Psalm 116, 8: Du hast meine Seele aus
dem Tode gerissen, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten.“
An
dem lieblichen Ufer des Zürichsees liegt die Ortschaft Männedorf. Dort ist ein
Erholungsheim, das der gesegnete Samuel Zeller gegründet und das nach ihm
Alfred Zeller lange geleitet hat. Viele Bedrückte, Beladene, Kranke sind dort
an Leib und Seele gesund geworden. Oft habe ich dort bei Bibelkursen mitgearbeitet.
Wenn
ich an Männedorf denke, dann steht der große holzgetäfelte Speisesaal vor
meiner Seele. Von der Wand grüßen Bibelsprüche, die eine dankbare Patientin
dorthin malen ließ und die den Weg ihrer Heilung bezeichnen. Das letzte Wort lautet:
„Du hast mein Auge von den Tränen gerissen …“ Als ich zum ersten Male von Alfred
Zeller in diesen Speisesaal geleitet wurde, zeigte er auf diesen Spruch und
sagte: „Viele haben das hier erfahren.“
Mich
ergriff die Schönheit dieses Bibelworts, und ich fragte: „Wo steht denn das?“ „Im
116. Psalm.“
Da
nahm ich mir nachher in meinem Zimmer die Bibel vor und schlug diesen Psalm
auf. Er hat 19 Verse, und mittendrin steht dieser Vers: „Du hast meine Seele
aus dem Tode gerissen, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten.“ Eine
knappe, herzergreifende Kurzgeschichte! Sie erzählt in wenigen Worten die
Geschichte einer Errettung.
1) Wie kam der Mann in die verzweifelte Lage?
Es
muss ja wirklich eine verzweifelte Lage gewesen sein, in der der Psalmsänger
gesteckt hat. Das spürt man aus jedem Wort unseres Verses. Darüber möchte man
gern Näheres wissen. Man fragt sich: „Wie ist er in diese Lage gekommen?“
Nun
muss im euch etwas Unerhörtes sagen: Der Mann ist in diese Lage nicht hineingekommen. Er war immer schon darin. Nur
hat er das lange Zeit nicht gewusst. Das entscheidende Erlebnis war, dass ihm
eines Tages die Augen dafür aufgingen. Was hier geschildert wird, ist nämlich
die Lage des natürlichen Menschen, der noch nichts von göttlicher Errettung weiß.
Seine Seele ist am Rand des ewigen Todes. Tief im Herzen herrscht eine
abgründige Traurigkeit. Sein Fuß ist am Gleiten.
Das
ist unser aller Lage. Das Erstaunliche ist, dass die meisten Menschen in dieser
Situation weiterleben – man müsste schon eher sagen: weiterwursteln –, ohne dass
sie sich ihres Elends bewusst werden.
Ich
wünsche uns allen von Herzen, dass es uns geht wie diesem Psalmsänger: dass wir
zu uns kommen – dass wir unsere verzweifelte Lage sehen – dass uns die Augen
aufgehen und wir erkennen, wie es um uns steht.
Der
Psalmist sagt, dass seine Seele am Rand des Todes war. Dabei ist nicht vom
natürlichen Sterben die Rede. Der „Tod der Seele“ – das ist: für Zeit und
Ewigkeit von Gott abgeschrieben sein. Ich las einmal die Geschichte, wie ein
Mann sich in dunkler Nacht und im Gewittersturm im wilden Wald verirrt hat.
Plötzlich zerreißt ein heller Blitz die Nacht; da erkennt er, dass er dicht
über der Felswand eines Steinbruchs steht. – So ist es, wenn man zu sich kommt.
Da erkennt man, dass man nur noch einen Schritt entfernt ist von dieser
Verwerfung durch Gott.
Und
weiter spricht der Mann von den Tränen in seinem Leben. Die meisten Leute
machen sich gar nicht klar, dass sie im Grunde sehr unglücklich sind, dass eine
Flut von Schwermut sie ständig bedroht. Woran liegt das? Einer der großen
Evangelisten am Anfang unseres Jahrhunderts war Samuel Keller. Als junger
Pfarrer in einer deutschen Kolonie Russlands war er ein eifriger Mann. Aber
sein Herz wurde nicht froh in seiner Arbeit. Eines Tages schlug er die Bibel auf
und las im 50. Psalm die Worte: „Was verkündigst du meine Rechte, so du doch
Zucht hassest und wirfst meine Worte hinter dich?“ Da sah er mit einem Schlage,
wo es in seinem Leben fehlte und warum sein Herz traurig war. Er fiel auf seine
Knie. Und nun kamen ihm die Tränen auch in die Augen. – Ob das nicht auch ein
Wort für uns ist?
