Wilhelm Busch

Die Suchaktion Gottes

Kurzgeschichten der Bibel

 

Die Geschichte einer Errettung

 

Psalm 116, 8: Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten.“

 

An dem lieblichen Ufer des Zürichsees liegt die Ortschaft Männedorf. Dort ist ein Erholungsheim, das der gesegnete Samuel Zeller gegründet und das nach ihm Alfred Zeller lange geleitet hat. Viele Bedrückte, Beladene, Kranke sind dort an Leib und Seele gesund geworden. Oft habe ich dort bei Bibelkursen mitgearbeitet.

Wenn ich an Männedorf denke, dann steht der große holzgetäfelte Speisesaal vor meiner Seele. Von der Wand grüßen Bibelsprüche, die eine dankbare Patientin dorthin malen ließ und die den Weg ihrer Heilung bezeichnen. Das letzte Wort lautet: „Du hast mein Auge von den Tränen gerissen …“ Als ich zum ersten Male von Alfred Zeller in diesen Speisesaal geleitet wurde, zeigte er auf diesen Spruch und sagte: „Viele haben das hier erfahren.“

Mich ergriff die Schönheit dieses Bibelworts, und ich fragte: „Wo steht denn das?“ „Im 116. Psalm.“

Da nahm ich mir nachher in meinem Zimmer die Bibel vor und schlug diesen Psalm auf. Er hat 19 Verse, und mittendrin steht dieser Vers: „Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten.“ Eine knappe, herzergreifende Kurzgeschichte! Sie erzählt in wenigen Worten die Geschichte einer Errettung.

 

1) Wie kam der Mann in die verzweifelte Lage?

 

Es muss ja wirklich eine verzweifelte Lage gewesen sein, in der der Psalmsänger gesteckt hat. Das spürt man aus jedem Wort unseres Verses. Darüber möchte man gern Näheres wissen. Man fragt sich: „Wie ist er in diese Lage gekommen?“

Nun muss im euch etwas Unerhörtes sagen: Der Mann ist in diese Lage nicht hineingekommen. Er war immer schon darin. Nur hat er das lange Zeit nicht gewusst. Das entscheidende Erlebnis war, dass ihm eines Tages die Augen dafür aufgingen. Was hier geschildert wird, ist nämlich die Lage des natürlichen Menschen, der noch nichts von göttlicher Errettung weiß. Seine Seele ist am Rand des ewigen Todes. Tief im Herzen herrscht eine abgründige Traurigkeit. Sein Fuß ist am Gleiten.

Das ist unser aller Lage. Das Erstaunliche ist, dass die meisten Menschen in dieser Situation weiterleben – man müsste schon eher sagen: weiterwursteln –, ohne dass sie sich ihres Elends bewusst werden.

Ich wünsche uns allen von Herzen, dass es uns geht wie diesem Psalmsänger: dass wir zu uns kommen – dass wir unsere verzweifelte Lage sehen – dass uns die Augen aufgehen und wir erkennen, wie es um uns steht.

Der Psalmist sagt, dass seine Seele am Rand des Todes war. Dabei ist nicht vom natürlichen Sterben die Rede. Der „Tod der Seele“ – das ist: für Zeit und Ewigkeit von Gott abgeschrieben sein. Ich las einmal die Geschichte, wie ein Mann sich in dunkler Nacht und im Gewittersturm im wilden Wald verirrt hat. Plötzlich zerreißt ein heller Blitz die Nacht; da erkennt er, dass er dicht über der Felswand eines Steinbruchs steht. – So ist es, wenn man zu sich kommt. Da erkennt man, dass man nur noch einen Schritt entfernt ist von dieser Verwerfung durch Gott.

Und weiter spricht der Mann von den Tränen in seinem Leben. Die meisten Leute machen sich gar nicht klar, dass sie im Grunde sehr unglücklich sind, dass eine Flut von Schwermut sie ständig bedroht. Woran liegt das? Einer der großen Evangelisten am Anfang unseres Jahrhunderts war Samuel Keller. Als junger Pfarrer in einer deutschen Kolonie Russlands war er ein eifriger Mann. Aber sein Herz wurde nicht froh in seiner Arbeit. Eines Tages schlug er die Bibel auf und las im 50. Psalm die Worte: „Was verkündigst du meine Rechte, so du doch Zucht hassest und wirfst meine Worte hinter dich?“ Da sah er mit einem Schlage, wo es in seinem Leben fehlte und warum sein Herz traurig war. Er fiel auf seine Knie. Und nun kamen ihm die Tränen auch in die Augen. – Ob das nicht auch ein Wort für uns ist?

