Die Riegel meiner
Gefängniszelle klirrten. Die Türe wurde aufgerissen. „Herauskommen zum Verhör!“
Wieder einmal wurde ich die
langen Korridore entlang geführt zu den Büros der Gestapo.
Ich war so unsagbar müde.
Was wollten sie denn jetzt wieder von mir? Ach, ich wusste es ja ganz genau:
Sie wollten von mir Aussagen erzwingen über die kämpfende Bekennende Kirche.
Und ich konnte doch unmöglich meine Brüder verraten.
Nun ging das schon
wochenlang so: Zermürbendes Warten in der engen Zelle und noch zermürbendere Verhöre.
Kurz darauf stand ich wieder
vor meinen Quälgeistern. Wie ich diese drei Gesichter dort hinter dem breiten
Tisch nun allmählich kannte! Diese blassen, verlebten, seelenlosen und
grausamen Gesichter! Aber – o Wunder – heute lag ein freundliches Lächeln über
diesen Physiognomien. Ich erschrak: Was hat das wohl zu bedeuten? – Und nun bot
man mir sogar einen Stuhl an! Das war neu. Sollte jetzt das „Zuckerbrot“
erreichen, was die „Peitsche“ nicht fertig gebracht hatte? Ich ging innerlich
in Abwehrstellung.
Und dann fing einer von den
Dreien an: „Wir haben Sie nun eine zeitlang beobachtet. Und da haben gemerkt,
dass Sie gar nicht so übel sind. Nur …“
Er räusperte sich. Und ich
wusste: Jetzt kommt es! Er fuhr fort: „Nur – Sie sitzen gewissermaßen auf einem
falschen Pferd. Sie sind Jugendpfarrer, nicht wahr?“
„Jawohl!“
„Ja, das müssen Sie nun
langsam begreifen, dass dieser Beruf völlig überholt ist. Wir werden in Zukunft
keine Jugendpfarrer mehr brauchen.“
Ich muss wohl ein etwas
erstauntes Gesicht gemacht haben. So fühlte er sich gedrungen, mir die Sache
noch etwas deutlicher zu machen: „Wir haben heute eine neue Weltanschauung. Das
Christentum hat ausgespielt. Ich sage Ihnen: In zehn Jahren wird kein junger Mensch in Deutschland mehr wissen, wer
Ihr imaginärer Jesus ist! Dafür werden wir sorgen!“
Und dann kam ein
freundliches Angebot: ich solle doch einen andern Beruf ergreifen. Sie wollten
mir gerne behilflich sein. Ja, sie machten mir sogar allerlei Vorschläge. Es
war rührend, wie diese harten Männer um meine Zukunft besorgt waren!
Leider war ich nicht im
Stande, diese freundlichen Offerten anzunehmen. So wurden sie schließlich ärgerlich,
und ich wanderte die langen Korridore zurück – in die Zelle.
Das wurde ein schwerer
Abend! „In zehn Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus ist!“ Immer
hörte ich diesen harten Satz. Warum sollte es nicht wahr werden? Gott kann doch
einem Volke das Evangelium wegnehmen! Aber – welche Finsternis musste dann in
meinem Volke anbrechen! – – –
Es ist eine wunderliche
Sache, wenn Menschen mit solcher Bestimmtheit etwas über die Zukunft aussagen.
Es war ja das eines der Kennzeichen jener seltsamen Zeit des „Dritten Reiches“,
dass jeder, von dem „Führer“ angefangen bis zum kleinsten Funktionär herab, mit
geradezu anmaßender Sicherheit die Zukunft durchschaute. Nur – dass über all
dem das Wort aus dem 2. Psalm stand: „Der im Himmel sitzt, lacht ihrer …“
In jener dunklen
Abendstunde in der Gefängniszelle aber hörte ich dies tröstliche und
unheimliche Lachen nicht. Mein Glaube war so schwach. Er hörte nur das lästerliche
Lachen der Hölle: „In 10 Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus
ist!“
Gott aber tut mehr, als
unser Glaube fassen kann!
