verteilen! Was soll ich dazu sagen? Es war bei uns heute Morgen wie in
der Welt im Großen: Güter waren genug vorhanden. Bei gutem Willen konnte jeder
satt werden. Und was wurde? Krieg und Geschrei! Nehmt es mir nicht übel: Ich glaube
an alle Eure Ideologien nicht mehr. Was helfen sie, wenn sie so kläglich
versagen im Kleinen! …“
Schweigend saß das junge
Volk. Wirklich, sie waren beschämt. Keiner wagte etwas zu sagen. So fuhr ich
fort:
„Und warum ist es so
gegangen? Weil jeder nur an sich selbst dachte. Euer böses und selbstsüchtiges Herz
hat Euch einen Streich gespielt und alles verdorben …“
Ich sah ihnen an, dass sie
mir Recht gaben. Immer schwiegen sie. „Ihr habt immer getan, als sei die Bibel ein
dummes, völlig überholtes Buch. Nun sage ich Euch: Die Bibel hat recht! Denn
sie sagt: Es wird nur anders, wenn unsre Herzen anders werden, wenn Du und ich
neu werden, wenn wir befreit werden von unsrer furchtbaren Selbstsucht!“
Es war eigentlich ein
herrlicher Gottesdienst. Der Sommerwind rauschte in der alten Linde, und der
Gesang der Vögel störte uns nicht. Er unterstrich nur die Stille. Das schönste
aber war diese Gemeinde: Junge Männer, denen etwas dämmerte von der Brüchigkeit
ihrer Ideologien, die ihnen bisher als die Lösung aller Welträtsel erschienen
waren.
„Freunde!“ rief ich bewegt, „Ihr
irrt, wenn Ihr die Bibel für ein überholtes Buch haltet! Hier wird uns gezeigt,
wie Herzen neu werden. Da finden wir den Mann, von Gott gesandt, der durch Sein
Blut und Seinen Geist uns ganz umgestaltet und neu macht – Jesus Christus! …“
Die Sonne schien so hell und
strahlend. Aber – was war ihr Glanz gegen die Herrlichkeit des Sohnes Gottes,
die über diesen armen jungen Männern aufging.
Wie ein starkes Gebet
erklang zum Schluss unser Lied:
Morgenglanz
der Ewigkeit,
Licht
vom unerschaffnen Lichte!
Schick
uns diese Morgenzeit
Deine
Strahlen zu Gesichte,
Und
vertreib durch deine Macht
Unsre
Nacht!
Von da an begann es, dass
die „Universität für Erwerbslose“ auf die Botschaft der Bibel hörte.
Die drei Männer schauen auf,
als ich in das Zimmer trete.
Es ist das typische
Krankenhaus-Zimmer: Weiß, hell, sauber. Einer der Männer liegt im Bett. Die beiden
anderen sitzen in ihren gestreiften Krankenanzügen daneben. In ihren Händen
halten sie Spielkarten.
„Guten Tag! Ich bin der
Pfarrer und wollte Sie einmal begrüßen!“ Der im Bett lächelt verächtlich: „Nett
von Ihnen! Aber wir interessieren uns nicht für religiöse Fragen.“ Und dann zu
den andern: „Spielen wir weiter!“
Mit steigt das Blut zu Kopf:
„Mann!“ fahre ich ihn nicht so großspurig! Wenn Sie sagen: Ich interessiere mich nicht für das Christentum! – gut, das lasse
ich gelten. Aber wer gibt Ihnen das Recht, für die andern mitzusprechen? Mir
ist eine Botschaft anvertraut, die so wichtig ist, dass ich ihr unter allen
Umständen Gehör verschaffen muss.“
„Und was ist das für eine
Botschaft?“
„Ich kann sie mit einem
einzigen Satz sagen: ,Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen
Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das
ewige Leben haben'.“
Eine kleine Weile ist es
sehr still. Dann sagt der freche Geselle: „Und warum drängen Sie diese
Botschaft auch den Leuten auf, die sich nicht dafür interessieren?“
„Das will ich Ihnen gern
sagen: Weil in diesem Spruch das Wort ,verloren'
vorkommt. Stellen Sie sich Folgendes vor: ich wache eines Nachts auf, rieche Brandgeruch
und merke mit Schrecken, dass unser Haus brennt. Schleunigst bringe ich meine
Familie in Sicherheit und fange an zu retten, was noch zu retten ist. Ganz oben
wohnt eine alte schwerhörige Frau. Offenbar schläft sie tief. Ich lasse sie
schlafen. Was geht mich die fremde Frau an! Mag sie umkommen!“
Der Kranke unterbricht mich:
„Dann wären Sie ein Verbrecher!“ „Ganz recht! Und noch viel mehr wäre ich das,
wenn ich Sie, mein Lieber, ungewarnt in das ewige Verderben laufen ließe. Ich
will es Ihnen wenigstens gesagt haben: ,dass alle, die
an Jesus glauben, nicht verloren werden… !' Hier ist die ewige Errettung!“
Der Kranke lacht höhnisch
auf: „Na ja, das musste ja kommen! Jetzt wollen Sie uns Angst machen mit der
Hölle. Ewiges Verderben! Unsinn! Gibt's ja gar nicht!“
Ich stehe auf und sage nur
noch: „Das können wir ja nun abwarten. Die Zukunft wird's ausweisen, ob Gottes
Wort stimmt. Wenn es recht hat – und es hat recht! – dann sind Sie verloren!
Auf Wiedersehen!“
Damit gehe ich. An der Türe
drehe ich mich noch mal um – und erschrecke. Mit aufgerissenen Augen schaut mir
der Mann nach. Dann stammelt er in abgerissenen Worten: „Dann bin ich … verloren
…! das können wir … abwarten … Warten Sie doch!“
Da kehre ich um. Und dann
sitze ich am Bett. Und wir besprechen – ach, nicht „Religiöse Fragen“, sondern die
„Frohe Botschaft“, dass Jesus Sünder selig macht.
Dieses kleine Erlebnis hat
mir mein Bruder erzählt, als er während des letzten Weltkriegs einmal auf
Urlaub war. Es war sein letzter Besuch bei uns. Nun schläft sein Leib irgendwo
in Russland dem großen Tag der Auferstehung entgegen.
Die kleine Episode „am Rande
des Krieges“ spielte sich ab an einer polnischen Landstraße. Da standen die
Soldaten und sahen neugierig auf einen Zug flüchtender Juden.
Es mag sein, dass manche
eigentlich spotten wollten. Aber die Hohnworte blieben ihnen im Halse stecken
beim Anblick dieses Elends. Es waren sicher andere darunter, denen Wut und
Scham das Herz erfüllten. Aber auch die wagten nichts zu sagen. Es war
gefährlich, für die Gehetzten einzutreten.
So schwiegen alle und sahen,
wie alte Leute sich vorbeischleppten, wie Männer auf Schubkarren die elende
Habe zu retten versuchten, wie weinende Kinder sich an die Röcke der Mütter
hingen. Ab und zu kam auch ein größerer Wagen vorbei, den ein elendes Pferd
mühselig voranbrachte.
Solch ein Karren war es, dem
plötzlich krachend ein Rad zusammenbrach. Der Mann, der neben dem Pferd ging,
besah sich schweigend den Schaden. Dann zog er seinen Rock aus und versuchte,
das Rad auszubessern.
Die Arbeit war viel zu
schwer für einen einzigen Mann. Stöhnend stemmte er sich gegen den
zusammengesunkenen Wagen.
In diesem Augenblick
sprangen zwei Soldaten vor und begannen ihm zu helfen: mein Bruder und ein
anderer, ihm Unbekannter. Sie waren beide Jünger Jesu, und das Gebot ihres
Herrn war ihnen wichtiger als die Rücksicht auf die möglichen Folgen. Gewiss
würde nun schon die Meldung an die vorgesetzte Stelle gehen, dass zwei deutsche
Soldaten den verhassten Juden geholfen hätten.
Schweigend mühten sich die
drei. Schweigend sahen die andern zu.
Und so wäre die Sache wohl
zu Ende gegangen, wenn nicht eine alte Frau auf einmal das Wort ergriffen und
ein Gespräch entfesselt hätte, das allen, welche die Bibel nicht kennen,
unverständlich bleiben muss.
Diese alte Frau lag oben auf
dem Karren und hielt mühselig das Gepäck zusammen. Nun richtete sie sich auf
und fing mit gellender Stimme an zu klagen. Es war, als ob eine abgründige
Verzweiflung ausbräche:
„Warum müssen wir Juden
immer wandern? … Immer wandern! … Keine Heimat! … Haben wir eine gefunden, dann
wird sie uns bald wieder entrissen … Wir müssen wandern, wandern, endlos … Unsere
Vorfahren waren umhergetrieben, unsere Väter … wir … unsre
Söhne … immer wandern, immer heimatlos … ruhelos … immer wandern … Wann werden
wir endlich eine Heimat finden? …“
Da richtete sich der
unbekannte Soldat auf und erklärte großem Ernst: „Dann, wenn Jehova sie wieder
sammeln wird in Kanaan, im Lande ihrer Väter!“
Wild fuhr die alte Frau auf:
„Wie sollte das zugehen, dass unser zerstreutes Volk wieder zusammengebracht
würde aus allen Ländern?“
Ruhig und ernst erwiderte
der Soldat: „Wie das zugehen wird? Ebenso wie damals, als Jehova Ihre Väter aus
der Knechtschaft in Ägypten führte, durch Seine starke Hand und Seinen
ausgereckten Arm! Suchen Sie diesen, Ihren Herrn und warten Sie auf Ihn!“
Dann nahm er die Arbeit
wieder auf. Bald war der Schaden behoben, und der Wagen fuhr weiter.
Schweigend sahen die
Soldaten auf ihren Kameraden. Es war, als sei ihnen eine Ahnung aufgegangen, dass
nicht die lauten Menschen die Weltgeschichte machen, sondern dass eine
verborgene Hand einen geheimen Plan durchführt.
Damals gab es in Frankfurt
am Main noch keine Trümmer.
Die schöne Pauluskirche mit
all ihren geschichtlichen Erinnerungen stand noch unversehrt.
Inmitten einer großen
Menschenmenge saß ich als junger Student und schaute auf zu dem ehrwürdigen D.
Traugott Hahn, der in großem Segen in Reval gewirkt hatte und nun an seinem
Lebensabend Evangeliums-Vorträge hielt.
Er erzählte: „Eines Tages
wurde ich mit meinem Schwiegersohn Sielmann auf der Straße von den Bolschewiken
verhaftet und in das Gefängnis eingeliefert. Wir litten keine äußere Not dort.
Und die Gemeinschaft, die wir miteinander hatten, gab reiche Stärkung. Aber es
quälte uns, dass unsre Frauen gar nicht wissen konnten, wohin wir gekommen
seien. Sie mussten in großer Sorge sein.
Eines Tages, als es im
Gefängnis sehr still war, ging ganz leise unsere Zellentür auf, ein junger
Wächter trat herein und fragte: „Väterchen, kann ich etwas für Dich tun?“ Hochbeglückt baten wir ihn, unsern Frauen Nachricht zu
bringen. Das hat er auch getan. Und wir hörten später, als wir wieder frei
waren, wie sehr unsre Frauen durch die Botschaft getröstet wurden …“
Und nun erhob der alte D.
Hahn gewaltig seine Stimme und rief: „Wenn an dem Tage der Auferstehung die
Millionen vor dem Herrn stehen, dann will ich nicht ruhen, bis ich jenen jungen
Mann gefunden habe. Und dann will ich zu dem Herrn Jesus sagen: ,Herr! Du hast erklärt: Was ihr getan habt einem meiner
geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. – Dieser junge Mann, der Dich, Herr,
nicht kannte, hat mir, der ich durch den Glauben Dein Bruder bin, wohlgetan,
als ich gefangen war.' Und dann wird der Herr diesen jungen Mann zu Seiner
Rechten stellen. Denn Er lässt es nicht unvergolten, wenn die Unwissenden
Seiner Gemeinde wohl tun.“
Diese kleine Geschichte hat
sich mir unvergesslich eingeprägt. Ich wusste damals noch nicht, dass ich selbst
Ähnliches erleben sollte.
