Wilhelm Busch – Eine total neue Auffassung vom Tod

 

Totensonntag 1944

»Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein

Gewinn.« (Philipper 1, 21)

 

Totensonntag im Jahr des Massensterbens 1944! Was soll man da sagen? Man möchte sein Haupt verhüllen und mit Jeremia klagen: »Oh, dass ich Wasser genug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären, dass ich Tag und Nacht beweinte die Erschlagenen in meinem Volke« (Jeremia 8, 23).

Es ist ja wohl keiner hier, der nicht einen Toten zu beweinen hätte.

Nun soll ich euch einen Trost geben. Ach, wie kann ich das, der ich selber hungere nach Trost! Ich kann euch nur hin­weisen auf unseren Heiland. Ja, er kann überschwenglich trösten. Er kann unser trauriges Herz so mit himmlischem Frieden erfüllen, dass, wenn auch die Augen voll Tränen sind, das Herz doch voll Jauchzen anbetet. Aber vielleicht will er uns gar nicht trösten! Vielleicht will er, dass wir endlich begreifen: er geht mit uns ins Gericht. Vielleicht gleichen wir einer belagerten Stadt. Gott be­lagert uns und schießt uns alles zusammen. Da gibt's nur eines: dass man vor dem schrecklichen Gott die weiße Fahne zieht und sich ergibt.

Aber an diesem Totensonntag 1944 haben wir nicht nur von den Todesnachrichten zu sprechen, die uns betrübt haben. Nein! Wir selber sind alle in nie da gewesener Weise vom Tod bedroht. In meine Vorbereitung hinein heulten die Sirenen immer wieder »akute Luftgefahr«. Und nun sitzt das Grauen des Todes den Menschen im Genick.

Schon zweimal sind Menschen an den Bunkern zu Tode ge­quetscht worden. Welch ein Todesgrauen muss die Men­schen erfüllen, dass sie so bestialisch werden! Und da hinein tönt nun dies Wort der Schrift: »Mir ist Sterben Gewinn.«

Das ist ja unerhört, so unerhört, dass einem der Atem stockt.

 

1. So kann nur einer sprechen, der das Sterben kennt

Ja, gibt es denn das, dass einer das Sterben schon hinter sich hat und nun davon berichten kann? Nicht wahr, so war es doch beim Lazarus und beim Jüngling zu Nain. Die hatten das Sterben erlebt, und der Herr Jesus hatte sie wieder erweckt. Eigentlich unheimliche Leute! Nun, so unheimliche Leute sind die wahren Christen. Paulus sagt zur Gemeinde in Kolossä (3, 3): »Ihr seid Ge­storbene!« Dabei liefen sie in Kolossä herum. Wie sollen wir das verstehen? Ich kann es nur persönlich als Bekenntnis sagen: Ich wurde eines Tages unter das Kreuz von Golgatha geführt. Da wurde ein schreckliches Todesurteil vollzogen, nicht von Menschen, sondern von Gott. Und als ich dem Gekreuzigten ins dorngekrönte Antlitz sah, ging mir erschreckend auf: Dies Todesurteil Gottes gilt ja gar nicht diesem Unschuldigen! Es gilt mir! Nun wusste ich auf einmal, was Gott von meinem Leben hielt, in das ich so verliebt war. Da nahm ich im Gehorsam des Glaubens dieses Todesurteil für mich an. Das war Sterben. Von dem Augenblick an war es mir verwehrt, noch etwas Hohes von mir zu denken. Ich bin ja ein Ge­storbener, ein von Gott Verurteilter. Aber — seltsam — dieses Sterben wurde mir Gewinn! Denn von der Stunde an wurde Jesus Christus mein Leben. Nun rühme ich mich dieses Heilands. Er ist mein Leben, mein Ruhm, mein Glanz, meine Sonne. Er ist mir alles. Ich bin nichts.

 

2. So kann nur sprechen, wer das Sterben täglich übt

Der Apostel Paulus sagt einmal von sich das merkwürdige Wort, das nun alle wahren Christen sprechen: »Ich sterbe täglich« (1. Korinther 15, 31).

