Meine Erlebnisse mit der Geheimen Staatspolizei
Ein Minuszeichen vor der Klammer
„Mit meinem Gott überspringe ich Mauern...!"
Dreimal am Tage eine Stunde Gott loben
Evangelisation für geheime Staatspolizisten
Verzweiflung, Angst und Einsamkeit
Mit diesem Bändchen legen wir zwei Vorträge vor, die Wilhelm Busch in den sechziger Jahren im „Offenen Abend" in Stuttgart unter dem Thema „Meine Begegnung mit der Geheimen Staatspolizei" gehalten hat. Vierzig Jahre nach dem Ende des Naziregimes ist unsere Vergangenheit noch längst nicht aufgearbeitet. Wir müssen uns auch weiterhin fragen, welche Lehren wir aus den damaligen Auseinandersetzungen des Glaubens an Jesus Christus mit der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus ziehen.
Als
einer, der in dieser Auseinandersetzung in vorderster Front stand, zeigt
Wilhelm Busch uns, wie er - manchmal mit tastenden Schritten - immer wieder zur
Freiheit des Evangeliums fand.
Beide
Vorträge sind nicht nur Erzählungen aus alten Tagen, sondern - wie wir meinen
- auch heute noch eine höchst aktuelle Hilfe für Christen in den Auseinandersetzungen
unserer Zeit. Sie bestätigen, dass die frohe Botschaft über den wichtigen
persönlichen Bereich hinaus immer auch in die politischen und
gesellschaftlichen Bezüge unserer Welt hineinwirkt.
Die
Vorträge können dazu helfen, dass auch in unserer Zeit Christen wieder neu zur
Freiheit des Evangeliums finden. Sie wurden von Amateur-Bandaufnahmen abgeschrieben
und nur so weit überarbeitet, als es zur besseren Lesbarkeit notwendig
erschien.
Wiehl,
im Sommer 1985 Elisabeth
Währisch geb. Busch und Hans Währisch
Ehe ich zum
eigentlichen Thema komme, muss ich zwei ziemlich ausführliche Vorbemerkungen
machen. Die erste: Ich habe die Zeit des 3. Reiches bewusst als Christ erlebt.
Das Wort „Christ" sagt Ihnen vielleicht nicht viel. Darunter kann man viel
verstehen, nicht wahr? „Was man nicht definieren kann, das sieht man heut' als
christlich an." Irgendwann in meinem Leben, als ich ein junger Mann war,
bin ich auf Jesus gestoßen, wie ein Auto, das nicht mehr ausweichen kann und
gegen eine Mauer fährt. Und da wurde der, der am Kreuz für die Welt gestorben
ist, mein Herr. Diese Erfahrung verändert das Leben so vollständig, dass man
geschieden ist von denen, die ihn nicht kennen. Ich habe das Leben damals,
genau wie heute, erlebt als Jünger Christi. Diese Tatsache wird meine ganzen
Ausführungen bestimmen, und ich fühle mich deshalb verpflichtet, Ihnen das von
vornherein zu sagen. Es ist heute ja üblich geworden, dass man mit irgendeinem
Thema anfängt und dann heimlich am Schluss mit dem Christentum erscheint. Ich
habe das nicht so gern. Darum sage ich es von vornherein ganz klar und ohne
Umschweife: Ich bin Jesu Jünger und wünschte, Sie alle würden es.
Die zweite Vorbemerkung: Es besteht die große Gefahr, dass
es sich wie eine Rechtfertigung anhört, wenn man von sich und seinen
Erlebnissen im 3. Reich sagt: „Ich habe mich einigermaßen anständig
durchgebracht." Und darum muss ich auch dazu etwas sagen: Ist Ihnen Rolf
Hochhuth ein Begriff? Ich hoffe es. Aber für die, die ihn nicht kennen:
Hochhuth ist ein junger Schriftsteller, der ein Schauspiel geschrieben hat mit
dem Titel: „Der Stellvertreter". Damit ist der Stellvertreter Gottes auf
Erden, der Papst, gemeint. Dieses Schauspiel behandelt folgendes großes Thema:
Die Kirche hat geschwiegen, als vor ihren Augen die Juden nach Auschwitz
abtransportiert wurden. Der letzte Akt spielt auf grauenvolle Weise an den
Verbrennungsöfen. Ihr Feuer überlodert den ganzen fünften Akt. Und der Papst
wusste, was dort passierte. Er konnte von seinem Fenster aus sehen, wie die
Juden verhaftet und abgeholt wurden. Die katholische Kirche hat in vielen
Städten gewaltig gegen die Aufführung dieses Schauspiels demonstriert. Ich
bedauere das aufs tiefste. Das muss die unintelligente Schicht des
Katholizismus gewesen sein, denn es ist ganz offensichtlich, was Hochhuth
sagen will: Nicht nur der Papst, sondern ihr Kirchen habt geschwiegen, als die
Juden vor euren Augen nach Auschwitz in die Verbrennungsöfen abtransportiert
wurden. Und als einer, der diese Zeit miterlebt hat, kann ich nur sagen: Diese
Anklage der jungen Generation gegen uns ist richtig. Statt gegen die
Aufführungen zu demonstrieren, hielte ich es für viel richtiger, wenn auch die
Kirchen sagten: „Jawohl, wir haben schrecklich versagt." Wenn ich
geschrien hätte, wie ich heute weiß, dass ich hätte schreien sollen, stünde ich
jetzt nicht hier, sondern wäre in Plötzensee hingerichtet worden. Und wenn Ihnen
jemand aus meiner Generation sagt: „Ich habe nichts gewusst und bin unschuldig
daran," dann glauben Sie ihm das nicht! Hier liegt die Schuld meiner
Generation. Sehen Sie, das muss einfach am Anfang klargestellt werden.
Professor Gollwitzer hat einmal gesagt: „Es ist schrecklich, dass alle sich
rechtfertigen wollen wie jetzt bei dem KZ-Prozeß in Frankfurt." Und er
drückt es dann sehr bitter aus: „In der Selbstrechtfertigung ist die Einigung
der Kirche bereits vollzogen." Ein hartes Wort! Ich gehöre zu dieser
Kirche. Wir waren damals vor allem damit beschäftigt, unsere kleinen Aufgaben
zu retten. Wir steckten so sehr im Getümmel des Tages, dass wir nicht wussten,
wie wir es tun sollten. Gewiss, wir haben - und das hat der Papst auch getan -
da und dort Juden versteckt und gerettet. Wie schwierig das war, mag Ihnen ein
kleines Beispiel zeigen. Ein Augenarzt aus meiner Stadt Essen wollte nach
Amerika auswandern. Aber zunächst einmal reiste er in die Schweiz. Da gab es
ein großes Hick-Hack mit den Stellen, ob er sein Vermögen mitnehmen könne. So
wollte man ihn ohne Geld nicht in die Schweiz einreisen lassen. Ich war damals
gerade in der Schweiz und rief vom Züricher Hauptbahnhof von der öffentlichen
Fernsprechzelle aus die Vermittlungsstelle an, die Juden rauslotste. Ich sagte,
sie müssten den Dr. H. aus Essen unbedingt und umgehend herausholen, auch wenn
er sein Vermögen nicht mitbekäme. Er sei in allerhöchster Gefahr. Das ist dann
auch gelungen. Aber ein halbes Jahr später hat die Staatspolizei mir wortwörtlich
dieses Gespräch vorgehalten, das ich in Zürich von einer öffentlichen
Telefonzelle aus mit dieser Judenvermittlungsstelle geführt hatte. Die haben
also in der Schweiz Telefone abgehört!
Das war sicherlich schwierig, natürlich haben wir da und dort was gesagt
und getan. Aber wir haben nicht geschrien, wie wir hätten schreien
sollen: „Hier geschieht millionenfacher
Mord!" Und das ist Schuld, verstehen Sie? Das möchte ich hier ganz klar
und offen sagen. Und wenn ich jetzt von meinen kleinen Erlebnissen erzähle,
dann ist das wie
eine Klammer, vor der ein Minuszeichen steht. Wie ein Mensch
meiner Generation ohne Vergebung der Sünden leben kann, ist mir rätselhaft. Und
ich sage Ihnen auch gleich: Wie ein Mensch Ihrer Generation leben kann ohne
Vergebung der Sünden, ist mir genauso rätselhaft. Denn Schuld ist immer Schuld
vor Gott, nicht vor dem Gericht. Haben Sie das verstanden, mit diesem Vorzeichen,
diesem Minuszeichen vor der Klammer? Man ist so viel schuldig geblieben.
Und nun komme ich
zum Eigentlichen, zu meiner Begegnung mit der geheimen Staatspolizei. Ich kam
in lebhafte Berührung mit der geheimen Staatspolizei, weil ich Jugendpfarrer
in Essen war. Ich hatte ein großes Klubhaus, in dem Hunderte von jungen Leuten
zwischen 14 und 20 Jahren sich sammelten. Das steht heute wieder aufgebaut und
die Arbeit blüht heute noch in Essen. Das Haus heißt nach seinem Gründer:
Weiglehaus. Sonntags nachmittags waren da 700 bis 800 junge Burschen, 16/17
Jahre alt, unter Gottes Wort. Es gab auch ein großes Rahmenprogramm, aber es
gab keinen, der nicht in den ersten drei Minuten erfuhr, wie überzeugt ich
davon bin, dass ein Leben ohne Jesus kein Leben ist, sondern Tod. Und das war
natürlich ärgerlich - solch eine Arbeit! Wenn so ein Pfarrer einen
Mütterchen-Verein hatte, dann sagten die Nazis: „Lass ihn machen, das stirbt
von selbst aus." Aber hier versammelten sich hunderte von jungen Burschen.
Das war für sie eine schlechte Sache. Nun, im ersten Jahr war die Staatspolizei
noch nicht richtig ausgebaut. Damals wurde sie von einem Mann namens Diehls
übernommen. Der hatte ein interessantes Buch geschrieben: „Hitler ante
portas". Damals war es so, dass die Nazis selber noch nicht genau wussten,
wie weit sie mit dem Brechen des Rechts gehen konnten und wie weit sich das
Volk gefallen lassen würde, dass die Regierung „ein wenig außerhalb der
Legalität" operierte. Wenn Sie in diesen Tagen Zeitung lesen, dann haben
Sie meine Anspielung verstanden. Aber schon zu einer Zeit, als wir mit der
Staatspolizei noch gar nichts zu tun hatten, gab es gefährliche Reibungen
zwischen meiner Arbeit und der Partei. Eigentlich gab es keinen Grund für diese
Reibungen, aber sie waren da. Woran entstanden sie? Sie entstanden an der
Grundfrage der damaligen Zeit: „Wer darf eigentlich über unser Gewissen
verfügen?" Die jungen Burschen, die in mein Weiglehaus kamen, hatten gelernt,
dass unser Gewissen an das Wort Gottes gebunden werden muss. Luther sagte auf
dem Reichstag in Worms: „Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort."
Lassen Sie mich das ausführlich erklären. Sehen Sie, wir haben alle ein
Gewissen, jeder von uns. Das heißt, wir wissen alle, dass es gut und böse gibt.
Aber wer bestimmt denn, was gut und was böse ist? Nach welchen Herren richten
Sie sich denn? Wer verfügt denn über Ihr Gewissen - etwa in sexuellen Fragen
oder im Umgang mit Geld oder mit Wahrheit und Lüge? Die öffentliche Meinung
oder Ihre Arbeitskollegen? Wer hat denn zu sagen, was gut und böse ist? Luther
sagte: „Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort." Meine jungen Leute
haben gelernt: Der Herr Jesus muss über mein Gewissen verfügen.
Nun kam der Staat
mit der Partei, der Nazi-Partei, und sagte: „Wir sagen, was gut und böse
ist". Gleich von Anfang an fand hier der Griff ins Innerste des Menschen
statt. Die Partei bestimmte was gut war. Das gab ganz praktische Reibungen. Das
ging z. B. so: Meine jungen Burschen gingen sonntags morgens in die Kirche,
denn es ist Gebot Gottes: „Du sollst den Feiertag heiligen". Ich habe
ihnen gesagt: „Ihr braucht nicht in meinen Jugendkreis zu kommen. Das ist kein
Gebot Gottes. Aber Gottesdienst am Sonntag, das ist Gebot Gottes." Und
dann kamen sie auch. Nun setzte die Schule etwa sonntags morgens um 8 Uhr einen
Marsch mit der Hitlerjugend an. Da standen die jungen Burschen und erklärten:
„Pardon, wir gehen in die Kirche." „Unsinn, dies ist Dienst für den
Führer!" Aber sie blieben dabei: Mein Gewissen ist gebunden an Gottes
Wort. Da raufte sich der arme Schuldirektor, ein Oberstudienrat, der ja selber
nicht recht wusste, wie die ganze Sache lief, seine spärlichen Haare, weil er
nicht wusste, wie er hier entscheiden sollte. Es hat mich damals ungemein
gepackt, wie meine jungen Kerle schon an solch kleinen Fragen begriffen: Man
muss von Anfang an Gott gehorsam sein.
Ein anderes
Beispiel war das Schullandheim. Die höheren Schüler gingen ins Schullandheim.