Das war viele Jahre später.
Wieder einmal hatte mich verhaftet und in eine abscheuliche Zelle gesperrt. Man
wollte von mir Aussagen über die „Bekennende Kirche“ erpressen.
Eines Tages hatte ich wieder
eines der ermüdenden Verhöre hinter mir. Das schlimmste in meiner Lage war die
Angst vor dem eigenen Versagen. Würden die Nerven halten, dass man nicht eines
Tages nachgäbe und die Brüder verriete? Würde man nicht doch schließlich mit
gebrochenem Gewissen aus diesem furchtbaren Hause gehen? Der Gestapo-Beamte
hatte mich angebrüllt: „Wir haben schon andre klein gekriegt! Wir kriegen auch
Sie klein!“
Nach einem der ermüdenden
Verhöre hatte man mich wieder in meine trostlose Zelle zurückgebracht. Ich war
erschöpft. Wenn man doch einfach hätte schlafen dürfen! Aber am Tage war es
verboten, sich auf die Pritsche zu legen. So saß ich auf meinem Hocker, und
quälend wanderten die Gedanken: „Welche Schmach werden meine Kinder zu erdulden
haben, wenn Lehrer und Mitschüler sich lächelnd zuflüstern: Deren Vater sitzt
im Gefängnis! Der ist ein Staatsfeind!“
Und dann war es auf einmal aus.
Die Nerven waren am Ende. Hemmungslos musste ich weinen. Ach nein! Man war kein
Held! Hier verging einem aller Heroismus.
Da öffnete sich leise die
Zellentür. Ich sprang auf. Der oberste Aufseher war hereingekommen. Ich wollte
meine Meldung machen. Aber er winkte ab: „Sie dürfen nicht verzweifeln. Es wird
schon alles gut gehen! Und sehen Sie mal, hier habe ich Ihnen etwas zum Lesen
mitgebracht. Das wird Sie auf andre Gedanken bringen!“ Und damit legte er eine –
Jagdzeitung vor mich hin. Dann verschwand er wieder.
Und ich saß und schaute die
Jagdzeitung an. „Halali!“ Ja, ich muss offen gestehen, dass es mir gar nicht halalimäßig zumute war. Und die Aufsätze über die Zucht
guter Jagdhunde oder über die Pflege der Fasanen konnten mir in meiner Lage
wenig bedeuten.
Und doch – nie wieder ist
mir eine Zeitschrift so lieblich und so herrlich vorgekommen wie diese Jagdzeitung.
Sie wurde mir immer schöner, je mehr ich bedachte, dass der Aufseher mit dieser
scheinbar geringen Geste seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt hatte.
Während ich dort saß und auf
die Jagdzeitung starrte, sah ich auf einmal wieder den alten D. Hahn vor mir.
Und ich hörte das Wort Jesu: „Was ihr getan habt einem meiner geringsten
Brüder, das habt ihr mir getan.“
Die Riegel meiner
Gefängniszelle klirrten. Die Türe wurde aufgerissen. „Herauskommen zum Verhör!“
Wieder einmal wurde ich die
langen Korridore entlang geführt zu den Büros der Gestapo.
Ich war so unsagbar müde.
Was wollten sie denn jetzt wieder von mir? Ach, ich wusste es ja ganz genau:
Sie wollten von mir Aussagen erzwingen über die kämpfende Bekennende Kirche.
Und ich konnte doch unmöglich meine Brüder verraten.
Nun ging das schon
wochenlang so: Zermürbendes Warten in der engen Zelle und noch zermürbendere Verhöre.
Kurz darauf stand ich wieder
vor meinen Quälgeistern. Wie ich diese drei Gesichter dort hinter dem breiten
Tisch nun allmählich kannte! Diese blassen, verlebten, seelenlosen und
grausamen Gesichter! Aber – o Wunder – heute lag ein freundliches Lächeln über
diesen Physiognomien. Ich erschrak: Was hat das wohl zu bedeuten? – Und nun bot
man mir sogar einen Stuhl an! Das war neu. Sollte jetzt das „Zuckerbrot“
erreichen, was die „Peitsche“ nicht fertig gebracht hatte? Ich ging innerlich
in Abwehrstellung.
Und dann fing einer von den
Dreien an: „Wir haben Sie nun eine zeitlang beobachtet. Und da haben gemerkt,
dass Sie gar nicht so übel sind. Nur …“
Er räusperte sich. Und ich
wusste: Jetzt kommt es! Er fuhr fort: „Nur – Sie sitzen gewissermaßen auf einem
falschen Pferd. Sie sind Jugendpfarrer, nicht wahr?“
„Jawohl!“
„Ja, das müssen Sie nun
langsam begreifen, dass dieser Beruf völlig überholt ist. Wir werden in Zukunft
keine Jugendpfarrer mehr brauchen.“
Ich muss wohl ein etwas
erstauntes Gesicht gemacht haben. So fühlte er sich gedrungen, mir die Sache
noch etwas deutlicher zu machen: „Wir haben heute eine neue Weltanschauung. Das
Christentum hat ausgespielt. Ich sage Ihnen: In zehn Jahren wird kein junger Mensch in Deutschland mehr wissen, wer
Ihr imaginärer Jesus ist! Dafür werden wir sorgen!“
Und dann kam ein
freundliches Angebot: ich solle doch einen andern Beruf ergreifen. Sie wollten
mir gerne behilflich sein. Ja, sie machten mir sogar allerlei Vorschläge. Es
war rührend, wie diese harten Männer um meine Zukunft besorgt waren!
Leider war ich nicht im
Stande, diese freundlichen Offerten anzunehmen. So wurden sie schließlich ärgerlich,
und ich wanderte die langen Korridore zurück – in die Zelle.
Das wurde ein schwerer
Abend! „In zehn Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus ist!“ Immer
hörte ich diesen harten Satz. Warum sollte es nicht wahr werden? Gott kann doch
einem Volke das Evangelium wegnehmen! Aber – welche Finsternis musste dann in
meinem Volke anbrechen! – – –
Es ist eine wunderliche
Sache, wenn Menschen mit solcher Bestimmtheit etwas über die Zukunft aussagen.
Es war ja das eines der Kennzeichen jener seltsamen Zeit des „Dritten Reiches“,
dass jeder, von dem „Führer“ angefangen bis zum kleinsten Funktionär herab, mit
geradezu anmaßender Sicherheit die Zukunft durchschaute. Nur – dass über all
dem das Wort aus dem 2. Psalm stand: „Der im Himmel sitzt, lacht ihrer …“
In jener dunklen
Abendstunde in der Gefängniszelle aber hörte ich dies tröstliche und
unheimliche Lachen nicht. Mein Glaube war so schwach. Er hörte nur das lästerliche
Lachen der Hölle: „In 10 Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus
ist!“
–
Gott aber tut mehr, als
unser Glaube fassen kann!
Es war sieben Jahre
später, an einem Sommermorgen 1945.
Strahlender Sonnenschein
weckte mich in der Frühe auf. Sofort überfiel mich der Gedanke an unsere
gegenwärtige Lage, welcher die widerstreitendsten
Gefühle in mir auslöste: Dahin war die Würde meines Volkes! Zerstört lagen die
Städte, ganz besonders auch die Stadt Essen, der meine Lebensarbeit galt. Meine
liebe alte Kirche lag in Trümmern! Mein Haus war verbrannt! Mein Sohn war
irgendwo in Russland begraben. Überall ging der furchtbare Hunger durch's Land! Aber – was war das gegen den unsagbaren
Jammer: Die Blüte der jungen Mannschaft war tot, geopfert den wahnsinnigen
Träumen einiger Politiker!
Und doch – der Krieg war
zu Ende. Zu Ende die schrecklichen Bombennächte. Zu Ende auch – ich atmete auf
– die Quälereien der Gestapo. Zu Ende all die sinnlosen Verbote für unsre Jugendarbeit
…
Da klingt auf einmal in
mein Sinnieren hinein ein unsagbar fröhlicher Ton. Irgendwo da draußen zieht
ein Posaunenchor heran und spielt:
Geh aus, mein Herz,
und suche Freud'
In dieser schönen Sommerszeit
An deines Gottes
Gaben …
Nun hält es mich nicht
mehr im Bett. Ich springe an das offene Fenster! Welch ein überwältigender
Anblick: Im Morgensonnenglanz liegen die waldbedeckten Höhen des Siegerlandes. „O
Täler weit, o Höhen / Du schöner, grüner Wald …!“ Mein Fenster ist wie eine
Warte, von welcher der Blick weit, weit hinaus geht in das Land. – –
Aber dann wird mein Blick
gefesselt durch das, was unter meinem Fenster vorgeht: Da führt die große Landstraße
von Siegen nach Dillenburg vorbei. Und auf dieser Straße zieht ein Zug heran:
Vorn die Posaunen. Jubelnd schmettern sie Paul Gerhardt's Sommerlied:
Ich selber kann und
mag nicht ruh'n,
Des großen Gottes großes
Tun
Erweckt mir alle
Sinnen …
Den Posaunen folgen junge
Männer. Es sind noch nicht viele. Die meisten leben noch in Kriegsgefangenschaft.
Und wie viele kommen nie mehr nach Hause! Aber dies Trüpplein
von 20 Mann macht doch das Herz lachen.
Und dann kommen die Buben und
Mädchen. Und dann – in einem sehr ungeordneten Haufen – Männer, Frauen und
kleine Kinder.
Über dem ganzen Zug liegt eine
Freude, die man nicht beschreiben kann! Jahrelang waren solche christlichen
Feste verboten. Zum ersten Mal wieder trifft man sich!
Gerade unter meinem Fenster stößt
der fröhliche Zug auf einen andern Menschenhaufen, der um die Kurve von Siegen
her kommt. Die Posaunen brechen ab, die Züge lösen sich auf. Fröhlich begrüßt
sich junges Volk.
Mir ist, als träumte ich! – –
–
Aber nun ist mir vor lauter
Freude der Erinnerungen an jenen großen Tag beim Schreiben „der Gaul durchgegangen“.
Und der arme Leser weiß gar nicht recht, wo wir uns eigentlich befinden.
Zwischen Siegen und
Dillenburg führt die Landstraße über einen der höchsten Punkte dieses
Berglandes. Man nennt ihn den Rödgen.
Dort stehen nur ein paar Häuser: zwei Bauernhöfe, ein Kurhaus, ein Pfarrhaus und
eine herrliche, sehr alte, große Kirche.
In der dortigen Gegend hat
Gott im vorigen Jahrhundert gewaltige Erweckungen gegeben. Und bis zum heutigen
Tage ist das „fromme Siegerland“ bekannt durch ein reges geistliches Leben.
Dies hatte sich auch gezeigt bei den Missionsfesten auf dem Rödgen,
zu denen in früheren Jahren immer sehr viel junges Volk herbeigeströmt war.
Das hatte die Machthaber des
„Dritten Reiches“ verstimmt. Und so hatte man die Feste verboten.
Nun waren die Fesseln
gefallen. Zum ersten Mal wieder sollte Jugendmissionsfest auf dem Rödgen gefeiert werden!
Wie ein Feuer war diese
Botschaft durch das Land gegangen. „Jugendmissionsfest auf dem Rödgen!“ Da strömte das Volk herbei! Und aller Jammer der
Zeit, alle Sorgen und Nöte gingen unter in der unbeschreiblichen Freude, die
über dem Volke Gottes liegt, wenn man „zusammenkommt“.
