„Fränzken", von dem diese Geschichte handelt, ist heute ein
stattlicher junger Mann. Er nimmt es mir nicht übel, daß ich die Geschichte
weitererzähle, und denkt gewiß, sie könnte manch einem ein „Licht aufstecken
helfen". — —
„Und am allerschlimmsten sind die Konfirmanden", schloß der Mann
seinen Bericht über meine neue Gemeinde. „Da nehmen Sie am besten jedesmal
einen kräftigen Rohrstock mit."
Mir wurde angst und bange. Da stand ich nun als blutjunger Pfarrer vor
dieser großen Gemeinde. Wenn der Mann recht hatte, dann mußte es eine
furchtbare Horde sein, die hier hauste. Und die Konfirmanden! O du liebe Zeit!
Ich hatte in meinem Leben noch nie einen Jungen verhauen und gedachte es auch
in Zukunft so zu halten. — Wie würde es mir ergehen?
Mit furchtsamem Herzen stand ich am nächsten Morgen vor meinen
„Wilden". Aber bald merkte ich, daß die ebenso Angst hatten vor mir wie
ich vor ihnen. Da mußte ich lachen, und es wurde sehr nett.
Allerdings — einer fehlte — „Fränzken". Als ich nach ihm fragte,
ging ein Schmunzeln durch die Reihen. „Aha", dachte ich, „das ist wohl der
Häuptling eurer Streiche! Darum seid ihr so manierlich, weil der fehlt!"
Und ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein vor „Fränzken". Aber
„Fränzken" boykottierte mich. Er erschien einfach nicht. Also mußte ich
mich eines Tages auf den Weg machen, „Fränzken" zu suchen.
Ein niedriges, schmutziges Haus, geschwärzt vom Ruß der nahen
Industriewerke, in der Nähe einer Großstadt-„Aschenkippe".
Auf mein Schellen öffnet ein junges Mädchen die Tür. Sie mustert mich
erstaunt und — läuft ins Zimmer zurück. Ich gehe ihr nach. Aus der anliegenden
Kammer höre ich klägliches Jammern. Ich gehe hinein. Ein furchtbares Bild: auf
dem schmalen
Bett liegt eine Frau im allerletzten Stadium einer entsetzlichen
Wassersucht. Ein schrecklicher Anblick!
Und dies arme Weib jammert. Es dauert erst einige Zeit, bis ich sie
verstehe: „Mein armer Junge! Mein armes Fränzken! Kein Mensch hat ihn lieb! Der
Lehrer haut ihn! Der Vater haut ihn! Der Pfarrer haut ihn! O mein Fränzken! Nur
ich habe ihn lieb! Und ich muß sterben ..."
Ich bin erschüttert. Das ist Mutterliebe! Sie denkt nicht an ihr Elend.
Sie denkt nur an ihr Kind.
„Ich will Ihren Jungen liebhaben", sage ich bewegt.
Zwei Tage lebt sie noch. Zwei Tage, an denen der Mann irgendwo im
Gasthaus saß.
Zwei Tage, in denen Gottes Wort Einzug hielt in der armen Hütte und der
Heiland Jesus einem armen Menschenherzen seinen Frieden schenkte. Dann ging
sie heim. Bei der Beerdigung sah ich zum erstenmal „Fränzken". Er war ein
großer, starker Junge mit verschlossenem Gesicht. Wir schlössen, so gut es
ging, Freundschaft miteinander. Und von da ab kam er nach der Schule häufig zu
mir und wurde immer mehr unser Hausgenosse. Trotzdem war mir immer so, als
stehe zwischen ihm und uns eine Mauer.
Kurz vor Ostern war Konfirmation. „Fränzken" stand in der großen
Schar der Kinder. Er sah ungewohnt feierlich aus in seinem dunklen Anzug und
dem Stehkragen. Was in ihm vorging, konnte ich nicht erkennen. Die Mauer stand
dazwischen.
Eine Woche später war das Abendmahl der Konfirmanden. Am Abend vorher
sammelte ich noch einmal die Schar, um ihnen eine Vorbereitung zu geben für die
wichtige Stunde.
Das machte ich so: Ich hatte ein Steinhausen-Bild vom Großen Abendmahl
aufgehängt. „Kinder!" sagte ich, „dies Bild ist noch nicht zu Ende. Das
geht da über den Rand hinaus weiter. Und da dürft ihr stehen. Auch euch
hat der Heiland an seinen Tisch gerufen und geladen. Das ist eine hohe Ehre und
eine ganz große Freude." So erklärte ich ihnen das Abendmahl.
Dann sangen wir noch ein Lied, beteten und gingen still nach Hause.
Als Letzter verließ ich den Saal. Im Hof stand noch ein Trüpplein
Jungen. „Na, was ist los?" fragte ich. Schweigend wiesen sie auf
„Fränzken". Der stand da, an die Mauer gelehnt. Die hellen Tränen liefen
ihm über die Backen. Der ganze Kerl war ein Bild unsagbaren Jammers. „Was ist
denn mit dir los?" fragte ich. Keine Antwort. Da nahm ich ihn
kurzentschlossen am Arm und brachte ihn in meine Wohnung.
Da saß er nun weinend vor mir und — schwieg. Mir griff das ans Herz. So
ein Junge weint nicht. „Nun rück mal raus, Fränzken, was drückt dich? Komm,
sag's mir!" Da kam es heraus, stotternd — schluchzend: „Alle dürfen morgen
zum Abendmahl gehen, nur ich nicht." — „Du nicht? Warum du nicht?" — „Ich
— ich bin zu schlecht!" Ich war tief bewegt. Wenn dieser
trotzige Junge so erschüttert war, dann wurde es ernst. — Ja, es wurde ernst.
Was nun gesprochen wurde, soll kein Mensch erfahren. Das geht keinen Menschen
etwas an. Das war nur bestimmt für Gott. Als Fränzken fertig war mit abladen,
war's ein ganzer Berg von Schuld. Erschüttert sind wir niedergekniet und haben
alles vor den Herrn Jesus hingelegt und sein Erbarmen angerufen. Und dann habe
ich gesagt: „So, Fränzken, jetzt mußt du aber auch glauben, daß auch du,
gerade du, zum Herrn Jesus kommen darfst."
Nie vergesse ich diese Abendmahlsfeier. Alle Kinder traten an den Altar
mit ihren Angehörigen. Aber dann kam „Fränzken!" Ganz allein kam er über
den Altarplatz auf mich zu. Seine Mutter war tot. Sein Vater saß irgendwo in
der Wirtschaft. Doch „Fränzkens" Angesicht glänzte vor Freude.
Mir aber fiel Jesu Wort ein:
„Also wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen."