„Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie auf
zum Zeichen; und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne
Schlange an und blieb leben."
4. Mose 21, 9
Die Griechen des Altertums erzählten sich eine sehr
eindrucksvolle Sage von dem großen Helden Perseus. Der saß beim Hochzeitsmahl
mit der schönen Andromeda. Da wird die Saaltür aufgerissen, und ein anderer
König erscheint, um die Andromeda zu rauben. Es entbrennt ein wilder Kampf.
Schon sind viele gefallen. Perseus kommt in Not, denn die Feinde sind in großer
Überzahl. Da ruft Perseus seinen Feinden zu: „Ihr zwingt mich zum Äußersten und
Schrecklichsten!" Und während er in eine Tasche fasst, die ihm an der
Seite hängt, ruft er: „Es wende sein Antlitz ab, wer mein Freund ist!"
Dann hält seine Hand das grauenvolle Haupt der Medusa hoch. Diese Medusa war
ein furchtbares Ungeheuer: Statt der Haare hatte sie Schlangen auf dem Haupt.
Wer sie sah, erstarrte zu Stein. Im Medusenhaupte hat sich für den Griechen
alles Grauenvolle, alles, was das Blut erstarren macht, verkörpert. Dort im
Saal nun hält Perseus ihr abgeschlagenes Haupt hoch. Und seine Feinde erstarren
zu Stein. Ein Blick auf die Medusa tötet sie auf ewig.
Das Evangelium erzählt — und diesmal ist es keine Sage — das
Gegenstück. Es sagt uns von einem Totenhaupt, dessen Anblick bis zu diesem
Tage ewiges Leben schenkt.
1. Wohin wir sehen sollen
Es handelt sich um den Blick auf den gekreuzigten Sohn Gottes,
auf das „Haupt voll Blut und Wunden", auf das „Haupt, zum Spott gebunden
/ mit einer Dornenkron". Wir wollen uns das Kreuz Christi deuten lassen
von den alttestamentlichen Vorbildern. Und so muss ich jetzt zuvor die
Geschichte erzählen, aus der unser Text stammt.
Die Gemeinde des Alten Bundes zieht durch die Wüste. Gewiss,
das ist kein Aufenthaltsort für zwei Millionen Menschen. Aber — der Herr zieht
ja mit. Er gibt ihnen Wasser aus dem Felsen. Er gibt ihnen jeden Morgen Brot
vom Himmel, das Manna.
Aber nun seht das verkehrte Menschenherz! Statt sich dankbar
und vertrauensvoll dieser Fürsorge des himmlischen Vaters zu überlassen, murren
sie gegen Gott und gegen Mose: „Warum hast du uns aus Ägypten geführt! Unsere
Seele ekelt vor dieser mageren Speise." Da sendet der Herr feurige
Schlangen in das Lager. Und nun hebt ein großes Entsetzen und Sterben an. Die
Kinder Israel erschrecken. Sie laufen zu Mose: „Bitte für uns den Herrn! Wir
haben gesündigt!"
Da liegt nun dieser treue Fürbitter wieder auf seinem
Angesicht vor dem zornigen und doch so gnädigen Gott. Und Gott befiehlt ihm:
„Mache eine eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf. Wer gebissen ist
und sieht sie an, der soll leben."
In fliegender Eile gehen sie an die Arbeit. Während die
einen die eherne Schlange gießen, richten die anderen schon ein Kreuz auf. Und
dann eilen, die Boten durchs Lager: „Seht auf die eherne Schlange!"
Da werden manche wohl gespottet haben: „Was soll das
helfen?!" Und sie starben. Wer aber aufschaute — ach, nur mit einem Blick!
—, der blieb leben. O ich sehe da Menschen ankriechen, todwund und sterbend.
Ein Blick — und neues Leben überströmt sie.
Es ist gut tausend Jahre später. Da sitzt der Herr Jesus in
einer Nachtstunde mit Nikodemus zusammen. Er erklärt ihm, dass diese eherne
Schlange ein Vorbild ist auf Sein Kreuz: „Wie Mose eine Schlange erhöht hat, so
muss des Menschen Sohn erhöht werden . .. Also hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben" (Johannes 3, 14-18).
Also: Auf Jesu Kreuz sollen wir sehen. Das gibt ewiges
Leben.
2. Was wir da sehen dürfen
Das Evangelium ist doch eine unerhörte Botschaft! Auf den
gekreuzigten Heiland sehen — das kann doch der größte Sünder, der verkommenste
Mensch. Ja, so ist es: Ein Glaubensblick auf den sterbenden Versöhner errettet
unter allen Umständen.
