Johannes 14, 8-9: „Philippus spricht zu
Jesus: Herr, zeige uns den Vater, so genüget uns. Jesus spricht zu ihm: So lange
bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der
sieht den Vater.“
Ich
habe mir lange überlegt, ob man diese Kurzgeschichte in einer großen
Versammlung auslegen darf. Instinktiv habe ich das Gefühl, dieses Gespräch
könne man nur für sich allein lesen. Wenn man zufällig Zeuge wird, wie ein paar
ganz gute Freunde sich über die tiefsten Dinge aussprechen, wäre es doch sehr
indiskret, dies Gespräch in die Öffentlichkeit zu bringen.
Und
hier haben wir ein ganz vertrautes Gespräch des Herrn Jesus mit seinen Jüngern.
Es ist kein Fremder mehr dabei. Und es ist dazu ein Gespräch, das unter einer
eigenartigen Bedrückung steht: Jesus weiß es, und die Jünger ahnen es, dass Jesus
wenige Stunden später verlassen am Kreuz hängen wird. Alles, was in solch einer
Stunde gesprochen wird, bekommt einen besonderen Klang. Da öffnen sich die
Herzen in besonderer Weise.
Aber
nun hat es dem Heiligen Geist gefallen, uns dieses Gespräch in der Bibel
mitzuteilen, die aller Welt und besonders der Gemeinde gehört. Darum dürfen wir
daran teilhaben. Doch wir müssen uns klarmachen: Es handelt sich um etwas höchst
Bedeutsames.
1) „Zeige uns den Vater!“
Das
„Abendmahl“ war zu Ende. Judas war hinausgegangen. Nun beginnt der Herr die
wundervolle Rede, die unter dem Namen „Abschiedsrede“ in der Gemeinde Jesu eine
große Rolle spielt. Da wird er mitten im Satz fast unterbrochen von dem Philippus.
Man spürt dessen Worten an, was in ihm vorgeht. Es ist ihm bis zur Qual
unerträglich, wie selbstverständlich Jesus von Gott
spricht. Gott! – das ist ein großes Problem. Gott! – um den muss man ringen,
ohne zur Klarheit zu kommen. Gott! – seine Wege sind so dunkel. Und er ist so
unsichtbar und ungreifbar!
Erregt
fährt er heraus: „Zeige uns den Vater, so genügt uns.“ Der Philippus spricht in
diesem Augenblick für Millionen.
„Zeige
uns den Vater!“ So sagt auch der Unglaube. Wie oft habe ich das anhören müssen
aus dem Mund spottender Männer: „Wo soll denn Gott sein? Ich habe ihn noch nie
gesehen. Die größten Fernrohre haben ihn nicht entdeckt. Zeigen Sie mir doch
Gott!“ Ja, so sagt der Unglaube.
Und
so spricht auch die brennende Sehnsucht. Im Psalmbuch beginnt ein altes Lied: „Wie
der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, nach
dir!“ Hier ruft ein Mensch, der in große Dunkelheit gekommen ist und der weiß: Wenn
ich die Hand Gottes sehen könnte, wäre alles gut. Aber – wo ist er? „Zeige mir
den Vater!“ Ja, so spricht die unendliche Sehnsucht der Menschenherzen.
„Zeige
uns den Vater!“ So sagen auch die Leute, die gern die Wahrheit wissen möchten.
Als junger Hilfsprediger saß ich einmal einem gebildeten Mann gegenüber. Der
erklärte mir: „Ich will nichts mehr hören von Gott. Als junger Mann sah ich die
vielen Religionen, ich sah streitende Pfarrer. Und dann musste ich fragen: ,Was ist denn nun wirklich? Lebt Gott?' Ich bin darüber in
solche Verzweiflung gekommen, dass ich (– hier zog er eine Haarsträhne
beiseite, die die Stirnseite verdeckte. Ich sah eine grässliche Narbe –) mir
eine Kugel in den Kopf jagen wollte. Jetzt frage ich nicht mehr. Man kann
nichts wissen.“ Ich sah im Geist den suchenden jungen Mann vor mir, dessen Herz
die Wahrheit erkennen will und ruft: „Zeige mir den Vater!“
Ja,
als Philippus dies Wort sprach, sprach er im Namen von sehr vielen.
2) „Wer mich sieht, sieht den Vater!“
Die
Antwort, die der Herr Jesus dem Philippus gab, sollte die ganze Welt, soweit
sie sich nicht das Denken abgewöhnt hat, aufhorchen lassen. Hier ist eine der
Stellen, wo das Unerhörte der neutestamentlichen Botschaft recht deutlich wird.
Philippus
ärgert sich, dass Jesus so selbstverständlich vom „Vater“ spricht. Und er
platzt förmlich dazwischen: „Zeige uns den Vater, so genügt uns.“ Nun würde
unsere Vernunft erwarten, dass Jesus ihm klarmacht: Ja, mein lieber Philippus, zeigen
kann ich dir den Vater natürlich nicht. Denn er ist unsichtbar. Niemand hat
Gott je gesehen. Geh in die Natur, da findest du die Spuren seines Tuns. Horche in dich hinein. Dann fühlst du ihn. – Solch
eine Rede würde man doch erwarten.
