Wie lange ist das nun
eigentlich her – lasst mich zurückrechnen! – Ach, es ist ja gleichgültig, wie
viel Jahre seitdem verflossen sind. Es war jedenfalls nicht sehr lange nach dem
ersten Weltkrieg.
Wer die Zeit noch miterlebt
hat, weiß, dass damals die Menschen nicht so stumpf und müde waren wie nach dem
zweiten großen Krieg. Nein, damals verbissen sie sich mit Leidenschaft und
Fanatismus in politische Ideen.
Also damals war es, als ich
in den Arbeitervorort einer Industriestadt geschickt wurde mit dem schönen Titel
„Hilfsprediger“. Wenn man es richtig verstand, bedeutete dieser schöne Name,
dass ich ein Prediger sei, dem man helfen müsste. Und so war es in der Tat.
Was nützte es mir hier, dass
ich einen Krieg mitgemacht hatte! Und dass ich Theologie studiert hatte, brachte
mich auch nicht weiter! Denn diese verhetzte Bevölkerung, die schon ihrer
westfälischen Natur nach ziemlich dickköpfig ist, war sich völlig einig in der
Ablehnung des Pfarrers und des Evangeliums.
In die Kirche kamen die
Leute nicht. Also fing ich an, tagsüber Besuche in den Häusern zu machen. Weil aber
die Männer in der Fabrik waren und ich nur die Frauen antraf, höhnten sie: „Da
sieht man's! An die Männer wagt sich so ein Pfaffe nicht heran!“
Daraufhin machte ich meine
Besuche am Abend, wenn die Männer zu Hause waren. Für ein paar Tage wurde die
Front verwirrt. Dann stand sie wieder fest gegen mich. Es wurde die Parole
ausgegeben: „Kein Mann darf mit dem Pfaffen sprechen!“
Es war fürchterlich! Ich
ging von Wohnung zu Wohnung. Mit den Frauen gab es ein kurzes, unerfreuliches
Gespräch. Die Männer saßen dabei, grinsten und schwiegen. Kein Gruß! Kein
Handschlag! Sie taten, als sei ich Luft.
Oft war ich tief niedergeschlagen
vor Zorn und Scham, wenn ich nach diesen Gängen in mein einsames Zimmer
zurückkehrte. Manchmal aber habe ich auch gelacht und die Männer bewundert, die
das so konsequent durchhielten. Ja, damals habe ich Respekt bekommen vor den
westfälischen Charakteren. Und ich sagte mir: „Wenn es dem Worte Gottes
gelingt, hier einzubrechen, dann wird etwas Herrliches entstehen.“
Es ist so gekommen! Jesus
wurde Sieger. Und es entstand hier eine Gemeinde, die heute noch blüht.
Langsam, sehr langsam gingen
die Türen auf.
Aus jenen Tagen, als die „Front“
anfing zu wackeln, will ich ein Erlebnis berichten:
„Herein!“ ruft es, als ich
anklopfe.
Ich öffne zaghaft die Tür:
Ein großes Zimmer mit vielen Menschen. Ich sehe die Szene noch deutlich vor mir:
Die Mutter steht am Herd und backt „Pickert“. Neben
ihr kniet der Vater, ein alter Arbeiter, und stochert im Feuerloch. Mitten in
der Stube ein junger Mann. Er hat sich ein Waschbecken auf einen Stuhl gestellt
und vollzieht eine große Reinigung. Um den Tisch sitzen noch ein paar junge
Leute, Kinder, Schwiegerkinder? Ich weiß es nicht! Auch ganz kleine Kinder
kriechen herum. Kurz – eine beachtliche Volksversammlung.
„Guten Abend!“ rufe ich in
das Getümmel. Der Vater schaut auf: „Ach, der Pfaffe!“ Ein Gelächter antwortet.
Und von dem Augenblick ab bin ich Luft für alle. Ich wende mich an die Frau.
Sie tut, als sei sie taub. Sie war meine letzte Hoffnung gewesen.
Eine fürchterliche
Situation! Soll ich unter dem Gelächter des Volkes abziehen? Unmöglich!
