Wilhelm Busch

Der Bock für Asasel

 

„Da soll denn Aaron seine beiden Hände auf des Bockes Haupt legen und bekennen auf ihn alle Missetat der Kinder Israel und alle ihre Übertretung in allen ihren Sünden, und soll sie dem Bock auf das Haupt legen und ihn durch einen Mann, der be­reit ist, in die Wüste laufen lassen."

3. Mose 16, 21

 

Im 17. Jahrhundert lebte in der Nähe Eisenachs ein Rechtsanwalt namens Homburg. Er war seinen Zeitgenossen bekannt als Dichter fröhlicher Lieder. Seine „Leichten Lieder der Liebe und des Gelages" wurden viel gelesen.

Dieser Lebemann erfuhr eines Tages eine große Wandlung. Wir wis­sen nichts Näheres darüber. Aber wir können feststellen, dass seine Dichtkunst auf einmal einen ganz neuen Gegenstand bekam. Der Inhalt seiner Lieder wurde ausschließlich Jesus. Von ihm stammt das herrliche Passionslied „Jesu, meines Leben Leben..." In dem triumphalen Himmelfahrtslied „Ach wundergroßer Siegesheld..." gibt er dem Heiland lauter verschiedene Namen: Davids Sohn, mein Ruhm, Gnadenthron, Siegesfürst, mein Schutz. Unter diesen Bezeich­nungen Jesu ist mir eine besonders aufgefallen. Da redet er den Herrn Jesus an: „Du Sündenträger aller Welt."

Ich glaube, dass unsere Zeit diesen Ausdruck kaum versteht. Und doch möchte ich ihn heute als Überschrift über meine Predigt setzen:

 

 

Der Sündenträger aller Welt

 

1. Der Bock für Asasel ist ein Vorbild für Ihn

Als Israel durch die Wüste nach Kanaan zog, gab Gott Seinem Volke feste Ordnungen. Dazu gehörten auch die großen Feiertage.  Das wichtigste Fest war der Versöhnungstag.

Ich kann nicht all die bedeutsamen Zeremonien dieses Festes dar­legen. Uns interessiert jetzt nur ein einziger Vorgang: Da wurde ein Bock vor den Hohenpriester gebracht. Im Angesicht des ganzen Vol­kes legte der dem Tier die Hände auf das Haupt und bekannte auf das Tier alle „Missetaten, Übertretungen und Sünden" Israels. Da wurde an das Licht gebracht, dass hier eine schuldbeladene Schar vor Gott stand. Und alle Schuld wurde gleichsam dem Bock aufgeladen.

Dann nahm ein Mann das Tier und jagte es in die Wüste. So wurde die Schuld Israels weggetragen. — Wohin?

Wir bekommen im 8. Vers unsres Kapitels eine seltsame Antwort. Dort steht nämlich, dass dieser Bock bestimmt gewesen sei für „Asasel". Asasel — das ist ein Name für den furchtbaren Geist aus dem Abgrund, für Satan. Die Sünde also wurde dahin gejagt, wo sie ihren letzten Ursprung hat — zum Teufel! Ich muss hier einen kleinen Einschub machen: Kurz nach dem letzten Kriege ging ich mit einem Dänen durch Basel. Wir waren etwas bedrückt. Denn wir kamen von einer Tagung, wo wir mit Vertretern von 20 Nationen zusammen gewesen waren. Und da hatten wir uns nicht gut verstan­den mit den Vertretern der englischsprechenden Völker, deren Opti­mismus wir einfach nicht hatten teilen können.

Nun standen wir zwei vor dem Baseler Münster, wo die mittelalter­lichen Bildhauer seltsame Dämonengestalten ausgehauen haben. Bei ihrer Betrachtung ging es uns plötzlich auf: Die anderen wissen nichts von Dämonen. Wir haben die Macht Satans kennengelernt. — Seht, die Bibel spricht von Satan und Asasel als dem Urgrund alles Bösen, das in uns wirksam ist.

Aber kehren wir zurück zu dem Versöhnungsfest. Alljährlich wurde in Israel der sündenbeladene Bock in die Wüste gejagt. Durch diesen Vorgang gab Gott Seinem Volk einen deutlichen Unterricht zum Ver­ständnis des Kreuzes Jesu Christi.

Denn nun verstand in Israel später ein jeder folgende Geschichte: Da stand der Täufer Johannes am Jordan. Tausende hörten seiner Pre­digt zu. Auf einmal unterbrach er sich, zeigte nach hinten, wo ein schlichter Mann heranschritt, und rief mit durchdringender Stimme: „Siehe, da ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde wegträgt." Der Mann war Jesus.

