Wilhelm Busch

Joseph in der Zisterne

 

„Als nun Joseph zu seinen Brüdern kam, zogen sie ihm seinen Rock, den bunten Rock, aus, den er anhatte, und nahmen ihn und warfen ihn in die Grube; aber die Grube war leer und kein Wasser darin."

1. Mose 37, 23-24

 

Es ist eine bedrückende Geschichte, von der uns hier das Alte Testa­ment berichtet: Im Hochland bei Dothan ist ein großes Nomaden­lager aufgeschlagen. Zehn Söhne des frommen Jakob weiden hier ihre Herde. Aber vom Geist ihres Vaters ist im Lager wenig zu spüren. Sie sind gottlose Gesellen. Und darum sind sie auch froh, dass ihr Bruder Joseph nicht bei ihnen ist. Sie hassen diesen Joseph, der es mit dem Vater hält, der ein junger Mann voll Heiligen Geistes ist und der auf Gottes Wegen geht.

Eines Tages taucht Joseph bei seinen Brüdern auf, vom Vater zu ihnen gesandt. Ich sehe ihn im Geist, wie er voll Liebe über die Berge herzueilt.

Aber als die Brüder ihn sehen, bricht ihr Hass lodernd aus: „Kommt, lasst uns ihn erwürgen!" Und als er freundlich unter sie tritt, umrin­gen sie ihn. Harte Fäuste reißen ihm den bunten Rock, den ihm der Vater geschenkt hat, herunter. Er wird gefesselt und in eine leere Zisterne geworfen.

Nun könnte jemand einwenden: „Wir haben schlimmere Beispiele von Bruderhass erlebt! Was geht uns diese alte Sache an!" Sagt das nicht! Denn diese Geschichte steht im Alten Testament, von dem einmal jemand sehr richtig gesagt hat: „Das Alte Testament ist das Bilderbuch zum Neuen Testament." — Dieser Joseph in seiner Grube ist ein Vorbild auf den gekreuzigten Gottessohn.

 

 

Der Mann, den seine Brüder nicht wollten

 

1. Der Hass

Je mehr ich mich in die Josephsgeschichte versenkte, desto heller ging mir auf, wie hier im Grunde von Jesus erzählt wird. Die Parallelen sind erstaunlich:

„Als nun Joseph zu seinen Brüdern kam..." Er verließ die reichen Zelte seines Vaters und ging zu seinen Brüdern, die in der heißen Steppe unter großen Nöten und Gefahren lebten — und die so böse waren. So kam der Sohn Gottes zu uns. Paulus sagt: „Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an..." (Philipper 2, 6-7) Er kam wie Joseph, voll Liebe und mit ausgestreckten Händen.

...da zogen sie ihm den Rock aus ..." Gerade dieser Zug spielt in der Leidensgeschichte Jesu eine besondere Rolle. Auch der Sohn Got­tes wurde erniedrigt, indem man Ihm die Kleider abriss. Nachher, als sie Ihn gekreuzigt hatten, saßen die Kriegsknechte und würfelten um seinen Rock (Johannes 19, 23-24).

„...und warfen ihn in die Grube, darin kein Wasser war." So haben rohe Fäuste den Sohn Gottes ergriffen und an das Kreuz genagelt. Und ich höre den Ruf des Verschmachtenden: „Mich dürstet!" (Johannes 19, 28). Wir finden in der Bibel eine Andeutung, warum die Brüder den Joseph so hassten: Gott hatte dem Joseph in einem Traum gezeigt, dass er der Herr seiner Brüder sein werde. Dieser Traum hatte die Brüder zur Weißglut erregt: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!" Und nun sehe ich im Geiste eine parallele Szene: Jesus steht in der Nacht vor dem Karfreitag vor dem Hohenrat. Da springt der Hohepriester auf: „Ich beschwöre dich, dass du uns sagest, ob du seist Christus." Und Jesus antwortet hoheitsvoll: „Von nun an wird's geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rech­ten der Kraft." (Lukas 22, 66-69). In diesem Augenblick bricht der Hass heraus: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!"