Aber
nichts dergleichen. „Zeige uns den Vater!“ sagt Philippus. Und fast fröhlich
antwortet Jesus: „Gern! Wenn du nicht so stumpf wärest, hättest du ihn längst
gesehen. Sieh mim an – und du siehst den Vater!“
Deutlicher
kann Jesus nicht sagen, dass in ihm der wirkliche Gott unter uns getreten ist.
Das
also antworten wir dem Unglauben, wenn er höhnend fragt: „Könnt ihr uns denn
Gott zeigen?“ – „Ja, sieh Jesus an, da siehst du Gott!“ Das wollen wir allen
Sehnsüchtigen und Suchenden sagen, welche fragen: „Wo findet man Gott?“ Wir
rufen allen zu: „Seht doch Jesus an! Da habt ihr den lebendigen Gott!“ Seitdem
Gott sich in Jesus offenbart hat, sind alle Gottesleugnung und aller Zweifel an
Gott nur noch Unwissenheit oder Bosheit.
Ich
möchte das, was Jesus hier sagt, an einem simplen Beispiel deutlich machen. Vor
einer Haustür unterhalten sich zwei Frauen. Zu ihnen tritt ein Fremder und
fragt: „Wohnt hier im Hause Frau Müller?“ Die eine Frau zuckt die Achseln und antwortet:
„Kenne ich nicht. Ich weiß überhaupt nicht, ob es eine Frau Müller gibt.“ Sagt
die andere: „Natürlich gibt's ne Frau Müller. Aber – ob die hier wohnt, weiß
ich nicht.“ In dem Augenblick geht die Tür auf. Eine Frau erscheint und
erklärt: „lm höre gerade meinen Namen. Ich bin Frau Müller.“ Nicht wahr, in dem
Moment ist alles klar. Frau Müller ist kein Diskussionsgegenstand mehr, weil
sie selber erschienen ist.
So
ist der lebendige Gott kein Problem und kein Diskussionsgegenstand mehr; denn
er ist selber erschienen – in Jesus. „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“
Vielleicht
wendet jetzt jemand ein: „Nun, davon hatten die Jünger etwas; denn die sahen
Jesus. Wir sehen aber auch ihn nicht.“
Darauf
antworte ich: Das ist das Wunderbare und Eigenartige und Göttliche am Neuen
Testament: Wenn ein Mensch mit hungrigem und aufrichtigem Herzen darin liest,
dann sieht er den Herrn Jesus. Und dann sieht er den Vater. Wie häufig kritisiert
ein Gelehrter nörgelnd am Neuen Testament herum und – merkt nichts. Aber da
liest einer mit hungriger Seele und – sieht Jesus. Und – wer ihn sieht, sieht
den Vater.
3) „Vater“
Vielleicht
habe ich bisher den Philippus doch noch nicht ganz richtig geschildert. Wir
kennen ihn aus der Bibel und wissen, dass er ein einfacher, gläubiger Mensch
war. Er hat sicher keinen Augenblick an Gott gezweifelt. Im Gegenteil! Er
kannte nur zu gut Gottes strenge Heiligkeit. Und darum hatte er Angst vor Gott.
Bei ihm hieß es wie bei David: „Meine Sünde ist immer vor mir.“ Es ging ihm,
wie es dem jungen Luther ging. Als er Gott erkannte, lernte er ihn fürchten.
Wer das nicht durchgemacht hat, hat keine Ahnung von Gott, „der Leib und Seele
verderben kann in die Hölle“.
Und
nun hört der Philippus Jesus immer vom „Vater“ reden. Das war für das erweckte
und unruhige Gewissen des Jüngers eine unerhörte Sache. „Jesus!“ wendet er ein,
„du sagst jetzt gar nicht mehr ,Gott’. Du sagst immer ,Vater'. O, wie muss das herrlich sein, keine Angst
mehr vor Gott zu haben! Wie muss das schön sein, sagen zu können: ,Abba, lieber Vater!'“
Es
sind auch unter uns Leute, deren Herz schreit nach Frieden mit Gott! Leute, die
nichts lieber möchten, als Kinder des lebendigen Gottes sein. Die verstehen den
Aufschrei des Philippus: „Zeige uns Gott als Vater!“
Ihnen
allen antwortet Jesus: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Der sieht die ganze Liebe Gottes. Der versteht den 103.
Psalm: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über
die, so Angst vor ihm haben.“
Auf
Jesus dürfen wir sehen – und wir sehen die ausgebreiteten Arme des Vaters – für
uns offen. Sieh Jesus am Kreuz – und du siehst, dass sich Gott über dich
erbarmt, wie sich ein Vater über Kinder erbarmt.
Ich
habe mich nie um die Schularbeiten meiner Kinder gekümmert. Aber als ich einst
eins weinen sah, sagte ich sofort: „Ich will dir helfen.“ So sagen Väter. So
sagt Gott, der Vater – und gibt seinen Sohn ans Kreuz. Hier wird uns herrlich
geholfen.