Jeder verstand, dass Johannes in diesem Satz auf den alljährlichen Vorgang im Tempel anspielte, auf das Tier, das sündenbeladen in die Wüste gejagt wurde. (Er nannte Jesus „Lamm". Damit wollte er noch an ein Zweites erinnern, an das Versöhnungslamm, das täglich geopfert wurde.)

 

2. Die Botschaft von Ihm wendet sich an das Gewissen

In dem biblischen Bericht ist immer die Rede von „Missetat, Über­tretung und Sünde". Das fällt manchen Leuten beträchtlich auf die Nerven. Aber — so ist es nun mit dem Evangelium. Davon spricht es!

Seht, die Welt spricht uns auch an. Sie wendet sich an unsre Sinne, an unsre Leidenschaften und Triebe. Oder sie richtet sich an unsern Verstand.

Die Bibel aber spricht von unserm Gewissen. Ich will nur ein Beispiel nennen:

Als der Herr Jesus einmal in Sichar an einem Brunnen saß, kam eine Frau, um Wasser zu holen. Mit ihr begann Jesus ein Gespräch. Offenbar führte die Frau gern religiöse Gespräche. Doch nahm dieses eine unliebsame Wendung für sie, als der Herr sie aufforderte: „Rufe deinen Mann!" Die Frau bekam einen roten Kopf: „Ich habe keinen Mann." Da erwiderte ihr Jesus ernst: „Fünf Männer hast du gehabt. Aber den du nun hast, der ist nicht dein Mann. Da hast du recht gesagt." Ich verstehe, dass die Frau völlig erschüttert in die Stadt rannte und berichtete: „Da draußen sitzt einer, der mir alles auf­gedeckt hat, was ich getan habe."

Unsre Zeit tut, als wisse man nicht mehr, was „Missetat, Übertre­tung und Sünde" ist. Aber Jesus deckt es auf. Sein Geist macht die Gewissen lebendig. Und wo ein Gewissen aufgewacht ist, da liest man mit neuen Augen die Geschichte von dem Bock, auf den man die Sünde legen konnte. Und da fragt das Gewissen: „Warum ist unter uns dieser Bock nicht mehr?" Antwort: „Weil an seine Stelle ein Mann getreten ist — der Sohn Gottes — Jesus! Siehe, da ist Er, welche der Welt Sünde wegträgt!" (Johannes 1, 29).

Ich sehe im Geist, wie man beim Versöhnungsfest diesen seltsamen Bock hinausjagt in die Wüste — zu Asasel. Ein armes, verlorenes Tier, beladen mit Schuld. So hat man den Heiland hinausgestoßen — hinaus bis zur Hölle. Da hängt Er am Kreuz — bespien, gequält, ent­setzlich einsam und ruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlas­sen?" Seht, da trägt Er unsre „Missetat, Übertretung und Sünde" zu Asasel. „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten." O dass wir das fassen könnten!

 

3. Er will die Gemeinde reinigen

„Warum nun diese ganze Veranstaltung?" So fragt der moderne Mensch. „Das ist mir alles viel zu schwierig! Was soll mir das?" Wir müssen begreifen: Gott, der lebendige Gott, ist heilig. Ihm ist die Sünde ein Greuel. Und wenn Er sich eine Gemeinde erwählt und sie an Sein Herz zieht, dann muss diese Gemeinde gereinigt sein. Darum ist diese Veranstaltung nötig. Darum trug der Bock die Schuld Israels hinaus. Darum trägt Jesus unsre Sünde, weil Gott eine gereinigte Gemeinde haben will. Sehnt sich unser Herz nicht auch danach, zu dieser gereinigten Schar zu gehören? Wollen wir nicht gern frei sein von alter Schuldverflechtung und von den entsetzlichen Bindungen Asasels?

Wollen wir? Dann müssen wir — jeder für sich — ein Versöhnungs­fest feiern unter Jesu Kreuz. Wir können ganz einfach aus der alttestamentlichen Geschichte lernen, wie man es machen muss: Da wurde die „Missetat, Übertretung und Sünde" auf den Bock hin be­kannt. So dürfen wir unsre Sünde auf den gekreuzigten Herrn Jesus hin bekennen. Das ist eine Stunde, wenn ein Sünder dem Heiland sein Herz ausschüttet! Ich möchte nicht mehr leben ohne solche Mög­lichkeiten. Und dann sehen wir im Glauben auf den Gekreuzigten, fassen es, dass Er alles weggetragen hat zu Asasel, und dann danken wir Ihm für Seine herrliche Erlösung. Unser Christenstand mündet immer aus in fröhlichen und jubelnden Dank.