Unvermutet stehe ich einem hochgewachsenen Herrn gegenüber. Ich schaue in das kluge,
aufgeschlossene Gesicht. Meine Gedanken fahren aufgeregt durcheinander: „Den
kennst du doch! Das ist doch …“
Und dann weiß ich auf
einmal, wer er ist. Im Geiste sehe ich mich in einem großen Konzertsaal. Eine
festliche und erwartungsfrohe Menge füllt ihn bis zum letzten Eckchen. Auf dem
Podium stimmen die Musiker ihre Instrumente. Rings um das Orchester bilden die
Chöre einen ornamentalen Rahmen: Die Frauen in Weiß, die Männer in feierlichem
Schwarz.
Auf einmal brandet ein
gewaltiger Beifall auf: Der bekannte und beliebte Dirigent ist erschienen. Mit großen
Schritten eilt er zu seinem Pult, ergreift den kleinen Stab, erhebt die Arme –
totenstill wird es in dem Saal.
Und dann erklingen die
unendlich ergreifenden Töne der Bach'schen „Matthäus-Passion“: „Kommt, ihr
Töchter, helft mir klagen …“ in meisterhafter Vollendung. – – –
Ja, so ist es, dieser
berühmte Dirigent; den ich selbst so hoch schätze, steht vor mir.
Ich ergreife die
Gelegenheit, ihm zu danken für alles, was er mir geschenkt hat. Namentlich für
die herrliche Wiedergabe der Bach'schen Matthäus-Passion.
„Ja“, sagt er, „es ist eine
seltsame Zeit, die wir erleben. Es ist, als wenn die Menschen etwas Tieferes suchten.
Sehen Sie, wenn ich ein Konzert mit leichter Musik ankündige, dann ist der Saal
halbvoll. Wenn ich aber die Matthäus-Passion gebe, dann sind zwei Aufführungen
überfüllt.“
„Ja, es ist eine Unruhe über
die Menschen gekommen“, erwidere ich. „Sie fangen an zu begreifen, dass nur das
Evangelium Antwort auf unsre Lebensprobleme geben kann …“ Aufmerksam hört er
zu. Aber sein Gesicht ist mit sieben Siegeln verschlossen. Um ihn aus seiner
Reserve herauszulocken, setze ich etwas spöttisch hinzu: „Es ist nur
bedauerlich, dass unser gebildetes Bürgertum von all dem so wenig merkt.“
Erstaunt mustert er mich,
als wenn er fragen wollte: „Soll unser Gespräch denn mehr sein als eine
höfliche Unterhaltung?“
Und dann sagt er: „Sie
unterschätzen unsern Ernst. Sehen Sie, jedes Mal, wenn ich die Matthäus-Passion
dirigieren muss, lese ich vier Wochen lang nur das Matthäus-Evangelium.“
Fast ärgerlich winke ich ab:
„Wenn Johann Sebastian Bach zufällig den Koran vertont hätte, würden Sie vier
Wochen lang dieses Buch lesen!“
Jetzt schaut er mich
verblüfft an. Und da mache ich wie ein Fechter nun einen offenen Ausfall: „Ich meine;
wann werden die Gebildeten in unserem Volk, also Leute wie Sie, es endlich
begreifen, dass sie ohne das Evangelium nicht leben können!“
Er springt auf: „Nun, wenn
wir hier so offen reden, dann will ich Ihnen einmal sagen, was ich in dieser Sache
denke!“
Er lächelt und wird dann auf
einmal sehr ernst. Denn er begreift als ein kluger Mann wohl, dass
konventionelle Höflichkeit eine unheimliche Waffe sein kann gegen das „Wort der
Wahrheit“, und dass ein Prediger des Evangeliums diese geschmeidige Waffe mehr
verabscheuen muss als den brutalen Augriff der primitiven Gottlosigkeit.
„Also, die Sache ist so“,
sagt er langsam, als wenn er nun jedes Wort noch einmal prüfen wolle, „wenn ich
ein Wort des Johannes-Evangeliums lese – das ist ganz groß! Ganz groß und
herrlich! Aber wenn ich Bruckners 3. Symphonie höre – – das ist größer! Ja, das
ist größer! Denn – – das Wort ist nicht
das Letzte!“
So, nun ist es heraus. Und
einen Augenblick lang liegt zwischen uns eine große Stille. Denn es ist schon eine
besondere Sache, wenn ein Mensch seine innerste Gesinnung offenbart.
Aber ich durfte diesen Satz
nicht so stehen lassen. Denn ich hin überzeugt, dass gerade in dieser Haltung ein
Grund für die geistige Katastrophe des Abendlandes liegt. Darum unterbrach ich
das Schweigen: „So, das Wort ist nicht das Letzte? Ich fürchte, Sie haben den
tiefsten Grund der inneren Unruhe unserer Zeit noch gar nicht erkannt. Wir sind
ein ruchloses Jahrhundert, wie seit der Renaissance keines mehr gewesen ist;
die Menschen unserer Zeit sind unendlich schuldig geworden. Und die tiefste
Ursache aller Unruhe ist – das böse
Gewissen. Gott ist für unsere Zeit noch nicht so tot, dass Er nicht die Gewissen
beunruhigte …“
Geradezu erschrocken starrte
er mich an. Ich fuhr fort: „Und sehen Sie! Da kann sogar Ihre beste Musik
vielleicht die Rolle von Morphium spielen. Was unsre Zeit aber braucht, ist
nicht Morphium für die Gewissen, sondern Heilung der Gewissen. Und da hilft nur
ein Wort, nämlich ein klares Wort Gottes. Etwa das Wort: Das Blut Jesu Christi,
des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“
Deutlich sehe ihn noch vor
mir, wie er an die Verandatür dastand. Meine letzten Worte hatte er kaum mehr aufgenommen.
Als wenn er in ein neues Land schaute, sagte er nur immer wieder: „Das
Gewissen! … Ach ja, das Gewissen! Das … gibt es auch noch? Das habe ich ja ganz
vergessen! – – Das Gewissen!“
Ohne Abschied ging ich weg.
Ich glaube, er hat es gar nicht gemerkt …