Das sah ich aus dem Fenster
des hochgelegenen Pfarrhauses. Auf allen Wegen zog es heran. Von allen Richtungen
her klangen Posaunen!
Wie schnell war ich in den
Kleidern! Und nun hinunter!
Als ich die junge Pfarrfrau
sah, ging mir ein Stich durchs Herz. Auch hier hatte der Jammer der Zeit seine
dunklen Fittiche gebreitet: Der Pfarrer war in Russland vermisst. Die junge
Frau hatte wohl das Leid am Morgen schon vor den Thron der Gnade hingelegt. Und
nun freute sie sich mit den Fröhlichen.
Welch ein Gewimmel unter den
alten Bäumen vor dem Haus, im Pfarrgarten, am Waldrand, auf den Wiesen!
Ein Kirchenältester stürzte
auf mich zu: „Die Kirche ist viel zu klein für den Festgottesdienst!“
Wir sahen uns die Sache an.
Ja, was ist zu tun?
Hinter der Wiese steil den Berg
hinan. „Wenn wir alle Fenster öffnen, dann kann sich das Volk auf der Wiese
lagern und dem Gottesdienst folgen!“
Ja, die Fenster öffnen! Das
war nicht so einfach. Sie waren ein paar hundert Jahre alt. Klirrend stürzte beim
ersten die Bleiverglasung heraus. „Ach lasst nur!“ sagt lächelnd der Kirchenälteste. Er war bestimmt nicht immer so großzügig.
Aber heute! …
–
Diesen Gottesdienst werde
ich nie vergessen, solange ich lebe. Kaum fand ich Raum, um zum Abendmahlstisch
zu gehen, von wo die Schriftverlesung geschehen
sollte. In allen Gängen drängte sich junges Volk. Auf den Galerien und der
Kanzeltreppe saßen sie erwartungsvoll. Und draußen war es wie ein bunter
Teppich – blühende Jugend!
Da setzten die Posaunen ein.
Machtvoll erklang der Gesang des herrlichen Tersteegen-Liedes:
Siegesfürst
und Ehrenkönig,
Höchst
verklärte Majestät …
Und da, genau in diesem
Augenblick, überfiel mich die Erinnerung. Ich sah mich wieder in dem abscheulichen
Büro stehen, ich sah die verlebten, leeren, grausamen Gesichter: „In zehn
Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Ihr imaginärer Jesus ist.“
Diese Jugend aber sang hier:
Sollt
ich nicht zu Fuß dir fallen
Und
mein Herz vor Freude wallen,
Wenn
mein Glaubensaug' betracht't
Deine
Glorie, deine Macht!
Etwas erstaunt sah das junge
Volk, wie der Festprediger sich die Tränen wischte, die einfach nicht zu halten
waren. Kaum brachte ich die Schriftverlesung zu Ende:
„… und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen
Himmel …“
Da setzte ein Chor ein und
sang die Psalmverse: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions
erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund
voll Lachen und unsre Zunge voll Rühmens sein …“
Da war es um uns alle
geschehen, wir waren im Innersten bewegt. Und diese große Schar ahnte etwas davon,
wie es sein wird in der zukünftigen neuen Welt, wo
einmal alle, alle Fesseln fallen …
„…
wenn frei von Weh
Ich
sein Angesicht seh.“
Unvermutet stehe ich einem hochgewachsenen Herrn gegenüber. Ich schaue in das kluge,
aufgeschlossene Gesicht. Meine Gedanken fahren aufgeregt durcheinander: „Den
kennst du doch! Das ist doch …“
Und dann weiß ich auf
einmal, wer er ist. Im Geiste sehe ich mich in einem großen Konzertsaal. Eine
festliche und erwartungsfrohe Menge füllt ihn bis zum letzten Eckchen. Auf dem
Podium stimmen die Musiker ihre Instrumente. Rings um das Orchester bilden die
Chöre einen ornamentalen Rahmen: Die Frauen in Weiß, die Männer in feierlichem
Schwarz.
Auf einmal brandet ein
gewaltiger Beifall auf: Der bekannte und beliebte Dirigent ist erschienen. Mit großen
Schritten eilt er zu seinem Pult, ergreift den kleinen Stab, erhebt die Arme –
totenstill wird es in dem Saal.
Und dann erklingen die
unendlich ergreifenden Töne der Bach'schen „Matthäus-Passion“: „Kommt, ihr
Töchter, helft mir klagen …“ in meisterhafter Vollendung. – – –
Ja, so ist es, dieser
berühmte Dirigent; den ich selbst so hoch schätze, steht vor mir.
Ich ergreife die
Gelegenheit, ihm zu danken für alles, was er mir geschenkt hat. Namentlich für
die herrliche Wiedergabe der Bach'schen Matthäus-Passion.
„Ja“, sagt er, „es ist eine
seltsame Zeit, die wir erleben. Es ist, als wenn die Menschen etwas Tieferes suchten.
Sehen Sie, wenn ich ein Konzert mit leichter Musik ankündige, dann ist der Saal
halbvoll. Wenn ich aber die Matthäus-Passion gebe, dann sind zwei Aufführungen
überfüllt.“
„Ja, es ist eine Unruhe über
die Menschen gekommen“, erwidere ich. „Sie fangen an zu begreifen, dass nur das
Evangelium Antwort auf unsre Lebensprobleme geben kann …“ Aufmerksam hört er
zu. Aber sein Gesicht ist mit sieben Siegeln verschlossen. Um ihn aus seiner
Reserve herauszulocken, setze ich etwas spöttisch hinzu: „Es ist nur
bedauerlich, dass unser gebildetes Bürgertum von all dem so wenig merkt.“
Erstaunt mustert er mich,
als wenn er fragen wollte: „Soll unser Gespräch denn mehr sein als eine
höfliche Unterhaltung?“
Und dann sagt er: „Sie
unterschätzen unsern Ernst. Sehen Sie, jedes Mal, wenn ich die Matthäus-Passion
dirigieren muss, lese ich vier Wochen lang nur das Matthäus-Evangelium.“
Fast ärgerlich winke ich ab:
„Wenn Johann Sebastian Bach zufällig den Koran vertont hätte, würden Sie vier
Wochen lang dieses Buch lesen!“
Jetzt schaut er mich
verblüfft an. Und da mache ich wie ein Fechter nun einen offenen Ausfall: „Ich meine;
wann werden die Gebildeten in unserem Volk, also Leute wie Sie, es endlich
begreifen, dass sie ohne das Evangelium nicht leben können!“
Er springt auf: „Nun, wenn
wir hier so offen reden, dann will ich Ihnen einmal sagen, was ich in dieser Sache
denke!“
Er lächelt und wird dann auf
einmal sehr ernst. Denn er begreift als ein kluger Mann wohl, dass
konventionelle Höflichkeit eine unheimliche Waffe sein kann gegen das „Wort der
Wahrheit“, und dass ein Prediger des Evangeliums diese geschmeidige Waffe mehr
verabscheuen muss als den brutalen Augriff der primitiven Gottlosigkeit.
„Also, die Sache ist so“,
sagt er langsam, als wenn er nun jedes Wort noch einmal prüfen wolle, „wenn ich
ein Wort des Johannes-Evangeliums lese – das ist ganz groß! Ganz groß und
herrlich! Aber wenn ich Bruckner's 3. Symphonie höre –
– das ist größer! Ja, das ist größer! Denn – – das Wort ist nicht das Letzte!“
So, nun ist es heraus. Und
einen Augenblick lang liegt zwischen uns eine große Stille. Denn es ist schon eine
besondere Sache, wenn ein Mensch seine innerste Gesinnung offenbart.
Aber ich durfte diesen Satz
nicht so stehen lassen. Denn ich hin überzeugt, dass gerade in dieser Haltung ein
Grund für die geistige Katastrophe des Abendlandes liegt. Darum unterbrach ich
das Schweigen: „So, das Wort ist nicht das Letzte? Ich fürchte, Sie haben den
tiefsten Grund der inneren Unruhe unserer Zeit noch gar nicht erkannt. Wir sind
ein ruchloses Jahrhundert, wie seit der Renaissance keines mehr gewesen ist;
die Menschen unserer Zeit sind unendlich schuldig geworden. Und die tiefste
Ursache aller Unruhe ist – das böse
Gewissen. Gott ist für unsere Zeit noch nicht so tot, dass Er nicht die Gewissen
beunruhigte …“
Geradezu erschrocken starrte
er mich an. Ich fuhr fort: „Und sehen Sie! Da kann sogar Ihre beste Musik
vielleicht die Rolle von Morphium spielen. Was unsre Zeit aber braucht, ist
nicht Morphium für die Gewissen, sondern Heilung der Gewissen. Und da hilft nur
ein Wort, nämlich ein klares Wort Gottes. Etwa das Wort: Das Blut Jesu Christi,
des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“
Deutlich sehe ihn noch vor
mir, wie er an die Verandatür dastand. Meine letzten Worte hatte er kaum mehr aufgenommen.
Als wenn er in ein neues Land schaute, sagte er nur immer wieder: „Das
Gewissen! … Ach ja, das Gewissen! Das … gibt es auch noch? Das habe ich ja ganz
vergessen! – – Das Gewissen!“
Ohne Abschied ging ich weg.
Ich glaube, er hat es gar nicht gemerkt …
Langsam gehe ich durch den
hellen Korridor des großen Krankenhauses, in dem ich die Seelsorge habe.
Als ich am Operationssaal
vorbeikomme, öffnet sich die Tür. Ich sehe Schwestern und Ärzte, die sich über eine
weißverhüllte Gestalt beugen.
Eben kommt der Professor
heraus. Sein Gesicht ist wie verfallen. Selten habe ich einen Menschen so
erschöpft gesehen. Mit einem flüchtigen Gruß geht er vorbei.
Hinter ihm geht eine
Schwester. Sie erkennt mich und grüßt: „Eine schwere Operation gehabt?“, frage ich.
Sie nickt.
„Ist sie gelungen?“
Sie zuckt die Achseln: „Das
schwerste scheint überwunden. Es ist ein Vater von fünf Kindern. Hoffentlich
ringen wir ihn dem Tode ab.“
Das Wort klingt in mir noch
nach, während ich weitergehe. Tod! Tod!
Ich ringe ja mit einem viel
schrecklicheren Tode als der Professor. Gewiss, es ist schrecklich, wenn der Leib
stirbt. Aber viel furchtbarer ist es, wenn die Seele erstorben ist, wenn sie
nicht mehr auf Gottes Ruf reagiert, wenn sie keine Unruhe des Gewissens mehr
spürt, wenn sie unfähig geworden ist zum Beten.
Da stehe ich vor einer weißen
Tür.
Dahinter in dem großen Saal liegt
so einer, um den ich ringe. Als ich zum ersten Mal an sein Bett trat, fing der
alte Kerl an zu lachen. Und dann schimpfte er, man möge ihn doch mit dem „Quatsch“
in Ruhe lassen.
Ich ließ ihn ausreden. Dann
aber sagte ich ihm das Wort: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, die
Sünder zu erretten.“
Da lachte er wieder
schallend und rief mir nach: „Sagen Sie Ihrem Jesus, er solle mir ein paar
Zigaretten bringen!“
So ging es durch ein paar
Wochen. Ich ließ ihn nicht los. Immer wieder stand ich vor diesem Bett. Immer
wieder bekam ich dieselben blöden Reden zu hören. Und immer wieder sagte ich ihm
ein Wort von Jesus, das er lachend von der Bettdecke wischte.
Aber vor ein paar Tagen war
es auf einmal ganz anders. Da grüßte er freundlich. Ich zog mir einen Stuhl
heran. Er sagte kein Wort. Langsam zog ich mein Testament heraus und las aus
dem Buch:
„Kommet her zu Mir alle, die
ihr mühselig und beladen seid …“
Weiter wagte ich noch nichts
zu sagen. Er nickte schweigend – ich ging still weg, sah ihn aber lange an.