Die Hitlerjugend übernahm sofort die äußere Gestaltung. Da gab es ein
Tischgebet, das hieß: „Lieber Herr Jesus, bleib uns fern, wir essen ohne dich
ganz gern. Amen." Das war das Tischgebet der Hitlerjugend. Was sollte man
jetzt tun? Da standen da und dort Burschen auf und sagten: „Entschuldigung,
aber wir kommen erst nach diesem Tischgebet. Wir hören uns diese Lästerung
nicht an." „Es ist aber Dienst, dass ihr hier seid." - An solchen
kleinen Stellen kam es sofort zum Konflikt. Ich könnte Ihnen dafür noch
hundert Beispiele sagen, aber es würde zu lange aufhalten. Sind wir eigentlich
aus dieser Situation heraus, liebe junge Leute? Oder kommen wir nicht unser
ganzes Leben lang permanent in die Situation, dass hier ein Gebot Gottes steht
- und da die öffentliche Meinung oder der Zeitgeist? Wem wollen Sie Ihr
Gewissen anvertraue? Darüber müssen Sie sich ganz klar sein. Darum frage ich:
Wie kann ein Mensch leben ohne Gott? Ich weiß, dass Gott sehr unerkennbar ist,
aber er hat den Himmel zerrissen und ist in Jesus zu uns gekommen. Dieser
Jesus ist die größte Gewalt dieser Erde. Er ist am Kreuz für uns gestorben. Er
ist von den Toten auferstanden. Er ist unter uns. Dem habe ich mein Gewissen
gegeben, der darf mich beherrschen. Sie müssen sich entscheiden, wen Sie über
Ihr Gewissen verfügen lassen. Wenn mir einer sagt: „Ich weiß selber, was gut
und was böse ist", so sage ich: „Das stimmt nicht. Es verfugt jemand über
unser Gewissen." Das gab also die ersten großen Konflikte, die Frage nach
dem Gewissen. Und das zweite, was wir im ersten Jahr unter Hitler lernten, war:
Wie unvorbereitet wir auf solch eine Zeit waren, wie hilflos wir selber vor
der Frage standen, was eigentlich zu tun sei. Ich will Ihnen dazu wieder etwas
erzählen.
Anfang 1934 war es in Essen Mode geworden, dass die
Hitlerjugend, der damals noch nicht alle angehörten, ab und zu nachts irgendein
katholisches oder evangelisches Jugendheim überfiel und besetzte. Dann mussten
die armen Besitzer erst einmal einen Prozess anstrengen. Kein Richter wagte
es, einen solchen Prozess zu Ende zu führen. Der Prozess wurde verschleppt,
und man war sein Jugendhaus los. Das war in einem Essener Vorort nun schon
dreimal passiert, in einem evangelischen Heim und in zwei katholischen. Ich
hatte im Zentrum von Essen mein großes Klubhaus. Das wäre ein wunderbares Haus
für die Gebietsführung gewesen, das war mir klar. Wenn das jetzt so Mode wurde,
einfach Häuser zu besetzen, dann musste ich eine Entscheidung treffen. Und das
tat ich auch. Ich rief ungefähr 100 junge Männer von 18 Jahren aufwärts
zusammen, lauter Mitarbeiter. Ich fragte sie: „Wollen wir das Haus kampflos
aufgeben oder nicht?" „Nein, das tun wir nicht." Und dann haben wir
eine Wache eingerichtet. Alte Sofas und Matratzen wurden erbettelt, und die
Jungen bewaffneten sich so nach und nach mit Schlagringen und mit
Gummischläuchen. Ich staunte, was sie alles so an Waffen auf trieben. Es war
ein ständiger Wechsel, wenn die Schüler zur Schule mussten, kamen Studenten.
Es war also immer jemand da. Es ging hauptsächlich um die Nächte, und da waren
es immer 50 Mann, die im Haus schliefen, und ein paar von ihnen hielten Wache.
Eines Nachts ging die Geschichte los. Ich wurde vom
Weiglehaus angerufen: „Pastor Busch, da ist so eine Unruhe ums Haus." Ich
sauste hin, und richtig, in den Straßen ringsum sah man, wie die Hitlerjugend
sich in Scharen sammelte. Geflüster, Gemunkel. Die kannten mich ja, ich war
bekannt wie ein bunter Hund. Ich war mir darüber im klaren, dass ein Angriff
auf das Haus gestartet werden sollte. Ich sauste aufs Polizeirevier und sagte:
„Hier ist eine Unordnung im Gange. Es sind schon drei Häuser einfach besetzt
worden. Ich bitte die Polizei, jetzt einzugreifen und uns zu beschützen."
„Ja, ja, wir werden sehen." Nach einer halben Stunde hatten sich große
Scharen der Hitlerjugend gesammelt, aber die Polizei tat immer noch nichts. So
ging ich noch einmal hin und fand einen Polizeioffizier in seinem Zimmer, der
nun sagte: „Herr Pfarrer, ich muss Ihnen ganz offen sagen: Wenn die
Hitlerjugend Ihr Haus besetzt, greifen wir nicht ein. Das müssen Sie verstehen.
Wir können nicht eingreifen." „Danke, mehr wollte ich gar nicht wissen.
Sie greifen also wirklich nicht ein?" „Es tut mir sehr leid, Herr Pfarrer,
wir schätzen Sie, aber Sie müssen verstehen, wir greifen nicht ein."
„Aber ich will auch gar nichts weiter wissen, als dass Sie nicht eingreifen.
Auf Wiedersehen." Und dann griff die Hitlerjugend an. Es war eine richtige
Schlacht, die in dieser Nacht geschlagen wurde. Ich hatte meinen Jungs gesagt:
„Wenn schon, denn schon." Es wurde schauerlich!
Die Hitlerjugend
hatte ja nicht mit Widerstand gerechnet. Das alles war Anfang 1934. Die Jungen
rannten bis zum nahen Bahnhof. Als die Menschen am Bahnhof sahen, wie die
Hitlerjugend verhauen wurde, machten auch stabile Männer mit. Alle hauten
drauf. Am nächsten Morgen war ich dann ganz früh beim Polizeipräsidenten. Da
ich nebenher Standortpfarrer für die Polizei war, kannte ich ihn gut. Ich
sagte: „Eine Frage mit Ja oder Nein: Wenn die Polizei den Bürger nicht mehr
schützt, dann haben wir doch wohl das Recht, uns selber zu schützen?" „Das
ist Texas!" „Aber wir wollen unser Recht, Herr Polizeipräsident." Da
fragte er zurück: „Wieso, was meinen Sie damit?" Ich sagte: „Sehen Sie,
wenn jemand mein Haus überfällt, dann kann ich die Polizei anrufen und sie
greift ein. Wenn aber die Polizei sagt, das tun wir nicht, dann greife ich doch
wohl selber ein, oder nicht?" „Ich verstehe nicht recht..." In diesem
Moment geht die Tür auf, und es wird ein Bericht gebracht von den Vorgängen in
der letzten Nacht. Er liest und lacht sich halbtot und sagt: „Wenn das Schule
macht, haben wir bald einen Bürgerkrieg." „Ja", sage ich, „ich
garantiere Ihnen, dass wir einen Bürgerkrieg haben werden. Denn das ist der
Anfang eines Bürgerkriegs, wenn das Recht nicht mehr mächtig ist, und wenn wir
uns selber schützen müssen." Da sagt er: „Das geht nicht, wir werden von
jetzt ab sehen..."
Aber natürlich wurde das Recht auch weiterhin gebrochen,
und mir graute selber vor den Konsequenzen, denn das war ja erst ein
Bürgerkrieg im Wasserglas gewesen.
Damals erschien ein Buch von einem Mann, den ich unendlich
schätze, der mein Freund geworden ist, den ich damals aber noch nicht kannte:
Dr. Chambon. Er war Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde in Berlin und
lebt jetzt in Zürich. Er ist ein großer Kenner der Geschichte und hat ein Buch
über die Geschichte der französischen Hugenotten geschrieben. Ich weiß nicht,
ob Sie eine Ahnung davon haben, dass die französischen Hugenotten grauenvoll
verfolgt wurden. Sie haben alles durchexerziert, den Widerstand, das Leiden,
die Flucht. Die Frage nach Christenheit und Staat ist im französischen
Protestantismus in allen Spielarten durchexerziert worden. Die Christen damals
haben gelernt, dass die Gewalt nicht von Gott ist. Das haben sie unter Tränen
gelernt, dass die Jünger Jesu Christi Lämmer sein können, die geschlachtet
werden, aber nicht Schwerter haben. In unseren Jugendkreisen wurde das Buch
studiert. Es wurde kein Wort über die Gegenwart gesagt. Aber hier sahen wir auf
einmal, was zu tun war. Wir begriffen plötzlich, was das heißt im Neuen
Testament: „Wir sind geachtet wie Schlachtschafe. Hier ist Geduld und Glaube
der Heiligen". Das sind vielleicht Worte, die Ihnen nichts sagen. Wir
aber begriffen auf einmal, was es heißt: Ich stell mich hin und lass mich
schlagen und beschimpfen. Das ist der Weg Jesu, wie er nach Golgatha ging.
Unser Weg mit dem Verhauen war verkehrt! Das waren schmerzhafte Erkenntnisse.
Da lernt man, wirklich ernst zu machen mit dem Mann, der auf Golgatha starb,
wenn es um solch existentielle Entscheidungen geht. Da saß ich mit meinen Jungs
darüber, und wir begriffen, was es heißt, dem Heiland nachzufolgen. Ich möchte
Ihnen sagen: Christentum ist kein Kinderspiel. Aber es lohnt sich, diesem
Jesus nachzufolgen. Sie werden es nicht bereuen. So war das aber damals: Wir waren
noch maßlos hilflos und mussten selber erst lernen. Jetzt muss ich aber noch
einen Einschub machen:
Josef Goebbels,
der Propagandamann, der die Bücher genehmigte, hatte dieses Buch zugelassen,
wohl weil er sich sagte: So ein Geschichtsbuch von Anno-Tobak, das liest ja
doch keiner. Als das Buch in einem halben Jahr die dritte Auflage erlebte, da
sagten die Nazis: „Weiß der liebe Kuckuck, was mit dem Buch los ist. Wir
verbieten es mal auf alle Fälle, aber warum das so läuft, das kapieren wir
nicht." Nein, das kapierten sie auch nicht. Das ist nämlich auch etwas:
Dass man aus der Geschichte lernen muss! Die Nazis meinten damals, mit ihnen
finge die Weltgeschichte an. Die Jahrhunderte vorher galten alle nichts. Und es
ist das Bedrückende an Ihrer Generation heute, dass sie so entsetzlich
geschichtslos lebt. Wir gehen vor die Hunde, wenn wir nicht wissen, was vor uns
war. So haben wir also damals folgenden Beschluss gefasst: Wir werden uns nicht
mehr wehren. Wir werden auch bereit sein, ins Gefängnis zu gehen. Wir werden
aber das, was uns als Recht zusteht, bis an die äußerste Grenze ausnützen.
Dabei passierten überraschende, ja entzückende Geschichten, von denen ich Ihnen
eine erzählen möchte. Es war damals unklar: Dürfen wir Bibelfreizeiten machen
oder nicht? Die Nazis gingen so vor, dass sie der evangelischen Jugend fast
alles verboten: Unsere Jungen durften keine Uniformen tragen, keine
Schulterriemen und keine Fahrtenmesser haben, sie durften keinen Sport treiben,
nicht schwimmen; man untersuchte sogar, ob wir Badehosen bei uns hatten u. a.
m.
Es war einem alles verboten. Und wir fragten: Was ist denn
überhaupt noch erlaubt? Freizeiten waren nicht verboten.
Natürlich achteten wir darauf, nicht zu sehr in die Öffentlichkeit
zu gehen. So schickte ich zwei Mann los, und die fanden im Fichtelgebirge einen
einsamen Berg von 1000 m Höhe. Da konnten wir ein paar Zelte aufschlagen für 40
bis 50 höhere Schüler, Primaner, Sekundaner usw. Als wir nun dort ankamen,
hörten wir, dass in der Nähe ein großes Hitlerjugendlager war. Das war
natürlich peinlich, denn die machten sich immer eine Ehre draus, uns
Schwierigkeiten zu bereiten. Und die Polizei war viel zu ängstlich zum
Eingreifen. Da brachen wir unsere Zelte ab und wohnten in einer kleinen
Scheune. In dieser Höhe war nämlich solch eine Baude, ein Gasthaus, in das
hinein sie als Wirt einen alten Nazi von vor der Machtergreifung gesetzt
hatten. Der hatte in irgendeiner Saalschlacht einen Bierseidel auf seinen Kopf
bekommen, der bei ihm wohl einige Zellen zerstört hatte. Er war also nicht mehr
hundertprozentig dabei. Bei alledem aber ein Prachtkerl, ein Ur-Bayer, und wir
haben uns sehr angefreundet. „Wilhelm Busch", sagte er, „wenn Ihnen einer
etwas tun will - ich bin ein alter Kämpfer!" Ja, und dann tat uns einer
was. Eines Tages kommt einer schreckensbleich angesaust und sagt: „Ein Gendarm
ist da. Wir sollen sofort ins Gasthaus rüberkommen." Es war
selbstverständlich, dass die erste Anordnung hieß: „Es findet eine Gebetsgemeinschaft
statt in der Zeit, wenn ich hinübergehe." Und während meine Pennäler sich
hinter der Scheune ins Gras hockten und mit Jesus redeten, ging ich ins
Gasthaus. Der Gendarm, der im Schweiße seines Angesichts vom Tal
heraufgestiegen war, erwartete mich. Ich bestellte einen Kaffee, der Wirt hatte
an dem Tag außerdem so gute Heidelbeerpfannkuchen, und ich bestellte gleich
für den Gendarmen mit. Dann fragte ich ihn: „Was haben Sie denn auf dem Herzen?"
Er zog einen Brief heraus von der Geheimen Staatspolizei: „Das Lager ist
umgehend aufzulösen. Pfarrer Busch hat sich morgen früh auf dem Landratsamt
Wunsiedel zu melden." Ich wurde bleich. Ich ging zu meinen Leuten zurück.
„Habt Ihr gebetet?" „Ja, wir rechnen damit, dass unser Herr uns
hört." Am nächsten Morgen machte ich mich auf und ging ins Tal hinunter,
aus 1000m Höhe. Als ich losging, stand auf einmal mein Halali da, mit seinem
Gamsbart auf dem Hut, mein alter Kämpfer, und sagte: „Ich geh mit. Wenn Sie bei
den Behörden sind, dann geh ich in die umliegenden Kneipen, da sitzen all die
alten Kämpfer, und erzähl denen mal, was los ist." „Ist das herrlich! Sie
machen also das Volksgemurmel im Hintergrund!" Und dann schritten wir
beide hinunter zu einer Bahnstation mit Wirtshaus. Wir fragten, wo wir die
Fahrkarten kaufen könnten. Die Frau war in der Waschküche und rief: „Die sind
im Küchenschrank. Da ist die Kasse. Tun Sie das Geld rein, die Fahrkarten
liegen daneben." So kauften wir uns eine Fahrkarte und fuhren mit dem
Bähnchen nach Wunsiedel.
