2. Timotheus 4, 13: „Den Mantel, den
ich zu Troas ließ bei Karpus, bringe mit, wenn du
kommst, und die Bücher, sonderlich die Pergamente.“
„Nun,
was kommt denn am nächsten Sonntag für eine Kurzgeschichte dran?“ fragte mich
jemand in dieser Woche.
„Die
Geschichte von dem zurückgelassenen Mantel“, antwortete ich.
„Wo
kommt denn die in der Bibel vor?“ – „In einem Brief des Paulus“, erwiderte ich.
„Paulus schrieb von Rom an seinen jungen Freund Timotheus: „Bring mir den
Mantel und die Pergamente mit, die ich bei Karpus in
Troas zurückließ.“
Darauf
lachte der Frager und meinte: „Da bekommen wir also eine Predigt über die Vergesslichkeit.
Wie schön, dass es sogar solch einem großen Mann wie dem Paulus passiert ist, dass
er seinen Mantel bei der Abreise vergessen hat!“
Da
musste ich auch lachen. Mir fielen all die Ferien-Reisenden ein, die eine halbe
Stunde nach der Abfahrt aufschreien: „O! Jetzt habe ich doch etwas vergessen!“
Mir fielen alle Regenschirme, Aktentaschen und Mäntel ein, die im Laufe der Jahrhunderte
vergessen wurden oder hängen blieben.
Gehört
da hinein des Paulus Mantel? O nein! Als ich dieser kleinen Briefnotiz
nachforschte, ging mir auf: Hier bekommen wir einen tiefen Einblick in einen
wirklichen Christenstand.
1) Das deponierte Gepäck
Zunächst:
Es handelt sich nicht nur um einen Mantel, sondern auch um Pergamente. Im Allgemeinen
schrieb man damals auf Papyrus. Pergamente waren wertvoll. Ich nehme nicht an, dass
es sich bei diesen Pergamenten um Briefe oder Notizen und Aufzeichnungen des
Paulus handelte. Ich bin überzeugt, dass er von Kostbarem spricht,
wahrscheinlich von biblischen Büchern des Alten Testaments.
Den
Mantel und die Pergamente hatte Paulus nicht in Vergesslichkeit liegen lassen –
so wie wir einen Regenschirm stehen lassen. Nein! Er hatte dies Eigentum bei
seinem Glaubensbruder Karpus in Troas deponiert.
Die
Apostelgeschichte gibt uns Hinweise darauf, wann das geschah. Paulus hatte
seine dritte große Missionsreise fast vollendet. Auf dieser Fahrt merkte er,
wie die Feindschaft gegen das Evangelium zunahm. Als er in Griechenland ein Schiff
zur Heimfahrt besteigen wollte, musste er umkehren, weil er erfuhr, dass man
ihm dort nach dem Leben trachtete. So machte er einen Umweg über Mazedonien und
Kleinasien.
Auf
dieser Reise nun geschah etwas Seltsames: In irgendeiner Weise hat der erhöhte
Herr Jesus ihm deutlich gemacht: „Paulus, du kannst dem Leiden jetzt nicht mehr
ausweichen, wenn du mich nicht verleugnen willst. Jetzt wird es ernst. Jetzt musst
du mir das Kreuz nachtragen. Jetzt geht es ins Gefängnis und in den Tod!“
Paulus hat seinen Freunden in Milet davon berichtet: „Der Heilige Geist bezeugt
in allen Städten, dass Bande und Trübsale auf mich warten.“
Was
nun? Ich erinnere mich, wie mich in Kanada einmal ein Farmer einlud, mit ihm zu
fahren. Und dann kam er mit einer Karre an, die mich erschreckte. Zuerst sah
ich zwei halbwilde Pferde. Hinter denen hing ein Klappergestell das jeden Augenblick
auseinander brechen konnte. Damit sollte es über die Prärie gehen, wo es keine
Straßen gibt?! Der Farmer winkte mich auf den hohen Bock. Ich schüttelte den
Kopf. Ich hatte hinten am Wagen einen kleinen Tritt entdeckt. Auf den stellte
ich mich mit einem Fuß. Wenn die Karre zusammenbrach, konnte ich vorher
abspringen.
Ist
so nicht unser Christenstand? Wenn's ernst wird, springen wir ab.
Wie
anders der Paulus! Als er sieht: Jetzt geht es ins Leiden für Jesus – macht er
sich bereit. Wie ein Soldat vor dem Sturm deponiert er Mantel und Pergamente in
Troas. Dies deponierte Gepäck redet erschütternd von der Bereitschaft eines
Jesus-Jüngers. Kurz nachher sagt er das Wort: „Ich achte der keines; ich halte
mein Leben auch nicht selbst teuer, dass ich vollende meinen Lauf mit Freuden.“
Der Herr Jesus, sein Heil, seine Versöhnung, die Kindschaft bei Gott – all das
war ihm wichtiger und lieber als sein Leben.