Nun stand ich wieder vor der
Tür: „Hoffentlich ringen wir ihn dem Tod ab“, sagte ich leise und trat ein.
Das Bett war leer. „Gestern
gestorben“, sagten die andern Patienten.
Während des Krieges kamen
allerlei Soldaten für längere oder kürzere Zeit nach Essen. Darunter waren
Christenleute, die meinen N amen irgendwie gehört hatten und mich nun
aufsuchten.
Aus solchen Besuchen hatte
sich im Laufe der Zeit ein Soldatenkreis entwickelt, der an einem bestimmten
Wochentage in meiner Wohnung sich zusammenfand. Da betrachteten wir Gottes
Wort, tauschten unsere geistlichen Erfahrungen aus und hielten schließlich eine
gemeinsame Abendmahlzeit mit dem Kärglichen, was uns zugeteilt war.
Trotzdem der Kreis beständig
wechselte, entstand hier doch eine enge Gemeinschaft. Und uns allen, die wir an
jenen Abenden teilgenommen haben, erscheinen sie in der Erinnerung noch wie
eine liebliche Oase in den wüsten Kriegszeiten.
Eines Tages fand sich ein
neuer Mann in mittleren Jahren zu uns. Er hatte eine stille, feine,
zurückhaltende Art. Erst im Laufe der Zeit kamen wir dahinter, dass er ein außerordentlich
gebildeter Mann war, der unsagbar Schweres durchgemacht hatte. Um seines
freimütigen Bekenntnisses willen hatte er lange Zeit im Konzentrationslager
gesessen. Schließlich hatte man ihn entlassen und dann gleich zum Militär eingezogen.
Unter den rohen Vorgesetzten galt er natürlich als verdächtiger KZ-Sträfling.
Und so hatte er sich wohl angewöhnt, ein stilles und zurückgezogenes Leben zu
führen.
Eines Abends aber taute er
auf. Und da berichtete er uns ein kleines Erlebnis, das uns allen tiefen
Eindruck machte:
Er lag auf einer Stube, die
mit etwa 10 Soldaten belegt war. Da ging es laut her. Besonders aber ein junger
Mann, der aus Hamburg kam, führte das große Wort. Der war offenbar durch alle
Pfützen der Großstadt gegangen. Und nun erfüllte er die Stube mit seinen
schmutzigen Reden. Da hagelten die Flüche und Zoten. Und das übrige Volk zollte
ihm begeistert Beifall. Auf den stillen Mann aber, der sein Bett in einer Ecke
hatte, nahm man weiter keine Rücksicht.
Eines Tages war die Post
verteilt worden. Die Soldaten auf ihren Stuben öffneten ihre Päckchen und lasen
ihre Briefe. Auch der Hamburger hatte ein Paketchen bekommen. Irgendein Mädchen
hatte wohl an ihn gedacht. Und während er stolz den Inhalt vorzeigte:
Zigaretten und Bonbons – erzählte er wichtigtuerisch von seinen vielen und
gemeinen Liebschaften.
Ja, und da kam der Punkt, wo
der stille Mann es nicht mehr ertrug. Zu aller Erstaunen trat er auf einmal vor
und sagte in seiner schweren und nachdrücklichen Art: „Was bist du für ein
armer Kerl! Wenn's so dreckig aus dir herausfließt,
wie muss es erst in dir drin aussehen! Es ist schade um dich!“
Damit ging er aus der Stube.
Und seltsamerweise war es auf einmal totenstill, während er die Türe hinter
sich zuzog.
Er war auf dem Korridor noch
nicht weit gekommen, da lief der andre hinter ihm her: „Kamerad! Halt einmal!“
„Was gibt's?“
„Du sagst, es sei schade um
mich! So etwas hat mir noch niemand gesagt. Das – ja, – – wie soll ich es sagen?
– das sieht aus, als ob ich einen Wert gehabt hätte. Ich verstehe das nicht. – –
– Sag mir, was meinst du damit?“
Der stille Mann blieb
stehen. Und dann fing er wieder an in seiner merkwürdig nachdrücklichen Art, zu
reden: „Gott hat aus dir etwas machen wollen. Auch du bist von Ihm geschaffen.
Und jetzt – so ein Schmutz! Ja, es ist schade, Kamerad, wenn man weiß, dass
Gott etwas mit dir wollte, dann kann man nur sagen: Es ist schade um dich!“
Gleich darauf musste man zum
Appell antreten. Der stille Mann ging an seinen Platz. Auf einmal, während die
Reihen sich formierten, fühlte er, dass einer von hinten seine Hand ergriff.
Und dann wurde ihm ein Bonbon hineingedrückt. Als er sich kurz umschaute, stand
der rohe Hamburger hinter ihm.
Nun war allerdings jetzt
keine Zeit zu einem Gespräch. Aber als der Appell zu Ende war, fragte unser
Freund: „Warum tust du ausgerechnet mir etwas Gutes? Ich habe dir doch hart die
Meinung gesagt.“
Da brach es aus dem andern
heraus: „Du bist der Einzige, der mich in meinem Leben ernst genommen hat! Du
meinst ja wirklich, dass ich einen Wert haben könnte!“
–
So berichtete in unsrem
Soldatenkreis der stille Kamerad. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Es dachte jeder
darüber nach, dass die meisten Menschen wohl – wie jener Hamburger – eine Maske
trügen, hinter welcher der eigentliche Mensch mit seiner Not und Sehnsucht
verborgen sei.
Schließlich fragte einer von
uns: „Wie ging es denn weiter?“
Der Gefragte lächelte: „Wir
sind jetzt Freunde. Ja, mehr, Brüder! Wir lesen zusammen die Bibel. Und mein
Freund hat den Herrn Jesus gefunden und weiß, dass der sein Heiland ist.
Manchmal will ja das alte, wichtigtuerische Wesen wieder hervorbrechen. Aber dann
erschrickt er auf einmal und schaut mich an. Und ich lese in seinem Blick die
Frage: Meinst du, dass Jesus immer noch Geduld mit mir hat?
Wir wissen aber beide, dass
wir von Seiner Geduld leben.“ –
Der stille Mann ist wieder
aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Und ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.
Die Weltgeschichte hat von seinem Leben keine Kenntnis genommen. Aber ich
meine, solch eine Geschichte wie die von dem Hamburger sei im Lichte der
Ewigkeit wichtiger und bedeutsamer als alle großen Schlachten dieses
furchtbaren Krieges.
Es war vor Jahren am
Vorabend des ersten Advent.
In dem Heim unsres
Jugendkreises ist fröhliches, quirlendes Leben: Da wird noch einmal tüchtig geübt
und geprobt für die Adventsfeier, zu der sich immer eine große Gemeinde aus
Jungen und Alten zusammenfindet.
Der Hausmeister, der den Adventskranz
aufgehängt hat, trägt eben die Leiter weg. Er kann manchmal recht verdrießlich
brummen, wenn's die Jungen gar zu toll treiben. Aber heute summt er leise das
liebe alte Adventslied: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …“
Und als ich ihm lächelnd
nachsehe, fällt mein Blick auf einen jungen Mann. Dieser schlanke, hochgewachsene Junge ist mir besonders lieb. Ich weiß, wie schwer
er es hat. Seine Eltern sind überzeugte Freidenker. Da steht er zu Hause sehr
allein. Denn schon früh hat er erkannt, dass er nicht ohne Jesus leben kann. Mit
Petrus sagte er zum Herrn Jesus: „Wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist
Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“
An jenem Abend also fällt er
mir auf. Denn sein Gesicht strahlt ganz unbeschreiblich.
„Was ist mit dir?“ frage
ich. Da atmet er tief auf und sagt: „Jetzt fängt wieder die schöne Zeit an, wo es
heißt: Er kommt, Er kommt mit Willen …“ Und dann geht er schnell davon, dass
ich seine Bewegung nicht sehen soll. Ich aber muss nun diesen Vers leise vor
mich hin singen:
Er
kommt, Er kommt mit Willen,
Ist
voller Lieb und Lust,
All
Angst und Not zu stillen,
Die
Ihm an euch bewusst.
„Jetzt fängt wieder die
schöne Zeit an!“ So oft Advent herannaht, ist mir, als höre ich den jungen Mann
diesen Satz sagen.
Kurz nach Weihnachten
erfasste auch ihn die Kriegsmaschine. Er wurde eingezogen. Und der Krieg ging
über unser Jugendheim. Es wurde zur Ruine.
Als wir unter armseligen
Umständen doch wieder unsre Adventsfeier hielten, brachte die Post einen Brief
von unserem jungen Freund. Da schrieb er aus Russland. Man spürte aus jeder
Zeile das Heimweh und die furchtbare Einsamkeit. Aber es stand auch noch etwas
andres in dem Brief. Und das war die Freude, dass „jetzt wieder die schöne Zeit
anfängt“. „Ich vereinige mich im Geist mit euch“, schrieb er, „und singe mit
euch: Er kommt, Er kommt mit Willen / Ist voller Lieb und Lust / All Angst und
Not zu stillen …“
Als wir im Jahre darauf
Advent feierten, kam kein Brief mehr von ihm. Da war er irgendwo im fernen
Osten gefallen.
Ja, „gefallen“ in die Hand
seines Heilandes, von dem er sich erkauft und gerettet wusste. Und ich weiß:
Als die tödliche Kugel ihn traf, wurde das für ihn zum rechten Advent. Da kam
sein Heiland und holte ihn nach Hause, wo Er endgültig und für immer „alle
Angst und Not des Herzens stillt“.
Manchmal erlebt man das
Walten des lebendigen Gottes so deutlich, dass man nur staunen muss. Und wenn
das geschieht, ist man – so glaube ich – immer irgendwie beschämt. Diese
Tatsache wurde mir durch folgendes Erlebnis neu bewusst:
Da saß ich am Steuer meines
Wagens und brummte ärgerlich vor mich hin. Es war auch wirklich kein Spaß zu
fahren: Der Regen troff nur so. Man konnte kaum durch die Scheiben sehen. Und
die Nacht war schwarz wie ein Tunnel. Dabei musste ich eine weite Strecke
zurücklegen. Es ging über lauter Straßen mit einem ekelhaften Kopfpflaster. Das
ist bei Regen schrecklich glatt. Und dann die Straßenbahnschienen! Der Wagen
rutschte nur so durch den großen Verkehr! Jedes entgegenkommende Auto, ja jeder
Radfahrer – und es wimmelte von Bergleuten, die zur Schicht fuhren! – warf mit
seiner Laterne eine lange Lichtbahn in die Nässe. Das blendete unerträglich! Das
war nun schon der dritte Abend, dass ich diese mühsame Fahrt machte. Und vier
Abende hatte ich noch vor mir. Dazu sah es gar nicht so aus, als wenn das
Wetter besser werden wollte.
Und warum das alles?
Da hatte nun so ein kleines
Dorf eine Evangelisation veranstaltet. Schön und recht! Aber was in aller Welt
hatte mich bewogen, diese Sache zu übernehmen? Eigentlich hatte ich selbst das
auch gar nicht getan. Wie war es denn dazu gekommen? Ein Jugendkreis meiner
Gemeinde war in dem Dorf freundlich aufgenommen worden. Und da hatte man sie am
Schluss gebeten: „Nun sagt doch eurem Pfarrer, er soll einmal eine Woche lang
bei uns Vorträge halten!“ Das hatten die Burschen so halb zugesagt. Jedenfalls versicherten
sie mir, ich dürfe sie jetzt nicht blamieren und absagen!