Wenn man einmal mit dieser Bahn gefahren ist, versteht man
den ganzen Jean Paul, der aus Wunsiedel stammte, und dann trennten wir uns. Er
ging, um die alten Kämpfer aufzusuchen und Stimmung zu machen.
Die Dinge waren damals noch sehr im Fluss. Auf einmal stand
ich nicht der Gestapo gegenüber, sondern einem jungen Landrat, einem Preußen,
den es in dieses bayrische Städtchen verschlagen hatte. Der fuhr auf mich los:
„Wie können Sie es wagen, eine Freizeit zu machen?" „Das ist nicht
verboten." „Aber in Bayern ist es verboten!" „Wir sind doch ein
Deutsches Reich. Sie können doch nicht in Bayern eigene Flötentöne blasen.
Außerdem sind Sie offenbar gar kein Bayer." „Ich diskutiere nicht mit
Ihnen! Anordnung aus München: Das Lager ist umgehend aufzulösen!" „Recht ist
Recht", sagte ich, „aber darf ich eben noch folgendes erklären? Wir sind
mit dem Omnibus gekommen und fahren mit dem Omnibus zurück. Der Bus ist
bereits bezahlt. Der kommt in 14 Tagen. Wie ich die Jungens jetzt nach Hause
befördern soll, ist mir rätselhaft. Ich habe weder Geld noch Möglichkeiten,
das Lager aufzulösen. Ich schicke Ihnen die 50 jungen Burschen morgen früh
runter, Herr Landrat. Gott gebe, dass Sie Geld haben, die Heimfahrt zu spendieren,
und Mittel, sie zu verpflegen." „Ja, hören Sie, Sie wollen die einfach
herschicken? Wie soll das zugehen?" Ich sagte: „Die erscheinen hier,
brüllend vor Hunger, vielleicht singen sie Ihnen noch einige unserer
geistlichen Lieder vor. Die werden Sie schon in Bewegung bringen." Ich
sehe den Mann noch vor mir stehen und sagen: „So geht das doch nicht!" Ich
sagte: „Natürlich geht's so nicht. Wer hat denn behauptet, dass es so ginge?
Sie doch." „Ich? Ja, dann muss ich in München rückfragen." Ich sollte
also noch nichts tun, ich würde Nachricht bekommen. Ich gabelte meinen alten
Kämpfer wieder auf und fuhr also zurück ins Lager. Wie meine Primaner mich
empfingen, voller Freude, dass wir wieder einen Tag gewonnen hatten, das war
herrlich.
Am nächsten Morgen hatten wir wieder Bibelarbeit unter
Tannen, die Sonne schien, wir in 1000 m Höhe, jeder Tag war ein Geschenk. Hier
wurde das Wort von dem Sohn Gottes gesagt, der Sünder errettet. In solcher Umgebung
bekommt das Wort Gottes eine ganz neue Herrlichkeit. An diesem Tag passierte
nichts. Wir hatten noch einmal einen Morgen mit einer herrlichen Bibelarbeit.
Doch dann kommt einer gesaust: Wir sollen kommen, der Gendarm ist da. Also, ich
bestelle mir wieder Heidelbeerpfannkuchen und Kaffee. Aber innerlich habe ich
zu Gott geschrien: „Gib, dass ich die Nerven nicht verliere!" Denn man
stand ja bei dieser ganzen Geschichte in sehr einsamer Verantwortung. Der
Gendarm zog einen Brief heraus, in dem stand: „Es bleibt bei der Verfügung,
dass das Lager aufgelöst wird, aber Sie bekommen 14 Tage Zeit, das Lager
abzubrechen. Wenn danach noch ein Junge gesehen wird ..." Wir machten
fröhlich unser Lager, schlugen die Zelte auf, zogen an jedem Tag einen
Zeltpfosten wieder raus und machten das 14 Tage lang so.
Das Schönste aber war, dass der Gendarm sagte: „Jetzt freue ich mich für Sie, dass das so gekommen ist." Ich fragte ihn: „Interessiert Sie denn das, was ein evangelischer Pfarrer tut? Ich nehme an, Sie sind katholisch?" „Ich möchte mal gern mit Ihnen sprechen." „Oh", sagte ich, „nehmen Sie noch einen Heidelbeerpfannkuchen?" Dann legte er los. Ich war erschüttert. Er sagte: „Ich habe neulich eine evangelische Beerdigung mitgemacht. Da sangen sie ein Lied, da kommt am Ende jeder Strophe vor: ,Mein Gott, mein Gott, ich bitt' durch Christi Blut, mach's nur mit meinem Ende gut!' Pastor Busch, wissen Sie, wir müssen ja alle mal sterben. Das geht mir auf meinen Gängen dauernd durch den Kopf: Mein Gott, ich bitt durch Christi Blut, mach's nur mit meinem Ende gut. Ich versteh es aber nicht. Was hat das Blut Jesu damit zu tun?" Dann habe ich ihm gesagt: „Sie sterben und gehen zu Gott. Entweder nehmen Sie alle Ihre Sünden mit, auch die Sie geleugnet haben; und es ist schrecklich in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. Das steht im Neuen Testament. Oder Sie finden zu dem, der uns in Vollmacht sagen kann: ,Dir sind deine Sünden vergeben'. Also zu Jesus, der das sagen kann, weil er für uns am Kreuz bezahlt hat. Ich kann Ihnen sagen, ich gehöre diesem Jesus." Und dann sprachen wir miteinander.
Aber es
endet noch schöner. Nach fünf Tagen kam ein Junge gerannt und sagte: „Der
Schutzmann ist wieder da mit einem hohen HJ-Führer." „Och", sagten
wir, „jetzt fängt die Hitlerjugend wieder an. Die alte Geschichte." Ich
werde geholt, gehe rüber, Heidelbeerpfannkuchen und Kaffee, HJ-Führer, Heil
Hitler usw. Und dann haut's mich beinahe vom Stuhl, als der Schutzmann sagt:
„Das ist mein Sohn, der ist hoher HJ-Führer und hat heute mehr zu sagen als
ich. Und außerdem ist er ganz gottlos geworden. Darum klappt es zu Hause nicht
mehr. Er ist derartig frech geworden zu seiner Mutter. Wenn er auch mehr zu
sagen hat als ich, zu Hause habe immer noch ich das Sagen. Aber auch das klappt
nicht mehr. Deshalb habe ich ihm gesagt: Mein Junge, da oben auf dem Berg ist
ein Pastor, der sagt uns, wie alles in Ordnung kommt. Wir gehen mal hin. Pastor
Busch, erzählen Sie dem mal dasselbe, was Sie mir erzählt haben von
Jesus!" Also nichts von der Auflösung des Lagers! Mir ging damals auf, was
ich nachher bei der Staatspolizei immer merkte: Was der Mensch auch ist oder
was er auch vorgibt, er hat ein friedloses Herz, das nach Frieden schreit. Es
ist so viel Schmutz und Schuld da - wie aber werde ich frei, wie komme ich ins
Licht? Hier ist ein Herz, das schreit nach Jesus. Das habe ich immer wieder
gelernt. Ich habe gelernt, den Menschen ihr „Lametta" nicht zu glauben
und ihre steifen Mützen und was sie sonst noch so tun, um sich wichtig zu
machen. Oder Orden und Fracks oder immer wieder Neues, was Menschen erfinden,
um sich wie Paradiesvögel zu kleiden. Das glaube ich ihnen nicht mehr, sondern
ich glaube, dass der Mensch von heute, genau wie vor 2000 Jahren, ein armer
Mensch ist, der nichts nötiger braucht, als den Heiland, den Sohn Gottes, der
ihm Frieden mit Gott schenkt.
Ich sagte also: „Mein Junge, klappt's nicht zu Hause?"
„Nein." „Bist du, wie du sein sollst?" „Nein." Ich redete ihn
einfach mit „du" an. Ich sagte: „Du brauchst ein neues Leben."
„Brauch' ich. Aber wie geht das zu?" Und dann erzählte ich eine Stunde
lang von Jesus. Ich rief meine Burschen herein. Dann sangen wir ihnen Lieder
vor. „Ha", sagte der junge Gebietsführer, „wenn wir so etwas hier
hätten." Ich armer Hund da oben, verjagt und rechtlos, ich wurde froh am
Evangelium.
In der Zeit danach aber wurde es ernst. Dies war ja noch das
erste Jahr, wo alles im Aufbau war. Die Staatspolizei war inzwischen aufgebaut.
Und so fing die Zeit an, in der wir nicht mehr diskutieren, nicht mehr durch
Lücken schlüpfen konnten, sondern einfach um des Gewissens willen ohne Verein
und Organisation um das Wort Gottes zusammenkamen. Und wo mich dann
immer wieder die starke Hand traf und ins Gefängnis warf. Davon möchte ich
Ihnen jetzt noch berichten. Ich erzähle Ihnen mein aufwühlendstes Erlebnis,
meine erste Verhaftung. Das war in Darmstadt. Wir hatten damals evangelische Wochen
eingerichtet mit einem Team. Dazu gehörten der heutige Bischof Lilje und Dr.
Humburg, der schon in der Ewigkeit ist, und Eberhard Müller, heute Akademieleiter,
ich selbst und eine Reihe von fünf bis sieben Leuten. Wir richteten diese
Wochen zugleich in Darmstadt, Kassel und Mannheim ein. Dann sprach ich
nachmittags in Mannheim, abends in Darmstadt und am nächsten Morgen in
Darmstadt, nachmittags in Kassel usw. Und so eilten wir durch die Lande, fünf
Tage lang. Unsere Themen damals würden heute wohl keinen Hund mehr hinterm Ofen
hervorlocken. In Mannheim etwa sprach ich am Nachmittag über „Liebe und Ehre in
der evangelischen Jugenderziehung". Sie würden heute fragen: Was ist das? Damals
begriff jeder: Wir Christen sagen, die Liebe ist das Höchste, aber die Nazis
sagen, die Ehre ist das Höchste. Was sie darunter verstanden, haben sie
eigentlich nie gesagt. Es war also eine Auseinandersetzung um die höchsten
Werte. Da war die riesige Christuskirche in Mannheim mit 3000 Leuten gerammelt
voll, nachmittags um 14 Uhr. Das waren Auseinandersetzungen, wirkliche
Geisteskämpfe! Wobei wir immer mit dem Leben spielten. Denn sie konnten zu
jedem Satz sagen: Du hast die offizielle Weltanschauung der Partei angegriffen.
Ich hatte in Mannheim gesprochen und war gegen Abend in
Darmstadt. Ein Freund holte mich mit dem Auto ab und sagte: „Mein lieber
Wilhelm, die Pauluskirche in Darmstadt ist voll, aber die Staatspolizei, die
uniformierte Polizei, hat sämtliche Türen besetzt, um dich fest-
zunehmen und am Reden zu hindern. Ich setze dich in einer
stillen Seitenstraße ab. Du musst alleine sehen, wie du hineinkommst. Ich warte
den ganzen Abend in der Seitenstraße auf dich." Dann setzte er mich ab und
sagte noch: „Ich bleibe hier stehen, falls du abhauen musst. Jetzt sieh zu, wie
du weiterkommst." Ich ging die Straße entlang und kam an einen großen
freien Platz. Da stand die große Pauluskirche. Furchtbar viele Menschen, große
Aufregung, und in den Türen, die erleuchtet waren, stand die Staatspolizei. Man
erkannte sie schon an ihren Gesichtern. Das war eine Mischung aus Spießbürger,
Bulldogge und uniformierter Polizei. Die kontrollierten jeden, der noch
hineinwollte. Da war mir klar: Ich komm' da nicht rein. Es hatte sich
neugieriges Volk angesammelt und ich sah, wie sie mich suchten. Also, hier kam
ich nicht durch. Ich wollte aber meine Predigt halten. Ich sah mir das Gelände
an. Da stand die Kirche, und neben der Kirche war ein Gitter. Dahinter lag ein
stiller Hof. Der Hof wurde am Ende von dem Pfarrhaus abgeschlossen. Der Eingang
ins Pfarrhaus lag in der Nebenstraße. Als ich mir das Gelände anschaute mit dem
Blick eines alten Offiziers aus dem 1. Weltkrieg, sagte ich mir: Die einzige
Möglichkeit, um da reinzukommen, ist durch den Hof, denn der ist nicht bewacht.
In den Hof aber komme ich nur vom Pfarrhaus aus. Ob es nicht möglich ist,
durch's Pfarrhaus in den Hof zu kommen? Ich ging um die Ecke, das Pfarrhaus war
dunkel, aber die Tür stand offen. War das nur eine Falle? Standen die drinnen
und warteten, dass ich kam? Oder hatte der Pfarrer mir eine Tür öffnen wollen?
Ich stand mutterseelenallein vor der offenen Tür. Sollte ich durchgehen oder
nicht?
Man sagt, der Mensch von heute sei sehr einsam, aber so habe
ich Einsamkeit selten gespürt wie in diesem Augenblick. Völlig preisgegeben! Aber
ich kann es nur so bezeugen: In dem Augenblick, als ich diese Einsamkeit
spürte, - es konnte mir keiner die Entscheidung abnehmen - war mir's, als ob
ich greifbar spürte, ER ist neben mir. Jesus hat es zugesagt: „Ich bin bei euch
alle Tage bis an der Welt Ende". Ich wurde so glücklich, dass ich es Ihnen
gar nicht beschreiben kann. ER hat mich erkauft, ER hat mit seinem Blut
bezahlt. ER lebt, ER ist bei mir. Ich bin auf der Seite des Siegers. Ich möchte
Ihnen nochmal sagen: Schieben Sie es nicht so lange auf, Christ zu werden!
