Es ist wunderlich, wie
einzelne Eindrücke der frühesten Jugend unverlierbar im Gedächtnis haften, während
oft große Erlebnisse der späteren Zeit wie ausgelöscht sind.
So erinnere ich mich, dass
ich als ganz kleiner Kerl meinen Vater auf einem Gang in die Stadt begleiten durfte.
Der Weg führte über einen schmalen Steg, der die Bahnanlage überquerte. Es war
aufregend, weil die Bohlen nicht dicht nebeneinander lagen. Man sah zwischen
ihnen in der Tiefe die glitzernden Geleise.
Mein Vater ging vor mir her,
und ich nahm mein kleines, zitterndes und furchtsames Herz in beide Hände.
Immer hatte ich das Gefühl, ich müsse zwischen den Bohlen durchfallen und
hinabstürzen.
Als eine Rangierlokomotive,
die grauenvoll qualmte, unten durchfuhr, da war es um meine Fassung geschehen.
Es muss komisch gewesen sein, wie ich auf einmal aus dem umhüllenden Qualm
erbärmlich um Hilfe schrie.
Aber dann fasste mich die
starke Hand meines Vaters. – Das ist etwa 50 Jahre her. Und – wie gesagt – ich
war ein so kleiner Kerl, dass ich mich sonst kaum an jene Zeit erinnere. Aber
die unendliche Seligkeit, die ich über der starken, rettenden Vaterhand
empfand, ist mir so gegenwärtig, als sei das gestern gewesen.
Wie oft hat später die
rettende Hand meines Heilandes so in mein Leben eingegriffen, wenn der Qualm des
Lebens mich verzweifeln lassen wollte.
Es war sicher nicht viel
später, als sich jene andere seltsame Geschichte ereignete, die hier berichtet
werden soll.
Da tobte durch meine
Heimatstadt der Karneval. Mein Vater litt als ein treuer Pfarrer seiner
Gemeinde innerlich große Not. Er bekam nachher die erschütternden Folgen dieser
Taumeltage zu spüren, da arme Leute ihre Betten ins Pfandhaus trugen, um mitfeiern
zu können.
Es war am Aschermittwoch. Da
forderte er mich auf: „Komm, du darfst mich auf einem Gang begleiten!“ Es war
noch früh am Morgen. Da und dort sah man in den Straßen die widerlichen,
betrunkenen Überbleibsel der letzten Nacht.
Der Weg führte uns auch in
die Anlagen, die sich in meiner Heimatstadt einen Berghang hinanzogen.
Es war schön dort. Und ich
sehe noch im Geist die morgenfrischen Bäume und Sträucher.
Der Weg ging in Serpentinen
bergan. An jeder Umbiegung des Weges stand unter einem großen Gebüsch jedes Mal
eine Bank, von der aus man einen schönen Ausblick in das Tal hatte.
Gemächlich stiegen wir
höher. Wieder kamen wir an so eine Wegbiegung. Und da – wir stutzten einen Augenblick
– da auf der Bank saß ein blutjunges Paar: Er noch im Harlekinkostüm, sie in
ein Flittergewändchen gekleidet. Ach, es sah das so unsagbar aus an diesem
frischen Morgen! Auf den Gesichtern der beiden lagen die Spuren einer Taumelnacht.
Diese jungen Menschen waren wohl schon alle Tiefen gegangen!
Nun, ich war so ein kleiner
Kerl, dass ich von all dem nicht viel verstand. Was mir aber damals schon auffiel,
war dies: Über diesen Gesichtern lag eine unendliche Traurigkeit, eine
abgrundtiefe Verzweiflung. Welche Gesichter über den Narrenkleidern!
Es war kein Wunder, dass wir
beide betroffen stehen blieben. Aber mein Vater fasste sich schnell und ging
schweigend weiter. Und ich stapfte mit meinen kleinen Beinen hinter ihm her.
Dabei hatte ich das Gefühl, als wenn etwas unsagbar Schreckliches mich gestreift
hätte.
Wir waren kaum um das uns
verdeckende Gebüsch gebogen, da blieb mein Vater stehen und horchte. Nun hörte
ich es auch – die beiden sangen ganz leise ein Lied. Es klang so seltsam, dass
es mir durch Mark und Bein ging.
Damals hörte ich zum ersten
Mal dies Lied, das ich später oft gesungen habe. Wo mochten diese Zwei das herhaben?
Vielleicht kamen sie aus einem frommen Elternhaus. Oder sie hatten es in einem
Kindergottesdienst gelernt, als ihr Leben noch nicht so unsagbar beschmutzt
war.
Ich erlebte das alles etwas
fassungslos. Und als mein Vater weiterging in tiefem Schweigen, ja, in
erschüttertem Schweigen, zog ich bekümmert hinter ihm her. Ich verstand ja
nichts. Es war mir nur, als hätten sich Abgründe vor mir aufgetan.
Später aber, als ich selbst
dies Lied lernte, verstand ich die Bewegung meines Vaters. Das Lied nämlich lautet
so:
„Ich
bin durch die Welt gegangen,
und
die Welt ist schön und groß,
und
doch ziehet mein Verlangen
mich
weit von der Erde los.
Ich
habe die Menschen gesehen,
und
sie suchen spät und früh;
sie
schaffen und kommen und gehen,
und
ihr Leben ist Arbeit und Müh.
Sie
suchen, was sie nicht finden,
in
Liebe und Ehre und Glück,
und
sie kommen belastet mit Sünden
und
unbefriedigt zurück.
Es
ist eine Ruhe vorhanden
für
das arme müde Herz!
Sagt
laut es in allen Landen:
Hier
ist gestillet der Schmerz!
Es
ist eine Ruh gefunden
für
alle fern und nah,
in
des Gotteslammes Wunden
am
Kreuz auf Golgatha.“
Manchmal – ganz unmotiviert –
fallen mir die beiden jungen Menschen ein. Und ich frage mich, ob diese in der
Wüste der Welt Verirrten wohl den Weg „nach Hause“ gefunden haben, von dem sie
hier sangen?