Apostelgeschichte 8, 2: „Es bestatteten
aber Stephanus gottesfürchtige Männer und hielten eine große Klage über ihn.“
Ist
denn das nun ein Text für eine Predigt? Da kommt ja Gott überhaupt nicht vor!
Und der Name des Herrn Jesus auch nicht! Gegen eine solche Textwahl sollte man
doch Einspruch erheben.
Nun,
die Bibel will ein Doppeltes: Sie will uns das Tun des lebendigen Gottes
zeigen. Sie will uns aber auch unser eigenes Herz aufdecken. Vielleicht hilft
dieser Text manch einem, dass er sich selbst ein wenig kennen lernt.
Gewiss
denken jetzt viele von uns: „Mich selbst kenne ich doch!“ Bitte, sagt das nicht
so schnell! Nichts ist uns unbekannter als unser eigenes Herz. Die alten
griechischen Philosophen haben das als geradezu quälend empfunden. Darum mahnten
sie die Menschen: „Erkenne dich selbst!“
Es
gibt auf der ganzen Erde nichts, was uns unser eigenes Herz so deutlich zeigt
wie die Bibel. Sie ist ein ungetrübter Spiegel, in dem wir uns erkennen können.
In
unserem Text finden wir große Männer mit kleinen Herzen.
1) Eine bewundernswerte Tat
Durch
die Gassen Jerusalems raste die Christenverfolgung. Die führenden Männer hatten
die Besinnung verloren, und der Mob war mobilisiert. Ich kann mir vorstellen,
wie es dabei zuging. Im Jahre 1933 sah ich einmal einen Menschenhaufen durch
die Straßen jagen, Männer mit Knüppeln in den Händen und Mord in den Augen,
Frauen mit glasigen Augen und schreiende Halbstarke. Ich hielt einen an: „Was
gibt's“? Da brüllte er: „Da vorn ist ein Kommunist!“
So
war's in Jerusalem. „Da ist ein Christ!“ brüllte man. „Schlagt ihn tot, den Hund!“
Vor unserm Text heißt es: „Es erhob
sich eine große Verfolgung über die Gemeinde. Und sie zerstreuten sich alle in
die Länder …“ Und hinter unserm Text
wird berichtet: „Saulus aber verstörte die Gemeinde, ging in die Häuser und zog
hervor Männer und Weiber …“
Und
draußen vor den Toren lag verlassen die zerschmetterte Leiche des jungen
Stephanus, den die Wut des Volkes gesteinigt hatte.
Da
nun geschieht das Erstaunliche: „Es bestattete aber den Stephanus
gottesfürchtige Männer …“ Diese Männer also waren nicht Christen. Die Christen
waren längst geflohen oder tot. Nein! es waren fromme, aufrechte Männer aus
Israel. Es waren Männer, die Gott ernst nahmen.
Diese
Männer waren nicht dem unheimlichen Fanatismus verfallen. Wie gefährlich sind
doch die Massen! Vom Winde bewegt werden sie dahingetrieben
und kämpfen blindlings gegen irgendetwas. Schiller sagte: „Gefährlich ist's,
den Leu zu wecken, / Verderblich ist des Tigers Zahn. / Jedoch der
schrecklichste der Schrecken, / Das ist der Mensch in seinem Wahn.“
Sehen
wir uns vor: Oft werden wir mitgetrieben und merken es gar nicht. Ich hörte
einmal das nette Verschen: „Seitdem bei Schiller ist zu lesen: / ,Verstand ist stets bei Wen'gen
nur gewesen', / Glaubt die Menge wahnbetört, / Dass sie zur Minderheit gehört.“
Seht
doch diese ernsten Männer, die den Stephanus begraben. Sie haben sich in
Gottesfurcht freigehalten vom ansteckenden Fanatismus. Und ihre Gottesfurcht
macht sie mutig. Die feierliche Beerdigung des Stephanus ist ein Protest gegen
die Masse und gegen die Obrigkeit: „Ihr tut, was nicht recht ist vor Gott.“
Was
für wertvolle, aufrechte Männer waren das! Sie hätten ja denken können: „Wir
sind keine Christen. Was geht uns der tote Stephanus an!“ Weil sie
gottesfürchtig waren, sagten sie vielmehr: „Man muss tapfer tun, was recht ist.“
Und so gingen sie unter den finsteren Blicken der wütenden Menge vor das Tor und
holten die Leiche des Stephanus.
Wie
hätten wir uns verhalten? Leben auch wir in dieser Gottesfurcht, die frei macht
von Menschenfurcht?
2) Und doch – kleine Herzen!
Es
fällt mir schwer, diese großartigen, innerlich freien Männer zu kritisieren.
Und doch muss ich es tun.
