Wilhelm Busch

Die Höhle Adullam

 

„David entrann in die Höhle Adullam... Und es versammel­ten sich zu ihm allerlei Männer, die in Not und Schulden und betrübten Herzens waren."

1. Samuel 22, 1 und 2

 

In eine spannungsreiche Zeit führt uns unser Text. In Israel herrschte König Saul, den Gott wegen seines Ungehorsams verworfen hatte. Heimlich aber war der Hirte David zum König gesalbt worden. Der finstere Saul fürchtete, hasste und verfolgte den David. Der barg sich in der Höhle Adullam, irgendwo in großer Einsamkeit. O diese wichtige Höhle! Für die allermeisten allerdings bedeutete sie nichts. Wer konnte sich bei all den Sorgen und Unruhen im Lande um eine Höhle kümmern!

Aber das Gemunkel wollte nicht schweigen, dass dort in der Höhle der Mann sei, durch den Gott Heil gegeben hätte. Und hier und da machten sich allerlei Männer nach Adullam auf. Welch ein treffendes Abbild des Kreuzes Jesu! Den meisten bedeu­tet das Kreuz gar nichts. Und doch — das Gemunkel will nicht schwei­gen, dass dort, dort allein Heil für die Welt sei. Und so machen sich hier und da Menschen auf und eilen zum Kreuz. Wollen wir uns nicht ihnen anschließen?

 

 

Das Kreuz ist unsere Zuflucht

 

1. Was für Leute eilen dorthin?

Es war eine recht armselige Schar, die sich bei David in der Höhle Adullam zusammenfand: „Allerlei Männer, die in Not und Schulden und betrübten Herzens waren." Wie hat man wohl auf den Gassen und Märkten über solche Leute gespottet!

Aber das kümmerte diese Elenden und Verzweifelten nicht. Sie atme­ten auf, wenn ihr Fuß die Höhle betrat: „Hier sind wir geborgen!"

Genauso steht das nun mit Golgatha und Jesu Kreuz: Hier ist man ewig geborgen. Hier ist großer Friede. Aber nicht jeder kann diesen Friedensort finden. Man muss schon zu den Leuten zählen, die in „Not, Schulden und betrübten Herzens" sind. Gehören wir dazu? „In Not": Wer noch allein mit sich und der Welt fertig wird, wem der Boden noch nicht unter den Füßen wankt, — der versteht nichts vom Kreuz. Wem aber der Jammer der Welt an die Seele geht, der wird froh an dieser Offenbarung der Liebe Gottes.

„In Schulden": Wem das Wort „Sünde" ein veralteter Begriff ist, wer sich noch nie gefürchtet hat vor dem heiligen Gott, wer noch nie in den Abgrund seines bösen Herzens geschaut hat, wer noch nicht die Last seiner Verschuldung erkannt hat —, der verlangt keine Zu­flucht. Dem predigen wir vergeblich vom Kreuz. Wer sich aber keine Illusionen mehr macht und weiß: „So, wie ich bin, gehe ich ver­loren", — der flieht vor seinen Sünden, vor sich selbst und vor dem Zorn Gottes zum Kreuz. Gesegnete Zufluchtsstätte für verlorene Sünder! Hier finde ich Vergebung der Sünden und einen gnädigen Gott.

„Betrübten Herzens": Wer nichts weiß von den Finsternissen der Anfechtung und von den Schatten der Schwermut — was soll dem das Kreuz Christi!? Für die Menschen aber, die es nicht mehr aushalten, ohne Gott weiterzuleben, für sie ist diese Zuflucht da.

Es gibt von dem Maler W. Steinhausen ein eigenartiges Passionsbild: Da ragt hoch das Kreuz Jesu. Und von allen Seiten wandert eine stille Schar heran: die große Sünderin, das kanaanäische Weiblein und viele andere Gestalten der biblischen Geschichte, „die in Not, Schulden und betrübten Herzens" waren.

Ich stand einst mit einem Jungen vor diesem Bilde. Erstaunt sagte der: „So war das doch gar nicht bei Jesu Sterben!" Ich erwiderte: „Richtig! Damals standen brüllende Massen um das Kreuz. Aber heute ist es so: Die Massen wissen nichts mehr vom Kreuz. Doch ein stiller Strom zieht ununterbrochen nach Golgatha: lauter Leute, ,die in Not, Schulden und betrübten Herzens' sind."

