Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

„Das Gewissen … ach ja, das Gewissen!“

 

Unvermutet stehe ich einem hochgewachsenen Herrn gegenüber. Ich schaue in das kluge, aufgeschlossene Gesicht. Meine Gedanken fahren aufgeregt durcheinander: „Den kennst du doch! Das ist doch …“

Und dann weiß ich auf einmal, wer er ist. Im Geiste sehe ich mich in einem großen Konzertsaal. Eine festliche und erwartungsfrohe Menge füllt ihn bis zum letzten Eckchen. Auf dem Podium stimmen die Musiker ihre Instrumente. Rings um das Orchester bilden die Chöre einen ornamentalen Rahmen: Die Frauen in Weiß, die Männer in feierlichem Schwarz.

Auf einmal brandet ein gewaltiger Beifall auf: Der bekannte und beliebte Dirigent ist erschienen. Mit großen Schritten eilt er zu seinem Pult, ergreift den kleinen Stab, erhebt die Arme – totenstill wird es in dem Saal.

Und dann erklingen die unendlich ergreifenden Töne der Bach'schen „Matthäus-Passion“: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen …“ in meisterhafter Vollendung. – – –

Ja, so ist es, dieser berühmte Dirigent; den ich selbst so hoch schätze, steht vor mir.

Ich ergreife die Gelegenheit, ihm zu danken für alles, was er mir geschenkt hat. Namentlich für die herrliche Wiedergabe der Bach'schen Matthäus-Passion.

„Ja“, sagt er, „es ist eine seltsame Zeit, die wir erleben. Es ist, als wenn die Menschen etwas Tieferes suchten. Sehen Sie, wenn ich ein Konzert mit leichter Musik ankündige, dann ist der Saal halbvoll. Wenn ich aber die Matthäus-Passion gebe, dann sind zwei Aufführungen überfüllt.“

„Ja, es ist eine Unruhe über die Menschen gekommen“, erwidere ich. „Sie fangen an zu begreifen, dass nur das Evangelium Antwort auf unsre Lebensprobleme geben kann …“ Aufmerksam hört er zu. Aber sein Gesicht ist mit sieben Siegeln verschlossen. Um ihn aus seiner Reserve herauszulocken, setze ich etwas spöttisch hinzu: „Es ist nur bedauerlich, dass unser gebildetes Bürgertum von all dem so wenig merkt.“

Erstaunt mustert er mich, als wenn er fragen wollte: „Soll unser Gespräch denn mehr sein als eine höfliche Unterhaltung?“

Und dann sagt er: „Sie unterschätzen unsern Ernst. Sehen Sie, jedes Mal, wenn ich die Matthäus-Passion dirigieren muss, lese ich vier Wochen lang nur das Matthäus-Evangelium.“

Fast ärgerlich winke ich ab: „Wenn Johann Sebastian Bach zufällig den Koran vertont hätte, würden Sie vier Wochen lang dieses Buch lesen!“

Jetzt schaut er mich verblüfft an. Und da mache ich wie ein Fechter nun einen offenen Ausfall: „Ich meine; wann werden die Gebildeten in unserem Volk, also Leute wie Sie, es endlich begreifen, dass sie ohne das Evangelium nicht leben können!“

Er springt auf: „Nun, wenn wir hier so offen reden, dann will ich Ihnen einmal sagen, was ich in dieser Sache denke!“

Er lächelt und wird dann auf einmal sehr ernst. Denn er begreift als ein kluger Mann wohl, dass konventionelle Höflichkeit eine unheimliche Waffe sein kann gegen das „Wort der Wahrheit“, und dass ein Prediger des Evangeliums diese geschmeidige Waffe mehr verabscheuen muss als den brutalen Augriff der primitiven Gottlosigkeit.

„Also, die Sache ist so“, sagt er langsam, als wenn er nun jedes Wort noch einmal prüfen wolle, „wenn ich ein Wort des Johannes-Evangeliums lese – das ist ganz groß! Ganz groß und herrlich! Aber wenn ich Bruckners 3. Symphonie höre – – das ist größer! Ja, das ist größer! Denn – – das Wort ist nicht das Letzte!

So, nun ist es heraus. Und einen Augenblick lang liegt zwischen uns eine große Stille. Denn es ist schon eine besondere Sache, wenn ein Mensch seine innerste Gesinnung offenbart.

Aber ich durfte diesen Satz nicht so stehen lassen. Denn ich hin überzeugt, dass gerade in dieser Haltung ein Grund für die geistige Katastrophe des Abendlandes liegt. Darum unterbrach ich das Schweigen: „So, das Wort ist nicht das Letzte? Ich fürchte, Sie haben den tiefsten Grund der inneren Unruhe unserer Zeit noch gar nicht erkannt. Wir sind ein ruchloses Jahrhundert, wie seit der Renaissance keines mehr gewesen ist; die Menschen unserer Zeit sind unendlich schuldig geworden. Und die tiefste Ursache aller Unruhe ist – das böse Gewissen. Gott ist für unsere Zeit noch nicht so tot, dass Er nicht die Gewissen beunruhigte …“

Geradezu erschrocken starrte er mich an. Ich fuhr fort: „Und sehen Sie! Da kann sogar Ihre beste Musik vielleicht die Rolle von Morphium spielen. Was unsre Zeit aber braucht, ist nicht Morphium für die Gewissen, sondern Heilung der Gewissen. Und da hilft nur ein Wort, nämlich ein klares Wort Gottes. Etwa das Wort: Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“

Deutlich sehe ihn noch vor mir, wie er an die Verandatür dastand. Meine letzten Worte hatte er kaum mehr aufgenommen. Als wenn er in ein neues Land schaute, sagte er nur immer wieder: „Das Gewissen! … Ach ja, das Gewissen! Das … gibt es auch noch? Das habe ich ja ganz vergessen! – – Das Gewissen!

Ohne Abschied ging ich weg. Ich glaube, er hat es gar nicht gemerkt …