Wunderlich! Man kann doch nur einmal sterben! Nein! Christen sterben täglich. Wie wollen wir das verstehen? Ich kann es wieder nur persönlich sagen. Ich habe doch einen Willen. Ich habe Pläne, Hoffnungen. Ich bin auch kein Fisch — mein Fleisch und Blut hat wildes Begehren und kennt heißes Verlangen. Aber nun tritt mir mein Herr in den Weg und sagt: »Meine Gedanken sind nicht deine Gedanken und deine Wege sind nicht meine Wege« (Jesaja 55, 8). Und da stehe ich nun beständig vor der Wahl, ob mein Wille, mein Wünschen, mein Begehren gelten soll oder der Wille meines Herrn. Da gibt's keine Kompromisse. Da heißt es: »Entweder — Oder!«

So heiß das eigene Begehren, Wollen, Wünschen ist — wenn ich meinen Herrn nicht verlieren will, dann muss ich mich in den Tod geben und ihn machen lassen. Oh, ich hatte mit meinem gefallenen Jungen — um ein Bei­spiel zu nennen — große Pläne. Der Herr hatte andere. Was war das für ein »in den Tod geben« bis man »Ja, Herr!« sagen konnte.

Es gibt Leute, die haben eine oberflächliche Auffassung vom Christentum. Ich verstehe aber so gut jenen schwäbi­schen Bauern, der so ein trauriges Gesicht machte. Da sagten ihm die Brüder: »Christen sind fröhliche Leute!« Er erwiderte: »Ich kann nicht lachen, wenn ich gerade sterben muss!«

Seht, bei dem gab es auch so ein Sterben des Eigenen, weil der Herr es befahl. Da denkt nun manch einer: »Dann will ich lieber kein Christ werden und meinen Willen be­halten.« Wir aber sagen euch: »Jedes solches Sterben und in den Tod geben des heißen Herzens wurde uns Gewinn.« Denn nun hatte Jesus allein das Feld. Und das gibt Frieden und Freude und Seligkeit.

Unser eigener sündlicher Wille aber bereitet uns nur Qual und Elend. So wird den rechten Christen ihr tägliches Sterben täglicher Gewinn.

 

3. So kann nur einer sprechen, dem der Tod der Eingang in das Leben ist

So ist also ein Christ im Sterben geübt. Doch nun muss er auch, wie jeder andere, an das letzte Sterben. Es behält auch für den Christen sein Grauen. Sogar Paulus hat einmal ehrlich bekannt, es wäre ihm lieber, dass er mit dem Auferstehungsleib überkleidet würde, als dass er erst durch das Entkleidetwerden durch müßte. Aber für einen rechten Christen ist auch dieses Sterben des Leibes »Gewinn«. Lasst mich das durch ein Gleichnis klarmachen. Ein krupp­scher  Feuerwehrmann  erzählte mir einst von  einem schrecklichen Bombenangriff, den er in der Firma miter­lebte: »Wir saßen in einem großen Raum, vor dem ein La­gerraum war. Auf einmal steht der Lagerraum in hellen Flammen. Es gab für uns keinen anderen Ausgang. Da musste man die fünf Schritte durch das Feuer wagen. Da draußen, da war ja das Leben, Luft, Freiheit.« So wagte er es als erster, sprang getrost ins Feuer und hin­durch — ins Leben. So ist das Sterben für den Christen: der Tod ist nur ein Durchgang, ein fünf Schritte-Sprung in die Freiheit. Da steht er, an den ich geglaubt habe, um dessentwillen ich mich hier täglich in den Tod gab; der, der mich erlöst hat von der Welt, den ich nie gesehen habe und den ich doch von Herzen lieb habe: mein Heiland, mein Herr, mein Erlöser! »Wir werden daheim sein bei dem Herrn allezeit!« sagt Paulus. Und man spürt diesem Wort ab: »Sterben ist mein Gewinn, denn Christus ist mein Leben.« Der Herr Jesus gibt den Seinen durch die Vergebung der Sünden eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens. Darum ist ihnen das Sterben Gewinn.

Ein Mann Gottes lag im Sterben. Er schlummerte lange. Als er die Augen aufschlug, sagte seine Frau zu ihm: »Ich meinte, du dürftest schon heimgehen.« Da lächelte er und sagte: »Meinst du, es wäre schon so nahe? Das wäre aber schön.«

Weil für Jünger Jesu das Sterben ein Heimgehen und ein Gewinn ist, darum ist es nicht alberne Sentimentalität, sondern Ausdruck einer tiefen Gewissheit, wenn sie singen:

 

»Lass mich gehen, lass mich gehen,

dass ich Jesus möge sehen,

meine Seel' ist voll Verlangen,

Ihn auf ewig zu umfangen

und vor Seinem Thron zu stehn.«