Und
weiter schildert der Psalmist seinen elenden Zustand so: „Mein Fuß war am
Gleiten.“
Da
fällt mir die Geschichte von meinem Urgroßvater ein. Als junger Bursche war er
in eine leichtsinnige Gesellschaft geraten. In einem Winter traf sich das junge
Volk auf einer Schlinderbahn. Er lebte nämlich in
einem Dörflein, in dem es die Vergnügungen der Großstadt noch nicht gab. Doch
ging es auch dort beim SchIindern
bis tief in die Nacht böse zu.
Und
dann träumte er eines Nachts, er sei mit seinem Freunde auf der Schlinderbahn. Sein Freund rutscht vor ihm her. Immer, immer
schneller saust er. Er will einhalten, aber er kann nicht mehr. Plötzlich
erkennt mein Urgroßvater mit Entsetzen, dass die Bahn in einen Abgrund
hineinführt. Er sieht seinen Freund mit einem Schrei versinken. Verzweifelt
schreit er auf – und da ergreift ihn plötzlich eine starke Hand und reißt ihn
aus dem Gleiten. Er sieht auf und erkennt den Herrn Jesus.
Als
er vom Traum erwachte, war er zu sich gekommen. Er verstand auf einmal das
Bibelwort vom gleitenden Fuß. Ach, wie viele von uns sind auf einer solchen
Bahn, die in den Abgrund führt!
2) Die starke Hand, die eingriff
Der
junge Mann sah in seinem Traum die starke Hand Jesu. Von derselben Hand spricht
unser Textwort: „Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen …“
Von
dieser rettenden Hand möchte ich euch sagen. Es ist die Hand Gottes, die die
Welt schuf und die am Kreuz für uns durchbohrt wurde. Diese Hand streckt sich uns
entgegen. In demselben Augenblick, da wir zu uns kommen und unsere verzweifelte
Lage erkennen, dürfen wir auf diese Hand Jesu sehen. Ich habe keine andere
Botschaft als die von der rettenden Hand Jesu.
Kürzlich
las ich einen interessanten Artikel. Darin wurde ausgeführt: Die Menschen
werden heute mit den Problemen ihres Lebens nicht mehr fertig, mit der Ehe, mit
dem Verhältnis zum Nächsten, mit dem Geld, mit den politischen Fragen. Und nun sagte
der Schreiber, die Kirche würde gut tun, wenn sie nicht von abstrakten Dingen
wie Gnade und Erlösung predigen wollte. Sie sollte vielmehr den Menschen
helfen, mit den Problemen ihres Lebens fertig zu werden.
Was
ist das für ein Unsinn! Sollte ich wirklich die Fragen des Lebens besser
anpacken können nur, weil ich Theologie studiert habe? Sollen wir Prediger
wirklich Ratgeber für billige Alltagsfragen werden?
Nein!
Unser Textwort bezeugt uns den Einen, der die Seele aus dem Tode reißt, das
Auge von den Tränen, den Fuß vom Gleiten. Und ich möchte euch die frohe Botschaft
sagen: Der Herr Jesus will an uns dasselbe tun, was er an dem Psalmsänger getan
hat.
3) Es ist dem Erretter nicht leicht geworden
Während
ich diese Predigt vorbereitete, leitete ich eine Freizeit für höhere Schüler.
Ich wohnte im „Haus der Begegnung“ in Mülheim. In der Halle vor meinem Zimmer
hing eine wundervolle Reproduktion von jenem berühmten Gemälde, auf dem Michelangelo
die Erschaffung Adams dargestellt hat. Da braust Gott gewaltig daher und
berührt ganz leicht mit der Spitze seines Fingers den noch leblosen Adam. Diese
Berührung erweckt den Adam zum Leben. Da musste im denken: „Die Erschaffung des Menschen ist Gott leicht
gewesen.“ Das stellt der Maler hier großartig dar.
Und
da mir unser Text vom „Herausreißen“ beständig durch den Sinn ging, musste ich
weiter denken: Die Errettung des gefallenen Menschen hat Gott viel
gekostet. Er sagt: „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden.“ Und unser
Textwort sagt nicht: Der Herr berührte mich mit der Spitze seines Fingers, da
wurde ich errettet. Nein, es spricht von „herausreißen“. Da spüren wir etwas
von der Mühe Gottes. Er hat seinen Sohn Mensch werden lassen. Und der hat
grauenvoll sterben müssen. Und dann hat ihn Gott erweckt. Und nun geht es buchstäblich
darum, dass der Herr Jesus uns herausreißt aus unserem elenden Zustand.
Doch
wir brauchen uns nicht zu sorgen. Wir dürfen nur glauben und unsere schwache
Hand ausstrecken. Er hat die Kraft zum Herausreißen. Dass es doch auch unsere
Geschichte würde: „Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen, mein Auge von den
Tränen, meinen Fuß vom Gleiten“! Dann sind wir ein Gotteskind, unser Herz ist
fröhlich, und unser Fuß tut gewisse Tritte zur ewigen Gottesstadt.