Wilhelm Busch – Der Befehl für das neue Jahr: Wegsehen von Sorgen und Nöten auf Jesus hin!

 

Neujahr 1945

Jahreslosung (Hebräer 12, 2a):

»Lasset uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und

Vollender des Glaubens.«

 

»Nun ist das alte Jahr vergangen. Dunkel liegt das neue Jahr vor uns.« Nicht wahr, so muss doch jeder ordentliche Neujahrsaufsatz anfangen. Aber eine Predigt fängt so nicht an.

Das neue Jahr liegt dunkel vor uns? Ach, das ist ja gar nicht wahr. In Jesaja 9, 1 steht: »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.« Und in Lukas 1, 78 jubelt Zacharias: »Es hat uns besucht der Aufgang aus der Höhe, dass er erscheine denen, die da sitzen in Fin­sternis und Schatten des Todes.« Wir wissen, wer dieser »Aufgang aus der Höhe« und dies »große Licht« ist: Jesus, der Sohn Gottes, unser Herr und Heiland. Weil er da ist, sagt ein Christ nicht mehr: »Dunkel liegt das Jahr vor mir«, sondern vielmehr: »Hell steht Jesus vor mir.« Und darum ist dies eine gute Jahreslosung.

 

 

Lasst uns aufsehen auf Jesus!

 

 

1. Ist das nicht ein unmöglicher Befehl?

»Aufsehen auf Jesus?« Ja, man kann ihn doch gar nicht sehen! Wer mal Soldat war, der kennt das Kommando: »Die Augen links.« Wenn man die Augen nach links wendet, dann sieht man doch jemand. Da kommt etwa der Herr General, in Glanz und Pracht, in Rot und Gold. Im Text heißt es: »Die Augen empor!« Und wenn man das tut, dann sieht man — nichts.

Wenn ich ein ungläubiger Weltmensch wäre, würde ich sicher spotten über diese Jahreslosung und sagen: »Auf­sehen auf Jesus? Zeigt ihn mir doch mal! Ihr seht ihn doch selber nicht.«

Und in der Tat sagt Gottes Wort: »Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen« (2. Korinther 5, 7). Aufsehen auf Jesus — der doch unsichtbar ist! Ich kann verstehen, dass es Leute gibt, die sagen: »Ihr Christen un­terliegt ja einfach einer Suggestion.« Ich muss den Jungen erklären, was eine Suggestion ist: Als Student besuchte ich mal die Vorstellung eines Zauber­künstlers. Der behauptete, er könne ein Goldstück durch den Saal fliegen lassen. Er zeigte das Goldstück, warf und dann schrie er: »Sehen Sie, da — und da — jetzt macht es einen Bogen — kommt zu mir zurück — da ist es!« Und er zeigte es wieder vor. Da gab es Leute, die schworen Stein und Bein, sie hätten es fliegen sehen. In Wirklichkeit hatte er es gar nicht geworfen. Das ist Suggestion. »Lasset uns aufsehen auf Jesus!« Ist das nicht auch eine Suggestion, dass man uns sehen heißt, wo nichts zu sehen ist?

Ach nein! Denn es ist ja der Heilige Geist, der uns befiehlt: »Lasset uns aufsehen auf Jesus.« Das ist der Geist der Wahrheit. Und wenn wir nicht sehen, liegt es wohl sicher an uns und unsern blinden Augen. Da darf man dann den Heiligen Geist bitten: »Öffne mir die Augen, dass ich sehen kann.« Oh, das ist eine große Sache, wenn der Heilige Geist uns die inwendigen Augen öffnet. Dann sehen wir Jesus — namentlich, wie er für uns am Kreuze hängt und uns erlöst. Da geht es dann nach dem Vers: »Alle Tage wird dies Bild schöner unserm Blick ent­hüllt.« Und mit Paul Gerhardt sagt man: »Ich sehe dich mit Freuden an und kann nicht satt mich sehen.« Und man spricht mit dem Blindgeborenen: »Eins weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend geworden« (Johannes 9, 25).