Auch Ihr Leben kommt in solche Krisen-Situationen. Da muss man's haben. Da kann
man nicht mehr suchen! Dann ging ich hinein in das dunkle Pfarrhaus. Plötzlich
packte mich ein Arm, und jemand flüsterte: „Kommen Sie mit!" War das die
Staatspolizei? Ich wurde die Kellertreppe hinuntergeführt, durch mehrere
Keller, bis ich merkte: nun bin ich im Heizungskeller der Kirche. Der lag
offenbar unter dem Hof. Aber alles war stockdunkel. Der Mann, der mich führte,
machte die Taschenlampe an, zeigte auf eine kleine Wendeltreppe und sagte: „Gehen
Sie rauf!" Ich ging hinauf und war auf einmal in der Kirche. Alles
gerammelt voll! Ich wusste nicht, wer der Mann war, und ich bin später
herausgekommen, ohne ihm zu begegnen. - Erst nach einigen Jahren habe ich auf
einem Kirchentag erfahren, wer es war. Da steht doch der bekannte
Generalsekretär der Ökumene, Visser't Hooft, vor mir und sagt: „Bruder Busch,
Sie sind mein Kirchenkampf-Erlebnis." Ich sage: „Wieso?" „Ich war der
Mann in Darmstadt. Ich hatte dem Pfarrer gesagt: Wenn der Busch klug ist, kommt
er hier herein. Aber Sie dürfen ihn nicht hereinlotsen, sonst werden Sie verhaftet.
Gehen Sie mit Ihrer Familie raus und lassen Sie mich als Ausländer das
machen." Ausländer konnten damals mehr riskieren, das erfuhr ich erst nach
Jahren.
Nun war ich aber in der Kirche. Ich hatte meinen hellen
Regenmantel dem ersten Besten in den Arm geworfen. Von der Kanzel holten sie
nie jemanden herunter. Mein Thema lautete: „Jesus Christus, der Herr".
Seitdem ich in das Pfarrhaus gegangen war, war eine große Ruhe über mich
gekommen. Da stand die uniformierte Polizei und wollte mich kriegen, und ich
stand oben und konnte nur sagen: „Lassen Sie jetzt einmal alle Unruhe beiseite.
Wir wollen jetzt vom Herrlichsten reden, was es überhaupt gibt, nämlich von
dem, der aus der ewigen Welt zu uns gekommen ist, von Jesus." Es waren
Lautsprecher nach draußen gelegt worden, weil klar war, dass die Kirche nicht
groß genug war. Die Staatspolizei hatte nun furchtbar viel damit zu tun, die
Lautsprecherkabel durchzuschneiden, damit die Leute draußen die
„schreckliche" Botschaft nicht hörten. Und dann habe ich eine ganze Stunde
gesprochen. Mein Generalthema war eigentlich nur dieser eine Liedvers:
„Wüssten's doch die Leute, wie's beim Heiland ist, sicher würde heute mancher
noch ein Christ." Gott gab mir große Freudigkeit, dass ich ihnen einfach
das zeigen konnte, was es heißt, dass der Mann von Golgatha Ströme von
Vergebung und Gnade in mein Leben gießt, dass ich mit dem Auferstandenen leben
kann. Das ist etwas Wundervolles!
Ich bin dann
herunter von der Kanzel und habe meinen Mantel gepackt. Die Leute haben damals
schnell geschaltet. Schnell waren 20 Leute um mich herum. Die Polizei kam
sofort gerannt: „Wo ist Pfarrer Busch?" Aber jetzt waren erst einmal 20,30
Leute da, die sie kontrollieren mussten. In der Zeit war ich längst entwichen,
durch den Keller ins Pfarrhaus und dann hinaus. Schon stand ich wieder draußen
und sah mir dieses lächerliche Theater an, wie sie jeden Herauskommenden
kontrollierten. Sie hatten Fotografien von mir. Ist er das nicht oder ist er
es? Ich aber stand friedlich draußen und schaute in aller Ruhe zu.
Dies war aber nur der erste Teil meines Erlebnisses. Ich
dachte: Es wird nun Zeit, dass ich verschwinde. Ich ging zu meinem Auto, das an
einer Laterne in einer stillen Straße stand, und ich meinte, der Fahrer sei
wohl eingeschlafen, denn er saß da so regungslos. Ich ging hin und sagte:
„Günther!" Plötzlich kommt hinter dem Auto einer vor und sagt: „Geheime
Staatspolizei. Stopp! Sie sind verhaftet!" Darum also saß der Fahrer so
regungslos; sie hatten ihm befohlen, sich nicht zu rühren, damit er mich nicht
warnen konnte. Und nun wurde ich zurückgeschleift in die Sakristei der
Pauluskirche. Das gab natürlich ein ungeheures Aufsehen. Mir wurde befohlen:
„Sie müssen heute abend noch abfahren." Ich widersprach: „Das kann ich
nicht. Ich muss hier morgen früh predigen." „Sie reisen ab!" „Wir
sind im Deutschen Reich. Sie können mich doch nicht einfach aus Hessen ausweisen.
Ist doch lachhaft", sagte ich. „Dann setzen wir Sie in die Bahn."
„Aber mit dem nächsten Zug fahre ich zurück; erst muss ich morgen früh hier
predigen." „Dann müssen wir Sie verhaften." „Bitte." Ich wusste
noch nicht, was das bedeutet. Ich wusste es wirklich nicht. Dann kam der
schreckliche Augenblick, als sie mich in ein offenes Auto setzten, vorne ein
SS-Mann und einer daneben, dann ich und der Kommissar. Es war ein großer
Mercedes, ein bisschen altmodisch. Ringsum waren Tausende von Menschen; die
von drinnen waren herausgekommen, und draußen waren auch noch Leute dazugekommen.
So etwas sprach sich schnell herum damals.
Ich hatte Angst; wenn die Leute mich jetzt befreiten, dann
wäre es das Schlimmste, was mir geschehen könnte. Denn dann würde sofort meine
Familie festgenommen. Ich konnte nur zu Gott schreien, dass sie ruhig blieben.
Dann geschah etwas, was ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Es war eine
Erregung, eine knisternde Spannung unter den Menschen. Die Leute schrien: „Der
hat doch gar nicht politisch geredet! Jesus Christus der Herr!' Darf man davon
etwa nicht mehr reden?" Plötzlich stand ein junger Mann oben auf der Kirchentreppe
- ich habe ihn nie wieder gesehen - der über die erregte Menge hinweg den Vers
von Blumhardt rief: „Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht. Sein wird die
ganze Welt. Denn - er sagte das mit Vollmacht - denn alles ist nach seines
Todes Nacht in seine Hand gestellt." Was das bedeutete: Neben der
Allmacht Hitlers die Allmacht Jesu Christi öffentlich zu proklamieren! „Nachdem
am Kreuz er ausgerungen, hat er zum Thron sich aufgeschwungen, ja, Jesus
siegt!" Ehe jemand ihn packen konnte, war er in der Menge verschwunden.
„Fahr doch los!", brüllte mein Kerl dem Fahrer zu, doch
der war schon lange am wurschteln. Der Wagen sprang einfach nicht an; es war,
als ob ihn einer von hinten festhielte. „Fahr doch!" Da stimmte die Menge
an: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich, so oft ich ruf und
bete, weicht alles hinter sich!" Ein brausender Gesang! „Hab ich das
Haupt - Jesus - zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der
Feinde und Widersacher Rott?" „Fahr doch!" Dann fuhren wir
schließlich los. Gott hatte den Wagen festgehalten. Das mussten sie erst
mitkriegen, dieses Zeugnis! Mein Herz war so voll, dass ich dem Kommissar
sagte: „Sie armer Mann!" Da sackte er in sich zusammen und sagte: „Ich war
früher auch im Bibelkreis für höhere Schüler." „Und heute verfolgen Sie
die Christen." „Ach", bat er, „geben Sie doch nach. Lassen Sie sich
ausweisen. Tun Sie mir das bitte nicht an, dass ich Sie verhaften muss."
Ich sagte: „Sie armer Mann! Ich kann Sie nicht davor bewahren." Da wurde
er richtig böse, und ich ging nach der Ankunft des Wagens in die Zelle hinein.
Wir kamen damals
nie in ordentliche Gefängnisse, sondern in die Gefängnisse der Staatspolizei.
Das waren Gefängnisse besonderer Art. Ich hatte meistens, mit einer Ausnahme,
eine Zelle, die so schmal war, dass ich, wenn ich die Arme anwinkelte, schon an
die Wand stieß. Oben war ein Fenster. Zwei Schritte hin, zwei Schritte her. Da
werden Sie nach zwei Tagen wahnsinnig. Nichts zu lesen, kaum zu essen; ich
dachte, ich werde verrückt in dieser Zelle. Doch dann erlebte ich immer
dasselbe, dass mir nämlich an der Grenze des dunklen Reiches aufging: „Mensch,
du gehörst doch dem, der dich erkauft hat. Und Gott lässt sein Eigentum nicht
los!" Ich kann es nur so ausdrücken: Dann kam Jesus zu mir in die Zelle.
In diesen schmutzigen Gestapo-Zellen - da verlieren Sie alle Schwärmerei. Da
lernen Sie die Realität, da lernt man sein eigenes Herz kennen. Ich habe Zeiten
erlebt, in denen Gott mir alle meine Sünden vorhielt, in denen ich sah, wer ich
bin: ein verlorener Mensch! Aber dann sah ich Jesus, für mich gekreuzigt, und
ER kam zu mir. Als meine Frau mich einmal sprechen durfte bei einer Verhaftung,
sagte sie: „Wie siehst du denn aus? Bleich, unrasiert und mager." Da sagte
ich: „Moment mal, um euch muss man Angst haben. Wie viel Zeit habt ihr zum
Beten? Wie viel Zeit hast du, um Gott zu loben? Mein Tageslauf ist so: Von 7-8
Uhr Gott loben; von 8-9 Uhr Fürbitte tun für andere; von 9-10 Uhr mir die Psalmen
hersagen, die ich kann. Und von 10-11 Uhr mache ich Turnübungen, damit ich
nicht einroste; von 11-12 Uhr fange ich wieder an, Gott zu loben. Dreimal am
Tage eine Stunde Gott loben!" Meine Zelle war voll der Herrlichkeit
Gottes. Ich sagte: „Um euch muss man Angst haben, die ihr mit der Wirklichkeit
des lebendigen Gottes nicht mehr rechnet, nicht um mich."
Und dann geschah
es in der Darmstädter Zelle, dass eines Tages die Tür aufging. Ein Wärter kam
herein, ein SS-Mann. Er zog die Tür hinter sich zu und ich dachte, er wolle mir
was tun. Ich stellte den Hocker vor mich und dachte, ich wehre mich. Da kam der
alte Wilhelm Busch wieder zum Vorschein, trotz aller Entschlüsse zu leiden.
Dann sagte der Wärter: „Moment mal, ich tue Ihnen doch nichts", zog aus seiner
Tasche einen Ausschnitt aus einem Sonntagsblatt und sagte: „Mein Schwiegervater
ist ein christlicher Mann und liest das Sonntagsblatt. Da war eine Geschichte
drin: Jesus im Zirkus Sarasani' von Wilhelm Busch. Die hat mir so gut
gefallen, da habe ich sie ausgeschnitten und trage sie jetzt immer bei mir. Ist
die von Ihnen?" „Ja", sagte ich. „Die habe ich mal erzählt." Da
hatte ich eine Beerdigung im Zirkus Sarasani. Ich musste eine Indianerin
beerdigen. Alle möglichen Völkerschaften waren vertreten, Mauretanier,
Amerikaner usw. Die kannten doch alle meine Sprache nicht. Da ging mir auf:
Wenn es ein Wort gab, das alle verstehen würden, dann war es das Wort: Jesus.
So habe ich eine Rede gehalten, in der immer das Wort Jesus vorkam. Und auf
einmal wurde es still.
Die Geschichte ist durch alle Länder der Erde gegangen. Es
gab sie sogar in arabischer Schrift. Und da fragte der SS-Mann: „Ist die von
Ihnen?" „Ja", sagte ich, „die ist von mir. Aber jetzt geht es nicht
um die Frage: Jesus im Zirkus Sarasani, sondern Jesus im Gefängnis der Staatspolizei
in Darmstadt." „Da müsste ich ja Tinte gesoffen haben, wenn ich Ihnen das
abnähme." Ich sagte: „Im Gegenteil, Sie haben Tinte gesoffen, wenn Sie mir
das nicht abnehmen. Aber wenn wir darüber reden wollen - ich ersticke in dieser
Zelle. Lassen Sie uns im Gang reden. Da ist wenigstens ein Fenster, an dem man
mal Luft kriegt." „Ja, kommen Sie mit raus!"
