Der Friedhofswärter zuckt
bedauernd die Schultern: „Sie müssen leider warten. Sie wollen doch das Kind
von Familie X. beerdigen? Ja, da ist nun eine andre Feier, die noch nicht zu
Ende ist.“
In diesem Augenblick höre
ich die Klänge des Chopin'schen Trauermarsches. „Was ist denn da los?“
„Das ist eben diese andre
Beerdigung“, sagt der Friedhofswärter. „Eine ganz große Sache!“ fährt er fort. „Da
wird eine Frau begraben, die in der Partei eine große Rolle spielte. Und im
Luftschutz! Natürlich ohne Pfarrer! Aber mit allem Drum und Dran: Luftschutz,
Parteileute, Musik, Amtswalter. Weil die Halle zu
klein war, sind sie im Freien.“
Also warten! Wenn die Männer
der Partei erst einmal reden, geht es nicht so schnell. Es war zur Zeit des „Dritten
Reiches“.
Ich ziehe mir meinen Talar
an. Und dann? Ja, was soll ich nun machen? Wie wäre es, wenn ich mir diesen
Aufmarsch ansähe?
Also gehe ich hinter die
Halle auf den freien Platz. Das übliche Bild: Hakenkreuz-Fahnen, Blechmusik, Uniformen
und ein schreiender Redner. Bescheiden stelle ich mich hinter die Letzten und höre
zu. Aber der Redner hat mich erspäht. Irgendwie ist ihm die Anwesenheit eines
Mannes im Talar unangenehm.
Ich zweifle nicht daran,
dass er mich entdeckt hat, denn ich merke, wie er unruhig wird. In seiner Rede gibt
er mir den Beweis dafür, als er nun einsetzt mit wilden Ausfällen gegen „die
Pfaffen“. „Nicht diese Pfaffen sind die wahren Christen! Der Dienst in der Partei,
den diese Tote getan hat, ist das wahre Christentum!“ In der Tonart geht es
weiter.
Schließlich nimmt auch diese
„gewaltige“ Rede ein Ende. Gegen den Sarg gewandt, ruft der Redner der Toten
zu: „Gehe ein nach Walhall!“
Die Musik setzt ein, und der
ganze Haufe zieht ab zum Grab, das weit draußen am Rande des Kirchhofes liegt.
Bald nachher ziehe ich mit
den betrübten Eltern denselben Weg. Das kleine weiße Kindersärglein
hat der Leichenträger einfach unter den Arm genommen.
Als wir an unserem Grabe
ankommen, ist die andre Beerdigung eben zu Ende. Während der kleine Sarg in das
Grab hinabgelassen wird, strömt die Menge vorbei. Als
ich dann endlich anfangen will, entdecke ich, dass mein Parteiredner bei unserm
Grab stehen geblieben ist. Ich überlege mir heute noch, warum er das tat:
Wollte er einmal sehen, wie wir das machen? Oder wollte er nun über mich
lächeln, wie ich über ihn gelächelt hatte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls also stand
er in seiner prunkenden Uniform etwas deplaziert hinter den unscheinbaren,
weinenden Eltern.
Und dann ertönen die
herrlichen, ewigen Worte der Bibel über diese Stätte des Todes: „Jesus sagt:
Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Und: „Das Leben ist erschienen, und
wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist,
welches war bei dem Vater und ist uns erschienen.“
Als alles zu Ende ist,
ergibt es sich dann ganz von selbst, dass ich neben dem Amtswalter
zurückgehe. Man muss schon jene Zeit miterlebt haben, um zu begreifen, wie
seltsam das ist: der Mann in der braunen Uniform und der Pfarrer im Talar. Die
Gärtner schauen uns erstaunt nach.
Er schweigt in allen
Sprachen der Welt. So beginne ich das Gespräch: „Darf ich Ihnen eine Frage
stellen?“
„Bitte!“
„Sie haben vorhin ihre Rede
geschlossen mit dem Ruf: Gehe ein nach Walhall!“
„Ganz richtig!“
„Nun, ich will nicht davon
reden, dass nach germanischer Mythologie nur die Männer nach Walhalla eingehen,
nicht die Frauen. Wenn Sie diese Sprache schon sprechen, sollten Sie sie wenigstens richtig brauchen. Aber – wie gesagt – darauf
will ich jetzt gar nicht eingehen.“
„Sie wollten mich etwas
fragen!“
„Richtig! Sagen Sie: Gibt es
Walhall?“
Schweigen. Dann fährt er auf:
„Na hören Sie einmal! Der Führer selbst hat bei Hindenburgs Beerdigung …“
Ich unterbreche ihn: „Verzeihen
Sie! Ich fragte: Glauben Sie an Walhall?“
Jetzt wird er ganz
aufgeregt: „Passen Sie einmal auf! … Wenn man an … Ich meine, wir sollten …“
Wieder muss ich
unterbrechen: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einfach mit Ja oder Nein
antworten wollten. Gibt es Walhall?“
Jetzt wedelt er ungeduldig
mit der Hand: „Wie Sie nur so kindlich fragen können! Natürlich gibt es
Walhalla nicht. Das sagt man nur so, um auszudrücken … ja, um auszudrücken …“
Mir genügt es. Und nun
breche ich los: „Also Sie verkündigen an Gräbern Dinge, die Sie selber nicht glauben?
Sehen Sie, das nenne ich pfäffisch. Das scheint mir das echte Kennzeichen eines
Pfaffen zu sein, dass man Worte macht, die man selbst nicht ernst nimmt! Und
das wagen Sie angesichts des Todes und der Ewigkeit! Das ist furchtbar! Wenn
wir Jesum bezeugen und von der zukünftigen Welt reden und von der Auferstehung
der Toten, dann meinen wir das so!“
„Heil!“ sagte er da mit
schnarrender Stimme. Es klang wie eine Drohung. Dann bog er ab. Einen Augenblick
lang wollte mich die Drohung beunruhigen. Aber dann überkam mich der Jammer um
das arme, verführte Volk.