Es war sieben Jahre
später, an einem Sommermorgen 1945.
Strahlender Sonnenschein
weckte mich in der Frühe auf. Sofort überfiel mich der Gedanke an unsere
gegenwärtige Lage, welcher die widerstreitendsten
Gefühle in mir auslöste: Dahin war die Würde meines Volkes! Zerstört lagen die
Städte, ganz besonders auch die Stadt Essen, der meine Lebensarbeit galt. Meine
liebe alte Kirche lag in Trümmern! Mein Haus war verbrannt! Mein Sohn war
irgendwo in Russland begraben. Überall ging der furchtbare Hunger durch's Land! Aber – was war das gegen den unsagbaren
Jammer: Die Blüte der jungen Mannschaft war tot, geopfert den wahnsinnigen
Träumen einiger Politiker!
Und doch – der Krieg war
zu Ende. Zu Ende die schrecklichen Bombennächte. Zu Ende auch – ich atmete auf
– die Quälereien der Gestapo. Zu Ende all die sinnlosen Verbote für unsre
Jugendarbeit …
Da klingt auf einmal in
mein Sinnieren hinein ein unsagbar fröhlicher Ton. Irgendwo da draußen zieht
ein Posaunenchor heran und spielt:
Geh aus, mein Herz,
und suche Freud'
In dieser schönen Sommerszeit
An deines Gottes
Gaben …
Nun hält es mich nicht
mehr im Bett. Ich springe an das offene Fenster! Welch ein überwältigender
Anblick: Im Morgensonnenglanz liegen die waldbedeckten Höhen des Siegerlandes. „O
Täler weit, o Höhen / Du schöner, grüner Wald …!“ Mein Fenster ist wie eine
Warte, von welcher der Blick weit, weit hinaus geht in das Land. – –
Aber dann wird mein Blick
gefesselt durch das, was unter meinem Fenster vorgeht: Da führt die große Landstraße
von Siegen nach Dillenburg vorbei. Und auf dieser Straße zieht ein Zug heran:
Vorn die Posaunen. Jubelnd schmettern sie Paul Gerhardt's Sommerlied:
Ich selber kann und
mag nicht ruh'n,
Des großen Gottes großes
Tun
Erweckt mir alle
Sinnen …
Den Posaunen folgen junge
Männer. Es sind noch nicht viele. Die meisten leben noch in Kriegsgefangenschaft.
Und wie viele kommen nie mehr nach Hause! Aber dies Trüpplein
von 20 Mann macht doch das Herz lachen.
Und dann kommen die Buben und
Mädchen. Und dann – in einem sehr ungeordneten Haufen – Männer, Frauen und
kleine Kinder.
Über dem ganzen Zug liegt
eine Freude, die man nicht beschreiben kann! Jahrelang waren solche
christlichen Feste verboten. Zum ersten Mal wieder trifft man sich!
Gerade unter meinem Fenster stößt
der fröhliche Zug auf einen andern Menschenhaufen, der um die Kurve von Siegen
her kommt. Die Posaunen brechen ab, die Züge lösen sich auf. Fröhlich begrüßt
sich junges Volk.
Mir ist, als träumte ich! – –
–
Aber nun ist mir vor lauter
Freude der Erinnerungen an jenen großen Tag beim Schreiben „der Gaul durchgegangen“.
Und der arme Leser weiß gar nicht recht, wo wir uns eigentlich befinden.
Zwischen Siegen und
Dillenburg führt die Landstraße über einen der höchsten Punkte dieses
Berglandes. Man nennt ihn den Rödgen.
Dort stehen nur ein paar Häuser: zwei Bauernhöfe, ein Kurhaus, ein Pfarrhaus
und eine herrliche, sehr alte, große Kirche.
In der dortigen Gegend hat
Gott im vorigen Jahrhundert gewaltige Erweckungen gegeben. Und bis zum heutigen
Tage ist das „fromme Siegerland“ bekannt durch ein reges geistliches Leben.