Zehn Minuten später hatte ich die ganze Belegschaft um mich
her, Evangelisation für geheime Staatspolizisten. Unbeschreiblich! Ich sagte:
„Ehe wir reden, müssen wir wissen, über was wir reden wollen. Leute, es gibt
nur zwei Weltanschauungen, in der ganzen Welt nur zwei! Nämlich alle
Weltanschauungen zusammen, die es gibt, und das geoffenbarte Evangelium. Geben
Sie Papier her und einen Bleistift." Ich ließ es mir geben und machte nun
auf dem Papier einen Strich mitten durch und sagte: „Hier schreiben wir jetzt
hin ,alle Weltanschauungen' und hier ,geoffenbartes Evangelium'. Diese beiden
unterscheiden sich in vier Punkten entscheidend: In dem, was sie über Gott
sagen; in dem, was sie über den Menschen sagen; in dem, was sie über die
Erlösung sagen; und in dem, was sie über die Hoffnung sagen." Ich
erklärte: „Erstens: Alle Weltanschauungen und Religionen nennen irgendetwas
Innerweltliches ,Gott'. Sie sagen z.B. ,Mein Volk ist Gott'. Das ist etwas
Innerweltliches. Der Spießbürger sagt: ,Die Natur ist mein Gott'. Andere
sagen: ,Die Tiefe des Daseins ist Gott'. Und da hört dann alles Reden auf. Was
Gott ist, ist aber doch eindeutig klar. Ich kann sagen: ,Er ist nicht', oder
,Erist'. Aber ich kann nichts Innerweltliches ,Gott' nennen. Das ist doch
Schwindel. So z. B., wenn Goethe sagt: ,Gott ist Gefühl'. Die Bibel dagegen
sagt: ,Gott steht außerhalb der Welt als ihr Schöpfer und Herr'. Zweitens: Die
Weltanschauungen und das Evangelium unterscheiden sich in dem, was sie über den
Menschen sagen. Alle Weltanschauungen glauben, dass der Mensch irgendwie gut
ist. Der Idealismus sagt: ,Der Mensch hat einen guten Kern'. Sie sagen: ,Der
arische Mensch ist gut'. Der Kommunist behauptet: ,Der klassenlose Mensch ist
gut'. Da kommt eine Großmutter zu mir und sagt: ,Mein Enkel, Herr Pastor, der
klaut und verhaut seine Schwestern - aber es ist ein guter Kern in ihm'. Also:
Alle Weltanschauungen sagen, der Mensch sei gut. Die geoffenbarte Wahrheit der
Bibel aber sagt: ,Der Mensch ist vor Gott böse und darum aufs allerhöchste
erlösungsbedürftig'. Im Katechismus der Reformierten heißt es: ,Ich bin von
Natur geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen'. Da stand ich also vor den
SS-Leuten und machte ihnen klar, wie böse wir Menschen sind, und dass wir in
die Hölle kommen. Drittens: Sie unterscheiden sich in dem, was über die
Erlösung gesagt ist. Irgendwie beinhalten alle Weltanschauungen das Element
der Selbsterlösung. ,Wer stets strebend sich bemüht', sagt mein lieber
Landsmann Goethe, oder, ,Wenn wir reinrassige Arier züchten, dann sind wir
erlöst'. Die Bibel sagt: ,Du bist erlöst worden. Nun nimm es an'. Und an dieser
Stelle zeichnete ich ein Kreuz auf das Blatt Papier.
Viertens: Sie unterscheiden sich in der Hoffnung. Die
Weltanschauungen sagen: irgendwann einmal kommt das ganz große Deutsche Reich'.
Oder: ,Irgendwann kommt die klassenlose Gesellschaft'. Irgendwann... Die Bibel
aber sagt: .Irgendwann kommt Jesus wieder'. Am Ende steht eine Katastrophe für
die Welt, weil der Herr der Welt auf die Bühne tritt, sichtbar und
herrlich!" Während ich den SS-Leuten diesen Vortrag hielt, saß hinter der
Zellentür gegenüber ein Freund und Amtsbruder von mir. Davon wusste ich gar
nichts. Aber später erzählte er mir: „Ich sitze da so verzweifelt und auf einmal
höre ich jemanden reden. Ja Mensch, denke ich, der Wilhelm Busch, was schreit
der denn so? Mensch, der evangelisiert hier im Gestapo-Gefängnis!" Da sei
er auf die Knie gefallen und habe die ganze Zeit lang gefleht: „Herr, gib ihm
Vollmacht. Tu die Herzen auf!" Da habe ich gedacht: „Das ist die Kirche
der Zukunft." Die Kirche im Gefängnis: Der eine legt Zeugnis ab und der
andere, hinter verriegelter Tür, kniet und schreit zu Gott. Das ist die wahre
Kirche, die eigentliche, die mit Jesus unterliegt und doch siegt.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch diese Geschichte erzählen: Ich war einmal in Essen im Gefängnis und ich war sehr elend. Ich hatte Fieber, ich fror, ich war hungrig, ich war völlig „down", bereit zu jeder Niederlage. Dann wurde ich aus der Zelle geholt und zum Verhör zur Staatspolizei geführt. Da saßen die drei führenden Männer. Die waren auf einmal katzenfreundlich. Da verkrampfte sich mein Herz. Ich dachte: „Wenn ihr freundlich seid ..." Sie sagten: „Pastor Busch, wir haben gesehen, dass Sie gar nicht so übel sind. Sehen Sie, der einzige Unsinn ist, dass Sie unter allen Umständen Jugendpfarrer sein wollen. Wir garantieren Ihnen, in zehn Jahren wird kein junger Mensch in Deutschland mehr wissen, wer Ihr imaginärer Jesus ist. Das garantieren wir Ihnen. Dafür sorgen wir. Und darum braucht man keine Jugendpfarrer mehr. Wir offerieren Ihnen, Pfarrer Busch: Sie können jetzt auf der Stelle entlassen werden, und Sie bekommen eine Stelle als Oberregierungsrat, wenn Sie versprechen, zu keinem Menschen mehr Ihre Botschaft zu sagen. Sie können glauben, was Sie wollen. Wir geben Ihnen 24 Stunden Bedenkzeit."
Meine Freunde, das ist grauenvoll. Sie sitzen unsagbar hungrig und frierend und fiebernd in der Zelle und denken: Nur raus jetzt! Ich darf ja glauben, was ich will. Ich soll bloß nicht mehr reden. Ich kann morgen raus, habe eine ordentliche Stelle, und der ganze Druck und die Verfolgung hören auf. Ich konnte einfach nicht mehr, wirklich nicht. Ich brauchte nur zu sagen: Ich will nicht mehr darüber reden. Ich kann für mich glauben, was ich will. Da waren alle Dämonen der Hölle in meiner Zelle. Verstehen Sie das? Sie sagten mir: „Tu das doch, tu das!"
Und dann trat ER auf - ER, der lebendige Herr - und hielt mir vor Augen, wie herrlich ein Leben in seinem Dienst ist. Er machte mir klar, dass man das nicht halbieren kann: Du kannst zwar für dich alleine glauben, aber schweigen? Das geht nicht. Dann sag mir ab! Dem Mann, der mich auf Golgatha erkauft hat, absagen? Keine Versöhnung mit Gott mehr, keinen Frieden, keinen Heiland, kein seliges Sterben, keine Hoffnung auf ewiges Leben? Das ist unmöglich.
Am nächsten Morgen trat ich vor die Leute und sagte: „Ich kann Ihr Angebot nicht annehmen." Meine Freunde, Sie werden auch noch solche Prüfungen erleben. Dazu braucht man keine Staatspolizei. Fragen Sie sich: Wo stehen Sie eigentlich? Haben Sie in Ihrem Leben einmal eine Entscheidung gefällt? Meinen Sie, Gott reißt sich seinen Sohn vom Herzen und schickt ihn in die Welt, damit wir darüber diskutieren? Damit wir weiterleben und sagen: Wir können auch ohne ihn auskommen? Wie denken Sie sich das? Der Tatsache von Golgatha gegenüber wird mein ganzes „Ja" oder ganzes „Nein" gefordert, und zwar immer von neuem.
„In zehn Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus ist." Es war ein paar Jahre später, kurz vor Kriegsschluss; ich war gerade in der Stadt. Es gab Alarm, sofort Vollalarm, und dann krachten auch schon die ersten Bomben. Ich wusste nicht wohin. Da war aber eine Anlage, ein Eingang zu einem tiefen Bunker, der aber noch nicht fertiggestellt war. Es gab noch keine Treppe, sondern nur einen schrägen Schacht, der hinunterführte. Wenn es aber hinter Ihnen kracht, dann fragen Sie nicht nach Treppen. Ich glitt also hinein, über feuchten Lehm. Dabei kam ich ins Rutschen und sauste mit affenartiger Geschwindigkeit in den Bunker hinein. Unten stand ein Soldat und fing mich auf. Es gab nur ein bläuliches, ganz trübes Licht. Dann erkannte ich ihn: Es war der Chef der geheimen Staatspolizei! Er wartete auf den Einmarsch der Amerikaner und hatte sich als kleiner, schlichter Infanterist verkleidet. Und plötzlich stammelte er in dem blauen Licht der fahlen Nacht ganz erschrocken: „Pfarrer Busch? Leben Sie denn noch?" Es wurde schrecklich gestorben damals. Man wurde hingerichtet, man wurde umgelegt, man wurde liquidiert, man kam ins KZ, man wurde von Bomben getroffen.
„Leben Sie denn noch?" Da packte mich der Übermut des Glaubens. Ich sagte: „Herr Nohles, wir werden noch viele überleben." Er verstand dieses „Wir" gut. Ich sah Jesus an der Spitze und mit ihm die ganze Schar, die an ihn glaubt. Wie war das noch vor ein paar Jahren? „In zehn Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus ist."
Ja, wir überlebten noch viele. Acht Tage später hatte sich dieser Mann erhängt.
Aber ich darf heute vor Ihnen stehen und den Heiland rühmen, ohne den zu leben kein Leben ist.
Ich beginne mit einem Erlebnis. Als Hitler auf der Höhe
seiner Macht war, so um 1937/38, begann Dr. Eberhard Müller, den Sie ja von den
evangelischen Akademien kennen, ein Team zusammenzustellen, mit dem er sogenannte
evangelische Wochen veranstaltete, geistliche Auseinandersetzungen mit den
Themen unserer Zeit. Es war unheimlich, wie das einschlug. Der Eintritt kostete
zwei Mark für einen Vortrag. Es war an einem glockenhellen Wochentag in der
Mannheimer Christuskirche, die 3000 Plätze hat. Dort sprach ich mittags über
das Thema: Liebe und Ehre in der evangelischen Jugendarbeit. Können Sie sich
was darunter vorstellen? Glauben Sie, heute würde das jemand verstehen, wenn
ich mittags um zwei Uhr darüber sprechen würde? Da käme doch kein Mensch.
Damals waren 3000 Menschen da. Sie wussten, dass die Nazis unablässig
trommelten: „Diese schäbigen Christen, für sie ist der Höchstwert - so nannten
sie es, die Liebe - die Liebe Gottes in Jesus, die Liebe, die sie weitergeben.
Doch Liebe ist eine schwächliche Angelegenheit. Der Höchstwert im Leben muss
aber die Ehre sein. Diese Parole wurde nun überall ausgegeben. Sie stammte von
Rosenberg, dem weltanschaulichen Schulungsleiter. Jedem denkenden Menschen,
jedem jungen Menschen kam die Frage: Was ist denn nun der Höchstwert im Leben?
Was ist denn Ihr Höchstwert? Aber ich will Ihnen zeigen, dass das damals eine
unendlich lebendige Auseinandersetzung war. Da lag nicht diese Träg-heit, wie
heute, über allem geistlichen Leben. Und weil die Sache zunahm, richtete
Eberhard Müller es so ein, dass in allen Provinzen evangelische Wochenenden
gehalten wurden. Ich übernahm das für das Rheinland. Ich veranstaltete also
den evangelischen Samstag und Sonntag in Neuwied, in Kreuznach und in Moers.
Nun hatte ich solch eine Veranstaltung in Kreuznach. Der Mann, der mir da zur
Hand ging, war ein junger Lehrer. An einem Samstagmorgen fuhr ich also nach
Kreuznach. Eine Station vor Kreuznach kam auf einmal der junge Lehrer in den
Zug gestiegen. Ganz aufgeregt sagte er: „Nehmen Sie Ihren Koffer, schnell, wir
gehen in den letzten Wagen." Ich fragte: „Warum? Wieso?" „Ja, also
ich erkläre es Ihnen gleich. Hören Sie, am Bahnhof in Kreuznach ist die
Staatspolizei aufgestellt und will Sie am Reden hindern. Wir wissen nicht, ob
man Sie gleich abschiebt oder verhaftet, aber sie haben nicht den Mut, es zu
verbieten, weil so furchtbar viele Leute vom ganzen Hunsrück und aus dem
Nahetal gekommen sind. Man will Sie stillschweigend abschieben." Ich
sollte am Nachmittag und Abend des Samstag reden, am Sonntag jemand anders.
„Und dann machen wir es so: wir steigen aus dem letzten Wagen aus und gehen
dann, in der Deckung des Zuges, nicht durch die Sperre, sondern gleich hinten
durch den Wald." Das wurde dann auch so gemacht. Ich hatte für 48 Stunden
nicht viel Gepäck. Als nun der Zug hielt und alle ausstiegen, gingen wir raus,
in Deckung des Zuges, über Gleise und Drähte. Dann waren wir im Wald
verschwunden. Wir machten einen großen Bogen um Kreuznach und überlegten,
wohin wir gehen konnten. Zu dem Lehrer konnten wir nicht und zum Pfarrer auch
nicht. Natürlich würde mich die Staatspolizei in Pfarrhäusern oder bei den
Leuten der Gemeinde suchen, wenn ich nicht an der Sperre erschien. Am besten
schien uns ein großes Cafe, das war am unauffälligsten. Da würden viele Fremde
sein, da würde man sicher am besten untertauchen können. Während wir uns langsam
von der anderen Seite von Kreuznach an das Cafe heranschlichen, mache ich jetzt
einen kleinen Einschub.