„Langsam! Langsam!“ Ich
fasse das Steuer fester. Es geht wieder um so eine gefährliche Kurve. Und natürlich
kommt mir ausgerechnet ein riesiger Lastwagen entgegen. Abblenden, das kennt
der Fahrer offenbar auch nicht … Vorsichtig schiebe ich meinen Wagen daran
vorbei.
Wirklich, es ist „zum Wild-Werden“!
Ich muss an den ärgerlichen Brief denken, der zu Hause auf meinem Schreibtisch
liegt. Aus einer Stadt im Süden ist er gekommen. Und die Leute dort beschweren
sich bitter, dass ich ihnen nun schon zum zweiten Mal eine Einladung
abgeschlagen habe.
Im Geist sehe ich die große
Stadtkirche vor mir. Unwillkürlich vergleiche ich sie mit dem armen DorfkirchIein in dem „Nest“. Nur mit Mühe und Not bekommt
man da ein paar Leute zusammen. Das ist ja so verständlich: wer mag bei diesem
Wetter die weiten Wege aus den zerstreuten Bauernhöfen antreten! Das müssen
immerhin sehr hungrige Seelen sein!
Im Gedanken an diese
verlangenden Herzen wird mir ein bisschen besser zu Mute.
So, und nun haben wir
endlich die letzten Zechen hinter uns. Jetzt kann man etwas freier fahren. Wir überholen
ein paar triefende Gestalten, die zu der Dorfkirche eilen – durch Nacht und
Sturm! Wirklich – das Bild packt uns. Und man schämt sich schon fast seines Ärgers.
Aber das Eigentliche kommt
erst!
Als ich meinen Wagen am
gewohnten Platz anhalte, mich da ein Mann: „Guten Abend, Herr Pfarrer! Darf Sie
in mein Haus einladen? Es kommt da ein kleiner Kreis zum Gebet zusammen vor
Ihren Versammlungen.“
Das kann man brauchen. Alle
Nerven zittern nach der anstrengenden Fahrt. Da ist es schön, mit ein paar
Gleichgesinnten vor Gott stille zu werden.
In einem netten Hause finden
wir ein paar Männer, Frauen und junge Leute. Und da hören wir die wunderbare
Geschichte, die mir klar macht, warum ich ausgerechnet dort Vorträge halten musste.
„Sehen Sie“, berichtete der
Mann, „schon in meinem Elternhause hat das Evangelium von der Gnade Gottes in
Jesus Christus das Leben beherrscht. Und darum hat es meinen Vater und Großvater
immer geschmerzt, dass hier in der Gegend so viel geistlicher Tod ist. Die
Leute gehen auf in den Sorgen des täglichen Lebens. Und nach Frieden mit Gott
fragen nur ganz wenige.
Als mein Vater dann hörte,
dass da und dort Vortragsreihen und Evangelisationen gehalten wurden, sagte er
oft: Wenn das doch in unserer Gemeinde einmal geschähe, dass eine Woche lang
der Weg zur ewigen Seligkeit klargelegt würde!
Wir Jungen meinten dann, wir
könnten das ja einmal veranstalten. Aber mein Vater wehrte ab: Das darf man
nicht erzwingen! Das muss von dem Kirchengemeinderat oder – wie man hier sagt –
vom Presbyterium ausgehen! Wir wollen darum beten! – Und das haben wir seitdem
getan. Nun schon durch Jahre hindurch. Mein Vater ist darüber gestorben. Aber
wir haben weitergemacht. Jede Woche ist hier im Hause gebetet worden, Gott möge
es dem Presbyterium doch ins Herz geben, dass sie einmal einen Evangelisten
berufen …
Und sehen Sie, jetzt hat Er
unsere Bitten erhört. Sie sind ganz offiziell vom Presbyterium berufen. Und wir
können Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir uns freuen, dass nun eine Woche lang
unser Kirchlein sich füllt – trotz Sturm und Regen!“
So wurde mir dort in der
Stube berichtet. Und man wird verstehen, dass es mir etwas den Atem verschlug.
Denn wenn wir auch mit der Erfüllung unsrer Gebete rechnen, so ist es für
unsere harten Herzen doch immer wunderbar, wenn wir die Hand des lebendigen
Gottes eingreifen sehen.
Wie musste ich mich nun von
Grund meines Herzens schämen, dass mir diese Fahrten hatten zu viel werden
wollen!
Aber dabei durfte ich gar
nicht stehen bleiben. Da war ein junger Mann in der Stube. Der lachte mich
fröhlich an und sagte: „Sehen Sie, darum hat es uns auch so gefreut, dass Sie
am ersten Abend ausgerechnet das
Thema hatten!“
Da besann ich mich, dass ich
meine Vortragsreihe begonnen hatte mit einer Rede über das Thema: „Gott ist an allem schuld!“ So stand es
auf den Handzetteln, die zu den Versammlungen einluden. In der Tat: Gott war an
allem schuld!
Da wurde mir das Herz weit.
Und so haben wir zusammen gebetet, dass Er in dieser Sache weiter wirken wolle.
„O, welch köstlicher
Sonnenschein! Da möchte ich wirklich ins Freie hinaus!“ rief ich an einem
prächtigen März-Morgen. „ Wo könnte ich denn hin?“ fragte ich meine Familie.
„Besuche doch wieder einmal
die Tante Regine! Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört“, meinte
meine Frau.
Das war eine gute Idee.
Tante Regine war eine prächtige Frau: klug, gebildet, fromm, aufrichtig – kurz,
man hatte immer etwas davon, wenn man mit ihr zusammen war.
Diese Tante wohnte in
Wuppertal. Mit dem Rad war das Städtchen in einer guten Stunde zu erreichen, man
erlebte dabei das schöne bergische Land und tat obendrein noch etwas
Nützliches. Gewiss würde es die Tante freuen, wenn ich einmal nach ihr sah.
So fuhr ich also los in den
schönen Sonnenschein.
Da stand ich auch schon vor
dem Hause meiner Tante und klopfte. – Keine Stimme noch Antwort. Ich pochte
heftiger.
Endlich ging oben ein
Fenster auf, eine Frau schaute heraus und teilte mir mit, die Tante sei krank
und liege im Krankenhaus.
Die arme, alte, einsame
Tante! Die braucht mich! Ich frage mich durch zu dem Spital.
Und dann stehe ich vor dem
Bett der Patientin. Ich sehe sofort, dass es ernst um sie steht. Sie ist sehr elend.
Aber nun bin ich soweit gefahren. Da möchte ich doch nicht ganz umsonst
gekommen sein! Und wenn aus einem Gespräch auch nichts wird, so möchte ich ihr
doch wenigstens ein Wort Gottes sagen.
So nehme ich ihre schmale,
blasse Hand, beuge mich zu ihr hinab und sage langsam das herrliche Wort aus dem
23. Psalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein
Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“
Da schüttelt sie traurig den
Kopf und zeigt auf ihre Ohren. Ich verstehe: Sie ist so schwerhörig geworden,
dass ich lauter sprechen muss. Also brülle ich ihr das Wort noch einmal ins
Ohr. Aber sie schüttelt ihren weißen Kopf. Sie hat es nicht verstanden.
Einen Augenblick bin ich
ratlos. Soll die ganze Fahrt umsonst gewesen sein?
Da fällt mir etwas ein: Ich reiße
ein Blatt aus meinem Notizbuch und schreibe den Spruch groß und deutlich
darauf. Sie nimmt das Blatt, versucht zu lesen – es geht auch nicht. Ihre Augen
sind zu schwach. Mühselig richtet sie sich auf, nimmt ein Vergrößerungsglas vom
Nachttisch und versucht, damit das Geschriebene zu entziffern.
Sie versucht! Aber es
gelingt nicht. Und mit einer erschütternden Gebärde lässt sie Blatt und Glas
sinken und legt sich in die Kissen zurück. – –
Mir wollen die Tränen
kommen: Wie furchtbar ist das! Ich verstehe, dass diese Frau wie lebendig
eingemauert ist. Kein Ton und keine Nachricht von draußen dringen zu ihr
hinein. Und dies bei einem so regen und lebendigen Geist!
Da sagt sie mit leiser
Stimme: „Ja, ich bin ein armer Mensch. Ich kann nicht mehr sehen und nicht mehr
hören …“ Und dann – mit einem tiefen Aufatmen: „Aber ich habe den Heiland!
Und wer den Heiland hat, der hat genug.“
Müde fuhr ich mit meinem Rad
nach Hause zurück. Aber in meinem Herzen lag ein großes Freuen: Wie reich macht
der Herr Jesus Seine Leute! Und auf einmal erkannte ich, wozu mir diese Fahrt
bestimmt gewesen war: Ich wollte eine alte Frau trösten, und sie hat mich herrlich
getröstet.
Karl Freund wandelte an
einem Sonntagmorgen den stillen Waldweg entlang. Er atmete tief auf und blieb
beglückt stehen. So liebte er es. Ringsum das stille Rauschen des Waldes, das
Singen der Vögel, der blaue Himmel und das glänzende Licht, das die Morgensonne
in Pfeilbündeln durch das dichte Laub warf. Wie schön doch das alles war!
Unwillkürlich faltete er die
Hände. Er fühlte sich eins mit der herrlichen Natur. Er war in ihr und sie in
ihm. So feierte er seinen Gottesdienst.
„Nein!“ dachte er, „da
sitzen sie nun in dämmrigen, muffigen Kirchen und lassen sich irgendwelche mittelalterliche
Dogmen vortragen. Ach, wie man bloß daran Freude haben kann? Hier ist Gott!
Hier inmitten all der herrlichen Natur … Ja, hier … Hier kann man ihn fühlen im
Atmen der Natur. Und wer hier nicht Gott erlebt, der muss einen Stein in der Brust
haben …“
Bei jedem Schritt entdeckte
er neue Offenbarungen der Natur. Ganz feierlich war ihm zumute.
Einige Jahre später.
Wieder geht Karl Freund
durch den stillen sommerlichen Wald. Aber diesmal ist sein Herz nicht voll Harmonie.
Es ist notvoll und zerrissen. Gestern ging das Glück seines Lebens in Trümmer.
Seine junge Frau hat einem Kindlein
das Leben geschenkt, aber sie selbst hat unter unsagbaren Qualen ihr junges
Leben lassen müssen. Und kurz nachher ist auch das Kindlein gestorben.
Nun ist er früh am Morgen
hinausgeeilt in seine geliebte Natur. Sie soll ihm Trost und seelische Kraft geben.
Schon stundenlang schreitet er durch den Wald. Er sieht es alles wie sonst … die
Vöglein zwitschern, die Wolken ziehen … Die Sonne liegt über dem allem … Aber
in seinem Herzen will es nicht stille werden. Es hat keinen Wert, sich etwas
vorzumachen. Es ist schon so: Die Natur hat heute keinen Trost für sein
zerrissenes Herz.
Fast wild macht ihn der
Anblick der herrlichen Waldespracht. Am liebsten möchte er, während die alten
Bäume so gleichmütig rauschen, als sei nichts geschehen, wild aufschreien: „Was
soll mir all eure Schönheit? Was soll mir das Rauschen? In einem Vierteljahr
ist ja doch Herbst. Dann muss auch eure Schönheit sterben, sterben, ja sterben
…“
Er kommt auch von dem
Gedanken nicht los. Es hämmert in seinen Schläfen: „Sterben … ja sterben …“
Langsam geht er weiter. Das Bild der Toten steht vor ihm. O, in all seinem
Schmerz ist noch ein besonderer Stachel: Am Abend, ehe seine Frau ins
Krankenhaus ging, an dem Abend – er kann es heute gar nicht verstehen –, an dem
Abend hatte er noch einen kleinen Wortwechsel mit ihr. Wie er das nur hatte tun
können! Gewiss, er war abgearbeitet, gereizt. Aber es hat ja keinen Zweck,
allerlei Entschuldigungen zu suchen. Tatsache war, dass er harte, unfreundliche
Worte zu ihr sagte. Und das war nun das Letzte gewesen! Wie ihn das jetzt
schmerzte! Nie mehr gutzumachen! Nie mehr! …
Karl Freund stürmte den Weg
entlang. J a, wenn er jetzt jemand gehabt, der zu ihm hätte sprechen können … Aber
das Rauschen der Bäume ließ ihn so kalt und unberührt. Groll und Erbitterung
kamen über ihn. Alles Menschenleid schien sie nicht zu kümmern. Sie standen,
wie sie standen, die alten Bäume …
Da drang auf einmal
Glockengeläute durch die Morgenstille. Karl horchte auf. Ohne zu wissen was er tat,
folgte er dem Klang. Bald lichtete sich der Wald, und ein Dörflein lag im
Wiesengrunde.