In meinem Herzen ruft es unablässig:
„Herr Jesus! Nun hilf mir doch!“ Und Er hilft. Mein Blick fällt auf einen
jungen Mann, der im Winkel sitzt und auf einer Gitarre herumhantiert. Ich
steure auf ihn zu: „Können Sie spielen?“
„Nein!“ brummt er. Und mein
Herz jauchzt. Es war doch immerhin ein menschlicher Laut.
„Geben Sie einmal her! Ich
will Ihnen ein paar Griffe zeigen!“ Entschlossen entreiße ich ihm das Instrument
und schlage ein paar Akkorde an. Interessiert schaut er auf meine Finger. Und
ich bin nebenher überglücklich, dass hier nicht ein Klavier stand. Da hätte ich
mir nicht zu helfen gewusst. Aber auf der Gitarre war ich einigermaßen sicher.
Der Unterricht beginnt. Ich
drehe allem Volk den Rücken und erkläre dem jungen Mann: „Sehen Sie, das ist
der D-Dur-Akkord. Der ist ganz einfach. Damit können Sie schon eine ganze Menge
Lieder begleiten!“
Ich klimpere ihm vor. Er
nimmt das Instrument, probiert. Es geht schief. Ich mache es noch einmal vor.
„Begleiten Sie damit ein
Lied?“ fragt er. „Gewiss!“ Und dann spiele und singe ich: „Alle Vögel sind
schon da …“
Er staunt. Er probiert auch
…
Ich merke, dass hinter
meinem Rücken eine atemlose Stille eingetreten ist. Alles horcht gespannt. Aber
ich wage nicht, mich umzudrehen. So spüre ich nur die Blicke wie ein Prickeln
in meinem Rücken.
Er kann es jetzt schon ganz
gut. Es wird für mich Zeit, dass ich zu meiner Botschaft komme.
„Soll ich Ihnen noch einmal
ein Lied vorspielen?“ frage ich. Er nickt. Jetzt gilt's!
Ich nehme die Gitarre,
stimme sie noch einmal. Und dann singe ich. Nicht schön, o, ich weiß nur zu gut,
dass meine Stimme sehr rau klingt. Aber auf die Schönheit des Gesanges kommt es
jetzt gar nicht an. Es geht jetzt nur um den Text!
„Schönster
Herr Jesu, Herrscher aller Enden,
Gottes
und Marien Sohn!
Dich
will ich lieben, Dich will ich ehren,
Du
meiner Seelen Freud' und Kron …“
Eine große Stille ist im
Zimmer. Noch drehe allen den Rücken und kann nicht sehen, was sie tun. Aber –
es ist still!
So wage ich den zweiten
Vers. Und dann den dritten und den vierten. Niemand unterbricht mich.
Ich singe den Vers von „der
schönen Jugend“: „Sie müssen sterben / müssen verderben – Nur Jesus lebt in
Ewigkeit.“
Immer noch sagt niemand ein
Wort. Mein Herz wird so fröhlich. Ich wusste es ja: Mögen sie alles gegen den „Pfaffen“
haben und gegen seine „Kirche“ – der Name „Jesus“ ist eine Macht, der auch
harte Herzen sich beugen müssen.
Hinter mir ist es so still,
als warteten alle noch auf einen weiteren Vers. So singe ich:
„
Wenn einst ich sterbe,
Dass
ich nicht verderbe,
Lass
mich Dir befohlen sein!
Wenn's
Herz wird brechen,
Lass
mich dann sprechen:
Jesus!
Nimm auf die Seele mein!“
Das Lied ist zu Ende. Ich
drehe mich um.
Alle Augen im Zimmer sehen
mich an. Regungslos hat alles zugehört. Der Vater atmet tief auf: „Ein schönes
Lied!“ sagt er.
„Ja, und ein wichtiges Lied!“
erwidere ich.
„Wieso wichtig?“ fragt er
etwas unsicher.
„Das will ich Ihnen
erklären! Aber erst müssen Sie mir einen Stuhl geben! So schnell geht das
nicht!“
Es ist wie ein Wunder. Da
sitze ich dann am Tisch mit diesen Leuten. Und sie hören mir zu, als ich ihnen klar
mache, dass ich nicht Propagandist einer Weltanschauung bin; dass ich nichts
von ihnen will; dass aber Gott durch den Herrn Jesus etwas Großes für sie getan
hat …
Und leise, ganz leise geht
wieder eine Tür auf, die so lange verschlossen gewesen war …