Totensonntag 1944
»Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein
Gewinn.« (Philipper 1, 21)
Totensonntag im Jahr des Massensterbens 1944! Was soll man da sagen? Man möchte sein Haupt verhüllen und mit Jeremia klagen: »Oh, dass ich Wasser genug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären, dass ich Tag und Nacht beweinte die Erschlagenen in meinem Volke« (Jeremia 8, 23).
Es ist ja wohl keiner hier, der nicht einen Toten zu
beweinen hätte.
Nun soll ich euch einen Trost geben. Ach, wie kann ich das,
der ich selber hungere nach Trost! Ich kann euch nur hinweisen auf unseren
Heiland. Ja, er kann überschwenglich trösten. Er kann unser trauriges Herz so
mit himmlischem Frieden erfüllen, dass, wenn auch die Augen voll Tränen sind,
das Herz doch voll Jauchzen anbetet. Aber vielleicht will er uns gar nicht
trösten! Vielleicht will er, dass wir endlich begreifen: er geht mit uns ins
Gericht. Vielleicht gleichen wir einer belagerten Stadt. Gott belagert uns und
schießt uns alles zusammen. Da gibt's nur eines: dass man vor dem schrecklichen
Gott die weiße Fahne zieht und sich ergibt.
Aber an diesem Totensonntag 1944 haben wir nicht nur von den
Todesnachrichten zu sprechen, die uns betrübt haben. Nein! Wir selber sind alle
in nie da gewesener Weise vom Tod bedroht. In meine Vorbereitung hinein heulten
die Sirenen immer wieder »akute Luftgefahr«. Und nun sitzt das Grauen des Todes
den Menschen im Genick.
Schon zweimal sind Menschen an den Bunkern zu Tode gequetscht
worden. Welch ein Todesgrauen muss die Menschen erfüllen, dass sie so
bestialisch werden! Und da hinein tönt nun dies Wort der Schrift: »Mir ist
Sterben Gewinn.«
Das ist ja unerhört, so unerhört, dass einem der Atem
stockt.
1. So kann nur einer sprechen, der das Sterben kennt
Ja, gibt es denn das, dass einer das Sterben schon hinter
sich hat und nun davon berichten kann? Nicht wahr, so war es doch beim Lazarus
und beim Jüngling zu Nain. Die hatten das Sterben erlebt, und der Herr Jesus
hatte sie wieder erweckt. Eigentlich unheimliche Leute! Nun, so unheimliche
Leute sind die wahren Christen. Paulus sagt zur Gemeinde in Kolossä (3, 3):
»Ihr seid Gestorbene!« Dabei liefen sie in Kolossä herum. Wie sollen wir das
verstehen? Ich kann es nur persönlich als Bekenntnis sagen: Ich wurde eines
Tages unter das Kreuz von Golgatha geführt. Da wurde ein schreckliches
Todesurteil vollzogen, nicht von Menschen, sondern von Gott. Und als ich dem
Gekreuzigten ins dorngekrönte Antlitz sah, ging mir erschreckend auf: Dies
Todesurteil Gottes gilt ja gar nicht diesem Unschuldigen! Es gilt mir! Nun
wusste ich auf einmal, was Gott von meinem Leben hielt, in das ich so verliebt
war. Da nahm ich im Gehorsam des Glaubens dieses Todesurteil für mich an. Das
war Sterben. Von dem Augenblick an war es mir verwehrt, noch etwas Hohes von
mir zu denken. Ich bin ja ein Gestorbener, ein von Gott Verurteilter. Aber —
seltsam — dieses Sterben wurde mir Gewinn! Denn von der Stunde an wurde Jesus
Christus mein Leben. Nun rühme ich mich dieses Heilands. Er ist mein Leben, mein
Ruhm, mein Glanz, meine Sonne. Er ist mir alles. Ich bin nichts.
2. So kann nur sprechen, wer das Sterben täglich übt
Der Apostel Paulus sagt einmal von sich das merkwürdige
Wort, das nun alle wahren Christen sprechen: »Ich sterbe täglich« (1. Korinther
15, 31).