Sie haben
wahrscheinlich keine Vorstellung mehr davon, was das war, die Geheime
Staatspolizei. Das ist das Merkwürdige an diktatorischen Staaten, dass der normale
Rechtsweg, Gefängnis und Gericht und Polizei nicht mehr genügen, sondern dass
sich ein zweiter Rechtsweg entwickelt: Geheime Staatspolizei,
Gestapo-Gefängnis, Konzentrationslager. Diese Staatspolizei war eine
riesenhafte Organisation, die sich über alles Leben in Deutschland legte. Wir
haben uns oft gefragt: Ist die Geheime Staatspolizei, Gestapo genannt, ist sie
allwissend oder ist sie es nicht? Sie verbreitete gern den Nimbus des „Wir
wissen alles". Sie wussten viel. Die Schwierigkeit bestand nämlich damals
immer darin: Wenn zwei Leute miteinander redeten, dann konnte der zweite immer
ein Verräter sein. Wenn ich einen unüberlegten Satz sagte, konnte das der
Staatspolizei gemeldet werden. Damals lernte man den sogenannten „Deutschen
Blick". Wenn zwei sprachen, guckten sie sich um, ob einer zuhörte. Ja,
die Gestapo wusste viel. Diese Organisation hat ein solches Maß an Misstrauen
geschaffen, dass Sie es sich gar nicht vorstellen können. Wenn zwei miteinander
redeten, konnten sie nie sicher sein, ob der andere nicht irgendeinen dummen
Satz anzeigte. Da schloss sich jeder ein in sein Zimmer. Da sagte man zum
ändern nur noch das, was die Staatspolizei wissen durfte. Das ganze Volk wurde
zu Heuchlern. Das gab grauenvolle Komplexe und Verbiegungen. Das müssen Sie
meiner Generation zugute halten. Sie hat seelische Wunden davongetragen, die
nicht mehr heilen. Man erlebte bei dieser Staatspolizei merkwürdige Dinge.
Ich will Ihnen ein kleines Erlebnis erzählen. Da sollte am
Sonntag eine Abkündigung der bekennenden Kirche verlesen werden. Die Nazis hatten
sich aller Organisationen, auch der Kirche, bemächtigt und da war eine bekennende
Kirche entstanden, zu der Teile der Pfarrer und Teile der Presbyterien
gehörten. In Württemberg war das nicht so scharf wie bei uns im Rheinland. Es
sollte also von den Kanzeln eine Erklärung verlesen werden gegen die
Euthanasie, also dagegen, dass man die geistig Schwachen und Epileptischen
umbringt. Das war so durchgesickert. Da sollte die Erklärung auch gleich als
Flugblatt in der Gemeinde verteilt werden. Die Staatspolizei kriegte Wind
davon. Am Samstag kamen zwei Herren, die kamen immer zu zweit. Einer war der
Begleiter, der blieb an der Tür stehen, und der andere setzte sich auf einen
Stuhl in meinem Studierzimmer. Und auf dem Tisch, da lagen die Flugblätter, ein
ganzer Stapel. Der Beamte legte den Arm darauf und fragte: „Herr Pfarrer, haben
Sie die Flugblätter?" Ich sagte: „Darüber bin ich Ihnen keine Auskunft
schuldig." „Dann muss ich eine Hausdurchsuchung machen." Ich sagte:
„Das kann ich nicht verhindern. Suchen Sie doch. Hier sind große Bücherschränke,
hinter jedem können die Flugblätter sein. Ich kann Sie nicht aufhalten."
Der Mann stand auf, ging wütend durchs ganze Haus, setzte sich dann wieder auf
den Stuhl, legte den Arm auf die Blätter und sagte: „Scheint keine zu
haben." Ich würde ja gerne glauben, dass das ein freundlicher Mann war,
der nichts sehen wollte, aber ich kannte den Burschen. Wenn der die Blätter
gefunden hätte, dann hätte er mich mitgenommen.
Das war das Unheimliche. Als die Leute den Kampf gegen uns
eröffneten, da eröffneten sie einen Kampf mit einer Front, an welcher der
lebendige Herr mitspielte. Es heißt in der Bibel manchmal, dass Leuten „die
Augen gehalten" wurden. Ich bin überzeugt: Dem Mann wurden die Augen
gehalten. Er sah einfach nicht, was da unter seinem Arm lag. Es ging aber
längst nicht immer so herrlich ab.
Ich habe mich oft
gefragt: „Warum haben die gerade uns so gehasst und so schrecklich
verfolgt?" Sie hassten es
nur, wenn klare
biblische Botschaft verkündigt wurde. Denn es ging uns immer
mehr auf, dass jedes Wort der Bibel im Widerspruch stand zu allem, was die
Leute glaubten. Mein Bruder Johannes wurde in Stuttgart einmal verhaftet und
dann ausgewiesen, weil er einen Vortrag über Jesus gehalten hatte. Dagegen hatten
sie nichts. Der Vortrag schloss mit den Worten: „Du, du bist meine Zuversicht
alleine, sonst weiß ich keine." Da griff die Staatspolizei zu. Unsere
Zuversicht ist der Führer! Und Sie sagen: Sonst weiß ich keine als Ihren Jesus?
Unerhört! Das war ein Schlag mitten hinein in die Lehre des Dritten Reiches und
jedes totalitären Staates, und, meine Freunde, hinein in jede Ideologie. Ich
vergesse nicht, wie ich einmal in Wuppertal in einer riesigen Halle in einer
Bekenntnis-Versammlung sprach, zusammen mit dem alten Pfarrer Niemöller, dem
Vater von Martin Niemöller. Kurz vor Beginn kam die Staatspolizei und sagte:
„Niemöller, Sie dürfen nicht sprechen. Das ist von Berlin verboten. Der Pfarrer
Busch darf reden, Sie nicht. Das einzige, was Sie dürfen, ist, ein Bibelwort
vorzulesen." „Ist gut", sagt der alte Niemöller mit seiner tiefen
Stimme. „Erst singen wir, dann beten wir und dann geh ich nach vorne."
„Wir hören ein Wort aus Psalm 73." Ich höre noch heute seine Stimme: „Denn
es verdross mich der Ruhmredigen, als ich sah, dass es den Gottlosen so wohl
ging. Sie stehen fest wie ein Palast, darum muss ihr Trotzen ein köstlich Ding
sein und ihr Frevel muss wohlgetan heißen. Ihre Person brüstet sich wie ein
fetter Wanst, sie tun, was sie nur gedenken. Sie achten alles für nichts und
reden übel davon und lästern hoch her. Was sie reden, muss vom Himmel
herabgeredet sein; was sie sagen, das muss gelten auf Erden. Darum läuft ihnen
ihr Pöbel zu und laufen ihnen zu in Haufen wie Wasser." Da fingen die
beiden Staatspolizisten an, in ihren Mappen zu wühlen. Da hatten sie nämlich
eine Bibel drin. Sie mussten ja die Dinge kontrollieren. Sie guckten dem
Niemöller über die Schulter. Steht das in der Bibel? „Darum läuft ihnen ihr
Pöbel zu?" Es ist eine fragwürdige Sache mit mancher Versammlung. Dann
schlugen sie die Stelle auf: Das steht tatsächlich in der Bibel. Dann wurde es
still, totenstill, als Niemöller fortfuhr: „Bis ich ging ins Heiligtum und
merkte auf ihr Ende. Wie werden sie so plötzlich zunichte. Wie ein Traum wenn
einer erwacht, so machst du, Herr, ihr Bild in der Stadt verschmäht." Da
lief es selbst den Staatspolizisten kalt über den Rücken. Wenn die recht haben,
dann sind wir verloren! Verstehen Sie, die hatten nichts gegen ein allgemeines
Feld-, Wald- und Wiesenchristentum.
Dagegen hatten sie
überhaupt nichts, im Gegenteil, das unterstützten sie sogar. Der Führer
sprach in seinen Reden: „Der Höchste möge uns segnen und die Vorsehung mit uns
sein." Aber die Bibel spricht davon, dass wir vor Gott verlorene Sünder
sind. Der Führer, ein Sünder? Der arische Mensch ein Sünder? Unterm Gericht
Gottes? Kein Heil, als in Jesus Christus!
Dem fällt man zu oder man hasst ihn. Das ist übrigens heute
noch so. Wenn der Satz Sie zur Weißglut reizte: „Du, du bist meine Zuversicht
alleine, sonst weiß ich keine", dann darf ich Sie hier fragen: Was ist
denn Ihre Zuversicht? Dem Evangelium fällt man in der Gänze zu - oder man muss
es hassen. Geben Sie sich Antwort.
Aber nun sind wir
also in dem Cafe angekommen. Der Einschub ist zu Ende. Wir kamen in das
Cafe" und setzten uns in die Ecke an einen Tisch. Es waren ein paar von
den Mitveranstaltern dazugekommen. Dann haben wir beraten: Was machen wir? Es
kamen Boten, die sagten: „Die Staatspolizei hat Sie am Bahnhof nicht gefunden.
Die haben sich jetzt um die Kirche herum aufgestellt. Sie haben offenbar eine
Fotografie von Ihnen, um Sie an der Kirchentür abzufangen und am Reden zu
hindern." Es war eine alte Erfahrung: Wer auf der Kanzel stand, dem taten
sie nichts. Da hatten sie irgendwie das numinöse Gefühl „das fürchten
wir". Aber an der Tür konnten sie mich abfangen. Ich habe oft erlebt, dass
sie an den Türen standen, rechts und links, und die Fotografie mit den Gesichtern
der hineingehenden Menschen verglichen. So weit habe ich mich nie
herabgelassen, dass ich mir einen falschen Bart angeklebt hätte. Aber beinahe
so. Es wurde beschlossen: Wir
verkleiden den Pastor Busch. Ich
kriegte einen Talar angezogen in einem Hinterraum des Cafes. Der wurde mit zwei
Stecknadeln hochgesteckt, die ich nur rauszuziehen brauchte, dann fiel er mir
hinunter auf die Füße. Darüber kam ein toller Kamelhaarmantel, eine
Schlägermütze und eine Zigarette in den Mundwinkel. Ich sagte: „Das ist aber
ein bisschen übertrieben." „Ja", sagten die Mitarbeiter, „aber das
kann gar nicht übertrieben genug sein. Sie sehen jetzt aus wie ein
Spitzel." Als dann gerade ein großer Schwärm Menschen hineinging, drängte
ich mich mit hinein. Die Polizisten guckten mich komisch an. Ich blieb auf der
Treppe stehen und warf die Zigarette in hohem Bogen fort. Dann nahm der Küster
mir den Mantel und den Hut ab, zwei rissen die Nadeln heraus und ich lief
schnell die Kanzeltreppe hoch. Da gaben sie es auf. Zwei von ihnen nahmen einen
Stuhl, es war eine hohe Kanzeltreppe, die senkrecht nach unten ging, und
setzten sich rechts und links davon hin. Diese erste Rede konnten sie nicht
mehr verhindern. Es war schön. Diese Gegend war geistlich tot, nicht so lebendig
wie Württemberg. Es war herrlich. Diese große Kirche in Kreuznach war voll. Auf
den Gängen standen sie, die Weingärtner von der Mosel und die Bauern vom
Hunsrück. Dann habe ich das Evangelium verkündigt. Ich habe gesagt, was wir
erleben, wenn unser Herz friedlos ist, bis es Frieden mit Gott hat. Dazu
braucht man den, der uns versöhnt, den Herrn Jesus. Aber während ich da redete,
war in meinem Unterbewusstsein die Frage: Wie komme ich gleich wieder hier
raus? Ich musste doch an dem Abend noch einmal reden. Da fiel mir ein wunderbarer
Trick ein. Wissen Sie, es ist etwas Merkwürdiges um dieses Lied „Ein feste Burg
ist unser Gott", diese evangelische Nationalhymne. Wenn dies Lied gesungen
wird, stehen alle sofort auf. Darum sagte ich: „Nun singen wir zum Schluss das
Lied: Ein feste Burg ist unser Gott." Der Organist war begeistert. Und tatsächlich,
alle erhoben sich, auch die Beamten. Während dieser ,heiligen Handlung' konnten
sie mich nicht gut verhaften. Ich eilte die Treppe runter und während sie da
standen, warf ich mir den Mantel über, nahm die Schlägermütze und war
verschwunden. Es war Samstagabend so gegen 17 Uhr, es war ein Herbsttag. Ich
konnte jetzt in kein Cafe mehr gehen, in kein Haus. Alles wurde abgesucht. Man
führte mich ans Ende des Kurparks - Kreuznach ist eine Kurstadt - es fing an zu
regnen. Dann gingen alle weg, damit ich nicht auffiel. Da saß ich in der Dunkelheit
im Regen, ganz alleine und fror. Später brachte mir einer mein Gepäck und ein
bisschen zu essen. Es war gut, ich wollte allein sein, denn zwei Mann, das fiel
schon auf und drei waren eine Volksansammlung. Am Ende des Kurparks saß ich da
in der Dunkelheit im Regen. Sehen Sie, damals erlebte ich eine grenzenlose
Einsamkeit. Gewiss waren viele Leute gekommen, um mir zuzuhören, aber wer von
denen war denn bereit, sich zu Jesus zu bekennen, wenn es darauf ankam. Da
kann einen eine Mutlosigkeit befallen. Mensch, das ist doch alles vergeblich.
Du kommst doch nicht gegen eine ganze Staatsmacht an. Da lernen Sie beten.
Am Abend bekam ich eine andere Verkleidung. Ich ging dann
ein zweites Mal hinein und habe meine Abendversammlung gehalten, und dann
schnappte mich die Gestapo und beschwor mich abzureisen. Ich sagte: „Das habe
ich sowieso vorgehabt." Am nächsten Tag sprachen Leute, die noch nicht
weiter verdächtig waren.
Aber lassen Sie
mich jetzt mal bei dieser entsetzlichen Einsamkeit stehen bleiben. Das war die
Lage von Christen mit der Bibel im Dritten Reich. Im Grunde war das immer
unsere Lage, die Lage, in der ich mich dort im Kurpark befand. Man stand so
grenzenlos allein, und gegenüber waren Mauern einer dämonischen Macht. Lassen
Sie mich diese Mauer ein bisschen schildern. Da war die Macht der Lüge. Es
gehörte für mich einfach zum Erstaunlichsten, wie die Staatspolizei und auch
alles übrige der Lüge verschworen war. Darum sind wir so empfindlich, wenn im
Bundestag gelogen wird. Aber wenn die Staatspolizei mich verhaftete - es ist
nur ein paar mal passiert - dann kamen zwei Mann und sagten: „Wir müssen Sie
verhören, Sie müssen mitkommen." Ich sagte: „Sie können mich doch hier
verhören." „Nein, Sie müssen mitkommen." Dann wusste ich schon, das
bedeutet Verhaftung. „Sie wollen mich verhaften. Lassen Sie mich doch meine
Zahnbürste mitnehmen." „Nein, nein, Sie kommen mit, Sie sind in einer
Stunde wieder hier. Nur eben nach Gelsenkirchen." Da hatte ich morgens
gepredigt. „Sagen Sie doch, dass Sie mich verhaften wollen." „Nein,
wirklich nicht, nur ein Verhör, und weil die alle in Gelsenkirchen sind, müssen
Sie da hin." Wenn ich dann da reinkam, lag der rote Schein auf dem
Schreibtisch. Ich guckte hin - Busch. Ich sagte: „Das ist ja der Verhaftungsbefehl!"
