Neujahr 1945
Jahreslosung (Hebräer 12, 2a):
»Lasset uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und
Vollender des Glaubens.«
»Nun ist das alte Jahr vergangen. Dunkel liegt das neue Jahr
vor uns.« Nicht wahr, so muss doch jeder ordentliche Neujahrsaufsatz anfangen.
Aber eine Predigt fängt so nicht an.
Das neue Jahr liegt dunkel vor uns? Ach, das ist ja gar
nicht wahr. In Jesaja 9, 1 steht: »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein
großes Licht; und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es
hell.« Und in Lukas 1, 78 jubelt Zacharias: »Es hat uns besucht der Aufgang aus
der Höhe, dass er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten
des Todes.« Wir wissen, wer dieser »Aufgang aus der Höhe« und dies »große
Licht« ist: Jesus, der Sohn Gottes, unser Herr und Heiland. Weil er da ist,
sagt ein Christ nicht mehr: »Dunkel liegt das Jahr vor mir«, sondern vielmehr:
»Hell steht Jesus vor mir.« Und darum ist dies eine gute Jahreslosung.
Lasst uns aufsehen auf Jesus!
1. Ist das nicht ein unmöglicher Befehl?
»Aufsehen auf Jesus?« Ja, man kann ihn doch gar nicht sehen!
Wer mal Soldat war, der kennt das Kommando: »Die Augen links.« Wenn man die
Augen nach links wendet, dann sieht man doch jemand. Da kommt etwa der Herr
General, in Glanz und Pracht, in Rot und Gold. Im Text heißt es: »Die Augen
empor!« Und wenn man das tut, dann sieht man — nichts.
Wenn ich ein ungläubiger Weltmensch wäre, würde ich sicher
spotten über diese Jahreslosung und sagen: »Aufsehen auf Jesus? Zeigt ihn mir
doch mal! Ihr seht ihn doch selber nicht.«
Und in der Tat sagt Gottes Wort: »Wir wandeln im Glauben und
nicht im Schauen« (2. Korinther 5, 7). Aufsehen auf Jesus — der doch unsichtbar
ist! Ich kann verstehen, dass es Leute gibt, die sagen: »Ihr Christen unterliegt
ja einfach einer Suggestion.« Ich muss den Jungen erklären, was eine Suggestion
ist: Als Student besuchte ich mal die Vorstellung eines Zauberkünstlers. Der
behauptete, er könne ein Goldstück durch den Saal fliegen lassen. Er zeigte das
Goldstück, warf und dann schrie er: »Sehen Sie, da — und da — jetzt macht es
einen Bogen — kommt zu mir zurück — da ist es!« Und er zeigte es wieder vor. Da
gab es Leute, die schworen Stein und Bein, sie hätten es fliegen sehen. In
Wirklichkeit hatte er es gar nicht geworfen. Das ist Suggestion. »Lasset uns
aufsehen auf Jesus!« Ist das nicht auch eine Suggestion, dass man uns sehen
heißt, wo nichts zu sehen ist?
Ach nein! Denn es ist ja der Heilige Geist, der uns
befiehlt: »Lasset uns aufsehen auf Jesus.« Das ist der Geist der Wahrheit. Und
wenn wir nicht sehen, liegt es wohl sicher an uns und unsern blinden Augen. Da
darf man dann den Heiligen Geist bitten: »Öffne mir die Augen, dass ich sehen
kann.« Oh, das ist eine große Sache, wenn der Heilige Geist uns die inwendigen
Augen öffnet. Dann sehen wir Jesus — namentlich, wie er für uns am
Kreuze hängt und uns erlöst. Da geht es dann nach dem Vers: »Alle Tage wird
dies Bild schöner unserm Blick enthüllt.« Und mit Paul Gerhardt sagt man: »Ich
sehe dich mit Freuden an und kann nicht satt mich sehen.« Und man spricht mit
dem Blindgeborenen: »Eins weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend
geworden« (Johannes 9, 25).
