Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Ein verlorenes Ebenbild

 

Heftig löffelt er seine Suppe, die ich ihm habe hinstellen las­sen. Es ist ein noch junger Mann, eine stattliche Erscheinung. Aber sein Anzug ist zerlumpt und verdreckt, seine Schuhe sind zerrissen. Nun, das kommt von der Arbeitslosigkeit und Wan­derschaft. Dafür kann er nichts. Aber sein Gesicht!! Verwüstete, unstete Züge verraten ein zügelloses Leben. Tief hat die Sünde ihre Spuren in dies Gesicht eingeschrieben.

Nun ist er fertig, legt den Löffel hin. Er steht langsam auf, streckt mir die Hand hin: „Ich danke auch!" Und will gehen.

Da muß ich seine Hand festhalten. Und es fährt mir heraus: „O Mann, Sie sollten ein Ebenbild Gottes sein! Was hat die Sünde aus Ihnen gemacht!"

Er sieht mich groß an und geht. Und auch ich gehe und ver­gesse dies kleine Erlebnis. —

Zwei Jahre später. Ich bin zu Besuch in einem kleinen süd­deutschen Städtchen. Da spricht mich eines Tages eine liebe alte Frau an: „Ich muß Ihnen doch einmal sagen, daß ich jeden Tag für Sie und Ihre Arbeit bete."

Erstaunt sehe ich sie an.  „Das ist aber schön", sage ich, „das kann man brauchen. Aber erklären Sie mir, wie Sie dazu kommen."

„Ja", meint die Frau, „das hat seine besondere Geschichte. Sehen Sie, ich habe einen kleinen Laden. Und da kommen die Reisenden häufig mit ihren Autos an und offerieren ihre Wa­ren. Da kam nun seit einiger Zeit ein so netter, stattlicher Rei­sender, der mir wegen seines stillen, ernsten Wesens ganz beson­ders gefiel. Darum lud ich ihn eines Tages zu einer Tasse Kaffee ein. Als wir so zusammensaßen, sagte er: „Das sehen Sie mir wohl nicht an, daß ich vor zwei Jahren ein ganz verkommener ,Sonnenbruder’ war?" „Nein", sagte ich erstaunt, „wie war denn das?" Und dann erzählte er mir, wie er als junger Bursch sich mit seinen Eltern verkrachte, wie er in die Welt lief, wie er allen Schmutz der Großstadt kennenlernte, wie er von Stufe zu Stufe sank. Schließlich landete er auf der Landstraße. „Und", so erzählte er, „eines Tages kam ich auf meinen Fahrten in ein Haus, wo mir ein Mann zu essen gab. Als ich gehen wollte, sagte er mir: ,Sie sollten ein Ebenbild Gottes sein! Was hat die Sünde aus Ihnen gemacht!' Dies Wort" — so erzählte er — „traf mich wie ein Blitzstrahl. Wie in grelles Licht getaucht lag mein verlorenes Leben vor mir. Ich spürte förmlich den Zorn Gottes über mein verlorenes Leben. Wie ich aus dem Hause kam, weiß ich nicht mehr. Ich lief durch die Straßen der großen Stadt, ich wanderte weiter. Aber Tag und Nacht ließ mir die­ses Wort keine Ruhe, bis ich endlich einen fand, der mir weiter half. Er zeigte mir den Einen, bei dem wir verlorene Menschen unseren verlorenen Adel wiederfinden: Jesus, unseren Heiland!" So erzählte er. Und dann berichtete er noch kurz, wie er zu seinen Eltern zurückkam, wie er auch äußerlich wieder ein ge­achteter Mensch wurde."

Die Geschichte der alten Frau hatte mich tief bewegt. Dank­bar drückte ich ihr die Hand. Und unsere Gedanken gingen zu all den jungen Menschen, die verirrt auf den Straßen der Welt laufen . . .