Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Zwei Wege

 

Irgendwo im Taunus war es, auf einer einsamen Landstraße. Ein strahlender Vorfrühlingstag ging zu Ende. Die Vögel sangen ihr Abendlied. Über die Wälder herüber klang eine Glocke. Über den Wiesen und Feldern lag es wie frohe Erwartung: „Es muss doch Frühling werden.“

Ich hatte mich auf einen Stein gesetzt und genoss den Abendfrieden.

Da kommt ein ganz alter Mann des Weges daher. Der Rücken ist gebeugt, grau sind Haar und Bart.

„Guten Abend!“ rufe ich ihm fröhlich zu.

Keine Antwort.

Lauter rufe ich: „Guten Abend!“

Da dreht er sich einen Augenblick herum und knurrt: „Sie werden einen Schnupfen kriegen, wenn Sie noch lange dasitzen!“

Ich muss lachen: „So ein Grobian!“ Aber dann stehe ich auf und gehe ihm nach.

„Ein schöner Abend“, sage ich.

„Kühl“, knurrt er.

„Jetzt wird's bald Frühling!“ meine ich.

„'s wird Zeit“, brummte er.

So geht das eine Weile. Ich suche ihn fröhlich zu stimmen. Er brummt und schimpft nur. Da reißt mir die Geduld.

„Sagen Sie doch, lieber Mann, haben Sie eigentlich gar nichts zum Freuen?

Da sieht er mich unsäglich bitter und traurig an und antwortet hart: „Nein!“ Und dann ist's, als sei ein Damm weggerissen. Da ergießt sich ein Strom von Anklagen gegen die Welt und gegen sein Dasein, gegen die bestehenden Verhältnisse und gegen seine Kinder.

Der arme alte Mann! Er war auch einmal jung, hatte sicherlich Freude gesucht, Schönes erhofft. Und nun ist ihm am Rande des Grabes nichts geblieben als eine Enttäuschung und grenzenlose Bitternis.

Wie Leid tut er mir!

Da wage ich eine letzte Frage: „Haben Sie denn auch keine Hoffnung des zukünftigen Lebens?“

Energisch und zornig winkt er ab: „Das ist ja alles Unsinn!!“ Und damit geht er auf einem Seitenweg davon.

Lange folge ich mit den Augen der armen, gebeugten Gestalt. Sein letztes Wort hat mir das Geheimnis seines Elends enthüllt: Er hat keinen Frieden mit Gott.

Bei solch einem Leben steht man am Ende bettelarm und verloren. Da hat man nichts mehr zum Freuen. Da ist nur noch Grauen.

Während ich ihm nachsehe, taucht in meiner Erinnerung ein anderes Bild auf:

Es ist noch gar nicht lange her, da erlebte ich, wie ein starker Mann in den besten Jahren sich zum sterben anschickte. Neben dem Bett saß seine Frau, und um ihn her stand ein Trüpplein weinender Kinder, die er unversorgt zurücklassen musste.

Da bat der Sterbende: „Kinder, singt mir noch ein Lied!“

„Was denn Vater?“

„Singt mir“, sagte er mit schwacher Stimme, „singt mir den Vers: ,O dass ich tausend Zungen hätte'.“

Und dann wurden alle Not und das Grauen des Sterbens vertrieben von dem Lobe Gottes:

 

O dass ich tausend Zungen hätte

Und einen tausendfachen Mund

So stimmt ich damit um die Wette

Vom allertiefsten Herzensgrund

Ein Loblied nach dem andern an

Von dem, was Gott an mir getan.

 

Das war der Inhalt eines Lebens, das durch Jesus Christus mit Gott versöhnt war. Da gab's im Blick auf die Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft im Sterben nur das Lob Gottes.