Wie im Traum ging Karl
hinter einem jungen Bauern her, der über den alten Friedhof dem Kirchlein zuwanderte.
Jetzt durchschritt er die niedrige Pforte. Und nun saß er – seit langem zum
ersten Male – in einer Kirche. Leise setzte die Orgel ein. Und dann fielen die
Stimmen der Bauern ein, die sangen:
„Jesu,
meine Freude,
meines
Herzens Weide,
Jesu,
meine Zier.
Ach,
wie lang, ach lange
ist
dem Herzen bange
und
verlangt nach dir …“
Ihm war es, als sängen seine
Mitmenschen für ihn. Jetzt trat der Pfarrer an den Altar und las in die Stille
hinein: „Jesus Christus spricht: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und
beladen seid. Ich will euch erquicken …“
Da schlug Karl Freund die
Hände vors Gesicht und ward stille vor dem lebendigen Gott.
Irgendwo im Taunus war es,
auf einer einsamen Landstraße. Ein strahlender Vorfrühlingstag ging zu Ende.
Die Vögel sangen ihr Abendlied. Über die Wälder herüber klang eine Glocke. Über
den Wiesen und Feldern lag es wie frohe Erwartung: „Es muss doch Frühling
werden.“
Ich hatte mich auf einen
Stein gesetzt und genoss den Abendfrieden.
Da kommt ein ganz alter Mann
des Weges daher. Der Rücken ist gebeugt, grau sind Haar und Bart.
„Guten Abend!“ rufe ich ihm
fröhlich zu.
Keine Antwort.
Lauter rufe ich: „Guten
Abend!“
Da dreht er sich einen
Augenblick herum und knurrt: „Sie werden einen Schnupfen kriegen, wenn Sie noch
lange dasitzen!“
Ich muss lachen: „So ein
Grobian!“ Aber dann stehe ich auf und gehe ihm nach.
„Ein schöner Abend“, sage
ich.
„Kühl“, knurrt er.
„Jetzt wird's bald Frühling!“
meine ich.
„'s wird Zeit“, brummte er.
So geht das eine Weile. Ich
suche ihn fröhlich zu stimmen. Er brummt und schimpft nur. Da reißt mir die Geduld.
„Sagen Sie doch, lieber
Mann, haben Sie eigentlich gar nichts
zum Freuen?“
Da sieht er mich unsäglich
bitter und traurig an und antwortet hart: „Nein!“
Und dann ist's, als sei ein Damm weggerissen. Da ergießt sich ein Strom von
Anklagen gegen die Welt und gegen sein Dasein, gegen die bestehenden
Verhältnisse und gegen seine Kinder.
Der arme alte Mann! Er war
auch einmal jung, hatte sicherlich Freude gesucht, Schönes erhofft. Und nun ist
ihm am Rande des Grabes nichts geblieben als eine Enttäuschung und grenzenlose
Bitternis.
Wie Leid tut er mir!
Da wage ich eine letzte
Frage: „Haben Sie denn auch keine Hoffnung des zukünftigen Lebens?“
Energisch und zornig winkt
er ab: „Das ist ja alles Unsinn!!“ Und damit geht er auf einem Seitenweg davon.
Lange folge ich mit den
Augen der armen, gebeugten Gestalt. Sein letztes Wort hat mir das Geheimnis seines
Elends enthüllt: Er hat keinen Frieden mit
Gott.
Bei solch einem Leben steht
man am Ende bettelarm und verloren. Da hat man nichts mehr zum Freuen. Da ist
nur noch Grauen.
Während ich ihm nachsehe,
taucht in meiner Erinnerung ein anderes Bild auf:
Es ist noch gar nicht lange
her, da erlebte ich, wie ein starker Mann in den besten Jahren sich zum sterben
anschickte. Neben dem Bett saß seine Frau, und um ihn her stand ein Trüpplein weinender Kinder, die er unversorgt zurücklassen
musste.
Da bat der Sterbende: „Kinder,
singt mir noch ein Lied!“
„Was denn Vater?“
„Singt mir“, sagte er mit
schwacher Stimme, „singt mir den Vers: ,O dass ich
tausend Zungen hätte'.“
Und dann wurden alle Not und
das Grauen des Sterbens vertrieben von dem Lobe Gottes:
O
dass ich tausend Zungen hätte
Und
einen tausendfachen Mund
So
stimmt ich damit um die Wette
Vom
allertiefsten Herzensgrund
Ein
Loblied nach dem andern an
Von
dem, was Gott an mir getan.
Das war der Inhalt eines
Lebens, das durch Jesus Christus mit
Gott versöhnt war. Da gab's im Blick auf die Vergangenheit und im Blick auf
die Zukunft im Sterben nur das Lob Gottes.
Der Friedhofswärter zuckt
bedauernd die Schultern: „Sie müssen leider warten. Sie wollen doch das Kind von
Familie X. beerdigen? Ja, da ist nun eine andre Feier, die noch nicht zu Ende
ist.“
In diesem Augenblick höre
ich die Klänge des Chopin'schen Trauermarsches. „Was ist denn da los?“
„Das ist eben diese andre
Beerdigung“, sagt der Friedhofswärter. „Eine ganz große Sache!“ fährt er fort. „Da
wird eine Frau begraben, die in der Partei eine große Rolle spielte. Und im
Luftschutz! Natürlich ohne Pfarrer! Aber mit allem Drum und Dran: Luftschutz,
Parteileute, Musik, Amtswalter. Weil die Halle zu
klein war, sind sie im Freien.“
Also warten! Wenn die Männer
der Partei erst einmal reden, geht es nicht so schnell. Es war zur Zeit des „Dritten
Reiches“.
Ich ziehe mir meinen Talar
an. Und dann? Ja, was soll ich nun machen? Wie wäre es, wenn ich mir diesen
Aufmarsch ansähe?
Also gehe ich hinter die
Halle auf den freien Platz. Das übliche Bild: Hakenkreuz-Fahnen, Blechmusik, Uniformen
und ein schreiender Redner. Bescheiden stelle ich mich hinter die Letzten und höre
zu. Aber der Redner hat mich erspäht. Irgendwie ist ihm die Anwesenheit eines
Mannes im Talar unangenehm.
Ich zweifle nicht daran,
dass er mich entdeckt hat, denn ich merke, wie er unruhig wird. In seiner Rede gibt
er mir den Beweis dafür, als er nun einsetzt mit wilden Ausfällen gegen „die
Pfaffen“. „Nicht diese Pfaffen sind die wahren Christen! Der Dienst in der Partei,
den diese Tote getan hat, ist das wahre Christentum!“ In der Tonart geht es
weiter.
Schließlich nimmt auch diese
„gewaltige“ Rede ein Ende. Gegen den Sarg gewandt, ruft der Redner der Toten zu:
„Gehe ein nach Walhall!“
Die Musik setzt ein, und der
ganze Haufe zieht ab zum Grab, das weit draußen am Rande des Kirchhofes liegt.
Bald nachher ziehe ich mit
den betrübten Eltern denselben Weg. Das kleine weiße Kindersärglein
hat der Leichenträger einfach unter den Arm genommen.
Als wir an unserem Grabe
ankommen, ist die andre Beerdigung eben zu Ende. Während der kleine Sarg in das
Grab hinabgelassen wird, strömt die Menge vorbei. Als
ich dann endlich anfangen will, entdecke ich, dass mein Parteiredner bei unserm
Grab stehen geblieben ist. Ich überlege mir heute noch, warum er das tat:
Wollte er einmal sehen, wie wir das machen? Oder wollte er nun über mich
lächeln, wie ich über ihn gelächelt hatte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls also stand
er in seiner prunkenden Uniform etwas deplaziert hinter den unscheinbaren,
weinenden Eltern.
Und dann ertönen die
herrlichen, ewigen Worte der Bibel über diese Stätte des Todes: „Jesus sagt:
Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Und: „Das Leben ist erschienen, und wir
haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist,
welches war bei dem Vater und ist uns erschienen.“
Als alles zu Ende ist,
ergibt es sich dann ganz von selbst, dass ich neben dem Amtswalter
zurückgehe. Man muss schon jene Zeit miterlebt haben, um zu begreifen, wie
seltsam das ist: der Mann in der braunen Uniform und der Pfarrer im Talar. Die
Gärtner schauen uns erstaunt nach.
Er schweigt in allen
Sprachen der Welt. So beginne ich das Gespräch: „Darf ich Ihnen eine Frage
stellen?“
„Bitte!“
„Sie haben vorhin ihre Rede
geschlossen mit dem Ruf: Gehe ein nach Walhall!“
„Ganz richtig!“
„Nun, ich will nicht davon
reden, dass nach germanischer Mythologie nur die Männer nach Walhalla eingehen,
nicht die Frauen. Wenn Sie diese Sprache schon sprechen, sollten Sie sie wenigstens richtig brauchen. Aber – wie gesagt – darauf
will ich jetzt gar nicht eingehen.“
„Sie wollten mich etwas
fragen!“
„Richtig! Sagen Sie: Gibt es
Walhall?“
Schweigen. Dann fährt er auf:
„Na hören Sie einmal! Der Führer selbst hat bei Hindenburgs Beerdigung …“
Ich unterbreche ihn: „Verzeihen
Sie! Ich fragte: Glauben Sie an Walhall?“
Jetzt wird er ganz
aufgeregt: „Passen Sie einmal auf! … Wenn man an … Ich meine, wir sollten …“
Wieder muss ich
unterbrechen: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einfach mit Ja oder Nein
antworten wollten. Gibt es Walhall?“
Jetzt wedelt er ungeduldig
mit der Hand: „Wie Sie nur so kindlich fragen können! Natürlich gibt es
Walhalla nicht. Das sagt man nur so, um auszudrücken … ja, um auszudrücken …“
Mir genügt es. Und nun
breche ich los: „Also Sie verkündigen an Gräbern Dinge, die Sie selber nicht glauben?
Sehen Sie, das nenne ich pfäffisch. Das scheint mir das echte Kennzeichen eines
Pfaffen zu sein, dass man Worte macht, die man selbst nicht ernst nimmt! Und
das wagen Sie angesichts des Todes und der Ewigkeit! Das ist furchtbar! Wenn
wir Jesum bezeugen und von der zukünftigen Welt reden und von der Auferstehung
der Toten, dann meinen wir das so!“
„Heil!“ sagte er da mit
schnarrender Stimme. Es klang wie eine Drohung. Dann bog er ab. Einen
Augenblick lang wollte mich die Drohung beunruhigen. Aber dann überkam mich der
Jammer um das arme, verführte Volk.
1. Salz der
Erde
Als ich auf der Kanzel
stand, fiel mir ein junges Gesicht auf: blass, dunkle Augenränder, – das typische
Gesicht eines Bergmannes.
Auch an den kommenden
Sonntagen sah ich ihn, – nun sogar in Begleitung von anderen. So sprach ich ihn
eines Sonntags nach dem Gottesdienst an. Ich erfuhr, dass er aus dem Osten
stammt, dass er mutterseelenallein in der Welt steht und nun in einem der großen
Lager haust, in dem viele hundert Jungbergleute eine Art von Heimat gefunden
haben. „Besuchen Sie mich doch einmal! Meine Kameraden würden sich auch freuen!“
So stand ich eines Tages vor
dem riesigen, scheußlich kahlen Ziegelbau, in dem 600 junge Männer wohnten.