Dies hatte sich auch gezeigt bei den Missionsfesten auf dem Rödgen,
zu denen in früheren Jahren immer sehr viel junges Volk herbeigeströmt war.
Das hatte die Machthaber des
„Dritten Reiches“ verstimmt. Und so hatte man die Feste verboten.
Nun waren die Fesseln
gefallen. Zum ersten Mal wieder sollte Jugendmissionsfest auf dem Rödgen gefeiert werden!
Wie ein Feuer war diese
Botschaft durch das Land gegangen. „Jugendmissionsfest auf dem Rödgen!“ Da strömte das Volk herbei! Und aller Jammer der
Zeit, alle Sorgen und Nöte gingen unter in der unbeschreiblichen Freude, die
über dem Volke Gottes liegt, wenn man „zusammenkommt“.
Das sah ich aus dem Fenster
des hochgelegenen Pfarrhauses. Auf allen Wegen zog es heran. Von allen Richtungen
her klangen Posaunen!
Wie schnell war ich in den
Kleidern! Und nun hinunter!
Als ich die junge Pfarrfrau
sah, ging mir ein Stich durchs Herz. Auch hier hatte der Jammer der Zeit seine
dunklen Fittiche gebreitet: Der Pfarrer war in Russland vermisst. Die junge
Frau hatte wohl das Leid am Morgen schon vor den Thron der Gnade hingelegt. Und
nun freute sie sich mit den Fröhlichen.
Welch ein Gewimmel unter den
alten Bäumen vor dem Haus, im Pfarrgarten, am Waldrand, auf den Wiesen!
Ein Kirchenältester stürzte
auf mich zu: „Die Kirche ist viel zu klein für den Festgottesdienst!“
Wir sahen uns die Sache an.
Ja, was ist zu tun?
Hinter der Wiese steil den Berg
hinan. „Wenn wir alle Fenster öffnen, dann kann sich das Volk auf der Wiese
lagern und dem Gottesdienst folgen!“
Ja, die Fenster öffnen! Das
war nicht so einfach. Sie waren ein paar hundert Jahre alt. Klirrend stürzte beim
ersten die Bleiverglasung heraus. „Ach lasst nur!“ sagt lächelnd der Kirchenälteste. Er war bestimmt nicht immer so großzügig.
Aber heute! …
Diesen Gottesdienst werde
ich nie vergessen, solange ich lebe. Kaum fand ich Raum, um zum Abendmahlstisch
zu gehen, von wo die Schriftverlesung geschehen
sollte. In allen Gängen drängte sich junges Volk. Auf den Galerien und der
Kanzeltreppe saßen sie erwartungsvoll. Und draußen war es wie ein bunter
Teppich – blühende Jugend!
Da setzten die Posaunen ein.
Machtvoll erklang der Gesang des herrlichen Tersteegen-Liedes:
Siegesfürst
und Ehrenkönig,
Höchst
verklärte Majestät …
Und da, genau in diesem
Augenblick, überfiel mich die Erinnerung. Ich sah mich wieder in dem abscheulichen
Büro stehen, ich sah die verlebten, leeren, grausamen Gesichter: „In zehn
Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Ihr imaginärer Jesus ist.“
Diese Jugend aber sang hier:
Sollt
ich nicht zu Fuß dir fallen
Und
mein Herz vor Freude wallen,
Wenn
mein Glaubensaug' betracht't
Deine
Glorie, deine Macht!
Etwas erstaunt sah das junge
Volk, wie der Festprediger sich die Tränen wischte, die einfach nicht zu halten
waren. Kaum brachte ich die Schriftverlesung zu Ende:
„… und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen
Himmel …“
Da setzte ein Chor ein und
sang die Psalmverse: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions
erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund
voll Lachen und unsre Zunge voll Rühmens sein …“
Da war es um uns alle
geschehen, wir waren im Innersten bewegt. Und diese große Schar ahnte etwas davon,
wie es sein wird in der zukünftigen neuen Welt, wo
einmal alle, alle Fesseln fallen …
„…
wenn frei von Weh
Ich
sein Angesicht seh.“