Die Brüder Josephs haben sich nicht viel Gedanken gemacht. Wenn sie aber über ihren Hass nachgedacht hätten, wären sie darauf ge­kommen, dass dieser im Grunde dem frommen Vater galt. Sie hassten den Joseph, weil sie den Vater hassten. Genauso steht's mit uns: Der natürliche Mensch will Jesus nicht, weil er Gott nicht will. Das Kreuz sagt uns: Der Mensch hasst Gott. Er will Ihn nicht. Trotz allen Christentums und aller Religiosität — er will Gott nicht! Im Jahre 1775 erschien ein sonderbares Buch: „Beweis, dass diejeni­gen, so Christum gekreuzigt, Westfälinger gewesen seien." O Freunde, nicht nur Westfälinger! Wir alle sind beteiligt. Der Heidel­berger Katechismus übertreibt nicht, wenn er sagt: „Ich bin von Natur geneigt, Gott... zu hassen."

Im Grunde unsrer Seele sagen wir zu Jesus: „Ich will Dich nicht. Du bist der, den meine Seele hasst, denn ich will mein eigener Herr sein!" Welch eine tiefgreifende Umwandlung muss mit uns gesche­hen — ja, eine neue Geburt, bis wir zu Jesus sagen lernen: „Du bist der, den meine Seele liebt."

 

2.  Die vertauschten Rollen

Ich sehe im Geiste die Szene vor mir, wie die Brüder um die Zisterne

stehen und voll Verachtung auf ihren Bruder hinabblicken, den sie

einmütig verurteilt haben.

Man greift sich an den Kopf: Wenn jemand in diese Grube gehörte,

dann waren es die Brüder. Und wenn einer Richter sein konnte, dann

war es Joseph. Die Rollen waren geradezu sinnlos vertauscht. Und

nun lasst uns unter Jesu Kreuz treten. Denn niemals wieder in der

Welt werden so unglaublich die Rollen vertauscht wie dort.

Jesus, dem der Vater alles Gericht übergeben hat, ist verurteilt. Und

wir, die Verurteilten, stehen um das Kreuz her.

Wenn man das Kreuz recht verstehen will, muss man erst begreifen

lernen, dass wir die Verurteilten sind.

Ach, dass wir aufhören wollten, zu faseln von unserem guten Herzen

und von unseren edlen Absichten! Vor Gott sind wir Verurteilte!

Sünder! Zur Hölle Verdammte!

Es ist seltsam und erschreckend, wie unsre Zeit das Organ für diese

Erkenntnis verloren hat. Man redet wohl viel von Schuld: Die Nazis

sind schuldig geworden am deutschen Volke, das deutsche Volk an

der Welt, die Welt wieder an uns. Die Bauern haben sich versündigt

an den hungrigen Städtern, die Besitzenden an den Flüchtlingen ...

Wie anders aber die Welt der Bibel: Als David an Uria schuldig ge­worden war, schrie er zu Gott: „An dir allein habe ich gesün­digt!"

Wer endlich lernt, das zu sagen, der betet staunend an unter dem Kreuze: Der Unschuldige ist verurteilt — und ich bin frei! Die ver­tauschten Rollen sind unsre Errettung. „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten", bezeugt Jesaja.

 

3.  Was Gott daraus macht

Josephs Weg ist ein Kunstwerk Gottes. Die Brüder wollten Joseph endgültig los sein. Darum verkauften sie ihn als Sklaven nach Ägyp­ten. Dann brach eine schreckliche Hungersnot herein. Da wären nicht nur die Ägypter, sondern auch Josephs Brüder verhungert, wenn nicht Joseph, der inzwischen Herr in Ägypten geworden war, ein­gegriffen und eine Errettung geschaffen hätte.

Hätten die Brüder den Joseph nicht verworfen, dann hätte es keine Errettung gegeben. Und — so machen wir weiter — hätte der Hass der Menschen den Sohn Gottes nicht gekreuzigt, dann gäbe es in Zeit und Ewigkeit kein Heil für uns. So seltsam sind Gottes Wege.

Die Grube bei Dothan wurde der Anfang eines großen Heus. Wie ehr ist doch diese Grube ein Bild des Kreuzes, in dem unser völliges Heil liegt!

Als der erst dreißigjährige, gewaltige Erweckungsprediger Hofacker im Sterben lag, sagte er laut im Blick auf den Heiland am Kreuz: Das ist mein Mann! Wüsste ich nicht gewiss, dass Seine Liebe zu uns unendlich ist, dann müsste ich verzagen. Nur auf Ihn verlasse ich mich!" Und ich schließe: Was im Tode so getrost macht, ist doch wohl auch für unser Leben das Beste. „Am Kreuze meines Heilands, da ist mein sichrer Stand..."