Hinter dem Gebäude ragte der Förderturm der Zeche empor; sonst sah man gut
gepflegte Schrebergärten und ungepflegte Mietskasernen.
Ich ging durch das große
Portal. Aus einer Portierbude rief mich eine raue Stimme an, wo ich denn hin
wolle. Hier könne nicht einfach jeder hereinkommen.
Etwas erschrocken wollte ich
Auskunft geben, da bekam ich einen Schlag auf die Schulter: „Wahrhaftig! Das
ist ja der Pfarrer Busch! Das ist ja großartig, dass Sie einmal nach uns sehen!“
Es stellte sich heraus, dass
der vierschrötige Mann der Hausvater war. Als ich ihm erklärte, dass ich hier einen
Jungbergmann besuchen wolle, lachte er etwas verlegen und meinte: „Es sind raue
Burschen hier im Hause. Ich glaube, Sie können allerhand erleben.“
Der Mann hatte Recht
gesprochen. Ich erlebte „allerhand“.
Mein Freund hauste in Zimmer
23. Als ich die Tür öffnete, erinnerte ich mich an die Zeit, da ich als junger Soldat
in einer Kaserne leben musste. Dieser Geruch von verbrauchter Luft, von Schweiß,
Zigaretten und Fußlappen! In der Mitte ein riesiger Tisch. Rings an den Wänden
eiserne Spinde und Feldbetten.
Mein Freund war ein wenig
verlegen, als er so „bürgerlichen“ Besuch bekam. Und die andern jungen Männer
schauten neugierig und misstrauisch auf. In diesem Augenblick ging es mir
blitzartig auf, dass diese jungen Leute ja in einer völlig anderen Welt lebten
als ich, ihr Leben war von früher Jugend an Kasernenleben: Arbeitsdienst,
Militär, Krieg, Gefangenschaft, Bergmannslager – ! Die
wussten ja gar nicht mehr, was ein Familienleben ist. Die hatten keine Ahnung,
wie ein Leben aussieht, das man sich selbst gestaltet. Und vor allem –
Alleinsein kannten sie nicht! Sicher waren sie im Grunde alle furchtbar einsame
Leute – einsame Leute, die nie allein sind.
Ich musste die Befangenheit
durchbrechen. Es gelang. Und bald saßen wir in gemütlichem Gespräch um den
großen Tisch.
„Nun sagen Sie mir, wie es
kommt, dass Sie in meinen Gottesdienst gefunden haben“, fragte ich meinen jungen
Freund.
Ohne Scheu antwortete er: „Ich
war früher in Schlesien in einem CVJM. Und da habe ich mich entschlossen, dem
Herrn Jesus anzugehören. Als ich nach Essen kam, habe ich mich erkundigt, wo
man wohl hier die Jesus-Botschaft hören könne. Und so kam ich unter Ihre Kanzel.“
Nun war ich wirklich
erstaunt, dass keiner eine Miene verzog. Wer die Atmosphäre solcher Stuben kennt,
der weiß, dass der Name Jesus jedes Mal Widerspruch, Spott und Hohn hervorruft.
Aber hier erfolgte nichts dergleichen. Das war wunderlich. So fragte ich die
andern: „Ja, und was sagen Sie nun dazu?“
Einen Augenblick war es sehr
still. Dann raffte sich ein langer Bursche auf: „Ja, dann wollen wir das einmal
ruhig sagen! Zuerst haben wir uns fürchterlich geärgert, als wir hörten, unser
Kamerad ginge in die Kirche. Dazu musste er ja auch so früh aufstehen, dass wir
immer gestört wurden.“
„Ja, ja“, nickte einer, „wir
haben ihm das Leben sauer gemacht. Man kann ja heute ruhig darüber sprechen.
Ich habe immer mit meinen Stiefeln nach ihm gefeuert. Aber er hat sich nicht
abhalten lassen.“
„Im Gegenteil!“ fiel ein
anderer ein. „Er hat uns immer eingeladen mitzukommen. Das kam natürlich gar
nicht in Frage. Aber – an Weihnachten – am frühen Morgen – da sagte er – er
ginge zur Christmette. Und – ja – wissen Sie, Weihnachten ist ja was
Besonderes. Kurz, da gingen wir also alle mit.“
Ich staunte.
„Und seither werden Sie in
Ruhe gelassen?“ fragte ich meinen jungen Freund.
Da leuchtete sein Gesicht
auf: „Jetzt gehen sie ja mit!“ sagte er fröhlich. Und all die rauen Burschen schauten
verlegen drein, als wenn die schlimmste Übeltat an das Licht gekommen wäre.
Ich aber sah meinen Freund
an. Und durch den ging mir das Wort Jesu: „Ihr seid das Salz der Erde! Ihr seid
das Licht der Welt! Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht wohl
verborgen bleiben.“
2. Eine
beunruhigende Frage
So bald, wie ich es mir
gedacht hatte, kam ich nicht „Sie müssen auch unsre Kameraden nebenan besuchen!“
Man führte mich ins
Nachbarzimmer – und ließ mich allein. Ich musste lächeln: Die Burschen kannten
ihre Kameraden. Und sie waren wohl gespannt darauf, was die zu dem Besuch eines
Pfarrers sagen würden. Aber es schien ihnen doch geraten, den allein die Sache
ausfechten zu lassen.
Da stand ich nun in einem großen
Saal, der von 16 jungen Männern bewohnt wurde. Einer löffelte am Tisch seine
Suppe. Ein anderer machte sich gerade zum Ausgehen fertig („Mal ein bisschen
ins Kino gehen!“), ein dritter lag auf dem Bett und erzählte dreckige Witze … kurz,
alle waren beschäftigt, so beschäftigt, dass sie nur eben aufschauten, als ich
ins Zimmer trat. Und dann machte jeder weiter, als sei ich gar nicht vorhanden.
Eine unbehagliche Situation!
Man musste ihr ein Ende machen.
„Grüß Gott, Ihr Männer!“
rufe ich mit aller herzlichen Offenheit, die mir nur irgendwie zur Verfügung steht.
Aber mein gut gemeinter Gruß
bleibt völlig wirkungslos. Der junge Mann, der aus dem Blechnapf seine Suppe
isst, schaut gleichmütig auf und – isst weiter. Der am Fenster, der sich gerade
eine Zigarette dreht, hat offenbar überhaupt nichts gehört … Ich komme mir vor
wie – ja, wie soll ich sagen? – so muss einem Weinreisenden zu Mute sein, der
aus Versehen einem Abstinenzverein einen Sekt offeriert hat.
Nun wird es mir zu dumm. Ich
setze mich kurz entschlossen dem Suppenesser gegenüber: „Wo sind Sie denn her?“
„Oberschlesien!“
„Und Ihre Angehörigen?“
„Alle umgekommen!“ Das
Gespräch ist zu Ende.
Ich wende mich an einen
Zweiten: „Und wo ist Ihre Heimat?“
„Ostpreußen.“
„Haben Sie noch Angehörige?“
„Meine Mutter lebt in der
Ostzone!“
Ich frage einen Dritten:
„Woher stammen Sie?“
„Ich bin aus Bayern. Meine
Eltern sind geschieden. Die sind froh, dass sie mich los sind!“ Alles lachte.
„Wie alt sind Sie denn?“
fragte ich.
„Achtzehn!“
Aus dem Hintergrund ruft einer:
„Das ist unser Jüngster! Unser süßer Kleiner!“
Ich wende mich an den Mann
im Hintergrund: „Wo sind Sie denn zu Hause?“
„Ich? Ich bin mit meinem
Alten aus der Ostzone geflüchtet. Jetzt verhungert der langsam in Hagen.“
Es ist unheimlich, wie hier
mit einer unsagbaren Gleichgültigkeit die erschütternsten Schicksale berichtet
werden.
Da richtet sich der junge
Mann, der auf seinem Bett liegt, auf: „Hören Sie einmal, Sie fragen wohl gerne die
Leute aus?“ Spott und Drohung liegen in seiner Stimme. Jetzt muss ich nach
vorne durchbrechen.
„Ja“, erwidere ich „Ganz
recht! Ich frage die Leute aus. Haben Sie einmal vom Gallup-Institut
gehört?“
Sie wissen Bescheid: „Das
ist doch so ein Rundfrage-Unternehmen in Amerika!“
„Ganz recht!“ mache ich
weiter. „So was Ähnliches bin ich auch. Ich habe allerdings nur eine einzige
Frage. Was ich bis jetzt gefragt habe, war nicht das Eigentliche.“
„Also, dann schießen Sie
doch los!“ sagte der Esser gemütlich und stellt seinen Topf beiseite. Er ist
fertig und steckt sich eine Zigarette an.
Ich schaue ihn fest an: „Meine
Frage lautet: Sind Sie, wie Sie sein
sollten?“
Er ist erstaunt. Er wird
verlegen. Schließlich sagt er ärgerlich: „Ich bin, wie ich bin!“
Ich lache: „Sehen Sie, Sie
haben keinen Mut, meine Frage zu beantworten.“ Er fährt auf: „Wieso! Natürlich
hab' ich Mut!“
„Nun, dann antworten Sie mir
doch: Sind Sie, wie Sie sein sollten?“
Er schaut sich verzweifelt
um. Dann stößt er heraus: „Das ist kein Mensch!“
Ich schaute mich kurz um.
Alle hören voll Spannung zu.
Ich halte meinen Partner
fest: „Sie weichen schon wieder aus! Ich habe nicht nach allen Menschen
gefragt. Ich frage Sie: Sind Sie, wie Sie sein sollten?“
Einen Augenblick Stille.
Dann sagte er ehrlich: „Nein!“
Der macht gar keine
Ausflüchte: „Nein!“
Es ist auf einmal eine
unheimliche Spannung andern in der Luft, als ich nun einen nach dem andern
frage: „Und Sie?“
Monoton und ehrlich heißt’s jedes Mal: „Nein! Ich bin nicht wie ich sein
sollte!“
Wie ein dumpfer Druck liegt
es auf uns, als ich durch bin. „Meine Herren!“ sage ich, „da müssen Sie mir
schon eine zweite Frage erlauben! Warum
ändern Sie sich nicht?“
Diese Frage macht auf einmal
alle lebendig. Der auf dem Bett springt auf und ruft: „Himmel! Ja. Warum ändern
wir uns nicht? Hab' ich noch nie drüber nachgedacht! Gewusst hab' ich immer,
dass es nötig wäre!“
Einer setzt sich durch und
rückt mir nahe auf den Leib: „Ha, leben Sie bitte einmal in solchen Verhältnissen!
Und dann sagen Sie, dass man sich ändern muss! Nur die Verhältnisse sind an
allem schuld!“
Ich winke ab: „Das ist
Unsinn! Ich kenne viele Leute die in vorzüglichen wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen leben und die sich doch nicht ändern, trotzdem es sehr nötig
wäre. Nein! Daran liegt es nicht!“
Das leuchtet ihnen ein. Es
wird wieder sehr still. Der auf dem Bett – er hat sich wieder hingeworfen –
murmelt nur: „Warum ändern wir uns nicht?“
„Ich will's Ihnen sagen“,
so antworte ich auf seine leise Frage. „Weil Sie es nicht können! Es kann doch keiner
aus seinem Wesen und aus seiner Haut!“
Wieder wird es lebendig.
Alle sprechen zu gleicher Zeit: „Na also! Warum machen Sie uns denn erst
verrückt!“ – „Klar, so ist es!“ …
Noch einmal muss ich mir
Ruhe verschaffen: „Ich bin noch nicht fertig! Jetzt will ich Ihnen einen Tipp geben.
