Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

An einer polnischen Landstraße

 

Dieses kleine Erlebnis hat mir mein Bruder erzählt, als er während des letzten Weltkriegs einmal auf Urlaub war. Es war sein letzter Besuch bei uns. Nun schläft sein Leib irgendwo in Russland dem großen Tag der Auferstehung entgegen.

Die kleine Episode „am Rande des Krieges“ spielte sich ab an einer polnischen Landstraße. Da standen die Soldaten und sahen neugierig auf einen Zug flüchtender Juden.

Es mag sein, dass manche eigentlich spotten wollten. Aber die Hohnworte blieben ihnen im Halse stecken beim Anblick dieses Elends. Es waren sicher andere darunter, denen Wut und Scham das Herz erfüllten. Aber auch die wagten nichts zu sagen. Es war gefährlich, für die Gehetzten einzutreten.

So schwiegen alle und sahen, wie alte Leute sich vorbeischleppten, wie Männer auf Schubkarren die elende Habe zu retten versuchten, wie weinende Kinder sich an die Röcke der Mütter hingen. Ab und zu kam auch ein größerer Wagen vorbei, den ein elendes Pferd mühselig voranbrachte.

Solch ein Karren war es, dem plötzlich krachend ein Rad zusammenbrach. Der Mann, der neben dem Pferd ging, besah sich schweigend den Schaden. Dann zog er seinen Rock aus und versuchte, das Rad auszubessern.

Die Arbeit war viel zu schwer für einen einzigen Mann. Stöhnend stemmte er sich gegen den zusammengesunkenen Wagen.

In diesem Augenblick sprangen zwei Soldaten vor und begannen ihm zu helfen: mein Bruder und ein anderer, ihm Unbekannter. Sie waren beide Jünger Jesu, und das Gebot ihres Herrn war ihnen wichtiger als die Rücksicht auf die möglichen Folgen. Gewiss würde nun schon die Meldung an die vorgesetzte Stelle gehen, dass zwei deutsche Soldaten den verhassten Juden geholfen hätten.

Schweigend mühten sich die drei. Schweigend sahen die andern zu.

Und so wäre die Sache wohl zu Ende gegangen, wenn nicht eine alte Frau auf einmal das Wort ergriffen und ein Gespräch entfesselt hätte, das allen, welche die Bibel nicht kennen, unverständlich bleiben muss.

Diese alte Frau lag oben auf dem Karren und hielt mühselig das Gepäck zusammen. Nun richtete sie sich auf und fing mit gellender Stimme an zu klagen. Es war, als ob eine abgründige Verzweiflung ausbräche:

„Warum müssen wir Juden immer wandern? … Immer wandern! … Keine Heimat! … Haben wir eine gefunden, dann wird sie uns bald wieder entrissen … Wir müssen wandern, wandern, endlos … Unsere Vorfahren waren umhergetrieben, unsere Väter … wir … unsre Söhne … immer wandern, immer heimatlos … ruhelos … immer wandern … Wann werden wir endlich eine Heimat finden? …“

Da richtete sich der unbekannte Soldat auf und erklärte großem Ernst: „Dann, wenn Jehova sie wieder sammeln wird in Kanaan, im Lande ihrer Väter!“

Wild fuhr die alte Frau auf: „Wie sollte das zugehen, dass unser zerstreutes Volk wieder zusammengebracht würde aus allen Ländern?“

Ruhig und ernst erwiderte der Soldat: „Wie das zugehen wird? Ebenso wie damals, als Jehova Ihre Väter aus der Knechtschaft in Ägypten führte, durch Seine starke Hand und Seinen ausgereckten Arm! Suchen Sie diesen, Ihren Herrn und warten Sie auf Ihn!“

Dann nahm er die Arbeit wieder auf. Bald war der Schaden behoben, und der Wagen fuhr weiter.

Schweigend sahen die Soldaten auf ihren Kameraden. Es war, als sei ihnen eine Ahnung aufgegangen, dass nicht die lauten Menschen die Weltgeschichte machen, sondern dass eine verborgene Hand einen geheimen Plan durchführt.