Hier
drängt sich jedem die Frage auf: „Wie viel ist mir Jesus wert?“ Daran können
wir ermessen, wie es um unseren Christenstand bestellt ist.
2) Das ersehnte Gepäck
Drei
Jahre sind vergangen, seitdem Paulus Mantel und Pergamente in Troas zurückließ.
Es liegt viel in diesen drei Jahren: Die tumultuarische Verhaftung in
Jerusalem, unheimliche Mordanschläge, zwei Gefängnisjahre in Cäsarea, Verhöre vor Königen und römischen Statthaltern,
Schiffsreise nach Rom, Schiffbruch und wunderbare Rettung. Und nun sitzt Paulus
schon ein Jahr im Kerker in der Weltstadt. Sein erstes Verhör vor dem Kaiser
ist vorüber. Kerker! Warten! Warten!
Da
schreibt er diesen Brief. Er lässt uns hineinsehen in viel Herzensnot: „Demas
hat mim verlassen und die Welt lieb gewonnen.“ „Alexander, der Schmied, hat mir
viel Böses bewiesen.“ „Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei.“ Hinter
solchen Sätzen stehen viel Einsamkeit und Enttäuschungen. In diesem Zusammenhang
ist ergreifend unser Text. „Bringe mir meinen Mantel. Es ist kalt. Mich friert.“
Und: „Bringe mir meine Pergamente. Mein Geist quält sich in der Einsamkeit. Ich
brauche geistliche Nahrung.“
Versteht
ihr? Die kleine Briefnotiz lässt uns ahnen, wie dieser Jesus-Jünger an Leib und
Geist Not leidet. Zwar sagt sie es nicht offen. Aber sie lässt es uns ahnen.
Ein
Jesus-Jünger in großer Dunkelheit! Geht der Herr so mit seinen Leuten um? Ja, so
geht er mit ihnen um.
Ich
glaube nicht, dass es Jesus-Jünger geben kann, denen die dunklen Einsamkeiten,
die finsteren Nächte, die tiefen Täler, die Kreuzeswege erspart bleiben. Jesus-Jünger
kennen die Stunden, wo es uns friert – und kein Mantel kann uns wärmen; wo man
sich sehnt nach einem einzigen Wörtlein aus den Pergamenten der Bibel – und es
will keines sprechen.
Seht,
in diesem Zusammenhang ist mir ein kleines Wort in der Umgebung unseres Textes
aufgefallen: „Der Herr Jesus sei mit deinem Geiste.“ Das ist aus der Tiefe
geschöpft. Da weiß man in der Dunkelheit: Jesus lebt, ist Wirklichkeit. Da weiß
man: Er lässt sich seine erkauften Schafe nicht rauben. Da fühlt man seinen
Frieden wie einen Strom. Da lacht man heimlich doch über Welt und Teufel, weil deren
Macht durch die Vergebung der Sünden gebrochen ist. Da schaut man durch den
Horizont und sagt: „Der Herr wird mir aushelfen zu seinem himmlischen Reich.“
Jesus-Jünger sind auch in der dunkelsten Nacht nicht verloren. Das ist ihr
tiefstes Geheimnis, in das der Teufel nicht eindringen kann
3) Das überbrachte Gepäck
Kein
Brief des Paulus spricht so viel von der Enttäuschung an Christen wie dieser
zweite Timotheus-Brief. Das macht ihn so beunruhigend.
Aber
gerade darum ist unser Text so schön. Denn er bezeugt: Da sind doch Brüder. Die
Gemeinde Jesu Christi ist doch eine Wirklichkeit in dieser verlorenen Welt. Da
ist ein Karpus in Troas, der dem Paulus sein Eigentum
treu bewahrt. Wie, wenn man bei ihm Haussuchung machte? Die Christen sind nun doch
alle verdächtig in dem totalen römischen Staat. Und da ist der junge Bruder
Timotheus, der den Paulus im Kerker besuchen und ihm sein tröstliches Gepäck
bringen wird. Weiß er denn nicht, wie er sich damit gefährdet? Er weiß es und sagt:
„Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht, denn es ist eine Kraft
Gottes, die da selig macht.“
Bekehrt
euch nur zum Herrn Jesus! Dann werdet ihr entdecken: Die Gemeinde Jesu ist eine
Wirklichkeit. Sie ist nicht eine Organisation, sondern eine geistliche
Wirklichkeit. Und alle Kinder Gottes singen mit Tersteegen:
„O wie lieb ich, Herr, die Deinen, / die dich kennen, die dich meinen, / o wie köstlich
sind sie mir. / Du weißt, wie mich’s oft erquicket, /
wenn ich Seelen hab erblicket, / die sich ganz ergeben dir.“