Sie
mussten kleine Herzen haben, wenn ihnen überhaupt nichts davon aufgegangen war,
wie durch den Tod des Stephanus der starke Ruf des Evangeliums zu ihnen kam.
Man kann doch solch einen Mann nicht begraben, ohne dass man sein Ende ansieht.
Wie war denn das? Das ganze Sterben war eine unerhörte Evangeliumspredigt. All
das Neue, das mit dem Evangelium in die Welt gekommen ist, wurde hier offenbar.
Mit
dem Namen „Jesus“ auf den Lippen war Stephanus gestorben. Und während die
tobende Masse ihre Steine auf ihn schleuderte, hatte er niedersinkend sie
geliebt – jawohl – geliebt, und hatte für sie gebetet. Sterbend hatte er
gerufen: „Ich sehe den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen.“ Von
einem offenen Himmel wussten diese wackeren Männer nichts. Sie wandelten in Gottesfurcht;
aber Gottes errettende Liebe in Jesus kannten sie nicht.
Nun
trugen sie finster und tapfer die Leiche des Stephanus davon. Aber von dem
herrlichen Evangelium merkten sie nicht eine Spur.
Sie
blieben in der Furcht Gottes. Aber von der Gnade und der Liebe Gottes in Jesus
sahen sie nichts. Sie sahen nichts von der Erlösung durch den Gekreuzigten. Sie
trugen die Leiche eines Zeugen davon und blieben doch unberührt von seinem Zeugnis.
Wie
kümmerlich klein ist doch so ein Herz! Da hören wir: „Seht, welch eine Liebe
hat der Vater erzeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!“ – und wir finden
diese Botschaft unaktuell und langweilig. Da hören wir: „Jesus Christus ist gekommen
in die Welt, die Sünder zu erretten“ – wir aber gähnen innerlich und denken: „Wenn
ich nur das Geld hätte, mir einen schonen Wagen zu kaufen.“ Da hören wir: „So sehr
hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab“ – und wir
denken heimlich: „Der Pastor sollte lieber mal über die steigenden Lebensmittel-Preise
predigen.“
O
unsere engen Herzen !
Wie
kommt das eigentlich, dass diese Männer, die den Stephanus begruben, So
vermauert waren gegen das herrliche Evangelium? Woran liegt das – auch bei uns?
Das
bleibt so lange so, als unser Herz unzerbrochen ist. solange wir das Leben als
einen kleinen Spaziergang ansehen, – solange wir das Wort ,Sünde'
als komisch empfinden, – solange wir nichts merken von der Schrecklichkeit Gottes,
bleibt unser Herz klein. Aber es kann zerbrechen – an der Gewalt des Lebens, an
der Grausamkeit des Todes, an der Erkenntnis unserer Schuld, an der
Wirklichkeit Gottes. Und dann – ja, dann hören wir das Evangelium: „Der Herr
ist nahe den zerbrochenen Herzen.“
3) Eine unpassende Trauerfeier
„…
und hielten eine große Klage über ihn.“ Wirklich, eine Beerdigung mit allem,
was dazugehört: Klageweiber und Jammer und Tränen! So etwas versteht man im
Orient großartig aufzuziehen.
Noch
einmal muss ich den Mut dieser wackeren Männer bewundern. In diesem Augenblick,
wo der Fanatismus gegen die Christen rauchte, hätten sie allen Grund gehabt,
die Sache möglichst geräuschlos zu machen. Aber – nichts da! Diese
gottesfürchtigen Männer kannten keine Menschenfurcht. Herrlich ist das!
Und
doch! Sie machen es noch einmal peinlich klar, dass sie nicht eine Spur gehört
haben von dem, was der sterbende Stephanus bezeugt hatte. Seht, in der ersten
Christenheit bekannte man: „Jesus sitzt
zur Rechten Gottes.“ Stephanus aber hatte im Sterben gerufen: „Ich sehe den
Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen.“
Das heißt: „Jetzt holt er mich heim.“
Hier
wurde ein Mann begraben, der eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens hatte und
der mit seinem ganzen Leben seinen Heiland verherrlicht hatte. Was war denn da
zu klagen? Sie aber „machten eine große Klage“. Verständnislose blinde Welt!
So
großartig diese Männer waren, ich möchte es nicht mit ihnen halten, sondern
lieber mit dem Stephanus. Ich möchte beten wie jener Liederdichter: „Schenk
gleich Stephanus uns Frieden mitten in der Angst der Welt, / wenn das Los, das
uns beschieden, in den schwersten Kampf uns stellt. / In dem rasenden Getümmel
schenk uns Glaubensheiterkeit, / öffn im Sterben uns den Himmel, zeig uns Jesu
Herrlichkeit.“