Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

„Sie suchen, was sie nicht finden…“

 

Es ist wunderlich, wie einzelne Eindrücke der frühesten Jugend unverlierbar im Gedächtnis haften, während oft große Erlebnisse der späteren Zeit wie ausgelöscht sind.

So erinnere ich mich, dass ich als ganz kleiner Kerl meinen Vater auf einem Gang in die Stadt begleiten durfte. Der Weg führte über einen schmalen Steg, der die Bahnanlage überquerte. Es war aufregend, weil die Bohlen nicht dicht nebeneinander lagen. Man sah zwischen ihnen in der Tiefe die glitzernden Geleise.

Mein Vater ging vor mir her, und ich nahm mein kleines, zitterndes und furchtsames Herz in beide Hände. Immer hatte ich das Gefühl, ich müsse zwischen den Bohlen durchfallen und hinabstürzen.

Als eine Rangierlokomotive, die grauenvoll qualmte, unten durchfuhr, da war es um meine Fassung geschehen. Es muss komisch gewesen sein, wie ich auf einmal aus dem umhüllenden Qualm erbärmlich um Hilfe schrie.

Aber dann fasste mich die starke Hand meines Vaters. – Das ist etwa 50 Jahre her. Und – wie gesagt – ich war ein so kleiner Kerl, dass ich mich sonst kaum an jene Zeit erinnere. Aber die unendliche Seligkeit, die ich über der starken, rettenden Vaterhand empfand, ist mir so gegenwärtig, als sei das gestern gewesen.

Wie oft hat später die rettende Hand meines Heilandes so in mein Leben eingegriffen, wenn der Qualm des Lebens mich verzweifeln lassen wollte.

Es war sicher nicht viel später, als sich jene andere seltsame Geschichte ereignete, die hier berichtet werden soll.

Da tobte durch meine Heimatstadt der Karneval. Mein Vater litt als ein treuer Pfarrer seiner Gemeinde innerlich große Not. Er bekam nachher die erschütternden Folgen dieser Taumeltage zu spüren, da arme Leute ihre Betten ins Pfandhaus trugen, um mitfeiern zu können.

Es war am Aschermittwoch. Da forderte er mich auf: „Komm, du darfst mich auf einem Gang begleiten!“ Es war noch früh am Morgen. Da und dort sah man in den Straßen die widerlichen, betrunkenen Überbleibsel der letzten Nacht.

Der Weg führte uns auch in die Anlagen, die sich in meiner Heimatstadt einen Berghang hinanzogen.

Es war schön dort. Und ich sehe noch im Geist die morgenfrischen Bäume und Sträucher.

Der Weg ging in Serpentinen bergan. An jeder Umbiegung des Weges stand unter einem großen Gebüsch jedes Mal eine Bank, von der aus man einen schönen Ausblick in das Tal hatte.

Gemächlich stiegen wir höher. Wieder kamen wir an so eine Wegbiegung. Und da – wir stutzten einen Augenblick – da auf der Bank saß ein blutjunges Paar: Er noch im Harlekinkostüm, sie in ein Flittergewändchen gekleidet. Ach, es sah das so unsagbar aus an diesem frischen Morgen! Auf den Gesichtern der beiden lagen die Spuren einer Taumelnacht. Diese jungen Menschen waren wohl schon alle Tiefen gegangen!

Nun, ich war so ein kleiner Kerl, dass ich von all dem nicht viel verstand. Was mir aber damals schon auffiel, war dies: Über diesen Gesichtern lag eine unendliche Traurigkeit, eine abgrundtiefe Verzweiflung. Welche Gesichter über den Narrenkleidern!

Es war kein Wunder, dass wir beide betroffen stehen blieben. Aber mein Vater fasste sich schnell und ging schweigend weiter. Und ich stapfte mit meinen kleinen Beinen hinter ihm her. Dabei hatte ich das Gefühl, als wenn etwas unsagbar Schreckliches mich gestreift hätte.

Wir waren kaum um das uns verdeckende Gebüsch gebogen, da blieb mein Vater stehen und horchte. Nun hörte ich es auch – die beiden sangen ganz leise ein Lied. Es klang so seltsam, dass es mir durch Mark und Bein ging.

Damals hörte ich zum ersten Mal dies Lied, das ich später oft gesungen habe. Wo mochten diese Zwei das herhaben? Vielleicht kamen sie aus einem frommen Elternhaus. Oder sie hatten es in einem Kindergottesdienst gelernt, als ihr Leben noch nicht so unsagbar beschmutzt war.

Ich erlebte das alles etwas fassungslos. Und als mein Vater weiterging in tiefem Schweigen, ja, in erschüttertem Schweigen, zog ich bekümmert hinter ihm her. Ich verstand ja nichts. Es war mir nur, als hätten sich Abgründe vor mir aufgetan.

Später aber, als ich selbst dies Lied lernte, verstand ich die Bewegung meines Vaters. Das Lied nämlich lautet so:

 

„Ich bin durch die Welt gegangen,

und die Welt ist schön und groß,

und doch ziehet mein Verlangen

mich weit von der Erde los.

 

Ich habe die Menschen gesehen,

und sie suchen spät und früh;

sie schaffen und kommen und gehen,

und ihr Leben ist Arbeit und Müh.

 

Sie suchen, was sie nicht finden,

in Liebe und Ehre und Glück,

und sie kommen belastet mit Sünden

und unbefriedigt zurück.

 

Es ist eine Ruhe vorhanden

für das arme müde Herz!

Sagt laut es in allen Landen:

Hier ist gestillet der Schmerz!

 

Es ist eine Ruh gefunden

für alle fern und nah,

in des Gotteslammes Wunden

am Kreuz auf Golgatha.“

 

Manchmal – ganz unmotiviert – fallen mir die beiden jungen Menschen ein. Und ich frage mich, ob diese in der Wüste der Welt Verirrten wohl den Weg „nach Hause“ gefunden haben, von dem sie hier sangen?