Und weiter schildert der Psalmist seinen elenden Zustand so: „Mein Fuß war am Gleiten.“

Da fällt mir die Geschichte von meinem Urgroßvater ein. Als junger Bursche war er in eine leichtsinnige Gesellschaft geraten. In einem Winter traf sich das junge Volk auf einer Schlinderbahn. Er lebte nämlich in einem Dörflein, in dem es die Vergnügungen der Großstadt noch nicht gab. Doch ging es auch dort beim SchIindern bis tief in die Nacht böse zu.

Und dann träumte er eines Nachts, er sei mit seinem Freunde auf der Schlinderbahn. Sein Freund rutscht vor ihm her. Immer, immer schneller saust er. Er will einhalten, aber er kann nicht mehr. Plötzlich erkennt mein Urgroßvater mit Entsetzen, dass die Bahn in einen Abgrund hineinführt. Er sieht seinen Freund mit einem Schrei versinken. Verzweifelt schreit er auf – und da ergreift ihn plötzlich eine starke Hand und reißt ihn aus dem Gleiten. Er sieht auf und erkennt den Herrn Jesus.

Als er vom Traum erwachte, war er zu sich gekommen. Er verstand auf einmal das Bibelwort vom gleitenden Fuß. Ach, wie viele von uns sind auf einer solchen Bahn, die in den Abgrund führt!

 

2) Die starke Hand, die eingriff

 

Der junge Mann sah in seinem Traum die starke Hand Jesu. Von derselben Hand spricht unser Textwort: „Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen …“

Von dieser rettenden Hand möchte ich euch sagen. Es ist die Hand Gottes, die die Welt schuf und die am Kreuz für uns durchbohrt wurde. Diese Hand streckt sich uns entgegen. In demselben Augenblick, da wir zu uns kommen und unsere verzweifelte Lage erkennen, dürfen wir auf diese Hand Jesu sehen. Ich habe keine andere Botschaft als die von der rettenden Hand Jesu.

Kürzlich las ich einen interessanten Artikel. Darin wurde ausgeführt: Die Menschen werden heute mit den Problemen ihres Lebens nicht mehr fertig, mit der Ehe, mit dem Verhältnis zum Nächsten, mit dem Geld, mit den politischen Fragen. Und nun sagte der Schreiber, die Kirche würde gut tun, wenn sie nicht von abstrakten Dingen wie Gnade und Erlösung predigen wollte. Sie sollte vielmehr den Menschen helfen, mit den Problemen ihres Lebens fertig zu werden.

Was ist das für ein Unsinn! Sollte ich wirklich die Fragen des Lebens besser anpacken können nur, weil ich Theologie studiert habe? Sollen wir Prediger wirklich Ratgeber für billige Alltagsfragen werden?

Nein! Unser Textwort bezeugt uns den Einen, der die Seele aus dem Tode reißt, das Auge von den Tränen, den Fuß vom Gleiten. Und ich möchte euch die frohe Botschaft sagen: Der Herr Jesus will an uns dasselbe tun, was er an dem Psalmsänger getan hat.

 

3) Es ist dem Erretter nicht leicht geworden

 

Während ich diese Predigt vorbereitete, leitete ich eine Freizeit für höhere Schüler. Ich wohnte im „Haus der Begegnung“ in Mülheim. In der Halle vor meinem Zimmer hing eine wundervolle Reproduktion von jenem berühmten Gemälde, auf dem Michelangelo die Erschaffung Adams dargestellt hat. Da braust Gott gewaltig daher und berührt ganz leicht mit der Spitze seines Fingers den noch leblosen Adam. Diese Berührung erweckt den Adam zum Leben. Da musste im denken: „Die Erschaffung des Menschen ist Gott leicht gewesen.“ Das stellt der Maler hier großartig dar.

Und da mir unser Text vom „Herausreißen“ beständig durch den Sinn ging, musste ich weiter denken: Die Errettung des gefallenen Menschen hat Gott viel gekostet. Er sagt: „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden.“ Und unser Textwort sagt nicht: Der Herr berührte mich mit der Spitze seines Fingers, da wurde ich errettet. Nein, es spricht von „herausreißen“. Da spüren wir etwas von der Mühe Gottes. Er hat seinen Sohn Mensch werden lassen. Und der hat grauenvoll sterben müssen. Und dann hat ihn Gott erweckt. Und nun geht es buchstäblich darum, dass der Herr Jesus uns herausreißt aus unserem elenden Zustand.

Doch wir brauchen uns nicht zu sorgen. Wir dürfen nur glauben und unsere schwache Hand ausstrecken. Er hat die Kraft zum Herausreißen. Dass es doch auch unsere Geschichte würde: „Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten“! Dann sind wir ein Gotteskind, unser Herz ist fröhlich, und unser Fuß tut gewisse Tritte zur ewigen Gottesstadt.