 

2. Das ist ein tröstlicher Befehl

Wir sagten zu Anfang: Jeder ordentliche Neujahrsaufsatz beginnt mit den Worten: »Dunkel liegt das neue Jahr vor uns.« Wir hatten diesen Satz als ungültig beiseite ge­schoben. Aber nun müssen wir ihn doch noch mal vor­holen. Denn er enthält ja doch ein gutes Stück Wahrheit. Als ich Student war, sangen wir so gern das Lied: »Wir lugen hinaus in die sonnige Welt, allzeit mit lachenden Augen ... « Nein! Das singen wir nicht mehr. Es ist so viel Grauenvolles über uns gekommen, dass uns die Sorge in schlaflosen Nächten oft erwürgen will. Dunkel liegt der Weg vor uns. Oh, es hat nicht immer so ge­heißen. Wenn man etwa einen Neujahrsaufsatz zu der Zeit um die Jahrhundertwende in die Hand nimmt, da wird mit Pauken und Trompeten von Fortschritt geredet, von herr­lichen Zeiten, die kommen und von einer gewaltigen Ent­wicklung des Menschengeschlechts. Die Fanfaren sind ver­stummt. Der rosarote Optimismus liegt begraben unter den Trümmern unserer Städte. Der Weg liegt dunkel vor uns. Als junger Rekrut habe ich mich mal auf einem ein­samen Weg aus der vorderen Stellung verlaufen. Und es regnete. Ich war krank und fieberte. Ach, da war nichts mehr übrig von dem stolzen Kriegsfreiwilligen. Ich fühlte nur unsägliches Elend und Verlassenheit. Und ich bin gewiss, dass auch der Stärkste unter uns solche Stunden kennt. Und da hinein ruft der Heilige Geist:

»Lasset uns aufsehen auf Jesus!« Das griechische Wort, das Luther mit »aufsehen« übersetzt, kann auch heißen: »mit Vertrauen sehen auf«. »Lasst uns mit Vertrauen auf Jesus sehen!«

Kennt ihr ihn? Er ist ja der »gute Hirte«. Das hat er be­wiesen, als »er sein Leben ließ für die Schafe« (Johannes 8, 12). Es ist wirklich das Höchste, wenn einer wie ein Kind glauben und singen kann: »Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt, und bei meinem Namen nennt.« Mitten in das Grauen des Krieges singt Gottes erkauftes Volk: »Ja, fürwahr, uns führt mit sanfter Hand ein Hirt durchs Pil­gerland der dunklen Erde, uns, seine kleine Herde, Halleluja.«

Wir spürten das, als viele von uns im vergangenen Jahr hier im Keller den schrecklichen Angriff erlebten, als das Licht erlosch, der Keller bebte und wir aller Furcht ins Angesicht sangen: »Wenn sich die Sonn' verhüllt, der Löwe um mich brüllt, so weiß ich auch in finstrer Nacht, dass Jesus mich bewacht.«

 

3. Das ist ein einschneidender Befehl

»Lasst uns aufsehen auf Jesus!« Man kann das griechische Wort des Textes auch übersetzen: »Lasst uns wegsehen auf Jesus!« Ja, wenn man auf Jesus sehen will, muss man seine Augen von anderem losreißen.

Von Natur sind unsere Augen gefesselt an die sichtbaren Dinge dieser Welt. Die Welt nimmt unseren Blick ge­fangen. Die Bibel nennt das »irdisch gesinnt sein«. Weil nun unser Blick von Natur aus auf die irdischen Dinge geht, und weil wir nun mal hinten keine Augen haben, so heißt: »Lasset uns wegsehen auf Jesus!«, eine Wendung machen. Ja, lasst uns wegsehen auf Jesus — das heißt: Mach in deinem Leben eine ganze Wendung zu ihm hin. Es gibt manchen unter uns, der weiß es längst, dass er diese Wendung machen sollte. Aber er hat es immer und immer wieder aufgeschoben.

Nun mach doch mit dem neuen Jahr diese Wendung! Wie würde der Friede Gottes über dich kommen! Aber auch denen, die diese Wendung gemacht haben, gilt es: »Lasst uns wegsehen von den Sorgen und Nöten — weg­sehen von den Verdiensten und auch von den Versäum­nissen und Schulden — auf Jesus.« »Er ist uns von Gott gemacht zur Weisheit und zur Gerech­tigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung« (1. Korinther 1, 30).