Haben Sie schon etwas von Jesus gehört?“
Verlegenes und erstauntes Gemurmel: „Klar!“
„Haben Sie schon einmal
gedacht, dass Jesus für ein Bergmannsheim in Frage käme?“
Gelächter und
Kopfschütteln.
Geradezu erschrocken aber
sind sie, als ich nun erst rufe: „Da irren Sie gewaltig! Jesus kommt für Sie in
Frage! Denn eben dieser Jesus hat gesagt: Siehe, ich mache alles neu! Der ist
für Sie am Kreuz gestorben, damit Sie anders und ganz neu werden können! So! In
dieser Richtung fangen Sie doch bitte an zu suchen! Und nun muss ich gehen!“
Als ich die Türe hinter
mir zuzog, ging in der Stube ein erregtes Gespräch los.
3. „Woher
wissen Sie?“
Die nächste Stube ist
klein. Nur drei Mann finde ich hier vor. Einer sitzt am Tisch und liest. Ein
zweiter, der sich bald als Berliner entpuppt, rasiert sich. Der dritte brät
sich ein Kotelett.
„Guten Tag!“ fange ich
gleich tapfer der evangelische Jugendpfarrer. Da ich Ihrer Kameraden besucht
habe, wollte ich Sie auch eben begrüßen!“
Der Berliner grinst.
Während er seinen Bart schabt, erklärt er spöttisch: Ich höre immer Pfarrer!
Nicht gefragt!“
Welches Großmaul, denke
ich, und entgegne: „Ich höre immer: Nicht gefragt! Was ist nicht gefragt?“
Da guckt er mir mitten ins
Gesicht und sagt lachend: „Gott ist nicht gefragt! Dafür interessieren wir uns
nicht! Nun wissen Sie ja Bescheid!“
In mir steigt Zorn auf:
„Mensch!“ fahre ich ihn an, „das ist ja nicht die Frage, ob Sie sich für Gott interessieren.
Vielmehr ist das die Frage, ob der heilige, lebendige Gott sich für solch einen
Burschen interessiert, wie Sie einer sind …!“
In diesem Augenblick packt
mich selber das Wunder des Evangeliums, dass ich hinzusetze: „… und stellen Sie
sich vor: Er tut’s! Es ist wunderbar, aber wahr: Gott interessiert sich für
Sie!“
Da geschieht etwas
Erstaunliches: Er hat auf einmal auch gemerkt, dass dies etwas Unbegreifliches
ist. So lässt er fassungslos seinen Rasierapparat sinken und sagt voll
Verwunderung: „Woher wollen Sie das wissen? Für mich hat sich bisher doch noch
niemand interessiert!“
Nun kann ich einfach nicht anders
– ich sage ihm das größte Wort der Bibel: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Und dann weiß ich, dass hier
jetzt alles gesagt ist, was zu sagen ist. Darum gebe ich ihm die Hand: „Das wollte
ich Ihnen nur mitteilen. Auf Wiedersehen!“
Ich gehe.
Im nächsten Zimmer hatte ich
kaum „Guten Tag“ gesagt, da stürmten die drei herein, der Berliner an der
Spitze: „Mann! Davon müssen wir mehr hören!“
Und ehe die Zimmerbewohner
noch recht wissen, was denn eigentlich los ist, sitzen wir am Tisch, und ich
bezeuge Jesus als den Heiland und Sohn Gottes.
4. Die Not
Es gab natürlich nun manches
Zimmer, in dem sich nicht Besonderes ereignete, wo man mich gelassen begrüßte
und gelangweilt gehen ließ. Und doch – das ist jetzt falsch gesagt: Es ist
immer ein Ereignis, wenn der Name des Herrn genannt wird – auch wenn wir weder
Wirkung noch irgendwelche Spuren sehen.
Aber von einem Zimmer muss
ich noch berichten. Da wurde es besonders schön.
Es fing aber gar nicht schön
an. Als ich in die kleine Drei-Mann-Stube trat, verschlug es mir zuerst den Atem:
Die ganze Wand war behängt mit gemeinen obszönen Bildern. Die hatte man
offenbar aus Magazinen und „Illustrierten“ ausgeschnitten und mit Reißnägeln an
der Wand befestigt.
Ich brachte kein Wort
heraus. So blieb ich an der Tür stehen und schaute erschrocken auf den
wunderlichen Schmuck. Langes Schweigen!
„Gefällt Ihnen wohl nicht?“
fragte schließlich einer frech.
„Nun, das ist
Geschmackssache!“ erwiderte ich. „Jedenfalls würde ich mir meine Stube anders tapezieren.“
Wieder Schweigen.
„Da ist doch nichts dabei!“
warf endlich einer hin.
Mein Blick fiel auf die drei
jungen Burschen. Was hatten sie wohl schon alles erlebt! Ein tiefes Mitleid überkam
mich: „Ich glaube, die Bilder sprechen davon, dass hier eine Not liegt. Ja, es
ist eine große Not, wenn man mit sich selbst nicht fertig wird. Aber – man
hängt doch die Dokumente seiner Not nicht an die Wand! Ja, man spricht
vielleicht mit einem guten Freund darüber. Aber – an die Wand hängen …!“
Schweigen!
Und auf einmal stand einer
langsam auf. Er ging auf das nächste Bild zu und begann, es abzunehmen. Die
beiden andern sahen ohne Widerspruch zu, wie er nun die Reißnägel aus der Wand zog
und Bild für Bild herunterholte. Es dauerte lange. Und es fiel kein Wort dabei.
Dann war die Wand leer. Es
war wie ein Aufatmen. Nun war die Bahn frei für das Gespräch. Wir rückten zusammen
und redeten wie Brüder miteinander. Ja, wie Brüder. Denn es war uns, als hätten
wir sehr viel miteinander erlebt.
„Eine richtige Antwort ist
wie ein lieblicher Kuss“, sagt der weise Salomo. Und er hat Recht.
Ernst ist ein junger
Arbeiter. Er hat es nicht ganz leicht. Denn seit er sich von ganzem Herzen zum Herrn
Jesus bekehrt hat, muss er allerlei Spott ertragen. Aber er ist „nicht auf den
Mund gefallen“ und weiß zu antworten.
Eines Tages erklärt ein
Arbeitskollege: „Mit dem Tode ist alles aus und vorbei!“
Ernst fährt herum: „Nein!“
sagt er bestimmt.
„Was soll denn noch kommen?“
fragen spöttisch ein paar Stimmen.
„Das Weltgericht!“ sagt
Ernst.
„Wie sollen wir uns das denn
vorstellen?“
Ernst zieht sein kleines
Testament aus der Tasche und liest: „Und ich sah einen großen weißen Thron und
den, der darauf saß; vor des Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen
ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide, groß und klein,
stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein ander
Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden
gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und so jemand
nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in
den feurigen Pfuhl.“
Einen Augenblick lang ist
Stille. Dann lacht einer laut auf: „Mensch, ich möchte nur wissen, wo dieser Thron
eigentlich stehen soll, wenn Erde und Himmel nicht mehr da sind!“
„O“, erwidert Ernst
nachdrücklich, „darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, wo der
Thron steht. Sieh lieber zu, dass du bestehst.“
Wieder tritt Stille ein.
Dann meint einer nachdenklich: „Ich kann mir das Ganze doch nicht vorstellen. Sieh
einmal, es haben doch so furchtbar viele Menschen gelebt in all den
Jahrhunderten und in den vielen Ländern. Und da soll nun jeder einzeln
gerichtet werden. Denk doch, wie viel Zeit man dazu braucht.“
Darauf entgegnet Ernst: „In
der Ewigkeit haben wir ja auch sehr viel Zeit. Es liegt dann nichts anderes mehr
vor.“
Diese Antwort genügt. Es
sagt keiner mehr etwas.
Einen Augenblick stehe ich still
vor der weiß gestrichenen Tür Nr. 24 des großen Krankenhauses. Was soll ich dem
Mann sagen, der dort liegt? Er hat Schweres erlebt. Bei einer Autofahrt ist er
verunglückt und liegt nun mit zerschmettertem Armgelenk hier in der fremden
Stadt im Krankenhaus. Und inzwischen ist zu Hause seine treue und geliebte Frau
einem Herzschlag erlegen und zu Grabe getragen worden. Und zu all den äußeren
und inneren Schmerzen mögen die Sorgen kommen um das große Geschäft zu Hause,
das den Chef so nötig braucht.
Ach, was soll ich diesem
armen Mann sagen?
Ich trete in das
Krankenzimmer, stehe vor dem Bett, fasse nach der gesunden Hand und versuche
ein paar Trostworte zu sagen.
Da schaut mich der alte Herr
mit einem unbeschreiblichen Blick an und sagt: „Ich bin geborgen!“
Ich verstehe ihn. Da neben
ihm auf dem Nachttisch liegt die aufgeschlagene Bibel. Sie spricht auf jeder
Seite von der Liebe Gottes, die in Jesus erschienen ist. In dieser Liebe ist
dieser Lastträger geborgen.
Und nun sehe ich im Geiste
die große Schar derer, sich mit Freuden Kinder Gottes nannten. Lastträger waren
und sind sie alle, aber sie bezeugen es fröhlich: Ich bin geborgen!
Da war Abraham. Er war
Fremdling geworden. Und der Herr hatte ihm gesagt: „Abraham, ich bin dein
Schild und dein sehr großer Lohn!“ „Geborgen!“
Da ist Paulus. Zerschlagen –
in Ketten liegt er im Gefängnis in Philippi. Aber „um Mitternacht beteten Paulus
und Silas und lobten Gott im Gefängnis“. Ist das nicht unerhört? Das konnten
sie tun, denn sie waren „geborgen“ in der Liebe Gottes.
Da ist Luther. Der schreibt
seinem Kurfürsten, der um ihn besorgt ist, der Kurfürst möge sich nur nicht sorgen.
Denn mit all seiner Macht könne er ihn doch nicht schützen. Vielmehr wolle er,
Martin Luther, „Seine kurfürstlichen Gnaden“ schützen. „Geborgen!“
Und von den Feinden umgeben,
vom Papst gebannt, vom Kaiser geächtet, lehrt er die Christenheit das Lied:
„Eine
feste Burg ist unser Gott,
ein
gute Wehr und Waffen.“
Das heißt „geborgen“.
Und ich denke an Paul
Gerhardt, den großen Sänger. In den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, als
die Flammen sein Dorf in Schutt und Asche gelegt hatten, singt er:
„Warum
sollt ich mich denn grämen?
Hab
ich doch Christus noch!
Wer
will mir den nehmen?“
„Geborgen.“
Geborgen sind sie alle, die
das Heil Gottes in Jesu ergriffen haben. Geborgen sind sie in der Liebe Gottes.
Und was der Dichter des 36. Psalmes bezeugt hat, das
ist täglich ihre Erfahrung: „Wie teuer
Ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben.“
Vor kurzem sah ich in meiner
Kinderstube ein liebliches Bild. Meine Jüngste hatte sich irgendwo gestoßen. Am
Kopf war eine dicke Beule. Aber nun saß sie ganz getröstet und fröhlich auf dem
Schoss der Mutter. An den Bäckchen hingen noch die Tränen. Aber die Augen lachten
schon wieder. „Geborgen!“
Da musste ich denken: Das
ist ein Bild der Christen. Mancherlei Narben und Wunden schlägt ihnen die Welt.
Noch zittert das Herz über mannigfacher Not und über dem, was ihr Gewissen
ihnen vorhält. Aber sie sind geborgen in der Liebe ihres Herrn, und sie rühmen:
„Wir überwinden weit um des willen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss,
dass weder Tod noch Leben mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in
Christo Jesu ist, unserm Herrn“ (Römer 8, 37).