Dieses kleine Erlebnis hat
mir mein Bruder erzählt, als er während des letzten Weltkriegs einmal auf
Urlaub war. Es war sein letzter Besuch bei uns. Nun schläft sein Leib irgendwo
in Russland dem großen Tag der Auferstehung entgegen.
Die kleine Episode „am Rande
des Krieges“ spielte sich ab an einer polnischen Landstraße. Da standen die
Soldaten und sahen neugierig auf einen Zug flüchtender Juden.
Es mag sein, dass manche
eigentlich spotten wollten. Aber die Hohnworte blieben ihnen im Halse stecken
beim Anblick dieses Elends. Es waren sicher andere darunter, denen Wut und
Scham das Herz erfüllten. Aber auch die wagten nichts zu sagen. Es war
gefährlich, für die Gehetzten einzutreten.
So schwiegen alle und sahen,
wie alte Leute sich vorbeischleppten, wie Männer auf Schubkarren die elende
Habe zu retten versuchten, wie weinende Kinder sich an die Röcke der Mütter
hingen. Ab und zu kam auch ein größerer Wagen vorbei, den ein elendes Pferd
mühselig voranbrachte.
Solch ein Karren war es, dem
plötzlich krachend ein Rad zusammenbrach. Der Mann, der neben dem Pferd ging,
besah sich schweigend den Schaden. Dann zog er seinen Rock aus und versuchte,
das Rad auszubessern.
Die Arbeit war viel zu
schwer für einen einzigen Mann. Stöhnend stemmte er sich gegen den
zusammengesunkenen Wagen.
In diesem Augenblick
sprangen zwei Soldaten vor und begannen ihm zu helfen: mein Bruder und ein
anderer, ihm Unbekannter. Sie waren beide Jünger Jesu, und das Gebot ihres
Herrn war ihnen wichtiger als die Rücksicht auf die möglichen Folgen. Gewiss
würde nun schon die Meldung an die vorgesetzte Stelle gehen, dass zwei deutsche
Soldaten den verhassten Juden geholfen hätten.
Schweigend mühten sich die drei.
Schweigend sahen die andern zu.
Und so wäre die Sache wohl
zu Ende gegangen, wenn nicht eine alte Frau auf einmal das Wort ergriffen und
ein Gespräch entfesselt hätte, das allen, welche die Bibel nicht kennen,
unverständlich bleiben muss.
Diese alte Frau lag oben auf
dem Karren und hielt mühselig das Gepäck zusammen. Nun richtete sie sich auf
und fing mit gellender Stimme an zu klagen. Es war, als ob eine abgründige
Verzweiflung ausbräche:
„Warum müssen wir Juden
immer wandern? … Immer wandern! … Keine Heimat! … Haben wir eine gefunden, dann
wird sie uns bald wieder entrissen … Wir müssen wandern, wandern, endlos … Unsere
Vorfahren waren umhergetrieben, unsere Väter … wir … unsre
Söhne … immer wandern, immer heimatlos … ruhelos … immer wandern … Wann werden
wir endlich eine Heimat finden? …“
Da richtete sich der
unbekannte Soldat auf und erklärte großem Ernst: „Dann, wenn Jehova sie wieder
sammeln wird in Kanaan, im Lande ihrer Väter!“
Wild fuhr die alte Frau auf:
„Wie sollte das zugehen, dass unser zerstreutes Volk wieder zusammengebracht
würde aus allen Ländern?“
Ruhig und ernst erwiderte
der Soldat: „Wie das zugehen wird? Ebenso wie damals, als Jehova Ihre Väter aus
der Knechtschaft in Ägypten führte, durch Seine starke Hand und Seinen
ausgereckten Arm! Suchen Sie diesen, Ihren Herrn und warten Sie auf Ihn!“
Dann nahm er die Arbeit
wieder auf. Bald war der Schaden behoben, und der Wagen fuhr weiter.
Schweigend sahen die
Soldaten auf ihren Kameraden. Es war, als sei ihnen eine Ahnung aufgegangen, dass
nicht die lauten Menschen die Weltgeschichte machen, sondern dass eine
verborgene Hand einen geheimen Plan durchführt.