„Jawohl, Sie sind verhaftet." Ich habe sie mal gefragt: „Warum lügen Sie
denn so? Warum sagen Sie nicht, dass Sie mich verhaften?" „Ach, wissen
Sie, dann machen die Weiber so ein Geschrei und die Kinder heulen, das wollen
wir vermeiden." Ich sage: „Sie wissen doch ganz genau, dass meine Frau
keine Szene macht und meine Kinder auch nicht. Das wissen Sie ganz genau, warum
lügen Sie dann?" Da ging mir etwas auf: Man kann so viel lügen, dass es zu
einer Sucht wird. In der Bibel sagt der Herr Jesus, dass der Teufel ein „Vater
der Lüge" sei. Mit jeder Lüge laufen Sie in sein Lager, greifen Sie die
Hand des Teufels. Und das Merkwürdige ist, dass man lügen muss, obwohl es gar
nicht nötig ist. Vielleicht haben Sie die Erfahrung bei sich schon gemacht.
Dieses entsetzliche Lügenmüssen der Leute! Das ging bis in die
Konzentrationslager. Wenn sie die Juden in die Gaskammern trieben, sagten sie:
„Ihr bekommt ein Bad." Jeder wusste, dass sie vergast werden sollten. Aber
das sagte man nicht. Man sagte hier noch, angesichts des grauenvollen Todes:
„Wir wollen euch baden", was ganz sinnlos war. Man musste lügen. „Wer
Sünde tut", sagt Jesus, der „ist der Sünde Knecht." Nun war das ganze
öffentliche Leben vergiftet mit dieser Lüge. Ich war einmal in einem Verhör,
da sollte ich einen Namen sagen. Ich war aus dem Gefängnis herausgeholt worden
zu diesem Verhör. Es wurde ein Protokoll aufgenommen. Dann kramte der Beamte,
er saß rechts an der Schreibmaschine, ich saß links, und sagte: „Ich mache 5
Durchschläge; für die Staatspolizei, für den Staatsanwalt, für was weiß ich
alles. Sie können en bloc unterschreiben." Er reichte mir den ganzen
Packen herüber. Aber ich sagte: „Moment mal, kann ich das Protokoll mal eben
durchlesen?" „Lassen Sie das, Sie wollen wohl Ihr Misstrauen gegen mich
aussprechen!" „Sie können nicht verlangen, dass ich Ihnen mein
unbegrenztes Vertrauen schenke. Meine Mutter hat mich schon als Kind gelehrt,
wenn ich mit meinem Namen unterschreibe, dann muss ich auch wissen, was es ist.
Erlauben Sie." In diesem Augenblick riss er mir die Papiere weg und ich
sah: Das waren ganz andere Blätter. Da ließen sie mich in aller Unwissenheit im
Durchschlag etwas ganz anderes unterschreiben. Ich habe nicht unterschrieben.
Was sollte das? Der Zwang zum Lügen ist mir so unheimlich, weil es ihn in
unserer Zeit auch noch gibt. Es gibt noch einen Teufel, und es gibt einen Zwang
zum Lügen. Und dieses Lügenmüssen ging so weit, dass sie den lieben, treuen
Gefängnispfarrer mit einspannten. Da war ich also eingesperrt und sollte einen
Namen verraten. Ich nannte ihn nicht. Da kam der Pfarrer rein und sagte: „Ich
soll Ihnen bestellen, dass Ihre Lage hoffnungslos ist. Sie werden übermorgen
ins KZ überführt." Ich sagte: „Lieber Bruder, machen Sie mir keine Angst.
Haben Sie eine Predigt bei sich?" „Ja." Wir hockten uns in die Zelle.
Er las mir also die Predigt vor. Später sagte er: „Die haben mich vorher
bearbeitet, ich solle Ihnen noch einmal alles vor Augen stellen." Ich
sollte gar nicht ins KZ kommen. Sehen Sie, sogar der arme kleine Pastor wurde
eingeschaltet, mich fertig zumachen mit Lüge. Als ich hierher reiste und mir
alles das noch einmal vor Augen stellte, bin ich ganz neu erschrocken über die
Macht der Unwahrhaftigkeit und der Lüge. Und ich dachte an Jesu Wort: „Wer aus
der Wahrheit ist, der hört meine Stimme." Das waren Mauern, gegen die wir
so einsam standen, die Mauern der Lüge im großen und kleinen.
Die andere Mauer war die Gesetzlosigkeit, dass das Recht
aufgelöst wurde. Es ist schlimm, wenn ein Politiker gegen die Einbahnstraße
fährt und dann den Polizisten forthaben will, der ihn daran hindern will, dass
ein führender Politiker sich einen „Jagdschein besorgt" auf krummem Weg.
Ich mache nur eine Andeutung. Sie wissen, was ich meine. Sie sagen: Das sind
kleine Dinge. Aber die machen mich nervös. Denn die Auflösung des Rechtes ist
das Ende jeder Gemeinschaft. Ich erinnere mich, wie der verehrte Professor Heim
einmal eine Predigt hielt über den Psalmtext: „In dem Reich dieses Königs hat
man das Recht lieb." Er hat das nur ausgelegt, ohne Seitenhiebe. Da gab es
einen Riesensturm. Die Veröffentlichung wurde beschlagnahmt. Sie wurde verboten.
Die Auflösung des Rechtes!
Ich habe gleich
im Anfang, bei einer der ersten Erfahrungen mit der Staatspolizei einen
erschütternden Eindruck bekommen. Da war ein SS-Mann, den ich kannte, der ab
und zu mal im Gottesdienst gewesen war - am Anfang ging das noch - der war in
Schuld gefallen, er hatte Unterschlagungen gemacht. Der hatte seiner Truppe Anzüge
besorgt und an jedem Anzug ein wenig verdient. Das ging natürlich nicht. Da war
er verhaftet worden, und nun wünschte er den Pastor Busch. Die Staatspolizei
genehmigte das. Ich ging ins Präsidium, und da waren die Beamten der
Staatspolizei und die SS-Führer und sagten: „Herr Pfarrer, der Mann möchte Sie
sprechen." Ich sagte: „Das ist nett, dass Sie mir erlauben, zu ihm zu
gehen." „Also, wir können ja kein Verfahren machen wegen dieser Sache. Da
kriegt er drei Monate. Aber das ist unmöglich. Für den gibt es nur einen Weg:
Er muss sich erschießen. Wir haben ihm einen Revolver in die Zelle gelegt.
Dürfen wir Sie bitten, Ihre Seelsorge so auszurichten, dass der Mann sich
erschießt." „Das können Sie nicht von mir verlangen." „Wir verlangen
von Ihnen, dass Sie dem Mann helfen, diesen Schritt zu tun."
Ich sagte: „Also, was ich in der Seelsorge tue, das müssen
Sie schon mir überlassen." Ich kam in die Zelle. Es war entsetzlich,
dieses Loch und ganz oben ein Licht. So sperrt man nicht einmal Tiere ein. Dass
ich später in genau dieser Zelle wochenlang sitzen sollte, ahnte ich damals
noch nicht.
Da saß nun dieser verzweifelte Mann. Auf dem kleinen Tisch
lag der Revolver. „Herr Pfarrer, soll ich?" „Nein, tun Sie es nicht! Gott
will nicht den Tod des Sünders, sondern er will, dass er lebe. Lieber Freund,
das heißt, dass Du vor Gott erst einmal Buße tust und den annimmst, der das
Leben ist, den Herrn Jesus." Es war eine erschütternde Besprechung. Der
Mann hat sich dann nicht erschossen. Dies war wohl der erste Anlass, weshalb
die Staatspolizei mir böse war - dass ich ihnen den Gefallen nicht tat, den
Mann in den Selbstmord zu treiben. Aber damals ging mir erschütternd auf: Das
Recht ist machtlos. Im Propheten Habakuk heißt es von der Endzeit: „Keine
Sache des Rechtes kann mehr gewinnen." Das Recht ist ohnmächtig geworden.
Es ist entsetzlich, wenn das eintritt. So war das nun geworden.
Und da stand ein Christ unsagbar einsam. Ich glaube, dass
alle wirklichen Christen das in der damaligen Zeit erlebt haben, diese
furchtbare Einsamkeit, besonders, weil der christliche Bürger sich von uns
zurückzog. „Wir sind auch Christen, aber der Pastor Busch braucht ja keinen
vor den Kopf zu stoßen." Es gab damals einen Satz, der hieß so: „Als
Daniel in die Löwengrube kam, ist er den Löwen auch nicht auf die Schwänze
getreten." Ich habe gesagt: „Doch, der lief herum und hat gesagt: Weg mit
euren Schwänzen, ich komme im Namen des Herrn!" Ich bin davon überzeugt.
Ich hielt in einer höheren Schule als Jugendpfarrer montags
morgens eine Schulandacht. Als ich meine erste Haft hinter mir hatte und da
wieder hinkam, stand der Direktor zitternd vor mir und sagte: „Ich habe den
Schülern verboten, jetzt noch in Ihre Schulandacht zu kommen." Von da an
grüßte er mich nicht mehr, obwohl wir uns gut kannten. Er war ein christlicher
Mann, Presbyter in einer Gemeinde. Mit dem Feld-, Wald- und Wiesenchristentum
konnte man ja das alles vereinen. Mit dieser Vereinsamung ging manchmal eine
tiefe Verzweiflung Hand in Hand. Was habe ich in den ersten Tagen nach meiner
Verhaftung immer für Abgründe von Verzweiflung mitgemacht! Ich weiß nicht, ob
Jochen Klepper für Sie ein Begriff ist. Er war ein Christ, dessen Frau Jüdin
war. Sie konnte nicht mehr ausreisen. Er sagte: „Ich kann nichts dagegen tun,
dass meine Frau vergast wird." Er sollte gezwungen werden, sich scheiden
zu lassen. Da hat er sich das Leben genommen. Wer mag hier richten? Ich ahne,
durch welche Dunkelheiten und Verzweiflungen dieser Mann gegangen ist. Wir
lernten eine Frau kennen, deren Mann Arzt war. Sie waren glücklich verheiratet.
Die Frau war Jüdin. Er ließ sich scheiden, verjagte seine Frau, mit der er 30
Jahre glücklich gelebt hatte. Die Frau stand eines Tages vor mir. Welche
Dunkelheit und Verzweiflung! Sie ist abgeholt und dann vergast worden. In
einer Zelle, in der ich mal saß, stand eingeritzt mit den Fingernägeln: „O du
Ort meiner dunklen Verzweiflung!" Das war in eine Ecke geschrieben. Da
fand ich es eines Tages. Da stand mir klar vor Augen, was in dieser Zelle des
Gestapo-Gefängnisses an Verzweiflung, an Dunkelheit durchgemacht worden war.
Dazu kam noch die Angst. Ich habe Angst gehabt. Von mir
wurde eine Geschichte erzählt. Bei meinem 75. Verhör hätte ich einen
Blumenstrauß genommen, einen Frack angezogen und gesagt: „Dies ist ein
Jubiläum." Wer das geglaubt hat, der hat keine Ahnung, durch welche
Todesängste wir gegangen sind. Man war in der Menschen Hände gefallen, und das
war schauerlich. Was wir Prediger in besonderer Weise erleben mussten, das erlebte
im Grunde jeder Jesusjünger im 3. Reich.
Ehe ich weiterrede von der Einsamkeit, Verzweiflung und
Angst, möchte ich einen kleinen Einschub machen. Es wurde am Anfang die Frage
aufgeworfen: „Warum reden wir eigentlich davon? Sind das nicht vergangene Zeiten?"
Ich möchte Ihnen zwischendurch als Atempause sagen, warum ich davon rede: Ich
habe zwei Gründe. Der erste Grund ist ein politischer. Wir leben in einer
Demokratie. Demokratie heißt, dass jeder Bürger mitverantwortlich ist. Es ist
erschreckend, wie weit es mit unserer Demokratie gekommen ist. Der größte Teil
der Jugend sagt: „Wie können wir verantwortlich sein? Wir können ja gar nicht
mehr eingreifen." Ich möchte Ihnen sagen: Wir haben eine politische
Verantwortung dafür, dass so etwas nicht wiederkommt. Das wissen Sie ganz
genau, dass es in Deutschland Kräfte gibt, die sich das wünschen.
Wiederherstellung. Sie sind dafür verantwortlich, dass dazu „NEIN" gesagt
wird! Denken Sie daran, dass Hitler ja nicht mit einem Staatsstreich an die
Macht kam, sondern auf legalem Weg. Völlig legal, bis zur letzten
Leitersprosse! Er wurde gewählt, die NSDAP wurde die stärkste Partei. Der
Präsident Hindenburg übergab ihm die Regierungsbildung. Völlig legal! Er
brachte ein Gesetz ein, das ihm alle Vollmachten gab und alles übrige
entmachtete. Das wurde angenommen. Ich bin kein Politiker, aber ich möchte
Ihnen sagen, dass Sie politische Verantwortung haben. Nehmen Sie mal einen
Politiker, der das Recht gering achtet, der die Macht liebt, und dazu die
Notstandsgesetzgebung, wie sie jetzt geplant ist. Das zusammen wäre die nächste
Diktatur! Darum bin ich der Ansicht, wir dürfen über diese Dinge nicht einfach
schweigen. Ich habe letztes Mal gesagt, wir alle haben Schuld. Wenn ich
richtig gestanden hätte, wäre ich nicht mehr am Leben. Der zweite Grund, warum
ich mit Ihnen darüber spreche, ist ein geistlicher Grund. Aber das kann ich
jetzt nur den anwesenden Christen sagen. Die Bibel spricht davon, dass die
Entwicklung der Weltgeschichte hinzielt auf ein ganz gewaltiges Ereignis: Dass
Jesus wiederkommt und König wird. Ich rechne mit der Wiederkunft Jesu. Dieser
Wiederkunft geht noch mal eine dunkle Mitternacht unserer Welt voraus, ein
letztes diktatorisches Weltreich. Wir werden noch eine Weltdiktatur erleben.