 

2. Woher kommen sie, und wohin gehen sie?

Im Geiste habe ich so eine kleine Schar gesehen, die nach der Höhle floh. Wenn man sie gefragt hätte: „Woher kommt ihr?", dann hät­ten sie geantwortet: „Aus dem Reiche Sauls." Und sie wären gewiss gewesen, damit wäre alles gesagt.

Was war es denn um das Reich Sauls? Seht, Saul war einmal von Gott sehr erhöht worden. Aber er hatte sich von Ihm gelöst. Da hatte ihn Gott verworfen. Nun war's nur noch ein Regieren gegen Gott. Das bedeutet lauter Verwirrung.

Das Reich Sauls ist so recht ein Bild dieser Welt: Sie hat einen Herr­scher. Es ist der, der zu Jesus auf dem Berg der Versuchung sagte: „Dies alles ist mir übergeben." Das ist der Engelfürst Satan, der von Gott abfiel und Gottes Feind wurde. Darum ist die Welt so verwirrt, weil Satan regiert. Graust es euch nicht manchmal vor der geradezu satanischen Verwirrung in der Welt? Und die finden wir nicht nur im Großen, die spiegelt sich nicht nur in den Zeitungen. Sie herrscht auch in unseren Häusern: zerrüttete Ehen; versinkende Jugend; halt­lose Menschen, die allen Leidenschaften preisgegeben sind; religiöse Verwirrung; Lüge und Unrecht. O es kennt jeder die Verwirrung seines Herzens!

Nun sehe ich nochmals die jungen Männer unseres Textes an. Da möchte ich ihnen die zweite Frage stellen: „Wo eilt ihr hin?" Und sie antworten: „Heraus aus Sauls Reich, hin zu David!" Unsere Höhle Adullam ist Golgatha. Dort finden wir den wahren Davidssohn, Jesus. Er ist der heimliche König, heimlich von Gott ge­salbt. Er ist der wahre Herr der Welt. Er fängt das Regiment am rechten Ende an, indem Er das größte Problem löst, das Problem unserer Schuld. Er büßt sie am Kreuz und schafft Frieden mit Gott. Er ist der rechte und gesegnete König!

Und wenn nicht alle Welt zu Ihm geht, dann eile du zu Ihm! Denn: Die Entscheidung für den Gekreuzigten ist der Schritt aus der Herr­schaft Satans unter die Herrschaft des Sohnes Gottes.

 

3. Welcher Art ist ihre Zufluchtsstätte?

Es wären dem David bestimmt mehr Leute zugelaufen, wenn er in einem Schlosse zu finden gewesen wäre. Aber nun war er so ernie­drigt, dass er in einer Höhle sich aufhielt.

Noch viel erniedrigter war der Sohn Gottes, als Er am Kreuze hing. Wie hat dieses Kreuz, dieser Galgen die Menschen abgestoßen! Und doch! Wenn du Vergebung, Frieden und Geborgenheit finden willst, dann musst du zu dem erniedrigten König Jesus unter das Kreuz fliehen.

Hier ist unser Adullam. Ich habe eine Beschreibung der Höhle Adul­lam gelesen. Da heißt es: „Sie ist ein endloses System von Korridoren und Quergängen, die noch nie bis zum Ende erforscht wurden."

Auch so ist sie ein Abbild des Kreuzes. Wer hier seine Zuflucht ge­funden hat, der macht immer neue Entdeckungen: Hier ist Gottes Gerechtigkeit offenbart. Hier erfolgt die Rechtfertigung meines Lebens: Der Gekreuzigte macht mich vor Gott gerecht. Hier emp­fange ich Vergebung der Sünden. Hier finde ich Versöhnung mit Gott. Aber — noch kein Mensch hat dies Adullam ganz entdeckt. Das Kreuz ist das tiefste und seligste Geheimnis der Weltgeschichte. Da heißt es am Ende nur: „Wenn ich dies Wunder fassen will, / so steht mein Geist vor Ehrfurcht still. / Er betet an, und er ermisst, / dass Gottes Lieb' unendlich ist."