Und umgekehrt: Kein Ringen und Kämpfen kann dir Frieden mit
Gott geben. Auch kein Beten und kein gutes Werk. Sondern nur der glaubende
Blick auf den Heiland am Kreuz errettet dich von Gottes Zorn und Gericht.
Was ist denn nun an dem Kreuz so Besonderes, dass es solche
errettende Wirkung hat? Vor kurzem sagte mir ein junger Mann: „Es sind doch
viele Menschen als Märtyrer und um einer guten Sache willen gestorben. Warum
machen Sie so ein Geschrei um den Tod Jesu?" Unsere Textgeschichte soll es
uns erklären. Zunächst müssen wir verstehen: Israel stand handgreiflich unter
Gottes Zorn. In den Schlangen verkörperte sich Gottes Fluch über die Sünder. —
Wer nun nichts weiß von Gottes unheimlichem Zorn über die Sünde, wer noch nie
Gottes Fluch im Gewissen gespürt hat — der begreift wahrscheinlich gar nichts
von der ganzen Geschichte. Wir stehen auch unter dem Fluch. In den Schlangen nun
wurde der Fluch in Israel sichtbar. Da hängte Mose ein Bild dieses Fluches ans
Kreuz. Nun hieß es: „Seht dorthin! Da hängt der Fluch, ausgetan, weggetragen,
gekreuzigt, erledigt!"
Das dürfen wir auch am Kreuze Jesu sehen: Da hängt Gottes
gerechter Zorn, da hängt der Fluch, der mich treffen sollte — da ist er ausgetan,
weggeschafft, getötet, gekreuzigt!
Wer mir aufmerksam gefolgt ist, der erschrickt jetzt wohl
und sagt; „Die Schlange war wohl ein Bild des Fluches. Aber — der Heiland doch
nicht!"
Doch! So steht es im Worte Gottes! Galater 3, 13 heißt es:
„Christus ward ein Fluch für uns. Denn: verflucht ist jedermann, der am Holz
hanget."
Nun lasst mich ein Bild brauchen. Kürzlich las ich in einem
modernen Roman, wie in der Zeit des Dritten Reiches ein junger Student von der
Gestapo verfolgt wurde. Er flüchtete in ein großes Hotel. Aber nun wurde die
Jagd entsetzlich. Alle Ausgänge waren besetzt. Die Hetzer gingen von Zimmer zu
Zimmer. Verzweifelt jagte der Verfolgte durch das riesige Haus und suchte
einen rettenden Ausweg. So geht es uns, wenn das Gewissen erwacht. Man will dem
Zorne Gottes entrinnen — und sieht keinen Weg. Man will ein neues Leben
anfangen — und kann es nicht. Man will selig werden — und weiß sich verdammt.
Man will seine Sünde vergessen — und es gelingt einem nicht. Da kann man sich
selbst nicht helfen. Da kann einem kein Mensch helfen. Wo ist ein Weg?
Da — am Kreuz! Da ist der Fluch ausgetan. Da ist der Zorn
Gottes gekreuzigt. Da hängt deine Sünde — weggetragen — von Jesus!
3. Wie es einer erprobte
Was ist nun nötig? Nur im Glauben auf den gekreuzigten
Heiland sehen und Ihm danken, dass Er für mich ein Fluch wurde! Sonst nichts!
Der große Erweckungsprediger Spurgeon erzählt so fein, wie
es in seinem Leben zu diesem rettenden Blick kam. Ein furchtbarer Sturm trieb
ihn einst in eine kleine Kapelle. Der Prediger war ein unstudierter Mann, der
nicht einmal richtig sprach. Er redete über Jesaja 45, 22 (nach englischer
Übersetzung): „Blickt auf mich, so werdet ihr selig, aller Welt Enden!"
Nachdem er das Wort erklärt hatte, richtete er seine Augen
auf den jungen Mann und — unbekümmert um die anderen Leute — sagte er: „Du
siehst elend aus. Und elend wirst du bleiben, wenn du den Worten nicht
gehorchst." Und dann erhob er dröhnend seine Stimme und rief: „Junger
Mann, blicke auf Jesus Christus! Und tue es jetzt!" Spurgeon berichtet:
„Ich fuhr zusammen. Zugleich aber richtete ich
meinen Blick auf Jesus und — war selig. Es war das Werk
eines
Augenblicks, der Übergang vom Tod zum Leben. Die finstere Wolke,
die mich jahrelang umschattet hatte, war verschwunden, — ich
sah
die Sonne. Ich sah den Gnadenratschluss Gottes. Ich musste
mit der
Gemeinde jubelnd singen vom teuren Blute Christi."
So ruft jetzt der Heiland uns zu: „Seht auf mich, so werdet ihr
selig!"