Diese Dinge stürzen auf uns zu, diese apokalyptischen Linien der Bibel. Da
sollten Christen sich immer fragen: „Wie werde ich denn stehen, wenn solche
Zeiten kommen? Werde ich auch sagen, man muss alles mitmachen, alle machen
mit, ich muss, ich muss?" Wie jetzt all die Mörder vor Gericht sagen: „Wir
mussten doch." Oder werden Sie dem Herrn angehören, der Sie mit seinem
Blut erkauft hat?
In einem schwäbischen Schulhaus gab es eine alte Magd,
welche die Kinder abends ins Bett brachte und dann sagte: „Kinder, nehmt
einmal, wenn es soweit ist, nicht das Abzeichen des Antichristen an!" Das
hat mir immer mächtig imponiert. Die Christenheit kommt in letzte große Bewährungsproben,
in denen ich mit ein bisschen Christentum, mit 50 oder 60 % nicht durchkomme,
sondern wo es darum geht, ob ich dem Herrn gehöre oder nicht. Darum rede ich
mit Ihnen davon, um Ihnen an dem kleinen Beispiel des Dritten Reiches die
Frage vorzulegen: Wie stehe ich denn eigentlich? Könnte ich denn standhalten?
Aber nun ist
dieser Einschub zu Ende. Ich habe gesagt, die Stellung eines Christen damals,
bedroht von dieser Staatspolizei, war Einsamkeit, oft Verzweiflung, oft tiefe
Angst. Wie viel Angst hat meine Frau durchgemacht, als man bei uns Flugblätter
suchte. Während ich unten im Haus mit den Beamten redete, sah meine Frau im
ersten Stock diese Flugblätter und überlegte: Wo kann ich die verstecken? Sie
schob sie unserer kleinen 13-jährigen Tochter, die krank lag, unter die
Bettdecke. Und dann durchstöberte die Staatspolizei das Haus. Sie kamen auch in
das Zimmer, in dem das kranke Kind lag, aber sie fanden nichts. Auch die Kinder
haben teilgenommen an der Angst.
Jetzt drängt sich ja die Frage auf: Und Gott? Schwieg denn
der einfach? Als alles schief ging und die Bomben krachten, die Städte
brannten, da schrien die Leute: „Wo ist er denn, warum schweigt er?" Ich
möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Gott, der lebendige, heilige Gott,
kann schweigen und einem ganzen Volk nichts mehr zu sagen haben, aber er redet
zu seinen Kindern. Und ich möchte Ihnen das mitgeben: Fürchten Sie nichts so
sehr, als dass Sie unter Gottes völliges Schweigen geraten. Er spricht zu
seinen Kindern.
Nun muss ich Ihnen erzählen, wie Gott mich von der Angst vor
der Staatspolizei befreite, indem ich eine größere Angst kennen lernte.
Da saß ich das erste Mal im Gefängnis, anfangs in einsamer
Verzweiflung, Angst und Not, bis ich auf einmal merkte, dass Gott mit mir reden
wollte. Dann fing Gott an, mit mir zu reden, über mein Leben. Das habe ich bei
jeder Haft so erlebt. Als es still wurde, fing Gott an zu reden und nahm mein
Leben mit mir durch, allen Hochmut, alle Unreinigkeit, Lüge und Lieblosigkeit.
Auf einmal merkte ich, dass Gott ja zornig ist. „Gottes Zorn", sagt die
Bibel, „entbrennt über alles sündige Wesen der Menschen." Gottes Zorn
loderte in meiner Zelle. Wenn Ihnen solche Gedanken kommen, dass Gott mit Ihnen
reden will, dann laufen Sie meistens weg, dann gehen Sie ins Kino oder machen
Betrieb. Hier konnte man nicht weglaufen. Das war das Schauerliche und der
Segen dieser Sache, dass Gott sagte: Deswegen rede ich mit dir! Du bist ein
Sünder.
Ich weiß heute, wie es am Jüngsten Tage sein wird. Wo Gott Ihnen
Ihr Leben vor die Füße wirft, und Ihre Sünden liegen völlig offen da. Irret
Euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Ich habe damals gelernt, was die
Hölle ist. Hölle ist, dass man in Ewigkeit unter diesem Zorn Gottes bleibt. Ich
weiß nicht, wie die Hölle aussieht, aber das weiß ich, man ist weggeworfen,
herausgetan von IHM. Ich lernte die Angst vor Gott, darum verlor ich die Angst
vor diesen lächerlichen SS-Leuten. Haben Sie schon einmal Angst vor Gott
gehabt? Sonst haben Sie noch nicht angefangen, die Wirklichkeit zu sehen.
Dieser heilige Gott sieht uns, er umgibt uns, seine Gebote können wir doch
nicht mit Füßen treten! Vielleicht muss er Sie auch einmal in die Stille
führen, dass Sie ihm nicht mehr weglaufen können. Dann, als ich dachte: „Mann,
ich bin verloren", kam Jesus und zeigte mir seine Hände mit den
Nägelmalen. Auf einmal begriff ich, was ich draußen immer gewusst hatte. Er hat
meine Sünde weggetragen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass ich Frieden hätte.
Er macht mich gerecht vor Gott. Er ist unser Friede.
Ich arbeite schon lange in der Seelsorge. Dabei treffe ich
so viele Christen, die haben keine Freudigkeit und keine Gewissheit. Das liegt
einfach daran, dass sie das Kreuz Jesu noch nicht verstanden haben. Er hat mich
erkauft, wenn auch alles drunter und drüber geht, ich bin sein Eigentum. Er
hat für mich bezahlt. Ich bin ein schlechtes Eigentum, aber ich bin sein!
Es wurde hell in meiner Zelle, es wurde so, dass es mir
beinahe ging, wie den Priestern des Königs Salomo, als der Tempel eingeweiht
wurde. Da war der Tempel so voller Herrlichkeit des Herrn, dass die Priester
nicht mehr stehen konnten, die mussten raus. Ich konnte aber nicht raus. Es war
so, dass ich es beinahe nicht aushielt vor Freude, dass ich „einen Heiland
habe, der vom Kripplein bis zum Grabe, bis zum Thron, da man ihn ehret, mir,
dem Sünder, zugehöret". Er schenkt Frieden mit Gott, Frieden ins Herz, der
mich zum Kind Gottes macht, dass ich die ganze Welt auslachen kann, dass ich
dem Teufel ins Gesicht lachen kann und seinen Trabanten zweimal. Gott kann
einem ganzen Volk schweigen, aber er redet mit seinen Kindern.
Und wenn ich diese Schar junger Menschen sehe, dann wünsche
ich Ihnen das, dass Sie aus religiösen Gefühlen, Vorstellungen und unklaren
Sachen herauskommen zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Ich bin ein verlorener
Mensch, das ist Tatsache. Gott lässt sich nicht spotten. Das Wunder ist, dass
er mich verlorenen Menschen erlöst hat von allen meinen Sünden, nicht mit Gold
und Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut, auf dass ich sein Eigen
sei.
Lassen Sie mich zum Schluss jetzt noch eine Frage beantworten,
die sich aufdrängt. Was waren das für Menschen, diese Staatspolizeibeamten? Was
waren das für Männer? Das waren ja nicht nur Beamte, dahinter waren doch
Menschen. Wenn ich so in der Zelle saß oder ein Verhör hatte, dann versuchte
ich manchmal, mich zu fragen: Gibt es denn eigentlich eine Möglichkeit, durch
diese Schicht von Hass, von Feindschaft und Beamtenmäßigkeit durchzubrechen an
euer Herz und Gewissen? Manchmal habe ich das andeutungsweise erlebt. Zum
Beispiel einmal, als ich Jugendpfarrer war mit 50 jungen Mitarbeitern, die
jeden Sonntag Hausbesuche machten, da wurde ein großer Schlag gegen mein
Jugendhaus geführt. Alles mögliche wurde beschlagnahmt und im Lkw abgefahren.
Dann wurden die fünfzig Leiter vorgenommen, bei jedem gab es eine
Hausdurchsuchung. Dann kamen die Eltern zu mir gestürzt, denn da warfen die
Beamten ganze Schränke einfach um, die Wohnungen sahen wie Schlachtfelder aus.
Es war schon im Krieg, da brauchten sie keine Rücksicht mehr zu nehmen, da
konnte man alles erzwingen. Fünfzig Wohnungen wurden einfach demoliert. Dann
wurden die Jungens vorgeladen, und am Schluss ich selbst. (Nachdem sie fünfzig
junge Männer verhört hatten, die ich vorher nicht instruieren konnte.) Da
erlebte ich mal, wie so eine Kruste brach. Da sagte man mir: „Pastor Busch, wir
haben fünfzig junge Leute von Ihnen verhört, und es hat uns keiner angelogen.
Sie haben offen gesagt, dass sie heimlich Freizeiten gemacht haben. Sie haben
sich zum Schaden geredet, aber sie haben nicht gelogen. - Was ist das für eine
Welt?" Ich sagte: „Das ist die Welt, die Sie hassen." Er war
erschüttert von der Tatsache, dass es eine Welt gibt, in der man nicht lügt.
Es gab solche Augenblicke. Einmal, als ich in der Zelle saß
und einem Beamten sagte: „Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen", wurde der
ganz wild und sagte: „Ist doch Wahnsinn." „Nein, ich möchte nicht mit
Ihnen tauschen. Jesus gehören, mit all den Sünden und Torheiten, Kind Gottes
sein - ich möchte nicht mit Ihnen tauschen." Da brüllte er los, und ich
spürte, es war für ihn unfassbar. Da saß ich in der Zelle, geschändet und
erniedrigt, daneben er, der stolze Mann in Uniform - und ich wollte nicht mit
ihm tauschen. Das waren solche Augenblicke, wo man spürte: Jetzt bricht mal die
Kruste auf, und sie haben Heimweh. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch Heimweh
hat. Als alles zusammenbrach, da fielen sie ins Nichts und begingen
scharenweise Selbstmord. Der Chef unserer Staatspolizei, mit dem ich ein paar
Tage vorher noch gesprochen hatte, hat sich in der Zelle aufgehängt. Es war
nichts mehr da.
Wissen Sie, dass jedes Menschenleben, im Grunde genommen,
an so eine Grenze kommt, wo man fragt: Was hast du eigentlich? - Und da bleibt
nichts, als das Heil Gottes in Jesus. Ich wünsche mir, dass Sie es haben.
Ich möchte Ihnen
noch eine Geschichte erzählen. Ich hoffe, es wird Ihnen deutlich, dass es mir
vor allem darauf ankommt, Ihnen zu sagen: In dem Augenblick, wo ich mich auf
die Seite Gottes stelle, spielt Gott geheimnisvoll mit, in geradezu
unheimlicher Weise. Da war mein Bruder Johannes in Bochum verhaftet worden.
Und dann hörte ich, er würde am nächsten Tag entlassen. Ich fuhr hin und holte
ihn dort ab. Die zwei Stunden sind mir unvergesslich. Er hatte dasselbe erlebt
wie ich: Zwei Tage eine abgrundtiefe Verzweiflung und Angst und dann endlich
ein Ohr, das hören kann. Wenn Gott im Gericht redet, kann man ganz neu Jesus
als Heiland erkennen. Er sagte: „Für mich war eins der erschütterndsten
Erlebnisse folgendes" - und er erzählte: Da war vom Präsidium aus draußen
eine Treppe von drei Stufen, die war ziemlich glatt. Sie hatten ihn abends
verhaftet. Das gab eine ziemliche Aufregung, wenn ein so bekannter Pfarrer ins
Gefängnis kam. Das stand sofort in den ausländischen Zeitungen, in der
Schweiz, Dänemark und Holland. So war natürlich bei den Beamten auch eine
wilde Aufregung und Diskussion darüber: Ist es richtig oder ist es nicht
richtig? Einer schrie immer: „Das ist richtig! Den Pfaffen soll das Maul gestopft
werden."
Dieser Schreier ging an dem Abend noch einmal aus dem Haus
heraus, aus dem Präsidium. Irgend jemand hatte da eine Bananenschale auf die
Stufen geworfen. Der Mann rutscht auf den Stufen so unselig aus, dass er mit
dem Kopf hinten aufschlägt und tot ist. Können Sie sich die Situation
vorstellen? Eine halbe Stunde, nachdem er geschrien hat: „Den Pfaffen soll das
Maul gestopft werden", liegt er tot auf der Treppe. Sie können sagen: Das
ist Zufall. Natürlich, das kann ich Ihnen nicht widerlegen.
Aber das weiß ich, dass die Staatspolizeibeamten nicht mehr
an Zufall glaubten. Mein Bruder sagte: Da fing das mit der Seelsorge an. Da kam
einer nach dem ändern völlig aufgelöst zu mir und sagte: „Sagen Sie, gibt es
einen Gott, der töten kann?" „Ja. - Aber das ist noch ein Kinderspiel, auf
der Treppe ausrutschen und tot sein. Aber was dann kommt..."
Mein Bruder sagte: „Die paar Tage waren eine Evangelisation,
wie ich sie in meinem Leben noch nicht erlebt habe."
Dieses merkwürdige Mitspielen Gottes habe ich erlebt.