Wunderlich! Man kann doch nur einmal sterben! Nein! Christen
sterben täglich. Wie wollen wir das verstehen? Ich kann es wieder nur
persönlich sagen. Ich habe doch einen Willen. Ich habe Pläne, Hoffnungen. Ich
bin auch kein Fisch — mein Fleisch und Blut hat wildes Begehren und kennt
heißes Verlangen. Aber nun tritt mir mein Herr in den Weg und sagt: »Meine
Gedanken sind nicht deine Gedanken und deine Wege sind nicht meine Wege«
(Jesaja 55, 8). Und da stehe ich nun beständig vor der Wahl, ob mein Wille,
mein Wünschen, mein Begehren gelten soll oder der Wille meines Herrn. Da gibt's
keine Kompromisse. Da heißt es: »Entweder — Oder!«
So heiß das eigene Begehren, Wollen, Wünschen ist — wenn ich
meinen Herrn nicht verlieren will, dann muss ich mich in den Tod geben und ihn
machen lassen. Oh, ich hatte mit meinem gefallenen Jungen — um ein Beispiel zu
nennen — große Pläne. Der Herr hatte andere. Was war das für ein »in den Tod
geben« bis man »Ja, Herr!« sagen konnte.
Es gibt Leute, die haben eine oberflächliche Auffassung vom
Christentum. Ich verstehe aber so gut jenen schwäbischen Bauern, der so ein
trauriges Gesicht machte. Da sagten ihm die Brüder: »Christen sind fröhliche
Leute!« Er erwiderte: »Ich kann nicht lachen, wenn ich gerade sterben muss!«
Seht, bei dem gab es auch so ein Sterben des Eigenen, weil
der Herr es befahl. Da denkt nun manch einer: »Dann will ich lieber kein Christ
werden und meinen Willen behalten.« Wir aber sagen euch: »Jedes solches Sterben
und in den Tod geben des heißen Herzens wurde uns Gewinn.« Denn nun hatte Jesus
allein das Feld. Und das gibt Frieden und Freude und Seligkeit.
Unser eigener sündlicher Wille aber bereitet uns nur Qual
und Elend. So wird den rechten Christen ihr tägliches Sterben täglicher Gewinn.
3. So kann nur einer sprechen, dem der Tod der Eingang in
das Leben ist
So ist also ein Christ im Sterben geübt. Doch nun muss er
auch, wie jeder andere, an das letzte Sterben. Es behält auch für den Christen
sein Grauen. Sogar Paulus hat einmal ehrlich bekannt, es wäre ihm lieber, dass
er mit dem Auferstehungsleib überkleidet würde, als dass er erst durch das
Entkleidetwerden durch müßte. Aber für einen rechten Christen ist auch dieses
Sterben des Leibes »Gewinn«. Lasst mich das durch ein Gleichnis klarmachen. Ein
kruppscher Feuerwehrmann erzählte
mir einst von einem
schrecklichen Bombenangriff, den er in der Firma miterlebte: »Wir saßen in
einem großen Raum, vor dem ein Lagerraum war. Auf einmal steht der Lagerraum
in hellen Flammen. Es gab für uns keinen anderen Ausgang. Da musste man die
fünf Schritte durch das Feuer wagen. Da draußen, da war ja das Leben, Luft,
Freiheit.« So wagte er es als erster, sprang getrost ins Feuer und hindurch —
ins Leben. So ist das Sterben für den Christen: der Tod ist nur ein Durchgang,
ein fünf Schritte-Sprung in die Freiheit. Da steht er, an den ich geglaubt
habe, um dessentwillen ich mich hier täglich in den Tod gab; der, der mich erlöst
hat von der Welt, den ich nie gesehen habe und den ich doch von Herzen lieb
habe: mein Heiland, mein Herr, mein Erlöser! »Wir werden daheim sein bei dem
Herrn allezeit!« sagt Paulus. Und man spürt diesem Wort ab: »Sterben ist mein
Gewinn, denn Christus ist mein Leben.« Der Herr Jesus gibt den Seinen durch die
Vergebung der Sünden eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens. Darum ist ihnen
das Sterben Gewinn.
Ein Mann Gottes lag im Sterben. Er schlummerte lange. Als er
die Augen aufschlug, sagte seine Frau zu ihm: »Ich meinte, du dürftest schon
heimgehen.« Da lächelte er und sagte: »Meinst du, es wäre schon so nahe? Das
wäre aber schön.«
Weil für Jünger Jesu das Sterben ein Heimgehen und ein
Gewinn ist, darum ist es nicht alberne Sentimentalität, sondern Ausdruck einer
tiefen Gewissheit, wenn sie singen:
»Lass mich gehen, lass mich gehen,
dass ich Jesus möge sehen,
meine Seel' ist voll Verlangen,
Ihn auf ewig zu umfangen
und vor Seinem Thron zu stehn.«