2. Das ist ein tröstlicher Befehl
Wir sagten zu Anfang: Jeder ordentliche Neujahrsaufsatz
beginnt mit den Worten: »Dunkel liegt das neue Jahr vor uns.« Wir hatten diesen
Satz als ungültig beiseite geschoben. Aber nun müssen wir ihn doch noch mal
vorholen. Denn er enthält ja doch ein gutes Stück Wahrheit. Als ich Student
war, sangen wir so gern das Lied: »Wir lugen hinaus in die sonnige Welt,
allzeit mit lachenden Augen ... « Nein! Das singen wir nicht mehr. Es ist so
viel Grauenvolles über uns gekommen, dass uns die Sorge in schlaflosen Nächten
oft erwürgen will. Dunkel liegt der Weg vor uns. Oh, es hat nicht immer so geheißen.
Wenn man etwa einen Neujahrsaufsatz zu der Zeit um die Jahrhundertwende in die
Hand nimmt, da wird mit Pauken und Trompeten von Fortschritt geredet, von herrlichen
Zeiten, die kommen und von einer gewaltigen Entwicklung des
Menschengeschlechts. Die Fanfaren sind verstummt. Der rosarote Optimismus
liegt begraben unter den Trümmern unserer Städte. Der Weg liegt dunkel vor uns.
Als junger Rekrut habe ich mich mal auf einem einsamen Weg aus der vorderen
Stellung verlaufen. Und es regnete. Ich war krank und fieberte. Ach, da war
nichts mehr übrig von dem stolzen Kriegsfreiwilligen. Ich fühlte nur
unsägliches Elend und Verlassenheit. Und ich bin gewiss, dass auch der Stärkste
unter uns solche Stunden kennt. Und da hinein ruft der Heilige Geist:
»Lasset uns aufsehen auf Jesus!« Das griechische Wort, das
Luther mit »aufsehen« übersetzt, kann auch heißen: »mit Vertrauen sehen auf«.
»Lasst uns mit Vertrauen auf Jesus sehen!«
Kennt ihr ihn? Er ist ja der »gute Hirte«. Das hat er bewiesen,
als »er sein Leben ließ für die Schafe« (Johannes 8, 12). Es ist wirklich das
Höchste, wenn einer wie ein Kind glauben und singen kann: »Weil ich Jesu
Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich
wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt, und bei meinem Namen
nennt.« Mitten in das Grauen des Krieges singt Gottes erkauftes Volk: »Ja,
fürwahr, uns führt mit sanfter Hand ein Hirt durchs Pilgerland der dunklen
Erde, uns, seine kleine Herde, Halleluja.«
Wir spürten das, als viele von uns im vergangenen Jahr hier
im Keller den schrecklichen Angriff erlebten, als das Licht erlosch, der Keller
bebte und wir aller Furcht ins Angesicht sangen: »Wenn sich die Sonn' verhüllt,
der Löwe um mich brüllt, so weiß ich auch in finstrer Nacht, dass Jesus mich
bewacht.«
3. Das ist ein einschneidender Befehl
»Lasst uns aufsehen auf Jesus!« Man kann das griechische
Wort des Textes auch übersetzen: »Lasst uns wegsehen auf Jesus!« Ja, wenn man
auf Jesus sehen will, muss man seine Augen von anderem losreißen.
Von Natur sind unsere Augen gefesselt an die sichtbaren
Dinge dieser Welt. Die Welt nimmt unseren Blick gefangen. Die Bibel nennt das
»irdisch gesinnt sein«. Weil nun unser Blick von Natur aus auf die irdischen
Dinge geht, und weil wir nun mal hinten keine Augen haben, so heißt: »Lasset
uns wegsehen auf Jesus!«, eine Wendung machen. Ja, lasst uns wegsehen
auf Jesus — das heißt: Mach in deinem Leben eine ganze Wendung zu ihm hin. Es
gibt manchen unter uns, der weiß es längst, dass er diese Wendung machen
sollte. Aber er hat es immer und immer wieder aufgeschoben.
Nun mach doch mit dem neuen Jahr diese Wendung! Wie würde
der Friede Gottes über dich kommen! Aber auch denen, die diese Wendung gemacht
haben, gilt es: »Lasst uns wegsehen von den Sorgen und Nöten — wegsehen von
den Verdiensten und auch von den Versäumnissen und Schulden — auf Jesus.« »Er
ist uns von Gott gemacht zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung
und zur Erlösung« (1. Korinther 1, 30).